Plenny Anna - Anne Grasse - E-Book

Plenny Anna E-Book

Anne Grasse

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Beschreibung

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Anna wurde nach Russland verschleppt und ist Zwangsarbeiterin auf einem Sowchosenhof. Ihre schmerzhaften Erinnerungen an Deutschland lassen sie oftmals verzweifeln. Doch dank der Menschlichkeit des russischen Verwalters gelingt es Anna, sich ein neues Leben aufzubauen. Aber dann wird Anna freigelassen und kehrt nach Deutschland zurück - und muss sich ihrer Vergangenheit stellen.

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Anne Grasse

Plenny Anna

Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen beiden Beta-Leserinnen für ihre Hilfe, ihre Tipps und die notwendige Kritik bedanken: Kathi Bloch und Sigrid Diekmann. Ebenso meinen Dank für das schöne Cover, das von Kathy Simons erstellt wurde. Anne Grasse BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Geschichte frei erfunden ist.

 

Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, Orten oder Geschehnissen ist absolut zufällig und völlig unbeabsichtigt.

 

Anne Grasse

Der Gutshof

Anna lief über den großen Haupthof, der von verschiedenen Wirtschaftsgebäuden umgeben war, meistens einfache Scheunen oder Stallungen aus Holz. In einem davon hatte sie gerade zu Abend gegessen  – zusammen mit den sechzehn anderen Deutschen, die hier als Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten mussten.

Doch während die Männer, alles ehemalige deutsche Soldaten, sich nun in geordneten Reihen aufstellten, ging Anna ohne Eile zum Küchenhaus hinüber. Es war eines der wenigen zweistöckigen Gebäude, und über der großen Küche befanden sich einige Lagerräume. Einer davon war ihre Schlafkammer geworden. Anna war dem russischen Gutsverwalter sehr dankbar dafür, dass sie nicht mehr in das Internierungslager musste, das wenige hundert Meter hinter dem großen Gutshof lag.

Aus dem Herrenhaus, dem größten Gebäude auf dem weitläufigen Hof – eigentlich ein ehemaliges, herrschaftliches Gut, das nun längst einer Sowchose angehörte – rannten zwei Kinder auf sie zu. Katharina, die zwölfjährige Tochter des Gutsverwalters Wassilji Schirjajew und ihr jüngerer Bruder Pjotr winkten aufgeregt.

Der kleine, neunjährige Junge sprudelte einen langen Wortschwall heraus, von dem Anna kaum etwas verstand. Katharina hielt ihm lachend den Mund zu. Doch auch sie selbst schaffte es nur mit Mühe, langsam genug zu sprechen, damit Anna sie auch verstand. Schließlich lernte die neue Freundin erst seit Kurzem russisch.

„Anna, Vater hat doch jetzt schon Zeit. Das heißt, wir fahren in ein paar Tagen in die Ferien. Weit in den Norden. Wir haben dort eine Datscha. Anna, weißt du, was eine Datscha ist?“

Das Mädchen wartete kaum das Nicken der etwa vierzigjährigen Frau ab. Aufgeregt berichtete sie weiter, während Pjotr von einem Bein auf das andere hüpfte und immer wieder dazwischen sprach. Anna musste sich sehr anstrengen, um die Kinder zu verstehen.

„Wir werden zwei Tage unterwegs sein, immer mit der Eisenbahn. Und von der Station fahren wir dann mit dem Schlitten. In Sibirien liegt jetzt überall Schnee, deshalb kann man nur mit dem Pferdeschlitten fahren. Es dauert immer lange – stundenlang – bis wir das Landhaus erreichen. Es liegt am Waldrand und es ist wundervoll dort.“

Mit strahlenden Gesichtern sahen die Kinder Anna an. Einen Moment blickte sie regungslos in die lachenden Kinderaugen. Ein seltsames Gefühl erwachte in ihr, das sie nicht sofort benennen konnte. Was war das? Ihr war doch sonst alles gleichgültig. Sie empfand schon lange keine Gefühle mehr, spürte weder Schmerz noch Kummer, weder Trauer noch Leid, aber auch keine Hoffnung und keine Freude. Dies war die einzige Möglichkeit für sie, ihr Leben zu ertragen und den schmerzhaften Erinnerungen zu entfliehen. Doch bei dem Gedanken, die Kinder wochenlang nicht mehr zu sehen, nicht mit ihnen sprechen zu können, fühlte sie eine seltsame Traurigkeit. Sie würde die Kinder vermissen, stellte sie erstaunt fest.

Zum ersten Mal umarmte Anna die beiden. Als sie spürte, wie diese die Umarmung erwiderten, stieg eine wohlige Wärme in ihr auf.

„Ich wünsche euch schöne Ferien, aber ich werde euch vermissen.“

Katharina lachte sie an: „Aber du kommst doch mit, Anna. Vater hat gesagt, sonst tanzen wir ihm nur die ganze Zeit auf dem Kopf herum. Mama kann nicht mitkommen, es ist dort zu kalt für sie.“

Anna war verblüfft. Das Mädchen sprach eifrig weiter: „Vater hat mit Hauptmann Blinow gesprochen und durchgesetzt, dass wir dich mitnehmen dürfen.“ Für die Kinder war es selbstverständlich, dass auf dem Hof Gefangene arbeiteten. Sie waren damit aufgewachsen.

