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Platon: Der Staat | Politeia [Mit Anmerkungen versehen] || Für diese Ausgabe neu editiert, mit modernisierter Rechtschreibung, eBook-Inhaltsverzeichnis und zahlreichen verlinkten Fußnoten || Platons ›Politeia‹ ist das wirkmächtigste Buch der gesamten Philosophiegeschichte. Facettenreich analysiert der griechische Philosoph das Prinzip der Gerechtigkeit und skizziert ein ideales Gemeinwesen. Als Stilmittel nutzt Platon einen fiktiven Dialog zeitgenössischer Denker – darunter sein Lehrer Sokrates – der dazu dient, das Für und Wider aller Positionen abzuwägen. Manche Züge in Platons Idealwelt sind radikal, wie die Abschaffung von Familie und Privateigentum für bestimmte Teile der Gesellschaft. Viele andere sind vernünftig und nachvollziehbar, und wirken bis heute auf zahllose Aspekte der Gesellschaft, vom ganzheitlichen Denken, der Einheit von Seele und Körper, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Bedeutung musischer Erziehung, Altruismus, Führungskultur, bis hin zum Rehabilitationsgedanken beim Strafvollzug. © Redaktion eClassica, 2018
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Seitenzahl: 622
Innentitel
Vorbemerkung
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Viertes Buch
Fünftes Buch
Sechstes Buch
Siebtes Buch
Achtes Buch
Neuntes Buch
Zehntes Buch
Impressum
Fußnoten
Platons ›Politeia‹ ist das wirkmächtigste Buch der gesamten Philosophiegeschichte. Facettenreich und tiefgründig analysiert der griechische Philosoph das Prinzip der Gerechtigkeit und skizziert ein ideales Gemeinwesen, das ein gerechtes und glückliches Leben für alle seine Bürger gewährleistet. Als Stilmittel nutzt Platon einen fiktiven Dialog zeitgenössischer Denker – darunter sein Lehrer Sokrates – der dazu dient, das Für und Wider aller Positionen abzuwägen. Manche Züge in Platons Idealwelt sind radikal, wie die Abschaffung von Familie und Privateigentum für bestimmte Teile der Gesellschaft. Viele andere sind vernünftig und nachvollziehbar, und wirken bis heute auf zahllose Aspekte der Gesellschaft, vom ganzheitlichen Denken, der Einheit von Seele und Körper, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Bedeutung musischer Erziehung, Altruismus, Führungskultur, bis hin zum Rehabilitationsgedanken beim Strafvollzug.
Demokratie ist für Platon nicht die optimale Staatsform, sondern sie stellt eine Übergangsphase dar. Zwar genießen die Bürger hier zahlreiche Freiheiten: Niemand muss in den Krieg ziehen oder ein Amt übernehmen, die freie Rede ist gewährleistet, alles geschieht auf freiwilliger Basis. Als Folge werden allerdings gesetzliche Vorschriften häufig missachtet, verhängte Strafen teils nicht vollstreckt, Anarchie breitet sich aus. Übermut, Verschwendungssucht, Schamlosigkeit und Haltlosigkeit kennzeichnen die Lebensweise der tonangebenden Kreise in der Demokratie. All das wirkt destabilisierend und lässt das Gemeinwesen schließlich ins Gegenteil kippen: die Tyrannenherrschaft.
Demgegenüber entwirft Platon ein Modell der Herrschaft der Weisen, der ›Philosophenherrscher‹, die ihre Führungsrolle auf Grund ihrer Bildung und ihres tiefen Einblicks in die Natur der Dinge erlangen. Die wohl berühmteste Passage der Politeia, das Höhlengleichnis, soll diesen Entwicklungsprozess verdeutlichen.
© Redaktion eClassica, 2018
Zum Autor: Platon (latinisiert Plato) (etwa 428 v. Chr. bis etwa 348 v. Chr.) war ein antiker griechischer Philosoph und Schüler des Sokrates. Die Vielseitigkeit seiner Leistungen als Denker und Schriftsteller machten ihn zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte.
Gestern ging ich in den Peiraieus1 hinab mit Glaukon2, dem Sohn des Ariston, um zur Göttin zu beten und zugleich das Fest zu schauen, wie sie es begehen würden, da sie es jetzt zum ersten Mal feiern. Wirklich fand ich den Zug der Einheimischen schön; doch nicht minder gut nahm sich der aus, welchen die Thraker bildeten. Nachdem wir gebetet und uns satt gesehen, kehrten wir zur Stadt zurück. Da sah uns von Weitem Polemarchos3, Kephalos’ Sohn, heimeilen und gab seinem Burschen Befehl, zu laufen und uns auf ihn warten zu heißen. Der Bursche fasste mich hinten am Rock und sagte: Polemarchos wünscht, dass ihr wartet!
Ich drehte mich um und fragte, wo sein Herr denn sei?
Dort hinten kommt er nach, gab er zur Antwort; aber wartet!
Nun, so wollen wir warten, sagte Glaukon. Und bald darauf kam Polemarchos und Adeimantos, Glaukons Bruder, und Nikeratos, Nikias’ Sohn, und einige andere, weil der Festzug sie zusammengeführt hatte.
Polemarchos begann: Sokrates, ich glaube ihr wollt fort, der Stadt zu?
Nicht unrichtig vermutet, sprach ich.
Siehst du aber, zu wie viel wir sind? fragte er.
Freilich.
Entweder also müsst ihr uns überwältigen, oder ihr müsst hier bleiben, meinte er.
Da gibt es, sagte ich, noch ein Drittes: die Möglichkeit, dass ihr uns fortlassen müsst.
Vermögt ihr, fragte er, auch Leute zu überzeugen, die nicht hören?
Das nicht, versetzte Glaukon.
So richtet euch darauf ein, dass wir nicht hören werden, erwiderte er.
Und Adeimantos sagte: Am Ende wisst ihr nicht einmal, dass auf den Abend ein Fackelrennen zu Ross der Göttin zu Ehren stattfinden wird?
Zu Ross? sagte ich; das ist neu. Werden sie die Fackeln im Wettlauf zu Ross einander weitergeben? Oder wie sonst meinst du?
Wie du gesagt hast, antwortete Polemarchos; und dazu werden sie eine Nachtfeier halten, welche zu sehen der Mühe wert ist. Wir wollen darum nach dem Mahl uns erheben und der Nachtfeier zusehen und werden auf dem Platz viele junge Leute treffen und mit ihnen uns unterhalten. So bleibt denn also und sträubt euch nicht!
Da meinte Glaukon: Ich denke, wir müssen bleiben.
Nun, wenn du meinst, antwortete ich, so soll es geschehen.
Wir gingen nun zurück ins Haus des Polemarchos und trafen dort den Lysias und Euthydemos, Polemarchos’ Brüder, und dann auch Thrasymachos aus Chalkedon und Charmantides aus Paiania, und Kleitophon, Aristonymos’ Sohn. Auch Kephalos war drinnen, der Vater des Polemarchos. Er kam mir sehr alt vor; denn es war auch schon lange her, dass ich ihn gesehen hatte. Bekränzt saß er auf einem Kissen auf dem Stuhl; denn er hatte eben im Hof geopfert. Wir setzten uns nun zu ihm, denn es standen daselbst einige Stühle im Kreis herum.
Gleich wie mich Kephalos sah, grüßte er mich und sagte: Sokrates, du kommst auch gar nicht oft zu uns herunter in den Peiraieus, und solltest doch. Denn wäre ich noch imstande, ohne Anstrengung in die Stadt zu gehen, so brauchtest du nicht hierher zu kommen, sondern wir kämen zu dir. So aber musst du häufiger hierher kommen; denn wisse nur, in demselben Maße als sonst die sinnlichen Genüsse für mich absterben, wächst mein Verlangen und meine Freude an Gesprächen. Tu’ mir also den Gefallen, schenke diesen jungen Leuten deinen Umgang und komme oft hierher zu uns als zu Freunden und ganz guten Bekannten?
Wirklich, Kephalos, antwortete ich, unterhalte ich mich gern mit besonders alten Männern; denn ich meine, man muss sich bei ihnen erkundigen als Vorgängern auf einem Pfad, den auch wir vielleicht werden gehen müssen, wie derselbe beschaffen ist, ob rau und beschwerlich oder leicht und bequem. Und so möchte ich auch dich fragen, was du davon hältst, da du bereits die Jahre erreicht hast, welche die Dichter als »Schwelle des Alters« bezeichnen, ob für einen beschwerlichen Teil des Lebens, oder was du sonst darüber aussagst?
