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»Es ist nicht so, dass die Beschäftigung mit Gedichten Ihnen Zeit nimmt. Im Gegenteil: Sie gibt Ihnen Zeit.« Monika Rinck Wir leben im Zeitalter des Gedichts. Die Poesie ist auf Erfolgskurs, schließlich sind einige der begabtesten Autoren einer ganzen Generation in der Lyrikszene zu finden. Warum das so ist und was die Lyrik der Gegenwart auszeichnet, erzählt Christian Metz in seinem grundlegenden Essay. Angetrieben von den epochalen Veränderungen unserer Zeit forciert die Lyrik der Gegenwart ein poetisches Denken. Es ist ein Denken mit poetischen Mitteln, das der sinnlichen Erfahrung, der Leidenschaft und dem Spiel Raum gibt. In dieses poetische Denken führt Metz systematisch ein. Ausgehend von ihren Gemeinsamkeiten folgt Metz einigen der wichtigsten Autorinnen und Autoren der neuen Lyrik – wie Monika Rinck und Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp – in ihr poetisches Universum.
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Seitenzahl: 642
Christian Metz
Poetisch denken
Die Lyrik der Gegenwart
FISCHER E-Books
Alle Anzeichen sprechen dafür: In Zukunft wird man die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik bestaunen. Die Frage an uns Leser*innen wird dann lauten: Wie war das damals eigentlich? Du warst doch dabei! Du warst doch mittendrin, in der Fülle hochkarätiger Gedichtbände, umgeben von der Vielfalt großartiger Lyriker*innen. Das muss doch eine unfassbar aufregende Erfahrung gewesen sein. Kurioserweise sieht es so aus, als müssten die meisten von uns dann auf eine von drei Standardantworten ausweichen. Die einen werden sagen: »Ja, stimmt. Da war etwas. Aber ich habe vor allem Romane gelesen und Serien geschaut. Von der Lyrik habe ich nichts mitbekommen.« Die anderen werden antworten: »Als ich beginnen wollte, Lyrik zu lesen, hatte ich schon zu viel vom Boom verpasst. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mitten im Lyrikgewimmel anfangen sollte. Also habe ich’s gelassen.« Und die dritte Antwort wird lauten: »Ich hab’s versucht und voller Neugier angefangen zu lesen. Aber mir blieb das alles fremd. Also habe ich die Lektüre einfach abgebrochen.« Bevor es so weit kommt, ist jetzt, nach fast zwei Jahrzehnten poetischen Wachstums und lyrischen Blühens, ein guter Zeitpunkt, um einen Schritt zurückzutreten und zu sichten, was sich da entfaltet hat. Wer waren die wichtigsten Akteure? Welche Eigenschaften zeichneten ihre Lyrik aus? Auf welcher Grundlage beruhten ihre Arbeiten? Woran schlossen sie an, was machten sie neu? Was sind die Hintergründe der rasanten Entwicklung? Kurz gesagt: Es ist an der Zeit, Revue passieren zu lassen, was bisher geschah. Und zwar vor allem auch für alle diejenigen, die sich in der schönen neuen Lyrikwelt umsehen wollen, ohne in den vergangenen Jahren zu Gedichtbänden gegriffen oder sich in Verse vertieft zu haben.