Etwas verlegen gab sie zu: „Ich habe gelauscht. Ich weiß, das darf man nicht, aber ich habe mir doch so gewünscht, dass du mitkommst. Vater hat dem Hauptmann erklärt, dass du dort ganz bestimmt nicht weglaufen wirst. Es wäre lebensgefährlich. Und das stimmt, wir dürfen uns nie weit von der Datscha entfernen. Der Hauptmann war zuerst dagegen, doch Vater hatte ein Schreiben vom Sowchosenleiter und Onkel Semjon vom Militär.“

Zaghaft kam Freude in Anna auf, doch gleichzeitig kroch auch Furcht in ihr empor. Sie begann doch gerade erst, das Leben wieder bewusst wahrzunehmen und Interesse an ihrer Umwelt zu verspüren. Seit kurzer Zeit vegetierte sie nicht mehr in der stoischen Teilnahmslosigkeit dahin wie bisher.

Hier auf dem Gutshof hatte sie nicht mehr den quälenden Hunger verspürt, der Schwindel und Übelkeit verursachte. Niemand zwang sie, bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Anna dies bewusst geworden war.

Und vor allem gab es keine Vergewaltigungen mehr. Auch der Verwalter hatte sie noch nie angerührt. Doch hier war auch ständig seine Frau zugegen, zumindest meistens. Manchmal war sie wochenlang in der nächsten Stadt, wie die Kinder ihr berichtet hatten. Ihre Mutter war oftmals krank und musste dann dort behandelt werden. Doch auch dann hatte Wassilji Schirjajew Anna nie bedrängt.

Sie konnte nicht mehr lange mit den Kindern reden, es wurde dunkel und die Wachen trieben die anderen Gefangenen zum Internierungslager zurück. Die auf dem Hof eingesetzten russischen Soldaten wurden schon unruhig und warfen immer wieder feindselige Blicke zu der dunkelhaarigen Frau hinüber. Nur die Anwesenheit der Kinder hielt die Wachen zurück. Wassilji Schirjajew würde es nicht dulden, wenn sie vor ihren Augen die Deutsche bedrohen oder gar bestrafen würden.

Katjuscha lächelte sie an: „Du musst schlafen gehen, ich weiß.“

Die beiden begleiteten sie bis zum Treppenaufgang, der zu der kleinen Kammer führte. Erst dort verabschiedeten sie sich. Anna war ihnen dankbar dafür, es hielt die Wachsoldaten auf Abstand. Rasch ging sie hinein und schob sofort den Riegel vor. Sie lief die schmale Treppe hinauf und den engen Gang entlang bis zu ihrer Kammer.

Der Raum mit den kahlen Steinwänden war nicht sehr groß. An einer Seite war ein schmales Fenster, das sich jedoch nur einen kleinen Spalt öffnen ließ. Außer dem Bett, auf dem Anna nun saß, stand lediglich noch eine kleine, uralte und völlig verschrammte Holzkommode an der Wand. Darauf befand sich das einfache Waschgestell mit der weißen Blechschüssel.

Doch schlafen konnte sie nicht. Die Furcht, das hier auf dem Gut begonnene neue Leben wieder zu verlieren, war zu groß. Fest presste Anna die schmalen, rissigen Lippen aufeinander. Sie besaß nur wenige, verschwommene Erinnerungen an die Zeit in den Internierungslagern. Die stoische Gleichgültigkeit, in der sie gefangen gewesen war, hatte alles ausgeblendet und nichts von den schrecklichen Erlebnissen dort an sie herankommen lassen. Sie hatte weder gedacht noch gefühlt. Doch sie wollte so nicht mehr leben. Die liebevolle Freundschaft mit den Kindern gab ihr so viel. Es erinnerte sie allerdings auch an früher.

„Dort ist niemand mehr!“ Der grauenvolle Schrei gellte bei diesem Gedanken sofort wieder durch ihren Kopf und verursachte schlagartig rasende Schmerzen, die wie Wellen durch ihren Körper flossen. Anna krallte die Hände um den Kopf und wiegte sich wimmernd hin und her. Früher – früher, das bedeutete Glück und eine Familie. Sie durfte nicht daran denken, sich nicht daran erinnern, was sie verloren hatte. Sie musste sich ablenken, vergessen.

Anna stand auf und kletterte die stockdunkle, steile Treppe hinunter. Leise und vorsichtig öffnete sie die schwere Außentür einen kleinen Spalt weit. Sie setzte sich auf die Stufen. Hier konnte niemand sie in der Dunkelheit sehen. Anna jedoch überblickte einen Teil des gepflasterten Hofes, einschließlich des hohen, mit Stacheldraht bewehrten Holzzaunes, der rund um den Gutshof führte. Sogar ein Stück des Himmels war zu erkennen. Jetzt in der Nacht blinkten abertausend Sterne dort oben.

