Piratenherz - Marliese Arold - E-Book

Piratenherz E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Neue Stadt, neue Freunde, neues Leben: Nach dem Tod der Mutter ist für Rebekka nichts mehr, wie es war. Auch an der neuen Schule fühlt sie sich fehl am Platz, bis sie den geheimnisvollen Juri kennenlernt. Rebekka ist fasziniert von seiner ruhigen, selbstsicheren Art. Doch nach ihrem ersten Kuss ist er wie vom Erdboden verschluckt. Als sie bei einem Ausflug unglücklich ins Wasser fällt und zu ertrinken droht, ist Juri überraschenderweise zur Stelle. Dass er danach wieder spurlos verschwindet, kann Rebekka nicht verstehen. Sie beschließt, seinem merkwürdigen Verhalten auf den Grund zu gehen und kommt einem uralten Geheimnis auf die Spur … So geheimnisvoll und romantisch wie Romeo und Julia!

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Buchinfo

Neue Stadt, neue Freunde, neues Leben: Nach dem Tod der Mutter ist für Rebekka nichts mehr, wie es war. Auch an der neuen Schule fühlt sie sich fehl am Platz, bis sie den geheimnisvollen Juri kennenlernt. Rebekka ist fasziniert von seiner ruhigen, selbstsicheren Art. Doch nach ihrem ersten Kuss ist er wie vom Erdboden verschluckt. Als sie bei einem Ausflug unglücklich ins Wasser fällt und zu ertrinken droht, ist Juri überraschenderweise zur Stelle. Dass er danach wieder spurlos verschwindet, kann Rebekka nicht verstehen. Sie beschließt, seinem merkwürdigen Verhalten auf den Grund zu gehen und kommt einem uralten Geheimnis auf die Spur …

So geheimnisvoll und romantisch wie Romeo und Julia!

Autorenvita

© privat

Marliese Arold wurde als jüngstes Kind von drei Geschwistern in Erlenbach am Main geboren. Das Nesthäkchen liebte die Märchen, die ihre Mutter ihr erzählte und entdeckte sehr früh die Liebe zu Geschichten. Sie konnte von Büchern nicht genug bekommen, aber Bücher waren knapp. Um Abhilfe zu schaffen, beschloss sie kurzerhand, selbst zu schreiben.

Über zweihundert Bücher hat die Vollzeit-Autorin, die mit ihrem Mann noch immer in Erlenbach lebt, schon geschrieben. Ihre beiden Kinder sind inzwischen erwachsen. Ihre lustigen, traurigen, spannenden und frechen Erzählungen vermehren sich fröhlich weiter und, tatsächlich, langsam wird es auf ihren Bücherregalen eng!

Kapitel Zwei: Alte Wunden und neue Freunde

Ich trotze dem Sturm und den Wellen!

K.S.

Es ist an der Zeit. Ich fühle, dass ich wieder zum Leben erwache. Lange habe ich geschlafen, vielleicht zu lange. Ich kann meinen neuen Körper spüren. Er ist jung, voller Kraft. Noch bin ich blind und kann mich nicht im Spiegel sehen. Aber der Tag wird kommen. Bald ...

Nach zwei Wochen war mir mein neues Zuhause immer noch genauso fremd wie bei unserer Ankunft. In meinem Zimmer hatte sich kaum etwas verändert. Ich hatte meine Bücher ins Regal gestellt und meine Kleidung in den Schrank geräumt. Die hässliche Tapete klebte noch an den Wänden und würde wahrscheinlich noch in zehn Jahren daran kleben. Ich war nur ein geduldeter Gast, genau wie Simon und Dad, angewiesen auf den Großmut und die Großzügigkeit meiner Großmutter, die in diesem Haus herrschte. Selbst Onkel Christian duckte sich vor ihr und fügte sich ihren Wünschen. Dabei war er ihr Lieblingssohn ... Aber vermutlich konnte die alte Frau inzwischen keinen mehr lieben außer sich selbst. In all den Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten – oder zumindest diejenigen, die von ihrem Geld abhängig waren.