Ich will dir, Sokrates, versetzte er, bei Gott sagen, wie es mir vorkommt. Oftmals kommen unser mehrere zusammen, die in gleichem Alter stehen, das alte Sprichwort in Ehren haltend. Bei diesen Zusammenkünften nun jammern die meisten von uns, indem sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und der Liebesgenüsse gedenken und der Trinkgelage und Schmause und was es sonst noch Ähnliches gibt, und sind verdrießlich, weil sie etwas Großes verloren und damals ein glückliches Leben geführt haben, jetzt aber eigentlich gar keines. Einige beklagen auch die Misshandlungen des Alters durch die Angehörigen und stimmen deshalb über das Alter ein Lied an, was es ihnen alles für Unglück bringe. Mir scheint aber, Sokrates, als würden diese nicht den wahren Schuldigen beschuldigen; denn wäre das Alter schuldig, so müsste auch ich um seinetwillen dieselbe Erfahrung gemacht haben, und die übrigen alle, welche diese Lebensstufe erreicht haben. Nun aber habe ich auch schon andere getroffen, bei denen es nicht so war; namentlich war ich einmal dabei, wie jemand an den Dichter Sophokles die Frage richtete: »Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Vermagst du noch einem Weibe beizuwohnen?« Der antwortete: »Nimm deine Zunge in Acht, Mensch; bin ich doch herzlich froh, dass ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist!« Schon damals deuchte mir das wohlgesprochen und auch jetzt nicht minder: denn immerhin hat man im Alter in diesen Beziehungen vollkommenen Frieden und Freiheit. Wenn nämlich die Anspannung durch die Begierden aufgehört hat und sie nachgelassen haben, so wird allerdings das Wort des Sophokles wahr: von sehr zahlreichen tollen Gebietern kommt man los. Aber in dieser Beziehung und betreffs des Verhältnisses zu den Angehörigen ist die Ursache dieselbe, und zwar nicht das Alter, Sokrates, sondern der Charakter der Menschen. Sind sie geordnet und verträglich, so sind auch die Beschwerden des Alters mäßig; wo nicht, – so ist für einen solchen, Sokrates, Alter wie Jugend beschwerlich.
Ich hatte meine Freude daran, ihn so sprechen zu hören, und da ich wollte, dass er weiter rede, so stachelte ich ihn mit den Worten: Kephalos, ich meine, die Menge wird dich nicht ankommen lassen, wenn du so sprichst, sondern meint, du trägst leicht am Alter nicht wegen deines Charakters, sondern weil du ein großes Vermögen besitzt: denn die Reichen, heißt es, haben viele Tröstungen.
Du hast recht, antwortete er; freilich lassen sie’s nicht gelten; und etwas ist daran, aber so viel nicht, als sie meinen; sondern das Wort des Themistokles trifft zu, der dem Seriphier, der ihn schmähte und meinte, nicht sich selbst, sondern seiner Heimat habe er seinen Ruhm zu verdanken, die Antwort gab: »Ich wäre als Seriphier nicht berühmt geworden, und du nicht als Athener.« Und das passt ganz gut auf die, welche nicht reich sind und schwer am Alter tragen: weder wird der Brave, wenn er arm ist, das Alter vollkommen leicht ertragen, noch wird der Nichtbrave, auch wenn er reich ist, je mit sich zufrieden sein.
Hast du, Kephalos, fragte ich, dein Vermögen zum größeren Teil überkommen oder selbst erworben?
Was soll ich erworben haben, Sokrates? erwiderte er; ich habe in Bezug auf das Geschäftsglück die Mitte gehalten zwischen meinem Großvater und meinem Vater: mein Großvater, dessen Namen ich trage, hat ungefähr so viel Vermögen, als ich besitze, geerbt und hat es vervielfacht: mein Vater Lysanias aber hat es noch kleiner gemacht, als es jetzt ist: ich bin zufrieden, wenn ich diesen da nicht weniger hinterlasse, sondern ein bisschen mehr, als ich bekommen habe.
Nun, weshalb ich dich fragte, fuhr ich fort, war, weil es mir schien, als ob du auf das Geld keinen besonderen Wert legtest. So machen es gewöhnlich solche, welche es nicht selbst erworben haben; wer es erworben hat, der hat es doppelt so lieb als die anderen. Denn wie die Dichter ihre Gedichte und die Väter ihre Kinder lieb haben, so ist es denen, welche das Geld erworben haben, Ernst mit dem Geld, als ihrem eigenen Werk, und dann noch überdies wegen seiner Nützlichkeit, wie den andern auch. Daher ist es auch unangenehm, mit ihnen umzugehen, weil sie nichts loben mögen als den Reichtum.
Das ist wahr, sagte er.
Immerhin, sprach ich; aber sage mir noch so viel: Was hältst du für den bedeutendsten Vorteil, den du von deinem großen Vermögen gehabt hast?
Etwas, antwortete er, was mir vielleicht nicht viele glauben werden. Denn wisse nur, Sokrates, wenn man nahe daran ist, dass man glaubt sterben zu müssen, so wandelt einen Furcht und Sorge an über Dinge, an die man vorher nicht gedacht hat. Denn die bekannten Sagen vom Zustand in der Unterwelt, dass, wer hier Unrecht getan, dort Strafe leiden müsse, über die man sich bis dahin lustig gemacht, beunruhigen nunmehr einen innerlich, ob sie nicht am Ende doch wahr seien, und entweder aus Altersschwäche oder auch, weil man jener Welt jetzt näher ist, beschaut man sie mehr. Da wird man voll Unruhe und Furcht und besinnt sich und prüft sich, ob man einmal jemandem Unrecht getan. Wer nun in seinem Leben viele ungerechte Handlungen findet, der fährt sogar oft erschrocken aus dem Schlaf auf, wie die Kinder, und lebt in schlimmer Erwartung; dem aber, der sich keines Unrechts bewusst ist, dem steht immer frohe Hoffnung zur Seite, und die gute Alterspflegerin, wie Pindar4 sich ausdrückt. Denn anmutig, Sokrates, sagt er, wer gerecht und heilig das Leben verbringe,
Von solchem weicht nie des Herzens Labsal, die freudvolle AlterspflegerinHoffnung, die am allermeisten der Erdensöhn’ unsteten Sinn lenkt.5
Das ist ausgezeichnet schön gesprochen; und in dieser Beziehung, behaupte ich, ist der Besitz von Geld sehr viel wert, jedoch nicht für jedermann, sondern nur für den Braven. Denn dass man auch nicht unfreiwillig jemand betrogen oder belogen hat, noch auch einem Gott Opfer oder einem Menschen Geld schuldig ist und deshalb sich fürchtet, dorthin abzugehen, dazu trägt einen bedeutenden Teil der Besitz von Geld bei. Es hat auch noch viele andere nützliche Seiten; aber, eins mit dem andern verglichen, möchte ich als nicht das Unbedeutendste aufstellen, dass hierzu, Sokrates, für einen verständigen Mann der Reichtum von größtem Nutzen ist. Sehr schön gesprochen, Kephalos, sagte ich. Dieses eben aber, die Gerechtigkeit, sollen wir es nur so einfach als die Wahrhaftigkeit bezeichnen und als das Zurückgeben, wenn man etwas von jemand bekommen hat, oder heißt dieses selbst bald gerecht, bald ungerecht handeln? Ich meine z.B. einen Fall wie folgenden: Wenn jemand bei gesundem Verstand einem Freund Waffen übergäbe und im Zustand des Wahnsinns sie zurückforderte, so wird wohl jedermann sagen, dass man weder zur Zurückgabe von dergleichen verpflichtet sei, noch der Zurückgebende gerecht wäre noch auch einer, der einem Menschen von diesem Zustand die volle Wahrheit sagen wollte.
Du hast recht, antwortete er.
Also ist nicht dies die Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit, dass man die Wahrheit sagt und das Anvertraute zurückgibt.
O ja, doch, Sokrates, sprach Polemarchos, das Wort ergreifend, insofern man wenigstens dem Simonides recht geben darf.
Nun ja, sagte Kephalos, gern übergebe ich euch das Gespräch; denn ich muss jetzt nach dem Opfer sehen.
Du setzt also, fragte ich, den Polemarchos zu deinem Erben ein?
Jawohl, antwortete er lachend und ging damit zum Opfer.
So sage denn also, begann ich, du Erbe des Gesprächs, welches ist die Äußerung des Simonides6über die Gerechtigkeit, die du richtig findest?
Dass gerecht ist, jedem geben, was man ihm schuldig ist, antwortete er; mit diesem Satz scheint er mir wenigstens recht zu haben.
Freilich, sagte ich, dem Simonides ist es nicht leicht den Glauben zu versagen: denn es ist ein weiser und göttlicher Mann; indessen was das heißt, was er da sagt, verstehst vielleicht du, Polemarchos, – ich aber begreife es nicht; denn offenbar ist, dass er nicht das meint, wovon wir eben gesprochen, das Zurückgeben anvertrauten Gutes an wen auch immer, wenn er es bei getrübtem Verstand zurückfordert; und doch ist man schuldig, was man uns anvertraut hat, – nicht wahr?
Freilich.
Man darf also schlechterdings nicht zurückgeben, wenn jemand bei getrübtem Verstand zurückfordert?
Du hast recht, antwortete er.
Es scheint also, dass Simonides etwas anderes meint als derartiges, wenn er sagt, dass es gerecht sei, zurückzugeben, was man schuldig sei.
Freilich, bei Zeus, etwas anderes, erwiderte er: er meint nämlich, dass Freunde schuldig seien, Freunden Gutes zu tun und nichts Böses.
Ich verstehe, sagte ich: denn der tut nicht seine Schuldigkeit, welcher jemandem, der ihm Gold anvertraut hat, es zurückgibt, insofern das Zurückgeben und Inempfangnehmen nachteilig ist und der Zurücknehmende und der Zurückgebende Freunde sind; meinst du nicht, dass Simonides es so versteht?
Allerdings.
Wie aber – den Feinden muss man geben, was immer man ihnen gerade schuldig ist?
Jedenfalls, antwortete er, was man ihnen schuldig ist; schuldig aber ist, denke ich, ein Feind dem Feind, wie billig, etwas Böses.