Als sie Schritte hörte, presste Anna sich an die Wand und wartete, bis die beiden russischen Wachsoldaten vorbei waren. Sie durfte die Kammer nachts nicht verlassen. Das hatte Wassilji Schirjajew ihr eindringlich erklärt. Nur unter dieser Bedingung war ihr erlaubt worden, auf dem Gutshof zu schlafen, anstatt im Internierungslager. Doch immer wieder setzte sich Anna hinter die Tür des Treppenaufgangs und blickte in die Nacht hinaus.

Ein ganz klein wenig lächelte sie, als sie die dunkle Treppe hinaufsah, deren schwarze, ausgetretene Stufen jetzt in der Nacht nur schemenhaft zu erkennen waren. Als sie zum ersten Mal dort hochgestiegen war, hatte sie kaum begriffen, wo sie hinging. Stumm und teilnahmslos war Anna dem Gutsverwalter gefolgt, als er ihr bedeutet hatte, mit ihm zu kommen. Als sie das Bett gesehen hatte, hatte sie resigniert die Augen geschlossen, war sich sicher gewesen, was als Nächstes geschehen würde.

Doch Wassilji Schirjajew hatte Anna nur leicht geschüttelt, damit sie ihn wieder ansah. Dann hatte er ihr mit Worten – die sie damals noch nicht verstand – und mit vielen Gesten erklärt, dass sie von nun an hier schlafen würde. Anna hatte ihn ungläubig angestarrt und zum ersten Mal wirklich angesehen. Der dunkelblonde Mann war trotz seiner fast fünfzig Jahre noch schlank, fast schmächtig und hatte in dem einfachen Anzug überhaupt nicht wie ein Landwirt ausgesehen.

Anna erinnerte sich daran, wie sie in der ersten Nacht in dieser Kammer im Bett gelegen hatte. Einem richtigen Bett mit einer Matratze und einer dicken Decke. Keine Holzpritsche mehr, auf der ein dünner Strohsack lag. Oder eine zerschlissene Decke, die kaum ausreichte, um sich damit zuzudecken.

Anna hatte an die schmutzige Holzdecke gestarrt und nur langsam begriffen, dass sie hier tatsächlich in Ruhe schlafen konnte. Sie musste nicht mehr jeden Abend in das Lager zurück, wie die anderen Kriegsgefangenen. War nicht mehr den Schikanen und gebrüllten Befehlen der russischen Wachen ausgeliefert.

Es war ein Anfang gewesen. In der Zeit danach hatte Anna begonnen, ihre Umwelt etwas bewusster wahrzunehmen. Sie hatte die Tiere – die Rinder, Kühe und Schweine – betrachtet und manchmal verstohlen gestreichelt, wenn sie ihnen das Futter brachte. Hatte die Hühner beobachtet, wie sie sich gierig auf die Körner stürzten, und die uralten Maschinen und Geräte bestaunt, die sie reinigen sollte.

Die anderen Gefangenen, die deutschen Soldaten, die mit ihr zusammen in einem großen Raum verpflegt wurden, waren nicht mehr nur eine gesichtslose Masse von grauen Gestalten. Anna begann, ihre Gesichter zu unterscheiden und sich ihre Namen zu merken.

Dann hatte sie zum ersten Mal bewusst die Kinder gesehen. Der schon fast erwachsene Gregor Schirjajew, der älteste Sohn des Verwalters, war mit zwei wesentlich jüngeren Kindern über den Haupthof zum Herrenhaus gegangen. Anna hatte sich an die Hauswand gedrückt und auf die kleine Gruppe gestarrt.

Der junge Mann flößte ihr Angst ein – wie alle Männer. Dennoch blickte sie mit großen Augen auf die beiden Kinder. Ein Mädchen mit langen, lockigen, dunkelblonden Haaren und ein kleiner Junge. Sein kurzgeschnittener Haarschopf war hell wie das Sonnenlicht. Die beiden lächelten sie schüchtern an, das Mädchen sagte etwas zu ihr.

Anna erschrak und lief hastig fort in die Scheune. Bei der mühsamen Arbeit, das Heu auf den Heuboden hinauf zu schaffen, dachte sie jedoch ständig an die großen, neugierigen Kinderaugen. Danach sah sie die beiden immer wieder. Manchmal mit ihrem großen Bruder zusammen, dann senkte Anna rasch den Kopf und wandte sich ab.

Doch Gregor schien sie kaum wahrzunehmen. Der schlanke Jugendliche, im Gegensatz zu seinen Geschwistern dunkelhaarig, sah gleichgültig über sie hinweg und sprach sie nie an. So jung er noch war, er erkannte die Angst in den braunen Augen der Deutschen. Und ihr furchtbarer Zustand, in dem sie auf den Gutshof gekommen war, hatte ihn sehr erschreckt. So fiel es ihm nicht schwer, der Bitte seines Vaters nachzukommen, diese Frau zu ignorieren, um ihr nicht noch mehr Furcht einzuflößen.

Oft spielten die Kinder am Brunnen in dem kleinen, hinter dem Herrenhaus gelegenen Hof. Anna musste dorthin, wenn sie die Wäsche auf der Wiese aufhing. Jedes Mal beobachtete sie die beiden dann verstohlen, konnte kaum den Blick von ihnen wenden. Sie lauschte ihren Stimmen und ihrem Lachen.