Inzwischen kannte ich den Tagesablauf und versuchte, meiner Großmutter möglichst aus dem Weg zu gehen. Manchmal hatte ich jedoch den Eindruck, dass die alte Hexe es schaffte, sich zu verdoppeln. War sie eben noch im Park herumspaziert, tauchte sie im nächsten Moment in der Küche auf und kontrollierte, was Anna zubereitet hatte. Ich fragte mich, wann sie überhaupt in die Firma ging. Offenbar hatte sie beschlossen, dort etwas kürzer zu treten, bis sich „die Neuen“, wie sie uns nannte, eingelebt oder vielmehr angepasst hatten.

Tausend Mal nahm ich mir vor, meine Antipathie gegen sie zu unterdrücken und eine freundliche Miene aufzusetzen und tausendmal brach ich meine Vorsätze. Es war einfach unmöglich. Diese Frau brachte mich zur Weißglut. Sie hatte eine unnachahmliche Art, Dinge zwischen den Zeilen zu sagen und einen zu verletzen, ohne direkt beleidigend zu werden. Schon für die Art, wie sie spöttisch die Lippen kräuselte, hätte ich sie schlagen können. Ich hatte solche Lust, sie an den Schultern zu packen und zu rütteln, bis ihr perfekt frisiertes Haar in alle Windrichtungen abstand. Doch ich beherrschte mich, solange ich ihr gegenüber stand. In meinem Zimmer stieß ich wilde Flüche aus oder flüchtete mich in abstruse Fantasien. In meiner Verzweiflung schrieb ich ellenlange Mails an Silke, aber ich hatte immer mehr den Eindruck, dass sie sich für mein neues Leben nicht mehr wirklich interessierte. Wenn Silke antwortete, dann erzählte sie von ihrem neusten Typen, fragte, wie sich diese oder jene Bemerkung deuten ließe oder schwärmte in höchsten Tönen von seinen leidenschaftlichen Küssen. Manchmal war ich so genervt von ihren Mails, dass ich sie erst gar nicht zu Ende las.

Dad hatte wenig Zeit für mich, schon ab der zweiten Woche arbeitete er in der Reederei und kam abends spät nach Hause. Ich sah ihm an, wie erschöpft er war. Alles war neu für ihn, und er gab sich große Mühe, seinen Bruder und seine Mutter zufrieden zu stellen und zu beweisen, dass er nicht der Loser war, für den sie ihn hielten.

Nur Simon schien sich einigermaßen wohl zu fühlen. Er hatte einen neuen Freund gefunden – Gustav. Er folgte ihm in den Garten, ließ sich erklären, wie die Pflanzen hießen und half übereifrig bei allen Arbeiten. Nach Feierabend hielt sich Simon oft bei Gustav und seiner Frau Anna auf, die das alte Verwalterhäuschen am Ende des Parks bewohnten.

Die Heinkes waren die gutmütigsten Menschen, die mir je begegnet waren. Sie waren so, wie man sich die idealen Großeltern vorstellte: liebevoll, ein bisschen behäbig und immer mit einem offenen Ohr für alle Probleme. Kein Wunder, dass sich Simon in ihrer Gegenwart wohlfühlte. Ich wette, er wäre am liebsten auch in das Häuschen gezogen, wenn er gekonnt hätte.

Eines Abends, als ich Simon abholen wollte, weil er ins Bett sollte, luden die Heinkes mich zu einer Tasse Tee ein. Sie saßen auf ihrer kleinen Terrasse, und Gustav war gerade dabei, das Holz in einem Feuerkorb anzuzünden, was Simon mit großen Augen beobachtete. Er war fasziniert von Feuer und redete jetzt schon davon, dass er später einmal Feuerwehrmann werden wollte.

„Bitte, bitte, Bekka, lass mich noch eine Viertelstunde bleiben“, bettelte Simon. „Gustav wollte gerade eine Geschichte erzählen.“

Ich konnte meinem kleinen Bruder den Wunsch nicht abschlagen. Außerdem war es auf dieser Terrasse viel wärmer und gemütlicher als in den kühlen Räumen der Villa.