So hat denn also, sagte ich, wie es scheint, Simonides nach Dichterart angedeutet, was das Gerechte sei: er dachte nämlich, wie sich herausstellt, gerecht sei, dass man jedem gebe, was ihm gebühre, und hat dies als Schuldigkeit bezeichnet.
Was ist aber deine Ansicht? fragte er.
Bei Zeus, erwiderte ich, wenn nun jemand die Frage an ihn richtete: »Simonides, wem gibt die Kunst, welche man Arzneikunst nennt, das Schuldige und Gebührende, und was gibt sie?«- was glaubst du, dass er uns antworten würde?
Offenbar, antwortete er, diejenige, die den Körpern Heilmittel gibt und Speise und Trank.
Und wem gibt die als Kochkunst bezeichnete Kunst das Schuldige und Gebührende, und was gibt sie?
Den Speisen den Wohlgeschmack.
Nun ja; wem gibt nun aber die als Gerechtigkeit zu bezeichnende Kunst etwas, und was gibt sie ihnen?
Wenn man sich an das früher Gesagte anschließen soll, Sokrates, erwiderte er, – gibt sie den Freunden und den Feinden Nutzen und Schaden.
Also den Freunden Gutes und den Feinden Schlechtes tun nennt er Gerechtigkeit?
So deucht mir.
Wer vermag nun am meisten, kranken Freunden Gutes zu tun und kranken Feinden Schlechtes in Bezug auf Krankheit und Genesung?
Der Arzt.
Und wer den zu Schiff Fahrenden in Bezug auf die Gefahren der See?
Der Steuermann.
Wie ist’s nun mit dem Gerechten? In welcher Lage und in welcher Beziehung vermag er am meisten Freunden zu nützen und Feinden zu schaden?
Im Bekriegen und im Beistandleisten, deucht mir.
Gut; für Nichtkranke ist nun aber doch, mein lieber Polemarchos, der Arzt unbrauchbar?
Allerdings.
Und für Nichtschiffahrende der Steuermann.
Freilich.
So ist denn also auch für Nichtkriegführende der Gerechte unbrauchbar?
Das meine ich durchaus nicht.
Also ist die Gerechtigkeit auch im Frieden brauchbar?
Sie ist es.
Das ist auch der Ackerbau; oder nicht?
Ja.
Und zwar zur Gewinnung von Frucht?
Ja.
Aber auch die Schusterkunst?
Ja.
Und zur Gewinnung von Schuhen, wirst du wohl sagen?
Natürlich.
Was ist nun aber das, zu dessen Gebrauch oder Gewinnung die Gerechtigkeit dir im Frieden brauchbar zu sein scheint?
Zum Verkehr, Sokrates.
Unter Verkehr verstehst du gemeinschaftliches Treiben; oder etwas anderes?
Ja, gemeinschaftliches Treiben.
Ist aber der Gerechte gut und brauchbar zur Gemeinschaft im Setzen der Steine des Brettspiels, oder der Brettspielkundige?
Letzterer.
Aber zur Gemeinschaft im Setzen der Ziegel und Bausteine ist wohl der Gerechte brauchbarer und besser als der Baukundige?
Keineswegs.
Zu welcher Gemeinschaft ist nun also der Gerechte ein passenderer Teilnehmer als der Zitherkundige, wie der Zitherkundige ein besserer als der Gerechte ist in Bezug auf die im Saitenschlagen?
Zu der im Geld, deucht mir.
Ausgenommen etwa, Polemarchos, zum Gebrauchen des Geldes, wenn man für Geld gemeinsam ein Pferd kaufen oder verkaufen muss? In diesem Fall ist’s, meine ich, der Pferdekundige; ist’s so?
Offenbar.
Und wenn ein Fahrzeug – der Schiffsbauer oder der Steuermann?
So scheint’s.
Bei welcher Art von gemeinschaftlichem Gebrauch des Silbers oder Goldes ist nun also der Gerechte brauchbarer als die übrigen?
Wenn es aufbewahrt und erhalten werden soll.
Du meinst also, wenn es nicht gebraucht, sondern hingelegt werden soll?
Allerdings.
Wenn also das Geld unbrauchbar ist, dann ist die Gerechtigkeit bei ihm brauchbar?
So scheint’s.
Und wenn ferner eine Hippe aufbewahrt werden soll, ist die Gerechtigkeit brauchbar, gemeinschaftlich und für den Einzelnen; wenn sie aber gebraucht werden soll, dann die Winzerkunst?
Offenbar.
So wirst du auch sagen, dass, wenn ein Schild und eine Leier aufbewahrt werden soll und nicht gebraucht, – die Gerechtigkeit brauchbar ist; wenn aber gebraucht, dann die Fechtkunst und die Tonkunst?
Notwendig.
Und so ist auch bei allen anderen Dingen die Gerechtigkeit zum Gebrauch eines jeden unbrauchbar, bei dessen Nichtgebrauch aber brauchbar?
So scheint es.
Da wäre nun also, mein Lieber, die Gerechtigkeit nichts besonders Wertvolles, wenn sie zum Nichtgebrauch brauchbar ist. Wir wollen aber Folgendes in Betracht ziehen: Ist nicht derjenige, welcher am kräftigsten dreinschlägt im Kampf, sei es nun im Faustkampf oder in einem anderen, auch am kräftigsten, sich zu schützen?
Allerdings.
Und wer befähigt ist, vor einer Krankheit sich zu schützen und sie nicht zu bekommen, der ist auch besonders fähig, sie jemandem beizubringen?
Ich glaube.
Dann ist der ein guter Hüter eines Heeres, der auch der Feinde Pläne und sonstige Angelegenheiten wegzustehlen vermag?
Allerdings.
Wovon also jemand ein geschickter Hüter ist, davon ist er auch ein geschickter Stehler.
So scheint’s.
Wenn nun also der Gerechte geschickt ist, das Geld zu bewahren, so ist er auch geschickt, es zu stehlen?
Das folgt wenigstens aus der Entwicklung.
Als ein Dieb wäre demnach, scheint es, der Gerechte erwiesen, und du scheinst das von Homer gelernt zu haben; denn der hat an Odysseus’ mütterlichem Großvater Autolykos seine Freude und sagt, er habe alle Menschen überboten im Stehlen und Schwören. Es scheint demnach die Gerechtigkeit nach dir und nach Homer und nach Simonides eine Fertigkeit im Stehlen zu sein, nur zum Vorteil der Freunde und zum Nachteil der Feinde; hast du nicht so gesagt?
Nein, bei Zeus, antwortete er; aber ich weiß selbst nicht mehr, was ich gesagt habe: doch das meine ich immer noch, dass die Gerechtigkeit ist, den Freunden nützen und den Feinden schaden.
Verstehst du unter Freunden diejenigen, welche jeder für rechtschaffen hält, oder diejenigen, welche es sind, auch ohne, dass sie es scheinen? Und unter Feinden ebenso?
Es ist doch wohl natürlich, dass man diejenigen liebt, die man für rechtschaffen hält, und hasst, wen man für schlecht hält.
Täuschen sich aber nicht die Menschen in dieser Beziehung, sodass sie viele für rechtschaffen halten, die es nicht sind, und viele umgekehrt?
Allerdings.
Für diese also sind die Guten Feinde, die Schlechten Freunde?
Freilich.
Dennoch aber ist es dann für diese gerecht, den Schlechten zu nützen und den Guten zu schaden?
Offenbar.
Nun sind aber doch die Guten gerecht und nicht von der Art, dass sie Unrecht tun.
Das ist wahr.
Nach deinen Worten wäre es also gerecht, denen Schlechtes zu tun, die nicht Unrecht tun.
Beileibe nicht, Sokrates, erwiderte er: denn eine schlechte Rede scheint das zu sein.
So ist es also, sagte ich, gerecht, den Ungerechten zu schaden und den Gerechten zu nützen.
Das ist offenbar besser als vorhin.
Vielen also, Polemarchos, die sich in den Menschen getäuscht haben, wird es begegnen, dass es für sie gerecht ist, ihren Freunden zu schaden – denn sie haben schlechte – und ihren Feinden zu nützen – denn sie haben gute; und so kommen wir auf das gerade Gegenteil von dem, was wir als Meinung des Simonides bezeichnet haben.
Freilich, antwortete er, geht es so; doch wir wollen eine Abänderung vornehmen: denn es scheint, als hätten wir den Freund und den Feind nicht richtig bestimmt.
Inwiefern, Polemarchos?
Sofern wir annahmen, dass Freund der sei, den man für rechtschaffen halte.
Wie wollen wir’s nun abändern? fragte ich.
Dass Freund derjenige sei, antwortete er, wer rechtschaffen scheine und es auch sei, und dass der, welcher es scheine, aber nicht sei, gleichfalls nur Freund scheine, aber nicht sei; und in Betreff des Feindes gelte dieselbe Bestimmung.
Freund wäre dann also, wie es scheint, nach diesen Worten der Gute, Feind aber der Schlechte?
Ja.
Du heißt uns also dem Gerechten etwas beifügen, was wir zuerst nicht sagten, indem wir als gerecht bezeichneten, dem Freund Gutes zu erweisen und dem Feind Schlechtes; jetzt aber sollen wir außerdem noch sagen, dass gerecht ist, dem Freund, als einem Guten, Gutes zu erweisen und dem Feind, als einem Schlechten, zu schaden?