 Und dann hörte sie immer ein anderes Kinderlachen, das helle, jauchzende Lachen ihres Sohnes. Dieses Lachen, das sie nie wieder hören würde. Jedes Mal trieb es ihr die Tränen in die Augen. Meist verkroch sie sich dann in irgendeiner Ecke, krallte die Hände um den Kopf und weinte, bis die Erinnerung wieder verblasste.

Irgendwann, an einem sonnigen Tag im Spätsommer, trat das Mädchen zögernd auf sie zu. Anna fiel das Wäschestück aus der Hand. Die Kleine lächelte zaghaft und zeigte mit der Hand auf sich selbst.

„Katharina“, sagte sie leise.

Anna standen die Tränen in den Augen, doch zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich selbst plötzlich sprechen. Leise und zaghaft wiederholte sie den Namen: „Katharina.“

Das Mädchen lächelte und nickte ihr aufmunternd zu. Dann zeigte sie auf ihren Bruder: „Pjotr.“

Anna konnte nicht anders, als zurück zu lächeln. Das war ein weiterer Anfang. Anna begann, auf die Kinder zu warten. Von ihnen lernte sie die ersten russischen Worte. Wassilji Schirjajew bemerkte erstaunt, wie positiv Anna auf die Kinder reagierte. Er übertrug ihr die Aufgabe, auf die Kleinen aufzupassen.

Langsam nahmen die entsetzliche Leere und Teilnahmslosigkeit in ihr ab. Selbst die Schmerzen, die ihre Erinnerungen immer wieder in ihr auslösten, wurden etwas erträglicher. Sie war nun täglich mehrere Stunden mit den beiden jüngeren Kindern des Verwalters zusammen. Fast wie von selbst lernte sie dadurch immer mehr russische Worte.

Inzwischen konnte Anna sich schon einigermaßen verständigen, wenn auch recht holprig. Ein neues Jahr fing an, und Anna hatte das Gefühl, als würde für sie nicht nur ein neues Jahr beginnen, sondern langsam auch das Leben wieder zurückkehren. Oder vielleicht begann ein neues Leben, eines, das wohl den Schmerz der Vergangenheit beinhaltete, aber in dem es auch wieder Wärme und Gefühle gab.

 

Die regelmäßigen Schritte der Wachen rissen Anna aus ihren Gedanken. Gerade hatte sie sich etwas vorgebeugt, um einen besonders hellen Stern zu betrachten, der freundlich am Himmel leuchtete. Als die Schritte plötzlich abbrachen, zuckte sie erschrocken zurück und presste sich an die Wand. Hatten die Wachen sie gesehen? Atemlos lauschte sie.

„Hast du nichts gehört?“

Einen Moment blieb es still, dann antwortete eine zweite Stimme: „Nein.“

Die Stiefel der Soldaten knirschten auf den sandigen Boden.

„Bist du verrückt?“

„Vielleicht hat sie vergessen, den Riegel vorzuschieben.“

„Wenn der Hauptmann davon erfährt, ist die Hölle los.“

„Dem Hauptmann passt es auch nicht, dass die verrückte Deutsche hier untergebracht ist.“

„Aber er wird sich nicht gegen den Verwalter stellen. Die Schirjajews haben mächtige Freunde.“

„Sie sind nicht besser als wir. Die Adligen haben längst keine Macht mehr. Wir sind genauso gut wie sie“, kam die trotzige Antwort.

Ein bellendes Lachen erklang. „Wenn du das glaubst, bist du ein Dummkopf, Iwan Dowenkow. Der Hof gehört Wassilji Schirjajew zwar nicht mehr, aber Einfluss hat er noch genug. Er ist gut mit dem Generalmajor befreundet. Und auch der Sowchosenleiter, Maxim Gromow, hält viel von ihm. Hauptmann Blinow hat sogar zustimmen müssen, dass er die Verrückte in das Landhaus mitnehmen darf. Stell dir das vor, eine Voyennoplennyy, eine Kriegsgefangene!"

„Nun, er wird seine Gründe haben. Seine Frau kommt ja nicht mit, da wird er sich schadlos halten.“

„Na, das könnte er hier doch auch. Vielleicht schläft sie gar nicht da oben.“

„Die hübsche Sarna Schirjajewa wird das bestimmt nicht zulassen“, lachte Iwan Dowenkow.

„Wer weiß, ob es sie interessiert. Sie ist ja oft in der Stadt.“

„Naja, sie ist krank. Sie wird dort behandelt.“

„Das wird behauptet“, lachte der andere Soldat. „Aber ich weiß, dass der Arzt dort ein sehr gut aussehender Mann ist. Und so krank wirkt sie nicht auf mich.“

„Das geht uns nichts an. Was machen wir? Probieren wir, ob wir reinkönnen?“

Anna hielt die Luft an. Lautlos betete sie, dass die beiden weitergehen würden.

„Nein, zu riskant. Komm, es ist kalt, und wenn wir zu spät beim Kontrollposten sind, gibt es nur wieder Ärger.“

Die Schritte knirschten wieder und wurden langsam leiser. Anna atmete erleichtert auf. Jetzt erst merkte sie, wie sehr sie inzwischen fror. Die Nachtluft war im Januar eisig kalt. Leise schloss sie die Tür wieder, stieg hinauf und kroch ins Bett. Sie zog die Decke bis über die Nasenspitze und schloss die Augen.