Anna Heinke kam mit einem Fotoalbum an und zeigte mir Bilder ihrer erwachsenen Kinder, während Gustav sich die Pfeife stopfte. Simon setzte sich neben ihn auf die Holzbank, und der alte Hausmeister legte den Arm um ihn.

„Na, mein Junge, was willst du hören?“

„Erzähl mir weiter von Störtebeker“, antwortete Simon wie aus der Pistole geschossen.

Gustav lachte. „Das habe ich mir schon gedacht.“

Ich hielt die große Teetasse mit beiden Händen und hörte mit einem Ohr zu, während Anna in dem Fotoalbum blätterte und die eine oder andere Bemerkung zu einzelnen Bildern machte. Nach und nach zog mich Gustavs Geschichte immer mehr in Bann. Er war ein wunderbarer Erzähler.

„Klaus und Johanna konnten sich nur heimlich treffen. Johanna war die Tochter eines Lübecker Kaufmanns. Dieser hatte sich der Hanse angeschlossen, einer mächtigen Vereinigung von niederdeutschen Kaufleuten. Die Hanse sorgte dafür, dass die Schiffe der Kaufleute sicher auf den Meeren fuhren und heil an ihrem Zielort ankamen. Störtebeker aber gehörte zu den Vitalienbrüdern, einer Gruppe von Seefahrern, die die Schiffe der Kaufleute überfielen und sich die Beute untereinander aufteilten.“

„Sie waren also Piraten“, erklärte Simon mit glänzenden Augen.

„Richtig.“ Gustav nickte und zog an seiner Pfeife. „Eine Verbindung zwischen Johanna und Klaus war streng verboten, und wenn Johanna erwischt worden wäre, wäre sie von ihrem Vater schwer bestraft worden. Doch ihre Liebe war stärker.“

„Wieso hat er sie nicht einfach entführt?“, fragte Simon. Mein Bruder war manchmal wirklich ein kluges Kerlchen.

„Das hat er dann auch getan“, erzählte Gustav weiter. „Die beiden hatten es satt, sich immer verstecken zu müssen. Außerdem war es für Klaus sehr gefährlich, Johanna zu besuchen. Wenn er entdeckt worden wäre, hätte man ihn sofort festgenommen und verurteilt. Weil ihre Liebe aber so groß war, dass sie nicht voneinander lassen konnten, nahm Klaus Johanna mit auf sein Schiff und brachte sie an einen sicheren Ort. Sie waren sehr glücklich miteinander.“ Gustav ließ seinen Blick in die Ferne schweifen.

„Ist die Geschichte jetzt zu Ende?“, wollte Simon wissen.

Gustav schüttelte den Kopf. „Eines Tages wurde Johanna schwer krank, aber davon erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt ist es Zeit für dich, ins Bett zu gehen.“

„Ich bin aber noch gar nicht müde“, protestierte Simon.

Ich stellte meine Teetasse auf den Tisch zurück. „Nein, wir gehen, Simon.“ Ich stand auf. „Vielen Dank für den Tee und für die Geschichte. – Komm, Simon.“

Anna begleitete uns noch bis zum Kiesweg und drückte mir zum Abschied den Arm. Sie wusste, dass es zwischen mir und meiner Großmutter nicht besonders gut lief.

„Lass dich nicht unterkriegen, Mädchen“, sagte sie. „Du bist stark, das spüre ich. Und außerdem bist du genauso hübsch wie deine Mutter.“

„Danke.“ Ich fühlte, wie ich in der Dunkelheit rot wurde. Anna hatte das Porträt meiner Mutter gesehen, das ich in meinem Zimmer aufgehängt hatte. Die anderen Bilder hatten wir auf den Speicher bringen müssen. Ich hätte so gerne die alten Ölschinken, die überall im Haus hingen, von den Wänden gerissen und durch die leuchtenden Gemälde meiner Mutter ersetzt.