Für einen ersten Überblick genügt es, sich drei wichtige Stationen der bisherigen Erfolgsgeschichte zu vergegenwärtigen:
2003: Die Anthologie Lyrik von JETZT bietet vierundsiebzig jungen, weitgehend unbekannten Autor*innen den Raum, jeweils vier Gedichte zu publizieren. Herausgegeben wird der Band von den beiden ebenfalls beteiligten Dichtern Björn Kuhligk und Jan Wagner. In seinem Vorwort spricht in der Rolle eines altgedienten Lyrikveterans Gerhard Falkner von den »neuen Leuten«, die auf einmal in der Lyrikszene aufgetaucht seien. Man kann sich gut vorstellen, was für ein eigenartiger Moment das für die etablierten Lyriker*innen gewesen sein muss. Die Tür geht auf, aber nicht vier oder fünf, sondern über siebzig neue Dichter*innen strömen in den poetischen Raum. Plötzlich sieht die Gegenwart anders aus, weil die Zukunft einem ins Gesicht blickt. Noch im selben Jahr gründet die Lyrikerin Daniela Seel aus dem Berliner Label KOOKread den Independent-Verlag kookbooks. Kook, ein Slangwort, bedeutet so viel wie Spinner oder Träumer. Der Name ist Programm. Hier gründen Künstler*innen einen Verlag für Künstler*innen, weil sie ihre Träume verwirklichen, ohne darauf zu warten, dass irgendein etablierter Verlag oder eine Agentur sie vielleicht entdecken könnte. Den Lyrikmarkt durchweht mit den ersten beiden Publikationen des Verlags, den Gedichtbänden von Daniel Falb und Steffen Popp, eine frische Brise. In der taz heißt es: »Die sicherlich spektakulärste Verlagsgründung der letzten Jahre.«
2007: Ann Cotten veröffentlicht im Suhrkamp Verlag ihren aufsehenerregenden Band Fremdwörterbuchsonette. Die damalige Literaturchefin der Frankfurter Rundschau, Ina Hartwig, die nicht gerade für unbegründeten Überschwang bekannt ist, führt plötzlich die Bezeichnung »Wunderkind« im Mund. Zudem begrüßt sie die Debütantin als den »Shootingstar des jungen deutschsprachigen Lyrik-Jetsets«. Langsam wird – nicht nur für Literaturkenner wie Ina Hartwig – zur Gewissheit, dass sich in der Lyrik etwas Großartiges tut. Eine Szene neuer Lyriker*innen hat sich etabliert, hochkarätig, exklusiv, offenbar eher elitär. Mit Mittelmäßigem kann man dort nicht mehr landen.
2015: Die neuen Lyriker*innen sind anerkannte, literarische Größen. Sie haben sich mit ihren Veröffentlichungen, Lesungen und Performances ein eigenes, überwiegend junges Publikum erschlossen. Zu den üblichen Klappentextweisheiten gehören jetzt Sätze wie: »Die Lyrik gilt derzeit als die Avantgarde der deutschen Literatur. So vital, so experimentierfreudig, so unterhaltsam, so klug wird derzeit nirgendwo sonst die Welt in Worte gefasst.« (Amazon-Werbetext zu: Thomas Geiger, Laute Verse) Schritt für Schritt entwächst die Gegenwartslyrik dem Status des Insidertipps. Daher gehen auch die großen Literaturpreise an Lyriker*innen: Jan Wagner erhält für seinen Band Regentonnenvariationen als erster Lyriker den Preis der Leipziger Buchmesse. Monika Rinck wird mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Mit Nora Gomringer, die bereits 2001 ihren ersten Gedichtband publiziert und sich über Jahre hinweg in der umtriebigen Szene des Poetry-Slams einen Namen gemacht hat, räumt eine Lyrikerin sogar den typischen Prosapreis ab: Sie gewinnt im Sommer 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Auftritt »neuer Leute«, großes Gedränge auf der Lyrikbühne, maßgebliche Verlagsgründung, literaturkritische Wunderkind- und Jetset-Phantasien, preisgewordene Anerkennung – so sah das Erblühen der Lyrik aus. Die Ereignisse markieren weder den Anfang der Lyrikblütezeit, noch nehmen sie deren Ende vorweg: 2017 wurde Monika Rinck der Ernst-Jandl-Preis zugesprochen. Jan Wagner erhielt mit dem Georg-Büchner-Preis die renommierteste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur.
Was aber waren die Voraussetzungen für diesen einzigartigen Erfolg? Zumindest drei Besonderheiten mussten dabei zusammenkommen.
Erstens war schon bei den 74 »neuen Leuten«, die in Lyrik von JETZT versammelt waren, klar: Da kam nicht ein interessanter, sondern gleich eine Gruppe hochgradig begabter Autor*innen zu Wort. Das ergab zugleich eine außergewöhnliche Begabtendichte, die für das jahrelange Zusammenarbeiten, die Zirkulation von Konzepten, Theorien, Versen und Gedanken sowie – die Lyrik ist kein Idyll – für den Wettbewerb von Ideen sicher kein Nachteil war.