Der laute Ton der großen Eisenglocke weckte Anna, ebenso wie alle anderen Arbeiter auf dem Hof. In den Wirtschaftsgebäuden wurde es lebhaft, russische Stimmen erklangen überall. Anna wusch sich rasch und band die glatten, dunkelbraunen Haare zusammen, die ihr bis auf die Schultern fielen. Über die langen Unterhosen und das wollene Hemd, in denen sie geschlafen hatte, zog sie die graue, unförmige Gefangenenkleidung an. Die Füße umwickelte sie mehrmals mit Lumpen, damit sie in den Stiefeln nicht fror.

Es war noch dämmrig, als sie mit einem großen Korb das Hühnerhaus betrat. Die Tiere gackerten aufgeregt durcheinander, während sie sich durch den schmalen Durchlass auf die Wiese schoben. Anna sammelte die Eier ein und brachte sie in die Küche. Wortlos stellte sie den Korb ab. Sie hütete sich jedoch, in die Nähe des großen, weißgescheuerten Tisches an der Rückwand der Küche zu gehen. Dort wurde das Frühstück zusammengestellt, das dann von den russischen Frauen ins Herrenhaus gebracht wurde.

Galina Mironowa, die Leiterin der Köchinnen, scheuchte Anna mit groben Gesten und zusammengepressten Lippen aus der Küche.

„Trage das Essen hinüber!“, befahl sie barsch und deutete mit dem Kopf auf den Tisch neben der Tür zum Haupthof. Dort standen die länglichen Holzkörbe mit dem Essen für die Kriegsgefangenen.

Anna griff nach den Körben und bemerkte gerade noch rechtzeitig die große Tasse, die verborgen dahinter stand. Der Kaffeeduft ließ keinen Zweifel daran, was sich darin befand. Sie blickte zurück. Die Köchin rückte das Kopftuch zurecht, das ihr die dünnen Haarsträhnen aus dem Gesicht hielt, und verbarg so ihr Lächeln. Anna nickte ihr dankbar zu. Kaffee bekamen die Gefangenen nie. Doch seit ein paar Wochen stellte die hagere Russin ihr hin und wieder heimlich eine Tasse des begehrten Getränks hin.

Galina Mironowa tat die schweigsame Frau leid, obwohl sie wusste, dass es nicht ratsam war, dies zu zeigen. Die Deutsche wirkte mit dem blassen, verhärmten Gesicht deutlich älter als vierzig. Allerdings hatte sie in der ersten Zeit auf dem Hof wesentlich angegriffener – und noch älter – ausgesehen. Noch vor wenigen Monaten war sie völlig verstört und teilnahmslos gewesen. Sie hatte kein Wort gesprochen, nicht einmal mit ihren Landsleuten. Stumm hatte sie ihre Aufgaben erledigt. Manchmal war sie – ohne erkennbare Ursache – zusammengebrochen. Dann lag sie verkrümmt und schluchzend in irgendeiner Ecke.

Galina Mironowa hatte ihr dann meist eine Schale heiße Suppe hingestellt. Die anderen Frauen in der Küche hatten darüber geschimpft. Doch der Verwalter hatte ihr einmal zugenickt und gesagt, sie sei eine gute Frau, und es wäre richtig, der kranken Deutschen zu helfen.

Anna schleppte die schweren Körbe zu der Scheune, die als Speisesaal für die Gefangenen umfunktioniert worden war. Helle, fröhliche Stimmen ließen sie aufschauen. Aus einem Fenster des Herrenhauses winkten ihr die beiden Kinder des Verwalters zu.

„Guten Morgen, Anna.“

Sie zögerte einen Moment, dann antwortete sie leise: „Guten Morgen, Katharina und Pjotr.“ Noch immer fiel ihr die Aussprache der russischen Wörter schwer. Aber deutlich schwieriger war die Überwindung, überhaupt zu sprechen. Wenn sie mit den Kindern alleine war, fiel es ihr wesentlich leichter.

„Wir kommen heute früher aus der Schule. Dann kannst du gleich nach dem Mittagessen zu uns kommen. Katjuscha hat ein Buch gefunden, damit kannst du auch alleine russisch üben. Wir zeigen es dir dann.“

Anna nickte hinauf. Sie riss sich zusammen, es war doch eigentlich egal, ob noch andere auf dem Hof waren. Sie blendete die Arbeiter aus und antwortete: „Danke, das ist lieb von euch. Ich muss weiter und ihr solltet euch fertig machen, damit ihr nicht zu spät kommt.“

Dann lief sie in die Scheune. Wenn sie bis Mittag mit ihrer Arbeit fertig werden wollte, musste sie sich beeilen. Die Stunden, die sie mit den Kindern verbrachte, waren für Anna inzwischen die schönsten des Tages. Während sie stumm ihre Arbeit erledigte, wartete sie darauf, dass es Nachmittag wurde und sie die hellen, freundlichen Stimmen wieder hören durfte.