Allerdings, erwiderte er; so scheint es mir richtig gesprochen. Es gehört also, sagte ich, zu einem gerechten Mann, dass er irgendjemandem schade?
Allerdings, antwortete er; den Schlechten und Feinden muss man schaden.
Werden Pferde, denen man Schaden antut, besser oder schlechter?
Schlechter.
In Bezug auf das, was die Tüchtigkeit der Hunde ausmacht, oder was die der Pferde ausmacht?
Letzteres.
Werden also auch Hunde, denen man Schaden tut, schlechter in Bezug auf ihre Tüchtigkeit als Hunde, aber nicht als Pferde?
Notwendig.
Von den Menschen aber, mein Freund, werden wir nicht sagen müssen, dass sie, wenn man ihnen Schaden antut, schlechter werden in Bezug auf die menschliche Tugend?
Freilich.
Ist aber die Gerechtigkeit nicht eine menschliche Tugend?
Auch das ist notwendig.
Die Menschen also, mein Lieber, denen man schadet, müssen notwendig ungerechter werden?
So scheint es.
Können nun aber die Tonkünstler jemand durch die Tonkunst zum Tonkunstlaien machen?
Unmöglich.
Aber die Reitkünstler durch die Reitkunst zum Nichtreiter?
Kann nicht sein.
Aber also die Gerechten durch die Gerechtigkeit zum Ungerechten? Oder überhaupt die Guten durch die Tugend zum Schlechten?
Unmöglich.
Denn nicht der Hitze Sache ist es, denke ich, kalt zu machen, sondern des Gegenteils.
Ja.
Und nicht der Trockenheit, feucht zu machen, sondern des Gegenteils.
Allerdings.
Also auch nicht des Guten, zu schaden, sondern des Gegenteils.
Offenbar.
Der Gerechte aber ist doch gut?
Allerdings.
So ist es also, Polemarchos, nicht des Gerechten Sache, zu schaden, weder einem Freund noch sonst jemandem, sondern des Gegenteils, des Ungerechten.
Du scheinst mir vollständig recht zu haben, Sokrates, erwiderte er.
Wenn also jemand sagt, gerecht sei, dass man jedem gebe, was man ihm schuldig sei, und darunter das versteht, dass der gerechte Mann den Feinden Schaden schuldig sei und den Freunden Nutzen, so war der nicht weise, der so gesprochen hat; denn er hat etwas gesagt, was nicht wahr ist, da wir nirgends gefunden haben, dass gerecht sei, irgendjemandem zu schaden.
Ich gebe es zu, sagte er.
So wollen wir also, sprach ich, gemeinsam kämpfen, ich und du, wenn jemand behauptet, Simonides habe es gesagt oder Bias oder Pittakos oder sonst einer der weisen und gepriesenen Männer.
Ich bin jedenfalls bereit, am Kampf teilzunehmen, sprach er.
Aber weißt du, sagte ich, wem nach meiner Ansicht die Äußerung angehört, das Wort, es sei gerecht, den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden?
Nun? fragte er.
Ich glaube, dass sie von Periandros herrührt oder Perdikkas oder Xerxes oder dem Thebaner Ismenias oder einem anderen sich für mächtig haltenden reichen Mann.
Du hast ganz recht, sagte er.
Gut, fuhr ich fort; da nun aber auch dies weder als die Gerechtigkeit noch als das Gerechte sich erwiesen hat, als was anderes soll man es dann bezeichnen?
Noch während unseres Gespräches hatte Thrasymachos öfters einen Anlauf genommen, uns zu unterbrechen und das Wort zu ergreifen, war aber von seinen Nebensitzern daran gehindert worden, weil diese das Gespräch zu Ende hören wollten; als wir aber eine Pause machten und ich jene Worte gesprochen hatte, konnte er nicht mehr ruhig bleiben, sondern, sich zusammenkrümmend, stürzte er wie ein wildes Tier auf uns los, um uns zu zerreißen. Ich und Polemarchos gerieten in Angst und Bestürzung; er aber schrie mitten unter uns hinein: Was für Unsinn treibt ihr da schon lange, Sokrates? Und wie mögt ihr so einfältig euch anstellen und einander selbst ausweichen? Wenn du wirklich erfahren willst, was das Gerechte ist, so musst du nicht bloß fragen und deine Eitelkeit damit kitzeln, es zu widerlegen, wenn dir jemand eine Antwort gibt, weil du wohl weißt, dass es leichter ist, zu fragen, als zu antworten, sondern du musst auch selbst antworten und sagen, was du als das Gerechte bezeichnest. Und dass du mir nur nicht sagst, es sei das Pflichtmäßige oder das Nützliche oder das Vorteilhafte oder das Gewinnbringende oder das Zuträgliche; sondern deutlich und genau musst du mir sagen, was du sagst: denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn du mir mit solchem Zeug kommst.
Wie ich das hörte, erschrak ich und blickte ihn voll Angst an, und ich glaube, hätte ich ihn nicht eher angesehen als er mich, so hätte ich die Stimme verloren. So aber blickte ich ihn zuerst an, als er sich in die Hitze hineinzusprechen anfing, und infolgedessen war ich imstande, ihm zu antworten, und sprach denn mit einigem Zittern: Thrasymachos, sei nicht böse auf uns; denn haben wir uns verfehlt in der Erörterung des Gesprächs, ich und dieser da; so wisse nur, dass wir es nicht absichtlich getan haben! Denn glaube nur nicht, dass wir zwar, wenn wir nach Gold suchten, einander nimmermehr mit Willen höflich aus dem Wege gingen beim Suchen und das Finden vereiteln würden, aber beim Suchen nach der Gerechtigkeit, die doch wertvoller ist als viele Goldhaufen, so unverständig vor einander ausweichen und uns nicht ernsthaft bemühen, dass sie möglichst zutage komme. Das glaube ja nicht, mein Lieber! Sondern ich glaube, an unseren Kräften fehlt es. Darum solltet ihr Starken billigerweise viel eher Mitleid mit uns fühlen als uns böse werden!
Und wie er das hörte, schlug er ein ganz höhnisches Gelächter auf und rief: Ach du lieber Herakles, da haben wir wieder die gewöhnliche Ironie des Sokrates! Und das habe ich wohl gewusst und diesen da vorausgesagt, dass du eine Antwort nicht werdest geben wollen, sondern dich unwissend stellen und alles eher tun, als eine Frage beantworten.
Drum bist du auch ein Weiser, Thrasymachos, sagte ich. Demgemäß musstest du wohl wissen, dass, wenn du jemanden fragtest, wieviel zwölf sei, und dabei im Voraus erklärtest: »Dass du, Mensch, mir aber nur nicht sagst, zwölf sei zweimal sechs oder dreimal vier oder sechsmal zwei oder viermal drei, – denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn du mir mit solchem Zeug kommst« – da wusstest du, denke ich, doch wohl, dass auf eine solche Frage niemand eine Antwort geben wird. Aber wenn er zu dir sagte: »Thrasymachos, wie meinst du? Keine von den Antworten, die du vorausbezeichnet, soll ich geben? Auch nicht, du Unbegreiflicher, wenn eine von diesen etwa die rechte ist? Sondern soll ich etwas anderes sagen als das Wahre? Oder wie sonst meinst du« – was würdest du ihm darauf erwidern?
Schön, erwiderte er; dieser Fall hat mit jenem wirklich ungeheure Ähnlichkeit!
Das macht nichts, sagte ich; wenn er nun aber auch keine Ähnlichkeit hat, der Gefragte aber glaubt einmal, er habe eine solche, – meinst du, er werde weniger antworten, wie es ihm vorkommt, ob wir es ihm verbieten oder nicht?
Du wirst es also auch so machen? fragte er; du wirst eine von den Antworten geben, die ich verboten habe?
Es würde mich nicht wundernehmen, erwiderte ich, wenn meine Untersuchung auf dieses Ergebnis führte.
Wie ist’s nun, sprach er, wenn ich in Betreff der Gerechtigkeit eine Antwort zum Besten gebe, die anders ist als alle diese und besser als sie: wozu erbietest du dich dann?
Zu was anderem, erwiderte ich, als was gebührendermaßen der Nichtwissende zu leiden hat? Und das ist: zu lernen von dem Wissenden. Dem will denn auch ich mich unterziehen.
Du bist sehr liebenswürdig, erwiderte er; aber außer dem Lernen musst du auch Geld zahlen.
Nun ja, wenn ich habe, sagte ich.
Oh, da fehlt’s nicht, sprach Glaukon; wegen des Geldes sage es immerhin, Thrasymachos: wir alle werden dem Sokrates beisteuern.
Ja, ja, das glaube ich, antwortete er: damit Sokrates es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift und widerlegt.
Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand Antworten geben, der erstens nichts weiß und auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens, wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu sagen, was er meint, von einem nicht schlechten Mann? Aber an dir ist’s vielmehr zu sprechen; denn du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können. Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und gib die Antwort, und missgönne auch dem Glaukon da und den andern die Belehrung nicht ?
Als ich so sprach, baten ihn Glaukon und die andern, darauf einzugehen. Dem Thrasymachos sah man wohl an, wie begierig er sei, zu sprechen, um Ruhm zu ernten, da er eine ausgezeichnete Antwort zu haben glaubte; indessen stellte er sich, als bestände er eigensinnig darauf, dass ich antworte.