Kugelige Glaslampen beleuchteten unseren Rückweg. Mücken und Nachtfalter umkreisten sie. Manche versuchten so verzweifelt, ans Licht zu gelangen, dass sie den Tod fanden. Meine Bemühungen, Großmutters Zuneigung zu gewinnen, wären vermutlich genauso vergebens. Eher würde ich mir das Genick brechen ...

Die Sommerferien in Hamburg hatten viel früher angefangen als in unserem Heimatort, und schon nächste Woche würde die Schule wieder beginnen.

Ich hatte den Gedanken daran so gut wie möglich verdrängt, denn es graute mir bei der Vorstellung, lauter fremden Lehrern und Mitschülern begegnen zu müssen. Einige Tage vor Unterrichtsbeginn eröffneten mir Dad und Großmutter Cäcilie, dass sie mich auf einem privaten Gymnasium angemeldet hatten.

„Diese Schule hat den allerbesten Ruf“, erklärte Großmutter. „Du wirst einen ausgezeichneten Abschluss machen, und danach steht dir die Welt offen.“

Ich war völlig überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Gleichzeitig kränkte es mich, dass sie mich nicht in ihre Überlegungen einbezogen hatten. Wieder einmal war alles über meinen Kopf hinweg bestimmt worden, aber bei meiner Großmutter wunderte mich das gar nicht. Und Dad, der Feigling, hatte sich angepasst, klar. Simon würde ebenfalls eine Privatschule besuchen.

In meinem Zimmer klappte ich meinen Computer auf und suchte im Internet nach Informationen über meine zukünftige Schule. Beim Wort ‚Privatschule‘ dachte ich sofort an Schuluniform und reiche, verwöhnte Schüler ... Der Besuch auf der Website beruhigte mich. Die Schule war in einem ehrwürdigen Gebäude untergebracht, von Uniformen war nicht die Rede und die Schulleiterin machte auf dem Foto einen sehr sympathischen Eindruck. Es gab eine Menge Kurse und Arbeitsgruppen, die frei wählbar waren. Vielleicht würde ich es doch nicht so schlecht treffen. Das Schulgeld war allerdings auch beachtlich, aber Großmutter Cäcilie war offenbar bereit, monatlich fast 500 Euro in meine Ausbildung zu investieren.

Ich klappte den Laptop zu und blickte nachdenklich auf das Porträt meiner Mutter. In der letzten Zeit hatte ich mir angewöhnt, eine Art Zwiesprache mit dem Bild zu halten und ihr alles zu erzählen, was mich bedrückte. Vielleicht war das ein bisschen seltsam, aber es bewahrte mich davor, verrückt zu werden. Meistens fühlte ich mich danach erleichtert, manchmal sogar etwas getröstet. Es war mein Geheimnis, ich sagte niemandem etwas davon.

„Was meinst du, Mum, werde ich neue Freunde finden?“

Sie saß lächelnd unter dem Rosenbogen. Ihr rotes Kleid hatte dieselbe Farbe wie die Rosen. Einige Blütenblätter waren auf ihren Schoß und auf den Boden gefallen, es sah aus, als löste sich ihr Kleid auf.

Eigentlich war ich jemand, der schnell Anschluss fand. Ich war niemand, der automatisch im Mittelpunkt stand, aber ich konnte gut zuhören. In meiner alten Schule hatte man mich geschätzt. Doch jetzt hatte ich Bauchkribbeln. Würde es hier in Hamburg anders sein, noch dazu an einer solchen Nobelschule?

Das Bild gab keine Antwort, und nachdem ich es lange genug angesehen hatte, gab ich es auf und ging ins Bad, um mich bettfertig zu machen. Auf dem Flur traf ich Dad. Mir fiel auf, wie müde und hager er aussah. Seit Mums Tod hatte er abgenommen. Er war nie dick oder mollig gewesen, aber jetzt war er richtig dünn. Lag es am Stress, an der Trauer? Oder hatte er eine Krankheit und ich würde ihn auch verlieren? In diesem Augenblick bekam ich richtig Panik.

„Dad!“

Er nahm mich in den Arm, und ich schmiegte mich an ihn. Ich roch sein Rasierwasser und ein bisschen Schweiß.