Eine weiße Welt

Vier Tage später fuhren sie los. Anna lernte eine neue Welt kennen. Eine weiße Welt voller Schnee, zugefrorener Flüsse und riesigen Wäldern. Selbst die überall wachsenden immergrünen Nadelbäume waren weiß. Der Schnee bedeckte alles.

Das Landhaus erwies sich als große Holzhütte mit drei Zimmern. Innen waren dicht gewebte Decken an allen Wänden aufgespannt. Ein großer Kamin sorgte in der ganzen Hütte für Wärme. Die Rückwand des Hauses schmiegte sich an den steilen Hang, einen der wenigen Hügel in dieser Landschaft. Zu Annas großem Erstaunen gab es dort eine versteckte Tür, die zu einem Raum oder vielmehr einer Höhle in dem Hang führte. Hier wurden die wertvolleren Dinge gelagert, wenn das Haus leer stand. Nun, im bewohnten Zustand, wurde ein Teil der Lebensmittel, zusätzliche Decken und Holz hier aufbewahrt. Direkt neben der Hütte gab es noch einen Anbau für zwei große Schlitten und die Pferde. Auch hier war an der Wand ein Kamin, die Tiere würden sonst erfrieren.

Anna schlief mit den beiden Kindern in einem Raum, der Gutsverwalter im anderen. Der dritte Raum war das Wohnzimmer, hier wurde auch gekocht und gegessen.

In den ersten Tagen lebte sie in ständiger Angst vor einer Vergewaltigung. Aber zu ihrer großen Erleichterung behandelte Wassilji Schirjajew sie wie immer. Die grauen Augen in dem schmalen Gesicht sahen sie gleichmütig an. Die schmalen Hände mit den langen, schlanken Fingern, die so gar nicht wie die eines Landwirts aussahen, berührten sie so gut wie nie. 

Anna kochte und hielt das Haus sauber. Mit jedem Tag fühlte sie sich wohler und ihre Angst verflog. Sie kümmerte sich um die Kinder und lernte mit ihnen russisch. Manchmal zeigte sie ihnen Spiele, an die sie sich aus ihrer eigenen Kindheit erinnerte.

So oft es das Wetter zuließ, erkundeten die drei die große, weiße Welt außerhalb des Hauses. Sie stapften dann durch den tiefen Schnee, in dem sie manchmal trotz der Schneeschuhe fast bis zu den Knien versanken. Bis zum Waldrand war es nicht weit. Die Kinder schüttelten und rissen an den Ästen und lachten über die großen Schneewolken, die auf sie herabfielen.

Oder sie zogen die klobigen Kinderschlitten auf den Hügel und rutschen hinunter, Pjotr und Katharina meist schreiend und rufend vor Freude und Übermut. Anna machte bei ihrem Herumtollen bereitwillig mit. Aber immer wieder stand sie einfach still da und bestaunte die glitzernde Welt um sich herum. Der Schnee schimmerte so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste.

Als sie alle drei durchgefroren waren, kehrten sie in die Hütte zurück. Anna kauerte sich mit den Kindern vor den Kamin. Die Wärme tat gut, beinahe hätte sie wohlig aufgeseufzt. Katharina holte ein Buch und las langsam die Sätze vor. Anna unterbrach sie, wenn sie etwas nicht verstand. Die Kinder erklärten dann lachend und geduldig die Worte und übten die Aussprache mit ihr. Sie waren so vertieft darin, dass Anna vergaß, das Essen zu kochen.

Sie schrak zusammen, als plötzlich die tiefe Stimme des Verwalters erklang: „Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe so langsam Hunger.“

Rasch sprang Anna auf. Es war schon stockdunkel. Sie hätte längst das Essen fertig haben müssen. Ängstlich sah sie zu dem Mann hinauf, der gut einen Kopf größer war, als sie selbst.

Doch Wassilji Schirjajew wirkte zu ihrem Erstaunen nicht erzürnt. Er lächelte beruhigend und nickte seiner Tochter zu: „Katjuscha, am besten hilfst du Anna ein wenig, dann können wir bestimmt bald essen.“

Das Mädchen nickte lachend. „Es tut mir leid, Vater. Aber es hat so viel Spaß gemacht, mit Anna zu üben.“

Hastig machte diese sich an die Arbeit. Es dauerte nicht lange, dann saßen alle vier an dem großen Esstisch.

Pjotr leckte genießerisch den Löffel ab. „Hm, Anna. Bei dir schmeckt es immer so lecker.“

Annas Lippen zuckten, doch sie blieb stumm. Sie hatte schon immer gerne gekocht und sie wusste genau, was Kindern schmeckte. Wie oft hatte sie für Heiko gekocht. Ihr Mann und sie hatten sich immer darüber amüsiert, wenn der Junge seinen Löffel abschleckte – ganz genau so, wie Pjotr gerade. Auch an jenem Tag hatte sie für ihre Familie gekocht.

„Dort ist niemand mehr!“ Die Erinnerung ließ sofort den furchtbaren, lautlosen Schrei in ihrem Kopf ertönen. Anna fiel der Löffel aus der Hand, sie krümmte sich zusammen. Ihr Magen rebellierte. Stolpernd rannte sie hinaus und erbrach sich.