Zuletzt gab er jedoch nach und sprach: Das ist eben die Weisheit des Sokrates, dass er selbst nicht belehren will, sondern bei den andern herumgehen und von ihnen lernen und dafür nicht einmal sich bedanken.
Dass ich von den andern lerne, antwortete ich, darin hast du recht, Thrasymachos; dass du aber behauptest, ich danke dafür nicht, damit sagst du eine Unwahrheit; denn ich danke, so sehr ich kann; ich kann aber nur loben, weil ich Geld nicht habe. Wie gern ich aber das tue, sofern ich glaube, dass jemand gut spreche, das sollst du gar bald erfahren, falls du antwortest; denn ich glaube, dass du gut sprechen wirst.
So höre denn, sagte er: Ich behaupte, dass das Gerechte nichts anderes ist als das dem Überlegenen Zuträgliche. – Nun, warum lobst du nicht? Du wirst eben nicht mögen!
Sobald ich verstehe, was du meinst, erwiderte ich; denn für jetzt weiß ich’s noch nicht. Das dem Überlegenen Zuträgliche, behauptest du, sei das Gerechte. Wie verstehst du das nun, Thrasymachos? Denn du meinst es wohl jedenfalls nicht so: wenn der Pankrationsleger Pulydamas uns überlegen ist und ihm Rindfleisch für den Leib zuträglich ist, sei diese Nahrung zugleich auch uns, die wir schwächer sind als er, zuträglich und gerecht?
Du bist ein abscheulicher Mensch, Sokrates, sagte er, und fasst die Worte immer von der Seite auf, wo du sie recht schlecht machen kannst.
Keineswegs, mein Bester, sagte ich; aber sprich deutlicher aus, was du meinst!
Weißt du denn nicht, sprach er, dass von den Staaten die einen durch Tyrannen beherrscht, die andern demokratisch und wieder andere aristokratisch eingerichtet sind?
Wie sollte ich nicht?
Ist denn nun nicht dieses, das Regierende, in jedem Staat das Überlegene?
Freilich.
Jede Regierung gibt doch die Gesetze mit Rücksicht auf das, was ihr zuträglich ist: die Demokratie demokratische, die Tyrannis tyrannische und die andern ebenso. Wenn sie sie gegeben, so haben sie damit ausgesprochen, dass dies, das ihnen Zuträgliche, für die Regierten gerecht sei, und den, der das übertritt, bestrafen sie als einen Gesetzesübertreter und Frevler. Das also, mein Bester, ist das, was ich meine: dass in allen Staaten das nämliche gerecht ist, nämlich das der bestellenden Regierung Zuträgliche. Diese aber ist in Überlegenheit, sodass richtiges Nachdenken ergibt, wie das Gerechte überall dasselbe ist: nämlich das dem Überlegenen Zuträgliche.
Jetzt, sagte ich, habe ich verstanden, was du meinst; ob es aber richtig ist oder nicht, darüber will ich versuchen, mich zu unterrichten. Das Zuträgliche also, Thrasymachos, hast auch du mir zur Antwort gegeben, sei das Gerechte; und doch hast du mir verboten, diese Antwort zu geben; es steht aber dabei noch: dem Überlegenen.
Vermutlich ein unbedeutender Zusatz? sprach er.
Es ist mir noch nicht klar, auch nicht ob ein bedeutender; aber das ist klar, dass man untersuchen muss, ob du recht hast. Denn da auch ich zugebe, dass etwas Zuträgliches das Gerechte ist, du aber einen Beisatz machst und behauptest, das dem Überlegenen Zuträgliche sei es, ich aber das nicht weiß, so muss man also eine Untersuchung anstellen.
So stelle sie eben an, sagte er.
Das soll geschehen, sagte ich. So sage nur denn: Nicht wahr, du erklärst für gerecht, dass man den Regierenden auch jedenfalls gehorche?
Allerdings.
Sind nun die in den einzelnen Staaten Regierenden fehlerfrei, oder gleichfalls imstande, Fehler zu machen?
Freilich sind sie imstande, Fehler zu machen.
Indem sie also Gesetze zu geben unternehmen, machen sie die einen richtig, andere aber nicht richtig?
So glaube ich.
Richtig gemacht sind dann wohl die, welche für sie zuträglich sind, nicht richtig aber die nicht zuträglichen? Oder wie meinst du?
Ebenso.
Was sie aber auch verordnen, müssen die Regierten tun, und das ist das Gerechte?
Wie sollte es nicht?
Also heißt nach deinen Worten gerecht nicht nur das dem Überlegenen Zuträgliche tun, sondern auch das Gegenteil, das nicht Zuträgliche.
Was sagst du da? sprach er.
Was du selbst sagst, deucht mir. So wollen wir’s denn besser untersuchen! Ist nicht zugestanden, dass die Regierenden, indem sie den Regierten vorschreiben, dies und das zu tun, manchmal sich gegen ihr eigenes Beste verfehlen, und dass für die Regierten gerecht sei, zu tun, was auch immer die Regierenden befehlen? Ist das nicht zugestanden?
Ich glaube, ja, antwortete er.
Nun, so glaube auch, fuhr ich fort, dass du zugestanden hast, gerecht sei, auch das den Regierenden und Überlegenen nicht Zuträgliche zu tun, sofern die Regierenden gegen ihren Willen etwas für sie selbst Nachteiliges befehlen und nach deiner eigenen Behauptung für die Regierten gerecht ist, das zu tun, was jene befehlen. Tritt dann, mein weisester Thrasymachos, nicht die Notwendigkeit ein, dass es auf die bezeichnete Art geht, dass gerecht ist, das Gegenteil von dem zu tun, was du sagst? Denn es wird ja den Schwächeren befohlen, das dem Überlegenen nicht Zuträgliche zu tun.
Ja, bei Zeus, das ist ganz klar, Sokrates, sprach Polemarchos.
Freilich, wenn du es ihm bezeugst! fiel Kleitophon ein.
Was bedarf es da eines Zeugen? erwiderte jener; Thrasymachos gibt ja selbst zu, dass die Regierenden manchmal ihnen selbst schädliche Befehle geben, und dass für die Regierten gerecht ist, danach zu handeln.
Ja, Polemarchos; denn Thrasymachos hat als gerecht bezeichnet, das von den Regierten Befohlene zu tun.
Andererseits, Kleitophon, hat er als gerecht bezeichnet, das den Überlegenen Zuträgliche zu tun. Indem er dieses beides aufstellte, hat er hinwiederum zugestanden, dass manchmal die Überlegenen die Schwächeren und Regierten heißen, das ihnen selbst Unzuträgliche zu tun. Nach diesen Zugeständnissen wäre das dem Überlegenen Unzuträgliche ebenso sehr gerecht als das ihm Zuträgliche.
Aber, wendete Kleitophon ein, er hat ja gesagt, das dem Überlegenen Zuträgliche sei, was dieser selbst dafür halte: dies müsse der Schwächere tun, und das hat er als das Gerechte bezeichnet.
Nein, so ist nicht gesagt worden, erwiderte Polemarchos.
Tut nichts, Polemarchos, sagte ich; wenn Thrasymachos jetzt so sagt, so wollen wir es so von ihm annehmen. – So sage mir denn, Thrasymachos, war es das, was du von dem Gerechten sagen wolltest, es sei das, was dem Überlegenen, als dem Überlegenen, zuträglich erscheine, mag es nun wirklich zuträglich sein oder nicht? Dürfen wir annehmen, dass das deine Meinung sei?
Durchaus nicht, erwiderte er: vielmehr glaubst du denn, ich nenne überlegen den Fehlermachenden in dem Augenblick, wo er Fehler macht?
Ich meinte, antwortete ich, du sagest das, als du zugestandest, dass die Regierenden nicht fehlerfrei seien, sondern auch Fehler machten.
Du bist halt ein Schikaneur, Sokrates, bei den Gesprächen, erwiderte er. Heißt du denn z.B. einen Arzt denjenigen, der in Bezug auf die Kranken Fehler macht, eben insofern er Fehler macht? Oder einen Rechenmeister, wer im Rechnen Fehler macht, eben dann, wenn er Fehler macht, in Rücksicht auf diesen Fehler? Vielmehr, denke ich, drücken wir uns nur so aus: der Arzt oder der Rechenmeister oder der Schreiber hat einen Fehler gemacht; in Wahrheit aber macht keiner von diesen insoweit, als er das ist, was wir ihn nennen, je einen Fehler, sodass, scharf ausgedrückt – denn du bist ja auch haarspalterisch – kein Meister einen Fehler begeht. Denn wer Fehler begeht, begeht sie infolge einer Mangelhaftigkeit seines Wissens in Solchem, worin er nicht Meister ist. Folglich macht kein Meister oder Weiser oder Regierender dann einen Fehler, wenn er Regierender ist. Dennoch aber sagt jedermann, der Arzt hat einen Fehler gemacht und der Regierende hat einen Fehler gemacht. In solcher Weise musst du auch meine jetzige Antwort auffassen; das Genaueste aber ist, dass der Regierende, sofern er Regierender ist, nicht Fehler macht und, weil er nicht Fehler macht, das für ihn Beste verordne, und dass dies der Regierte zu tun habe. Und so bleibe ich denn bei dem, was ich von Anfang an sagte: Gerecht ist, das dem Überlegenen Zuträgliche zu tun.