„Wir werden es schaffen, Kleines“, sagte er leise. „Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist. In der Firma bekomme ich auch nichts geschenkt. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“ Er drückte mich fest an sich.

Ich schloss die Augen und gab mich dem Gefühl der Geborgenheit hin. Früher hatte so eine Umarmung gereicht, um mich glauben zu lassen, dass alles gut werden würde. Inzwischen wusste ich, dass Dad nicht allmächtig war und dass es Probleme gab, die er nicht lösen konnte. Aber jetzt wollte ich den Moment genießen und mich einfach fallen lassen. Vielleicht gab es ja doch irgendwann ein neues Leben für uns – ohne die Regeln einer Cäcilie Eckershausen ... Und vielleicht würde ich mich in der neuen Schule wohler fühlen als an der alten ...

Wenige Tage später war es soweit. Gustav Heinke wartete kurz nach sieben neben einem weißen Mercedes, um mich zur Schule zu bringen. Das Auto war sein Dienstwagen, mit dem er auch alle Besorgungen für meine Großmutter erledigte.

Ich hatte in der Nacht kaum schlafen können und vor lauter Nervosität morgens

keinen Bissen heruntergebracht.

Die benötigten Bücher hatte meine Großmutter bereits gekauft und ohne ein Wort auf meinen Schreibtisch gelegt. Ich hatte mir einen neuen Schulrucksack aussuchen dürfen. Als Gustav losfuhr, hätte ich alles darum gegeben, wenn er mich an meine alte Schule gebracht hätte.

„Aufgeregt?“, fragte er. Ihm war nicht entgangen, wie ich auf dem Beifahrersitz herumzappelte, an meinen Haaren drehte und mehrmals in einem Taschenspiegel mein Make-up überprüfte.

„Oh ja“, gab ich zu. „Und wie.“

„Musst du nicht sein, du wirst sehen, alles geht gut.“

„Hoffentlich haben Sie recht.“ Ich seufzte tief.

Gustav konzentrierte sich auf den Verkehr. Ich hätte auch mit der S-Bahn und dem Bus zur Schule fahren können, aber natürlich war es bequemer, einen eigenen Chauffeur zu haben. Der Schulweg dauerte dadurch auch nur zwanzig Minuten. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätte ich die doppelte Zeit gebraucht.

„Na dann – Hals und Beinbruch!“, wünschte mir Gustav. „Hast du meine Handynummer? Ruf mich an, wenn du weißt, wann ich dich heute abholen soll.“

Ich nickte. Als ich durch das schmiedeeiserne Schultor ging, hatte ich einen großen Kloß im Hals. Starrten mich die anderen Schüler an? Trug ich die richtigen Klamotten oder würde man mich gleich als Landei einstufen? Der Rucksack mit den Büchern drückte auf meiner Schulter. Es kam mir endlos vor, bis ich den Schulhof überquert hatte.

WILHELM RAABE GYMNASIUM stand in goldenen Lettern über dem Portal. Ich betrat die Eingangshalle. Auf der rechten Seite befand sich eine Säule mit einer Büste des Dichters, dahinter eine Tafel mit einem Übersichtsplan. Ich versuchte mich zu orientieren.

„Hallo, bist du auch neu?“

Ich blickte zur Seite. Neben mir stand ein sehr dünnes Mädchen. Sie hatte mehrere Piercings im Gesicht, grüne Augen und kurzes schwarzes Haar, das wie das Gefieder eines Raben glänzte. Sie trug kurze Jeans, ein dunkles Top und schwere schwarze Stiefel.

„Hallo“, grüßte ich zurück. „Ich bin Rebekka, aber die meisten nennen mich Bekka.“

„Emma“, stellte sie sich vor. „Wohin musst du?“

„In die 10a.“

„Zufall, ich auch.“ Sie grinste mich an. „Dann können wir ja zusammen auf die Suche gehen.“

Sie stiefelte zielstrebig los. Ich lief neben ihr her.