Katharina lief ihr nach. „Anna, was ist denn?“

„Nein, Katharina. Lass sie!“, befahl ihr Vater rasch. Zu oft hatte er dies schon bei der Deutschen gesehen. Er wusste, dass sie sich schon bald wieder beruhigen und danach wie immer verhalten würde. „Bring ihr nur eine Decke, dann komm wieder. Anna wird sich schneller beruhigen, wenn wir sie in Ruhe lassen.“

Die kniete im Schnee und wartete darauf, dass die Übelkeit nachließ. Langsam wurde der Schrei in ihrem Kopf leiser und wiederholte sich nicht mehr ständig. Als Anna wieder normal atmen konnte, rieb sie sich rasch das Gesicht mit Schnee ab. Danach ging sie wieder in die Hütte zurück. Die Kinder sahen sie fragend und besorgt an. Anna senkte den Kopf, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Erklären konnte sie ihnen nichts.

„Anna, geh am besten schlafen.“ Wassilji Schirjajew bemühte sich, ruhig und leise zu sprechen.

Anna lief erleichtert in den hinteren Raum. Immer noch zitternd, wenn auch fast nur noch vor Kälte, kroch sie unter die Decken. Sie schloss die Augen und zwang sich, an nichts mehr zu denken.

Wassilji Schirjajew beruhigte inzwischen die Kinder. „Anna ist krank, nicht körperlich, aber seelisch. Fragt sie nicht danach.“

„Können wir ihr nicht helfen?“ Katharina sah ihren Vater traurig an.

Der lächelte ein wenig. „Ich glaube, das macht ihr schon lange. Seitdem Anna mit euch zusammen ist, scheint es ihr besser zu gehen.“

Etwas später kamen die Kinder leise in den Schlafraum. Sie sagten nichts, sondern kuschelten sich einfach an Anna. Ihre Nähe tröstete diese so sehr, dass sie bald darauf einschlafen konnte.

Anna gewöhnte sich an, schon morgens zu kochen, so dass sie das Essen später nur aufwärmen musste. Dadurch konnte sie fast den ganzen Nachmittag mit den Kindern draußen verbringen. Riesige Schneemänner wurden gebaut, die jedoch schon nach kurzer Zeit wieder spurlos verschwanden. Dem ständigen Wind konnte nichts widerstehen. Alle menschlichen Spuren wurden ausgelöscht. Jeden Tag sah der Schnee wieder völlig unberührt aus. Anna war verzaubert von dieser Welt, die so leer wirkte.

Und doch lebten hier Menschen. Weit verstreut lagen Winter- oder Sommersitze wie der ihre. Ebenso gab es in dieser menschenfeindlichen Gegend auch Holz- und Forstbetriebe. Einer davon war nur wenige Stunden mit dem Schlitten von ihnen entfernt.

Die Kinder waren in heller Aufregung, als sie Anna halfen, den großen Schlitten mit Decken zu polstern. Wassilji Schirjajew spannte die Pferde davor, dann kletterten alle hinein. Anna setzte sich ganz hinten in die Ecke und wickelte gleich mehrere Decken um sich und die Kinder.

Trotz des eisigen Windes genossen sie die Fahrt. Die Sonne schien, und schon bald begann Katharina zu singen. Anna lächelte. Sie merkte nicht, dass der Verwalter sie beobachtete und leicht schmunzelte. Wassilji Schirjajew war froh, dass er darauf bestanden hatte, Anna mitzunehmen. Ihm tat diese schweigsame, verstörte Frau leid, die sich immer absonderte und selbst ihre eigenen Landsleute mied. Krieg und Gefangenschaft waren schon für Männer kaum zu ertragen. Wie schwer musste es erst für sie als Frau sein.

So hatte er seine Beziehungen spielen lassen. Seit vielen Jahren war er eng mit Generalmajor Semjon Rjabow in der Militärkommandantur befreundet. Dieser hatte ihm die Sondererlaubnis beschafft, damit er Anna hierher mitnehmen konnte. Der Gutsverwalter hatte gehofft, dass die Weite und Größe des Landes heilsam für die Frau wären. Und tatsächlich – inzwischen wirkte sie lebhafter, manchmal lächelte sie sogar, wie gerade eben.

Nach einigen Stunden, in denen sie immer dicht am Waldrand entlanggefahren waren, erreichten sie den Abholzungsbetrieb. Mehrere Gebäude standen auf einer riesigen Lichtung. Als der Schlitten mit lautem Glockengeläut in den Hof fuhr, kamen zwei Menschen aus dem größten Haus.

„Wassilji Schirjajew! Ist das ist eine Überraschung. Wir haben erst in einigen Wochen mit dir gerechnet.“

Der Verwalter lachte: „Ich konnte mich früher frei machen und wollte die Zeit nutzen. Die Kinder haben es auch kaum erwarten können, hierher zu kommen.“

„Kommt erst einmal herein, ihr müsst ja halb erfroren sein.“

Lachend wickelten sich die Kinder aus den Decken und stürmten ins Haus. Sie kannten sich von den vergangenen Jahren noch hier aus. Anna legte die Decken wieder zusammen und folgte ihnen dann zögernd und langsam.