So, so, Thrasymachos, sagte ich, du hältst mich für einen Schikaneur?
Jawohl, versetzte er.
Du meinst wohl, ich habe in hinterlistiger Absicht, um dich im Gespräch zu übervorteilen, dich so gefragt, wie ich gefragt habe?
Ja, das weiß ich gewiss; aber es soll dir nichts nützen: denn du wirst weder versteckt mich übervorteilen können noch auch offene Gewalt mir durch die Rede anzutun vermögen.
Ich würde es auch nicht wagen, mein Bester, erwiderte ich. Aber, damit es uns nicht wieder so geht, bestimme, in welchem Sinne du den Regierenden und den Überlegenen verstehst: ob nach der gewöhnlichen Sprechweise, oder nach dem genauen Ausdruck, wie du eben ihn bezeichnetest, denjenigen, dem – als dem Überlegenen – der Schwächere, wenn er gerecht sein will, tun muss, was diesem zuträglich ist?
Den, der nach dem genauesten Ausdruck Regierender ist.
Daran lass deine Bosheit und deine Schikanen aus, wenn du kannst; ich hindere dich nicht; aber es ist mir nicht bange, dass du’s kannst.
Hältst du mich, sagte ich, für so wahnsinnig, dass ich es versuchte, einen Löwen zu scheren und einen Thrasymachos zu schikanieren?
Eben hast du’s doch versucht, sagte er, obwohl deine Sache auch dabei nichts ist.
Genug jetzt von diesen Dingen, sprach ich; aber sage mir: Der Arzt in dem strengen Sinn, von dem du eben gesprochen, – ist er einer, der Geld erwirbt, oder einer, der Kranke heilt? Dabei nimm den wirklichen Arzt!
Der, welcher Kranke heilt, versetzte er.
Und der Steuermann – ist der richtig gefasste Steuermann ein Regierer der Mitfahrenden, oder ein Mitfahrender?
Ein Regierer der Mitfahrenden.
Es ist also keine Rücksicht darauf zu nehmen, dass er in dem Schiff mitfährt, und er ist nicht Mitfahrender zu nennen; denn nicht in Bezug auf das Mitfahren heißt er Steuermann, sondern in Bezug auf die Kunst und das Regieren der Mitfahrenden.
Richtig, sagte er.
Jeder von diesen hat nun wohl etwas, das ihm zuträglich ist?
Freilich.
Ist nicht auch die Kunst, fragte ich, dazu da, das einem jeden Zuträgliche zu suchen und zu verschaffen?
Allerdings, antwortete er.
Ist nun auch jeder einzelnen Kunst etwas anderes außer ihr Liegendes zuträglich als dies, dass sie möglichst vollkommen sei? Und bedarf sie dessen noch, um möglichst vollendet zu sein, oder ist dazu jede sich selbst genug?
Wie verstehst du diese Frage?
Wenn du, versetzte ich, z.B. mich fragen würdest, ob es dem Leib genug sei, Leib zu sein, oder ob er noch eines anderen bedürfe, würde ich antworten: Allerdings bedarf er eines anderen. Eben darum ist jetzt auch die Heilkunst erfunden, weil der Leib mangelhaft ist und es ihm nicht genügt, Leib zu sein. Um nun ihm das Zuträgliche zu verschaffen, dazu ist die Kunst da. Hältst du das für richtig oder nicht?
Für richtig, erwiderte er.
Wie steht’s nun? Ist die Heilkunst selbst auch mangelhaft, oder bedarf irgendeine andere Kunst noch einer weiteren Tüchtigkeit, wie die Augen des Sehens, die Ohren des Hörens, und ist daher bei ihnen noch eine Kunst erforderlich, welche das, was zu eben diesen Zwecken zuträglich ist, zu untersuchen und herbeizuschaffen hat? Ist also auch in der Kunst selbst eine Mangelhaftigkeit, und bedarf jede Kunst einer anderen, die das für sie Zuträgliche zu untersuchen hat, und die Untersuchende hinwiederum einer anderen derartigen, und so ins Unendliche fort? Oder wird sie selbst das ihr Zuträgliche untersuchen? Oder bedarf sie weder ihrer selbst noch einer anderen zu ihrer Mangelhaftigkeit hin, um das Zuträgliche zu erkennen? Denn weder ein Mangel noch ein Fehler haftet irgendeiner Kunst an, noch auch kommt es einer Kunst zu, für einen anderen das Zuträgliche zu suchen, als für den, dessen Kunst sie ist: und sie selbst ist, sofern sie die rechte ist, unversehrt und ungetrübt, solange eine jede genau ganz das ist, was sie ist. Betrachte es in jenem strengen Sinn und sage, ob es so ist oder anders?
Es ist offenbar so, antwortete er.
Also nicht für sich selbst erforscht die Heilkunst das Zuträgliche, sondern für den Leib?
Ja, erwiderte er.
Und die Reitkunst nicht für sich, sondern für die Pferde, und auch keine andere Kunst für sich selbst – denn sie bedarf nichts weiter –, sondern für das, dessen Kunst sie ist?
Offenbar ist’s so, versetzte er.
Sind nun, Thrasymachos, die Künste in Bezug auf das, dessen Künste sie sind, regierend und überlegen?
Hier war er nur mit großer Mühe dazu zu bringen, dass er es zugab.
Demnach erforscht und verordnet keine Wissenschaft das dem Überlegenen Zuträgliche, sondern das dem Schwächeren und von ihm Regierten Zuträgliche.
Auch das gab er endlich zu, machte aber einen Versuch es anzufechten.
Nachdem er es aber zugestanden, fuhr ich fort: Also auch kein Arzt, sofern er Arzt ist, erforscht und verordnet das dem Arzt Zuträgliche, sondern das dem Kranken Zuträgliche? Denn es ist zugegeben, dass der Arzt im strengen Sinn ein Regierer der Leiber ist, nicht aber einer, der Geld erwirbt; oder ist’s nicht zugegeben?
Er bejahte es.
Also ist auch der Steuermann, genau gefasst, Regierer der Mitfahrenden, nicht aber selbst Mitfahrender?
Zugegeben.
Also wird ein solcher Steuermann und Regierer nicht das dem Steuermann Zuträgliche untersuchen und gebieten, sondern das dem Mitfahrenden und Regierten Zuträgliche?
Nur ungern stimmte er bei.
Also, sage ich, auch kein anderer, Thrasymachos, der irgendetwas regiert, erforscht und gebietet, sofern er Regierer ist, das ihm selbst Zuträgliche, sondern das dem Regierten und dem, für welchen er arbeitet, Zuträgliche; und auf ihn hinblickend und auf das, was ihm zuträglich und geziemend ist, spricht und tut er alles, was er spricht und tut.
Als wir nun mit dem Gespräch soweit waren und es allen einleuchtend war, dass die Begriffsbestimmung des Gerechten ins Gegenteil umgeschlagen sei, hob Thrasymachos, statt zu antworten, an: Sage mir, Sokrates, hast du eine Amme?
Wieso? sagte ich; solltest du nicht eher Antwort geben als eine solche Frage stellen?
Nun – weil sie deine Nase überlaufen sieht und sie dir nicht putzt, wie sie sollte, da du ihr Schafe und Hirten nicht auseinanderkennst.
Inwiefern denn das? fragte ich.