„Bist du schon mal hier gewesen?“

„Ja, als mein Alter mich angemeldet hat. Du bist nicht von hier, stimmt’s?“

„Hört man das?“

„Ein bisschen. Woher kommst du?“

„Aus der Nähe von Frankfurt“

„Aha. Süddeutschland also.“

„Eher Mitte.“

„Ist ja auch egal. Wieso seid ihr umgezogen?“

Ich zögerte. Emma war mir noch zu fremd, um ihr vom Tod meiner Mutter zu erzählen. So sagte ich nur: „Mein Vater wollte sich beruflich verändern.“

Sie antwortete nichts, sondern steuerte auf eine Klassenzimmertür zu. „Bingo. Hier ist es.“

Es war ein großer, hoher Raum, minzgrün gestrichen. Die Tische waren in Hufeisenform angeordnet. Neben dem Pult stand ein Computertisch. Statt einer grünen Tafel, wie wir sie in meiner alten Schule gehabt hatten, gab es ein Whiteboard. Außer uns war noch niemand im Zimmer.

„Freie Auswahl“, stellte Emma fest. Sie wählte einen Platz am Fenster, dann zog sie ein Nagellackfläschchen aus ihrem Rucksack und begann, sich die Nägel zu lackieren. Ich suchte mir einen Platz drei Stühle weiter aus.

Wenig später kamen drei Mädchen herein. Anscheinend waren es beste Freundinnen, denn sie waren ähnlich gestylt und unterhielten sich laut gestikulierend. Sie setzten sich ebenfalls in die Fensterreihe, die Blondeste beschlagnahmte den Stuhl direkt neben mir.

„Hi! Kannst du mal Platz machen? Esra kommt noch. Wir sitzen immer zusammen.“

„Kein Problem“, murmelte ich und rückte ein Stück weiter zu Emma.

Sie lackierte gerade ihren Zeigefingernagel und blies auf den Lack, damit er schneller trocknete.

„Sind deine langen Haare echt oder hast du Extensions?“, fragte eine der drei Freundinnen. Ich kapierte nicht gleich, dass ich gemeint war.

„He, bist du taub oder verstehst du kein Deutsch?“

Jetzt fixierten mich drei Augenpaare. Zu meinem Ärger spürte ich, wie ich rot wurde. Super. Toller Einstieg.

„Sie sind echt“, antwortete ich und strich meine Haare zurück. An diesem Tag trug ich sie offen. Sie reichten mir fast bis zur Hüfte. Auch das Kupferrot war echt und nicht das Ergebnis von irgendwelchen Mitteln aus der Drogerie. Ich fand, dass meine Haare das Schönste an mir waren. Silke hatte immer behauptet, im Mittelalter wäre ich garantiert als Hexe verbrannt worden – mit dem roten Haar und den grünen Augen. Allerdings waren meine Wimpern und meine Augenbrauen ebenfalls kupferrot, und ich musste mit Kajalstift und Wimperntusche nachhelfen, wenn ich ausdrucksvolle Augen haben wollte.

Jetzt betraten ein paar Jungs den Klassenraum, und das Freundinnen-Trio verlor das Interesse an mir. Einer der Typen sah aus wie ein typischer Nerd – mit nach hinten gegelten Haaren, Nickelbrille, Stoffhosen mit Bügelfalte und einem hellblauen, kurzärmeligen Hemd. Die anderen beiden Jungs mussten Zwillinge sein oder zumindest Brüder. Sie waren ausgesprochen muskulös, sicher trainierten sie hart dafür im Fitnessstudio. Sie waren beide blond und hatten blaue Augen, außerdem trugen sie beide einen Undercut. Ihre Oberarme waren tätowiert, der eine hatte eine Schlange, der andere ein keltisches Symbol.

„Hi, Mareike, läuft’s gut?“ Der mit der Schlange setzte sich zu den Blondinen auf den Tisch. Der andere küsste die beiden anderen Mädchen auf die Wangen.

„Hallo Femke, du siehst noch besser aus als vor den Ferien! Hi, Svenja!“

Emma verdrehte die Augen. Der Nerd setzte sich still an eine Ecke des Hufeisens, zog sein Tablet aus dem Rucksack und begann darauf zu spielen.