„Komm herein, bevor du zum Eiszapfen wirst“, wurde sie von Wassilji Schirjajew aufgefordert.

Anna blieb an der Tür stehen und sah sich um. Die Einrichtung war ähnlich einfach wie in der Datscha des Verwalters. Das meiste war aus Holz, und Decken an den Wänden hielten den ewigen Wind ab. Der Forstwirt sah erstaunt auf die Frau.

„Feodor, das ist Anna, eine Kriegsgefangene. Sie versteht inzwischen einigermaßen russisch, wenn man langsam redet. Ich habe sie mitgenommen, damit sie sich um die Kinder kümmert.“

Feodor Kalinin war verblüfft. Hin und wieder gab es Gerüchte über Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene. Aber niemand wusste Genaueres darüber.

„Wie kommt diese Frau zu dir?“

„Neben dem Sowchosenhof ist ein Gefangenenlager. Du redest am besten nicht darüber. Aber Anna ist dort interniert. Ich habe durchsetzen können, dass sie mit uns kommen darf.“

„Hm.“ Feodor Kalinin sah etwas unsicher zu der Frau und kraulte sich den dichten Bart, der fast das ganze Gesicht bedeckte. „Wärmen Sie sich erst einmal auf. Dann können Sie Aljenka helfen, das Essen zu richten.“

Er sprach übertrieben deutlich, was seine Besucher zum Lächeln brachte. Anna jedoch nickte nur stumm und hockte sich in die Nähe des Feuers. Pjotr und Katharina kuschelten sich an sie.

Später half Anna der Förstersfrau in der Küche und beim Herrichten der Schlafkojen für den Verwalter, die Kinder und sich selbst. Die junge, etwas korpulente Russin lächelte sie an. Die dunklen Augen in dem vollen, runden Gesicht, das noch immer von der intensiven Sonne im kurzen Sommer gebräunt war, blickten freundlich.

„Keine Angst“, versuchte sie, die schweigsame, etwas ängstlich wirkende Fremde zu beruhigen. „Hier alles gut, Sie verstehen?“

Anna nickte, erwiderte aber nichts.

„Sie haben Familie? Dort?“ Sie zeigte nach Westen.

Anna schüttelte den Kopf. Doch schlagartig kamen die qualvollen Erinnerungen in ihr hoch. Sie biss die Zähne zusammen, aber die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten. Die Försterin sah sie erschrocken an und hörte das leise, qualvolle Schluchzen. Mitleidig streichelte sie vorsichtig über die schmalen Schultern und Arme der Deutschen. Anna zuckte kurz zusammen, dann legte sie den Kopf an die Schulter der Russin und weinte bitterlich.

Die Förstersfrau wartete still. Nach einer Weile beruhigte sich Anna wieder und hob schniefend den Kopf. Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, doch die Russin schüttelte lächelnd den Kopf und zog rasch ein sauberes Tuch hervor. Diese einfache Menschlichkeit trieb Anna gleich wieder die Tränen in die Augen. Mühsam fasste sie sich endlich.

„Ist schlimm für Sie hier?“, vermutete Aljenka Kalinina. „Wassilji Schirjajew ist ein guter Mensch. Sie müssen sich nicht fürchten“, versuchte sie unbeholfen, Anna zu trösten.

Anna nickte, hob aber gleichzeitig die Schultern. Als sie wieder nach den Decken greifen wollte, wehrte Aljenka Kalinina jedoch ab und drückte Anna auf einen Stuhl. „Ruhen Sie sich aus.“

Doch Anna schüttelte den Kopf. „Ich möchte helfen“, flüsterte sie. Zu mehr war sie noch nicht in der Lage, ohne sofort wieder in Tränen auszubrechen. Gemeinsam arbeiteten sie weiter, dann brachte die Russin Anna wieder in den Wohnraum zurück.

Zum Abendessen kamen auch die beiden Waldarbeiter herein. Sie starrten die fremde Frau an. Anna senkte den Blick und hielt sich so nahe wie möglich an den Kindern. Nach dem Essen half sie der Russin, das Geschirr abzuräumen. Einer der Arbeiter ergriff sie am Arm und drückte sie gegen die Wand. Anna schrie erschrocken auf.

Wassilji Schirjajew fuhr herum. „Lassen Sie sie sofort los.“

„Sie ist eine dreckige Deutsche!“

Feodor Kalinin griff nach einem Stock und schlug ihn dem Waldarbeiter über den Rücken. Aufschreiend ließ dieser Anna los, die an der Wand in sich zusammensank. Fast automatisch zog sie sich wieder in die gefühllose Teilnahmslosigkeit zurück, die es ihr ermöglicht hatte, die furchtbare Zeit in den Lagern zu überleben. Sie rollte sich zusammen und bewegte sich nicht mehr.

„Du wirst diese Frau nie wieder anrühren!“, befahl Feodor Kalinin. Die schwarzen Augen blitzten wütend, die muskulösen Arme schwangen den Stock drohend über dem Mann.

„Die verdammten Deutschen haben meinen Bruder umgebracht!“