Weil du glaubst, die Schaf- oder Rinderhirten sehen auf das Beste ihrer Schafe oder Rinder und haben, wenn sie sie mästen und pflegen, etwas anderes im Auge als das Beste ihrer Herrn und ihr eigenes Bestes, und ebenso glaubst, die in einem Staat Regierenden – wenn sie wahrhafte Regierer sind – seien gegenüber den Regierten anders gesinnt, als man es Schafen gegenüber ist, und denken Tag und Nacht an etwas anderes, als wie sie sich selbst nützen können. Und so sehr bist du auf dem Irrweg in Bezug auf das Gerechte und die Gerechtigkeit und das Ungerechte und die Ungerechtigkeit, dass du nicht einsiehst, wie die Gerechtigkeit und das Gerechte in Wahrheit das Beste eines anderen sind, nämlich das dem Überlegenen und Regierenden Zuträgliche, für den Gehorchenden und Dienenden aber der eigene Schaden, und wie die Ungerechtigkeit das Gegenteil ist und die in Wahrheit Einfältigen und Gerechten regiert, und wie die Regierten das ihm Zuträgliche tun, weil er überlegen ist, und ihn durch ihr Dienen glücklich machen, sich selbst aber schlechterdings nicht. Und dass der Gerechte dem Ungerechten gegenüber allenthalben im Nachteil ist, davon muss man, du einfältiger Sokrates, auf folgende Weise sich überzeugen: Fürs Erste im gegenseitigen Verkehr wirst du, wenn ein solcher mit einem solchen Gemeinschaft hat, bei Auflösung der Verbindung niemals finden, dass der Gerechte gegen den Ungerechten im Vorteil ist, sondern vielmehr im Nachteil; dann in den Beziehungen zum Staat zahlt der Gerechte, wenn es sich um Steuern handelt, vom Gleichen mehr, der andere weniger; und wenn es sich ums Einnehmen handelt, so macht der eine keinen, der andere vielen Gewinn. Und wenn beide ein Amt bekleiden, so trifft den Gerechten, wenn kein anderer so jedenfalls der Nachteil, dass sein Hauswesen infolge der Vernachlässigung in schlimmeren Stand kommt und er aus der Staatskasse keinen Nutzen zieht, weil er gerecht ist, und dass er außerdem verhasst wird bei seinen Angehörigen und Bekannten, wenn er ihnen nicht dem Rechte zuwider dienen will; bei dem Ungerechten aber ist alles dieses umgekehrt: ich meine nämlich denjenigen, von dem ich eben gesprochen, den, welcher imstande ist, seinen Vorteil in großem Maßstab zu verfolgen. Diesen musst du in Betracht ziehen, wenn du beurteilen willst, um wie viel mehr es ihm persönlich zuträglich ist, ungerecht zu sein, als gerecht. Am allerleichtesten aber wirst du es einsehen, wenn du an die vollendetste Ungerechtigkeit herangehst, die den, der Unrecht begeht, ganz glücklich macht, die aber, welche Unrecht leiden und nicht Unrecht tun mögen, ganz unglücklich. Das heißt aber Tyrannei, die das fremde Gut nicht stückweise wegnimmt, sowohl heimlich als mit offener Gewalt, Heiliges und Erlaubtes, Persönliches und Öffentliches, sondern alles zusammen. Wenn jemand von diesen Ungerechtigkeiten eine einzelne begangen hat und es an den Tag kommt, so wird er gestraft und hat die größte Schande; denn Kirchenräuber und Seelenverkäufer und Einbrecher und Räuber und Diebe heißen diejenigen, welche solche Freveltaten einzeln verüben. Wenn aber jemand außer der Habe der Bürger auch noch ihre Personen knechtet, so bekommen sie statt jener beschimpfenden Benennungen die Titel »glücklich« und »preiswürdig«, nicht bloß von den Staatsangehörigen, sondern auch von allen andern, die vernehmen, dass er die Ungerechtigkeit im Großen treibt; denn nicht weil sie das Ungerechte zu tun, sondern weil sie es zu leiden fürchten, schmähen auf die Ungerechtigkeit die, welche sie schmähen. So ist denn also, Sokrates, die Ungerechtigkeit, wenn sie auf tüchtige Weise geschieht, etwas Stärkeres und Edleres und Gewaltigeres als die Gerechtigkeit, und wie ich von Anfang an sagte: das dem Überlegenen Zuträgliche ist das Gerechte, und das Ungerechte ist das, was einem selbst nützlich und – zuträglich ist.
Nach diesen Worten wollte Thrasymachos weggehen, nachdem er uns wie ein Bademeister einen dichten und reichen Strom von Worten über die Ohren gegossen hatte. Aber die Anwesenden gaben es nicht zu, sondern nötigten ihn, zu bleiben und über das Gesprochene Rede zu stehen. Und ich selbst auch bat ihn dringend und sagte: O wunderlicher Thrasymachos, was hast du da für eine Rede unter uns geschleudert und willst jetzt fortgehen, ehe du recht gelehrt oder gelernt hast, ob es sich so verhält oder anders? Oder glaubst du, dass es etwas Unbedeutendes sei, was du zu bestimmen suchst, und nicht vielmehr die Lebensweise, durch deren Befolgung ein jeder von uns das nutzenbringendste Leben führen würde?
Bin ich denn in dieser Beziehung anderer Ansicht? erwiderte Thrasymachos.
Es scheint in der Tat, sagte ich, als ob du nicht für uns sorgtest und dich nicht darum bekümmertest, ob wir schlechter oder besser leben werden infolge davon, dass wir nicht wissen, was du zu wissen behauptest. Aber, mein Guter, entschließe dich, auch uns es zu zeigen: es wird dir wahrlich nicht übel angelegt sein, was du uns, die wir so zahlreich sind, Gutes erweist. Denn ich meinerseits sage dir, dass ich nicht überzeugt bin und nicht glaube, dass Ungerechtigkeit gewinnbringender sei als Gerechtigkeit, auch nicht, wenn man sie gewähren lässt und sie nicht hindert, zu tun, was sie will. Sondern, mein Guter, es sei jemand ungerecht und imstande. Unrecht zu tun, entweder weil er nicht entdeckt wird oder weil er es durchfechten kann: dennoch überzeugt er mich nicht, dass sie gewinnbringender sei als die Gerechtigkeit. Und so geht’s vielleicht noch anderen unter uns, nicht allein mir. Überzeuge uns nun, mein Bester, genügend, dass wir nicht richtig denken, wenn wir die Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit stellen!
Wie soll ich dich aber überzeugen? entgegnete er; wenn dich das nicht überzeugt hat, was ich eben gesagt habe, was soll ich denn weiter mit dir anfangen? Soll ich dir etwa die Vernunft eintrichtern?
Nein, bei Zeus, antwortete ich, das lass sein; statt dessen bleibe vor allem bei dem, was du jedes Mal sagst, oder wenn du’s abändern willst, so ändere es offen ab und täusche uns nicht! So aber siehst du, Thrasymachos, – wir wollen nämlich das Frühere noch in Betracht ziehen –, wie du zuerst den Arzt im strengen Sinn aufgestellt hast, aber nachher den Hirten nicht mehr genau im strengen Sinn festhalten zu müssen glaubtest, sondern du glaubst, er sehe, sofern er Hirt ist, beim Mästen der Schafe nicht auf das Beste der Schafe, sondern – wie einer, der eine Mahlzeit halten und schmausen will, – auf die Schmauserei, oder auch auf das Verkaufen, wie ein Geschäftsmann, aber nicht wie ein Hirte. Aber die Hirtenkunst sorgt doch wohl für nichts anderes, als dem, wofür sie aufgestellt ist, das Beste zu verschaffen; denn für das auf sie selbst sich Beziehende, dass sie vollkommen gut sei, dafür ist doch wohl hinreichend gesorgt, solange ihr nichts dazu fehlt, dass sie Hirtenkunst sei. So, glaubte ich denn auch, müssen wir jetzt notwendig zugestehen, dass jede Regierung, sofern sie Regierung ist, auf keines anderen Bestes sehen müsse als auf das jener, der Regierten und ihrer Sorge Anvertrauten, im Regieren des Staates wie der Einzelnen. Und glaubst du denn, dass die, welche in den Staaten regieren, die Regierenden im strengen Sinn, freiwillig regieren?
Nein, bei Zeus, erwiderte er, sondern ich weiß es gewiss.
Wie, Thrasymachos? sagte ich; denkst du nicht daran, dass die anderen Regierungsstellen niemand freiwillig übernehmen mag, sondern sie fordern Belohnung, weil ja das Regieren nicht ihnen selbst Vorteil bringen werde, sondern den Regierten? Dann sage mir so viel: Behaupten wir denn nicht, dass jede Kunst dadurch jedes Mal eine andere sei, dass sie eine andere Wirkung hat? Und, mein Bester, gib nicht eine Antwort, die nicht hierher gehört, damit wir auch etwas zustande bringen!
Nun ja, erwiderte er, dadurch ist sie eine andere.
Also bietet auch jede uns einen besonderen Nutzen und keinen gemeinsamen, z.B. die Heilkunst Gesundheit, die Steuermannskunst Sicherheit im Schifffahren, und die anderen ebenso?
Allerdings.
Also auch die Kunst Lohn zu erwerben – den Lohn? Denn das ist ja ihre Wirkung. Oder behauptest du, dass die Heilkunst und die Steuermannskunst dieselbe sei? Und sofern du, wie du dir vorgenommen, scharf unterscheiden willst, so wirst du, wenn jemand vom Steuern gesund wird, weil ihm das Seefahren zuträglich ist, darum dennoch nicht sie Heilkunst nennen?
O nein, antwortete er.
Auch nicht, denke ich, die Kunst Lohn zu erwerben, wenn jemand beim Lohndienst gesund ist?
O nein.
Wie nun? Nennst du die Heilkunst eine Lohnerwerbskunst, wenn jemand durchs Heilen Lohn erwirbt?
Nein, sagte er.
Nun haben wir aber zugegeben, dass der Nutzen jeder Kunst ein besonderer sei?
Allerdings, sagte er.
Wenn also alle Künstler gemeinsam einen Nutzen haben, so haben sie ihn offenbar davon, dass sie das nämliche gemeinsam noch zu ihrer Kunst hin anwenden?
So scheint’s, erwiderte er.
So behaupten wir denn, dass der Nutzen, den die Künstler haben, indem sie Lohn gewinnen, ihnen davon werde, dass sie dazu noch die Lohnerwerbskunst anwenden.
Ungern gab er’s zu.
Also nicht von seiner eigenen Kunst hat jeder diesen Nutzen, das Gewinnen von Lohn; sondern, genau genommen, schafft die Heilkunst Gesundheit und die Lohnerwerbskunst Lohn; die Baukunst ein Haus und die an sie sich anschließende Lohnerwerbskunst Lohn; und von den übrigen allen wirkt so jede ihr Werk und schafft den Nutzen, zu dem sie geordnet ist. Falls aber zu seiner Kunst kein Lohn hinzukommt, hat dann der Künstler Nutzen von ihr?
Offenbar nicht, antwortete er.
Nützt er also auch nicht, wenn er umsonst arbeitet?
Ich glaube doch.