Zweitens fiel das Auftreten dieser neuen Dichter*innen exakt mit einschneidenden Veränderungen außerhalb der Literatur zusammen, die das literarische Arbeiten grundlegend veränderten. Unter den Großthemen, die anstanden – von der Globalisierung, 9/11, Finanzkrise bis zum Klimawandel –, sind die Auswirkungen auf die Lyrik am direktesten von der Digitalisierung ausgegangen. Man sieht das sehr gut an der berühmtesten Lyrikform, die es gibt: Erlebnislyrik. Das heißt an der Vorstellung, ein Autor oder eine Autorin erlebe ein Ereignis und setze dieses Erlebnis dann in ein Gedicht um. Die Lyrik, so der Eindruck, der seit dem 18. Jahrhundert eingeübt worden ist, gilt dann als Ausdruck des Gefühls und der Gedanken. Wenn man heute aber mitten im Erleben mit Hilfe von Google in Sekundenschnelle auf ein kulturelles Archiv zurückgreifen kann, wenn plötzlich eine weltweite Kommunikation in Jetztzeit möglich wird, wenn mit Blogs und Facebook (seit 2004 in Deutschland) potentiell jeder zum (veröffentlichenden) Erlebnis-Dichter wird, wenn per Smartphones (2004 kamen die ersten mit Kamera auf den deutschen Markt, 2007 das erste iPhone) und Twitter (seit 2006) jeder zum Dokumentaristen persönlicher Ereignisse wird, dann verändern sich die Vorstellungen und Praktiken des lyrischen Schreibens, der Status von Lektüre, die Zirkulation von Geschriebenem, Ideen und Konzepten. Zum Glück hatten die »neuen Leute« sehr präsent, wie Rolf Dieter Brinkmann 1969 in Angriff aufs Monopol der Lyrik die Leviten gelesen und gefordert hatte, sie müsse sich den gravierenden technologischen Veränderungen ihrer Zeit stellen. Tatsächlich musste niemand den neuen Lyriker*innen lange erklären, was für eine reizvolle Aufgabe sich ihnen schon allein aus der Digitalisierung eröffnete. Nicht zu vergessen: die Möglichkeiten des Desktop-Publishing, das sich in den neunziger Jahren durchsetzte und kleinen Verlagen wie kookbooks die günstige Herstellung komplexer Bücher ermöglichte.
Drittens kam es zu einer Abkehr von der routinierten Abkehr. Oft wenden sich Lyrikdebütanten nach kurzer Zeit entweder gleich dem Roman oder zuerst noch Erzählungen zu. Andere widmen sich dem Drama. Wieder andere der Wissenschaft, dem Brotberuf oder der Familie. Anschließend arbeiten die vereinzelt Übriggebliebenen mehr oder weniger einsam vor sich hin, chronisch von der Öffentlichkeit übersehen. Daraus wird keine Lyrikblütezeit. In diesem Fall aber blieben die »neuen Leute« der Lyrik treu. Sicher, einige von ihnen schrieben zugleich auch Romane. Essays und Autorenpoetiken verfassen sie sowieso alle durch die Bank weg. Aber sie verstehen sich doch in erster Linie als Lyriker*innen. Sie alle veröffentlichten im Rhythmus von zwei, drei Jahren kontinuierlich weitere Gedichtbände. Dazwischen publizierten sie einzelne Gedichte, Zyklen oder Poetiken in Anthologien. Ihre einzelnen Arbeiten fügen sich inzwischen zu etwas, was man traditionell einen »Werkkomplex« nennt. Über die Jahre hinweg hat sich so eine Gruppe etwa gleichaltriger, untereinander sehr gut vernetzter Lyriker*innen herausgebildet, deren Schreibkarrieren beinah parallel verlaufen sind. Sie verbindet kein einheitliches, übergreifendes Programm, jedoch ein durchgehendes Gespräch über ihre unterschiedlichen Positionen. Ein Großteil dieser Autor*innen publiziert im Berliner Verlag kookbooks. Dort hat die Verlegerin Daniela Seel mit Daniel Falb, Ron Winkler, Steffen Popp, Hendrik Jackson, mit Uljana Wolf, Monika Rinck, Dagmara Kraus, Sabine Scho und Martina Hefter zahlreiche hochkarätige Lyriker*innen um sich versammelt. Oder wie es Detlef Kuhlbrodt zum Jubiläum des Verlags in der taz schrieb: »Die Liste der Autoren, die hier ihre Heimat und Zuflucht gefunden haben, liest sich wie ein Lexikoneintrag Deutsche Lyrik des 21. Jahrhunderts, verfasst im Jahre 2050.« Willkommen im Jetzt und in der Zukunft. Manche sprechen aufgrund dieser Autor*innendichte von einer kookbooks-Ästhetik, die sich etabliert habe. Da ist sicher etwas dran, aber längst nicht alle wichtigen Lyriker*innen publizieren dort.