Es gongte – ein langgezogener, melodiöser Dreiklang. Zum Glück gab es hier keine nervige Klingel wie an meiner alten Schule. Das Ding hatte einem jedes Mal einen Adrenalinstoß beschert.

Wieder ging die Tür auf. Ein schwarzhaariges Mädchen kam herein, ihre Haare waren noch länger als meine. Ihr folgte ein hochgewachsener Junge. Im ersten Moment war ich überzeugt, dass er sich im Klassenzimmer geirrt hatte, denn er wirkte deutlich älter. Mit seinem schneeweißen Hemd, das er halb aufgeknöpft trug, und seiner teuren Anzughose sah er eher aus wie ein Junglehrer. Seine schwarzen Locken fielen auf den Hemdkragen. Unter den dichten Augenbrauen blitzten blaue Augen.

Emma stieß die Luft aus, und ich hörte, wie sie leise „Wow!“ sagte.

Na ja. Okay, mit seinem Aussehen hätte er als Model für exklusive Herrenmode oder teures Parfüm arbeiten können, aber mein Fall war er nicht. Jede seiner Bewegungen verhieß Arroganz. Er scannte den Klassenraum – oder vielmehr alle Mädchen – mit einem Blick, so als gehöre ihm die Welt, und nahm dann mit einem ironischen Lächeln auf der Wandseite Platz, mir direkt gegenüber. Ich vermied es, ihn anzusehen, aber ich spürte seine Augen.

Das neue Mädchen setzte sich neben die drei Freundinnen. Anscheinend handelte es sich um Esra, die von den anderen schon erwartet worden war. Sie war bildhübsch, obwohl sie sich fast gar nicht geschminkt hatte. Oder sie hatte es so geschickt getan, dass es gar nicht auffiel.

Zusammen mit der Lehrerin kam ein weiterer Trupp Schüler und Schülerinnen herein. Sie verteilten sich auf die freien Plätze.

„Ich bin Anne Janssen und Ihre neue Klassenlehrerin“, stellte sich die Lehrerin vor. Sie war klein, mollig und hatte kurzes blondes Haar. Sie sprach mit leichtem Akzent. Wie ich später erfuhr, war sie Dänin.

„Ich werde Sie in Mathematik und Physik unterrichten. Die meisten von Ihnen kenne ich noch aus dem letzten Schuljahr. Wer neu in dieser Klasse ist, sollte sich kurz vorstellen.“

Wir waren zu dritt: Emma, ich und der schwarzhaarige Junge, der seine Beine inzwischen der Länge nach unter seinem Tisch vorstreckte.

„Wieder mal ein Anlauf, Geissler?“, fragte Frau Janssen spitz.

„Jep.“

„Wie oft wollen Sie noch die Zehnte wiederholen?“

Er grinste nur.

„Ich hoffe, Sie glänzen nicht wieder durch ständige Abwesenheit wie im letzten Jahr. Bitte stellen Sie sich der Klasse vor.“

„Ich schätze, es gibt hier kaum jemanden, der mich nicht kennt.“

An Selbstbewusstsein schien es dem Typen nicht zu mangeln.

„Aber falls einer meinen Namen vergessen hat: Ich bin Juri Geissler. Mit zwei ‚s‘.“

„Sehr erschöpfende Vorstellung“, kommentierte Frau Jansson. „Aber wahrscheinlich gibt es über Sie auch nicht viel mehr zu sagen.“ Sie nickte mir zu. „Würden Sie bitte kurz etwas über sich erzählen?“

„Äh, also ich heiße Rebekka Eckershausen und bin erst vor ein paar Wochen nach Hamburg gezogen.“

„Eckershausen?“ Frau Janssons Augenbrauen hüpften in die Höhe. „Wie die Reederei?“

„Ja. Die Reederei gehört meiner Oma und meinem Onkel.“

Arold, Marliese:

Piratenherz (Leseprobe)

ISBN 978 3 522 68043 1

Einbandgestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, Formlabor

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

© 2015 Planet Girl in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, werden zivil- oder strafrechtlich verfolgt.

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