So ist also, Thrasymachos, das jetzt klar, dass keine Kunst noch Regierung das ihr selbst Nützliche schafft; sondern, wie wir schon längst gesagt haben, sie schafft und gebietet das dem Regierten Missliche, indem sie das ihm als dem Schwächeren Zuträgliche ins Auge fasst, nicht das dem Stärkeren Zuträgliche. Und deshalb, mein lieber Thrasymachos, habe ich auch vorhin gesagt, dass niemand Lust habe, freiwillig zu regieren und sich mit der Verbesserung der schlechten Lage anderer zu befassen, sondern Lohn verlange, weil der, welcher recht nach der Kunst handelt, nie für sein eigenes Bestes handelt noch es gebietet, wenn er kunstgerecht gebietet, sondern für den Regierten; und darum, scheint’s, müsse Belohnung gereicht werden denen, die zum Regieren Lust bekommen sollen, entweder Geld oder Ehre, oder aber Strafe für den Fall, dass er nicht regiert.
Wie meinst du das, Sokrates? fragte Glaukon. Die beiden Belohnungen verstehe ich; was du aber mit der Strafe meinst, und inwiefern du sie neben den Belohnungen aufgeführt hast, habe ich noch nicht begriffen.
So verstehst du also die Belohnung der Besten noch nicht, die, um deren willen die Wackersten regieren, wenn sie regieren mögen? Oder weißt du nicht, dass Ehrsucht und Geldgier für eine Schande gelten und es auch sind?
O ja, erwiderte er.
Darum also, fuhr ich fort, mögen die Guten weder um des Geldes willen regieren noch der Ehre wegen; denn weder wollen sie offen für das Regieren Sold nehmen und sich Söldlinge nennen lassen, noch ihn infolge ihres Regierens selbst heimlich sich aneignen und Diebe heißen: andererseits auch nicht um der Ehre willen, denn sie sind nicht ehrsüchtig. Es muss denn also bei ihnen eine Nötigung hinzukommen und eine Strafe, wenn sie sollen regieren wollen; und deswegen scheint’s, gilt es für schmählich, freiwillig, ohne eine Nötigung abzuwarten, an das Regieren zu gehen. Die größte Strafe aber ist, dass man von einem Schlechteren regiert wird, sofern man nicht selbst regieren mag; aus Furcht vor diesem scheinen mir die edlen Männer zu regieren, wenn sie regieren. Und dann gehen sie an’s Regieren nicht als an etwas Gutes, noch in der Erwartung, dass sie es dabei gut haben werden, sondern als an eine Notwendigkeit und weil sie keine Besseren, als sie selbst sind, und auch keine ebenso Guten haben, denen sie’s anvertrauen könnten. Denn es scheint, wenn ein Staat aus lauter guten Männern bestände, so würde man sich um das Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das Regieren, und da würde es dann an den Tag kommen, dass in Wahrheit ein wahrhafter Regierer nicht die Art hat, auf das zu sehen, was ihm selbst zuträglich ist, sondern auf das, was dem Regierten zuträglich ist: sodass jeder, der Einsicht hätte, es vorzöge, sich von einem andern nützen zu lassen, statt sich damit zu bemühen, andern zu nützen. Das also gebe ich dem Thrasymachos schlechterdings nicht zu, dass das Gerechte das dem Überlegenen Zuträgliche ist. Doch das wollen wir ein anderes Mal untersuchen. Viel wichtiger scheint mir zu sein, was Thrasymachos jetzt sagt, indem er behauptet, das Leben des Ungerechten sei besser als das des Gerechten; wie wählst nun du, Glaukon? fragte ich; und welches von beiden hältst du für das Richtigere?
Ich, erwiderte Glaukon, glaube, dass das Leben des Gerechten vorteilhafter ist.
Hast du gehört, sagte ich, wie viele Vorteile Thrasymachos eben an dem des Ungerechten aufgezählt hat?
Gehört habe ich’s, versetzte er, aber ich glaube es nicht.
Willst du nun, dass wir, sofern wir ein Mittel ausfindig machen können, ihn überzeugen, dass er nicht recht hat?
Wie sollte ich’s nicht wollen? antwortete er.
Falls wir nun, fuhr ich fort, seiner Rede gegenüber die unsrige Punkt um Punkt entfalten, wie viele Vorteile andererseits das Gerechtsein hat, und dann wieder er, und dann wieder wir, so wird man die Vorteile zusammenzurechnen und zu messen haben, die wir beide an beidem angegeben haben, und wir werden dann irgendwelche Richter zur Entscheidung nötig haben; wenn wir aber, wie vorhin, bei der Untersuchung den Weg der gegenseitigen Verständigung einschlagen, so werden wir selbst zugleich Richter und Redner sein.
Allerdings, sagte er.
Welche von beiden Weisen gefällt nun dir? fragte ich.
Die Letztere, erwiderte er.
Wohlan denn also, Thrasymachos, sagte ich, antworte uns von Neuem: Behauptest du, dass die vollendete Ungerechtigkeit vorteilhafter sei als die vollendete Gerechtigkeit?
Allerdings behaupte ich das, erwiderte er, und aus welchen Gründen, habe ich angegeben.
Nun denn – wie sprichst du über sie in dieser Beziehung: Nennst du das eine von beiden Tugend, das andere Schlechtigkeit?
Wie sollte ich nicht?
Also die Gerechtigkeit Tugend und die Ungerechtigkeit Schlechtigkeit?
Natürlich, du Schalk! erwiderte er: weil ich ja sage, dass die Ungerechtigkeit nützlich sei, die Gerechtigkeit aber nicht?
Nun, wie denn?
Umgekehrt, antwortete er.
Also die Gerechtigkeit sei Schlechtigkeit?
Das nicht, aber eine sehr gründliche Gutmütigkeit.
Die Ungerechtigkeit also nennst du Bösartigkeit?
Nein, sondern Gescheitheit im Handeln, versetzte er.
Du hältst also, Thrasymachos, die Ungerechten für klug und gut?
Diejenigen allerdings, antwortete er, welche imstande sind, in vollkommener Weise Unrecht zu tun, die ganze Staaten und Völker sich zu unterwerfen vermögen, – während du, scheint es, meinst, ich rede von Beutelschneidern. Es ist nun zwar auch das nützlich, sofern es nicht entdeckt wird; indessen ist es nicht der Rede wert, sondern nur das, was ich eben genannt habe.
Was du sagen willst, erwiderte ich, verstehe ich ganz wohl; aber darüber wundere ich mich, dass du die Ungerechtigkeit zur Tugend und Weisheit rechnest, die Gerechtigkeit aber zum Gegenteil.
Allerdings tue ich das.
Das ist nun schon unverdaulicher, mein Bester, bemerkte ich, und es ist nicht mehr leicht, was man dazu sagen soll. Denn hättest du behauptet, die Ungerechtigkeit sei nützlich, jedoch wie andere Leute zugegeben, dass sie eine Schlechtigkeit und Schmach sei, so wüssten wir etwas zu sagen, indem wir uns an die gewöhnlichen Begriffe hielten; nun aber willst du offenbar behaupten, dass sie gar etwas Schönes und Dauerhaftes sei, und willst ihr alles das beilegen, was wir dem Gerechten beizulegen pflegen, indem du gewagt hast, sie sogar zur Tugend und Weisheit zu rechnen.
Ganz richtig geweissagt, versetzte er.
Indessen, sagte ich, darf man kein Bedenken tragen, der Behauptung untersuchend nachzugehen, solange ich annehmen darf, dass du deine wirkliche Ansicht aussprichst. Denn es scheint mir, Thrasymachos, dass du jetzt wirklich nicht scherzt, sondern deine Überzeugung hinsichtlich der Gerechtigkeit aussprichst.
Was macht es dir aus, erwiderte er, ob es meine Überzeugung ist oder nicht, und warum widerlegst du nicht das Gesagte?
Nichts macht es mir aus, versetzte ich; aber versuche mir nur noch auf folgendes Antwort zu geben: Glaubst du, dass ein Gerechter vor dem anderen etwas voraushaben will?
Durchaus nicht, antwortete er; denn dann wäre er ja nicht so höflich und einfältig, wie er ist.
Wie? Auch nicht im Gerechthandeln?
Auch darin nicht, erwiderte er.
Vor dem Ungerechten aber etwas vorauszuhaben wird er für angemessen und gerecht halten, oder wird er es nicht für gerecht halten?
Er wird’s wohl glauben und für angemessen halten, versetzte er, aber es nicht vermögen.
Aber danach frage ich nicht, sagte ich, sondern ob der Gerechte zwar vor dem Gerechten nichts vorauszuhaben begehrt und will, wohl aber vor dem Ungerechten?
Nun, so ist’s, antwortete er.
Und der Ungerechte – begehrt er, vor dem Gerechten etwas vorauszuhaben auch in dem Gerechthandeln?
Wie sollte er nicht? erwiderte er; denn er begehrt in allem etwas vorauszuhaben.
Also auch vor dem ungerechten Menschen und Handeln wird der Ungerechte etwas voraushaben wollen und mit ihm wetteifern, damit er von allem am meisten bekommt?
So ist’s.
Wir behaupten also, fuhr ich fort; der Gerechte will vor dem Gleichen nichts voraushaben, wohl aber vor dem Ungleichen, der Ungerechte aber sowohl vor dem Gleichen wie vor dem Ungleichen?
Vortrefflich ausgedrückt, sagte er.