Die Mehrzahl der Autor*innen lebt bis heute in Berlin. Manche sprechen daher von einer neuen Berliner Avantgarde (und kokettieren mit einer Verwandtschaft zur »Berliner Schule« um Filmemacher wie Schanelec, Petzold, Farocki, Arslan). Aber auch da muss man einschränken: Längst nicht alle großartigen Lyriker*innen leben in der deutschen Hauptstadt. Mit äußerlichen Gemeinsamkeiten dieser Art ist es also schwer. Es ist ratsam, auf solche Etiketten zu verzichten und zunächst nur festzuhalten: Wenn Allen Ginsberg einst in seinem Gedicht »Geheul« wehklagte: »Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt«, wenn der ehemalige Presseleiter von Facebook jammerte, »die besten Gehirne meiner Generation denken nur darüber nach, wie man Leute dazu verleitet, auf Werbung zu klicken«, dann lässt sich vom heutigen Standpunkt aus mit Blick auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur jubeln: »Ich sehe die besten Köpfe meiner Generation Lyrik schreiben, aufregende, treffende, gewagte Verse.« Diese freigesetzte Dynamik hat die deutschsprachige Literaturlandschaft entscheidend verändert. Sogar mehr noch: Da die Gedichte dieser Autor*innen vielfach in andere Sprachen übersetzt wurden, da die Lyriker*innen auf den internationalen Bühnen gefragt sind, hat ihre Lyrik längst die Grenzen des deutschen Sprachraums überschritten. Auch im literarischen Ausland kursiert die Neugier, was sich da auf einmal Großartiges in der deutschsprachigen Lyrik tut.
Aber warum Lyrik? Den digitalen Umwälzungen hätte man sich doch ebenso gut in Romanform stellen können? Schaut man auf die strukturellen Eigenschaften jener Zeit, dann bietet sich um 2000 die Chance, mit der Lyrik eine besondere Position innerhalb der deutschsprachigen Literatur einzunehmen. Aus dieser historischen Konstellation wiederum erschließt sich die grundlegende Programmatik der neuen Lyrik. Rufen wir uns noch einmal den damaligen literarischen Horizont vor Augen: Was war zum Ende der neunziger Jahre in der deutschsprachigen Literatur eigentlich los? Aus der Sicht von jungen Autor*innen war damals – gut laut – vor allem eines los: der Poproman. In nur knapp zwei Jahren zwischen 1997 und 1999 erschienen direkt nach Alexa Hennig von Langes Relax und Kathrin Rögglas Abrauschen (beide 1997) die Romane von Rainald Goetz (Rave), Andreas Neumeister (Gut laut) und Thomas Meinecke (Tomboy) sowie Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (alle 1998). Stuckrad-Barres Livealbum und Remix (beide 1999) folgten ein Jahr später gemeinsam mit Tristesse Royale. Zum Millennium, fünf Jahre nachdem Christian Krachts Faserland die Popwelle endgültig losgetreten hatte, war der Poproman vollkommen etabliert und bis in die feinste Nuance erprobt. Man fühlte sich noch, als wäre man mittendrin, aber eigentlich war es schon wieder vorbei. Literarisch war klar, dass vom Poproman nichts grundlegend Neues mehr zu erwarten war. Aus der Sicht der heutigen Lyriker*innen, von denen damals noch niemand ein Buch publiziert hatte, war der Poproman-Boom das emphatische Projekt einer anderen Generation. Oder sie war die Sache von Jungs, die – wie Stuckrad-Barre in Panikherz gestand – unbedingt bei den Älteren dabei sein wollten.
Es war nicht so, dass die neuen Lyriker*innen mit der Popliteratur nichts mehr anfangen konnten. Niemand von ihnen wollte eine Errungenschaft der Popromane missen; weder die textstrategische Versiertheit, mit der die Popromane gegen ihren Lieblingsfeind, den naiven Realismus, angeschrieben hatten, noch die Öffnung der Literatur für das Alltägliche und die neuen Medienwelten. Schon gar nicht das Einarbeiten aktueller kulturwissenschaftlicher Theorien oder den feinen Humor, den die Popliteraten gegen die deutschsprachige Romantristesse in Stellung gebracht hatten. Es war nur so: Alle Charakteristika des Pop gehörten zur eigenen Normalität. Wer jetzt anfing zu schreiben, war geboren in Pop, war ein Pop-Native. Für diese Generation war Brinkmanns Forderung, Lyrik habe sich den technologischen Veränderungen zu stellen, eine Selbstverständlichkeit. So wie eben Markennamen, Konsumgüter nicht mehr wegzudenken waren, weil auch sie die westliche Kultur bestimmen. Oder so wie poststrukturalistische Theorie, Systemtheorie und Gender Studies in den Universitäten vom ersten Semester an unterrichtet wurden, weil sie eben nicht mehr der Schock für etablierte Denkfiguren waren, sondern grundlegender Lernstoff. Wer Barthes, Butler, Deleuze, Derrida, de Man, Foucault oder Luhmann von Studienbeginn an las, mag kurzfristig verunsichert gewesen sein. Aber bald galt diese Denkweise als etabliert. Mit der neuen Bewertung der Situation war zugleich ein Stimmungswechsel eingetreten: Euphorie war Gelassenheit gewichen. Nach 2000 griffen die jüngeren Autor*innen in ihren Texten total unaufgeregt auf Markennamen, Songtitel oder TV-Werbung zurück. Sie alle zitierten, protokollierten, kopierten, inventarisierten, montierten und remixten. Rankings, Listen und Kataloge waren zu Verfahren für jedermann geworden. Und an naive Heilsversprechen, die romantische Liebe, die Religion oder gar die Rückkehr zum Goldenen Zeitalter könnte die Verletzlichkeit des Subjekts heilen, wollte auch niemand mehr so recht glauben. Treffend sprach Moritz Baßler mit dem Blick auf dieses Auslaufen der großen Popwelle von »Postpopliteratur«. Auch die »neuen Leute« kann man, weil sie an wichtige Elemente der Popkultur anschließen, als »Postpoplyriker*innen« bezeichnen.
Aber zugleich war um 2000 auch klar, dass wer in der deutschsprachigen Literatur einen Freiraum suchte, wer etwas Neues wagen wollte, eines sicher nicht schrieb: einen Poproman. Der ließ auch die Finger von Dramen und Hörspielen, die durch Autor*innen wie Goetz, Meinecke oder Röggla ebenfalls ihre gute Portion Pop abbekommen hatten. Nicht ungeschickt auch, wenn man als Autor*in dem Drang widerstehen konnte, neben dem Schreiben noch eine Band gründen zu müssen.
Für die Lyrik hingegen hatten die Popliteraten der neunziger Jahre keinen Sinn. Auf Kracht-Elegien, Goetz-Sonette, Meinecke-Oden, Röggla-Terzette warten wir noch. Da tat sich also eine interessante Lücke auf. Man könnte sich fragen, ob die Sparte Pop in der Lyrik durch Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder den als Lyriker weithin unterschätzten Martin Kippenberger nicht schon längst besetzt war. Aber deren Lyrik lag eben auch schon mehr als dreißig Jahre zurück. Und man könnte sich ebenfalls fragen, ob nicht die Songtexte, etwa der gefeierten Hamburger Schule, das Feld der Lyrik abdeckten. Die Betrachtung von lyrics kann zwar sinnvoll sein, Musik aber lässt sich nicht auf die Textebene reduzieren. Man sollte es sehr ernst nehmen, dass im Zuge der Literaturnobelpreisverleihung an Bob Dylan (2017) gerade die Popexperten und Musikkritiker vehement dagegen wetterten, dass ausgerechnet die gute, alte Literatur versuche, die (inzwischen ebenfalls gute, alte) Popmusik feindlich zu übernehmen, indem sie den musikalisch-sprachlichen Gesamtkomplex »Popsongs« zugunsten einer Textfixierung abwerte. Popmusik beinhaltet Lyrik, ist aber keine Lyrik. Und sie ist am erfolgreichsten, wenn sie einen vergessen lässt, dass sie Poesie sein könnte. (Vgl. Bradley, Poetry of Pop)
Außerdem lagen im Fall der Hamburger Schule stets die Verbindungen zwischen Musik und Prosa näher. Da verliefen die offen zutage liegenden Verbindungen zwischen Kafkas Erzählung Blumfeld zum Bandnamen Blumfeld oder von deren Album Ich-Maschine zu Joachim Blessings Roman Wir Maschine (2001). Interessanterweise haben auch die zahlreichen Musiker, die inzwischen Ausflüge in die Literatur gewagt haben, konsequent die Finger von Gedichten gelassen, um stattdessen Romane zu veröffentlichen (vom durchwachsenen Lyrikversuch von Judith Holofernes oder Till Lindemann abgesehen, bildet der Musiker Hans Unstern, der seine Lyrik unter dem Titel Hanky Panky Know How2012 bei Merve publiziert hat, eine rühmliche Ausnahme). Bevor man also die Sterne vom deutschen Pophimmel vorschnell auf den harten Boden der Lyrik holt, bleibt es vorerst dabei: Die Lyrik bildete jene Lücke im Neunziger-Jahre-Popdiskurs, von der aus sich um 2000 ein riesiger poetischer Freiraum eröffnete. Das war keine so schlechte Aussicht für jemanden, der gerade erst anfing, Gedichte zu publizieren.
Auf der anderen Seite des literarischen Spektrums traf man in der Lyrik um 2000 auf eine beeindruckende Reihe hochkarätiger Autor*innen: Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Elke Erb, Eugen Gomringer, Gerhard Falkner, Hilde Domin, Thomas Kling, Oskar Pastior, Oswald Egger, Franz Josef Czernin, Klaus Merz, Michael Lentz, Ror Wolf, Barbara Köhler, Anne Duden, Lutz Seiler, Bert Papenfuß, Durs Grünbein, Uwe Kolbe, Wulf Kirsten, Marcel Beyer – und in dieser Liste fehlen zahlreiche bedeutende Autor*innen. Das Feld der Lyrik war extrem gut besetzt. Nur eine kollektive Lyrikbewegung hatte es seit dem Auftreten der Lyriker*innen vom Prenzlauer Berg um das Jahr 1984 nicht mehr gegeben. Bis zum Jahr 2000 war man als Lyriker*in Einzelgänger und -könner. Doch so individuell die unterschiedlichen Arbeitsweisen sein mögen, sie teilen zumindest eine Gemeinsamkeit: Sie waren und sie sind – denn der Großteil von ihnen schreibt zum Glück bis heute weiter – versierte Nachfolger der experimentellen Avantgarde und setzen die Tradition der Moderne fort. Diese Autor*innen standen zwar nie im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber innerhalb der Lyrik waren sie hochgradig anerkannt und bestimmten den deutschsprachigen Lyrikdiskurs.
Wie außergewöhnlich diese avantgardistische Prägung des lyrischen Diskurses war, erkennt man, wenn man im internationalen Vergleich einen Seitenblick wirft auf Marjorie Perloffs grundlegende Studie zur US-amerikanischen Lyrik im beginnenden 21. Jahrhundert. Perloff, jahrelang Professorin an der Stanford University und eine der renommiertesten Lyrikkritikerinnen ihres Landes, stellt dort nicht nur die wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Lyrik heraus, sondern widmet sich ebenso intensiv deren Vorläufern. Obwohl zu den Gemeinplätzen der deutschen Literaturkritik gehört, dass sich außerhalb des eigenen Sprachraums angeblich niemand für die eigene Literatur interessiere, geht es in Perloffs Arbeit überraschend deutschsprachig zu. Die Voraussetzung für die wichtigsten Tendenzen der Gegenwartslyrik in den USA macht Perloff in Walter Benjamins Passagen-Werk fest. Seinen Listen und Katalogen widmet sie ihr erstes Kapitel. Das zweite Kapitel beginnt damit, dass Perloff den amerikanischen Vorzeigeautor unserer Zeit, Kenneth Goldsmith, im Jahr 2001 auf eine Reise nach Brasilien, auf einen Kongress zur Poesie schickt. Goldsmith entdeckt dort die konkrete Poesie für sich. Sowohl er als auch Perloff feiern dieses Ereignis als große Wiederentdeckung, nachdem die konkrete Poesie in den USA zuvor – wie Goldsmith sagt – im Limbus des kulturellen Gedächtnisses verschwunden war. Besonders begeistert zeigt sich Goldsmith vom erneuten Auftauchen der »Poesie der mittfünfziger Jahre«. Als wichtigster Autor wird Eugen Gomringer genannt, als Paradebeispiel seine Sprachinstallation schweigen. (Vgl. Perloff, Unoriginal)
Klarer kann der Kontrast zur deutschsprachigen Lyrik um 2000 nicht ausfallen. Hier musste um die Jahrhundertwende kein Lyriker schweigen aus dem Limbus des Vergessens fischen. Hier war es überall präsent. Daher waren auch weder Brasilien- noch Zeitreisen in die fünfziger Jahre notwendig. Ein Hausbesuch bei Eugen Gomringer hätte schon gereicht. Man hätte jedoch, um die Begegnung mit der konkreten Poesie und ihren Fortschreibungen zu forcieren, genauso gut bei Franz Mon oder bei Ror Wolf vorbeischauen können. Oder 2001 einem der wichtigen Nachfolger dieser Traditionslinie, Michael Lentz, staunend zusehen können, wie er den Bachmann-Preis gewann. Oder man wurde eben stiller Leser, etwa von Pastior, Mayröcker, Erb, Kling, Köhler oder Egger, die alle auf ihre Weise an das Erbe anschlossen.
Nicht nur die Avantgarde, sondern mit ihr auch ihre Schreibverfahren und Theorien waren innerhalb der deutschsprachigen Lyrik quicklebendig und maßgeblich. Sprachphilosophisch berief man sich also auf Wittgenstein, Nietzsche und die Frühromantiker. Man setzte bei der Analyse des Materialen, sinnlich Wahrnehmbaren der Sprache an und lotete deren Grenzen und Bedingungen mit Hilfe von gewagten Schreibverfahren aus, indem man mit Readymades und der optischen wie klanglichen Seite der Schriftzeichen arbeitete. Nach zuvor festgelegten Spielregeln erstellte man Textgeneratoren und mathematische (oder auch geometrische) Konzepte zur Zeichenproduktion. Man verfertigte Pastiches aus verschiedensten Textquellen und (Fremd-)Sprachen oder experimentierte mit Formen des unbewussten, automatischen Schreibens. Die Erzählsequenzen, Sprach- und Bedeutungseinheiten waren rigoros unterbrochen und stellten alle Vorstellungen, die ein Text entwirft, als gemachte Bildeffekte aus. Als Leser*in vergisst man daher nie, dass man liest. Statt von Zeichen zu Zeichen zu gleiten, wird man immer wieder darauf gestoßen, das Gelesene auf gemachte Bedeutungseffekte und deren kommunikative Bedingungen und Konventionen zurückzuführen. Zu den etablierten Schreibweisen dieser Tradition gehörten – ausgerechnet, möchte man mit Blick auf die Popromane sagen – Listen und Kataloge, Remix, Sampling und Montage. Die Autor*innen um 2000 waren Meister dieser Schreibtechniken. Poststrukturalistische Theorie und deren Metaphorik banden sie schon seit deren Aufkommen in den Siebzigern ein.
Waren die Popromane gegen die Übermacht eines naiven erzählerischen Realismus gerichtet, so schrieb die sprachexperimentelle Lyrik, die in Deutschland gerne als »Labordichtung« geschmäht wurde, ebenfalls gegen einen Lieblingsgegner an: jene ebenfalls traditionsreiche und überaus wirkmächtige Auffassung von Gedichten als – ach – unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken. Avantgardefeind Nummer 1 war das Konzept von Erlebnislyrik, das in der Tradition des Geniekults und des Sturm und Drang auf die Inszenierung großer Einfälle, einmaliger Begegnungen und ergreifender Gefühle aus war (und in ironischer Brechung noch von Autoren wie Günter Grass vertreten und umgesetzt wurde). Der Gründungsvater und prominenteste Vertreter dieser Auffassung von Lyrik ist bis heute Goethe, der das Erlebnisgedicht in seinen berühmten Sesenheimer Liedern im selben Zuge erfand und perfektionierte, bevor er es anschließend zur »Naturform« des Subjektiven adelte. Lyrik war seither, wenn das lyrische Ich, das die Leser*innen mit dem Dichter oder der Dichterin selbst identifizieren sollten, unterwegs auf dem Pferd saß, wenn das Herz raste und der fliehende Blick sich plötzlich an einem Eindruck festhielt. Ein Einfall, der Gedanke an die Geliebte, ein geniales Gedicht – so wirkte es –, am besten noch auf dem Rücken des Pferdes geschrieben: »Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde«. Perfekte Inszenierung, hinter der allerdings harte Arbeit am heimischen Schreibtisch steckte.
Was Goethe – u.a. im Anschluss an Klopstock und dessen Aussage, der Dichter brauche nicht zu erfinden, nur aufzuschreiben, was tatsächlich sei – erdichtete, setzte kurz darauf Hegel in seiner Vorschule der Ästhetik in seine philosophische Theorie um. Seither galt das Gedicht als ein Gefäß, das die Gefühle des Subjekts aufbewahre, um sie – per Lektüre – auszuschenken. (Noch vor 1750 war die Vorstellung von Lyrik eine ganz andere gewesen. Lyrik als »Affekt und Ausdruck« wurde erst danach konzipiert.) Goethes und Hegels Erlebniskonzept, ihr gemeinsamer Coup, wie man diese Neuformierung des Gedichts nennen könnte, wurde, dafür sorgten u.a. nachfolgende Theoretiker wie Dilthey – das Erfolgsmodell der deutschsprachigen Literatur überhaupt. Kein Konzept war wirkmächtiger, keines hat jemals so weit in die Literatur anderer Sprachen ausgestrahlt. Wenn 2015 der renommierte Literaturtheoretiker Jonathan Culler eine grundlegende Theory of the Lyric entwirft, wägt er zwischen verschiedenen Lyrikmodellen ab. Er denkt kurz über Heidegger, Adorno und Käte Hamburger nach, kommt dann aber zu dem Schluss: Am besten geeignet für eine Theoriebildung sei bis heute schlicht das Lyrikmodell von Goethe und Hegel. Das Beispiel Culler zeigt: Man wird dieses Modell einfach nicht los. Es bleibt im Lyrikdiskurs fest verankert, obwohl die Avantgarde seit so langer Zeit versucht, es endlich abzuschütteln.
Die deutschsprachige Lyriktradition ist allerdings auch dann ein besonderer Fall, wenn es um die Gegenwehr wider die Erlebnislyrik geht. Goethes und Hegels Konzept traf schon in seiner Entstehungszeit auf regen Widerspruch. Bereits Novalis und Schlegel wiesen vehement darauf hin, dass es ein fataler Irrtum sei, die Sprache als ein Medium anzusehen, das für Gefühle und Gedanken transparent sei. Bereits die Frühromantik sah die Sprache als Werkzeug eines Kompromisses: Sie sei gerade kein perfektes Ausdrucksmittel, aber da wir keine bessere Möglichkeit haben, unser Inneres zur Sprache zu bringen, seien wir den Bedingungen der Sprache ausgeliefert. Nietzsche, Wittgenstein und später die französischen Poststrukturalisten schlossen jeweils auf ihre Weise an diese sprachphilosophische Überzeugung an. Die deutschsprachige Lyrik befindet sich beinahe von ihrem Beginn an zwischen diesen beiden (sprachphilosophisch fundierten) Positionen aufgespannt, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Beide sind prominent, namhaft, argumentationsstark vertreten, und vereinfacht könnte man die deutschsprachige Lyrikgeschichte als ständiges Wechselspiel zwischen diesen beiden unvereinbaren Polen erzählen: Avantgarde versus Erlebnislyrik.
Warum dieser alte Zwist im Jahr 2000 noch relevant war? Weil man im Deutschen keine einzige, in einen Vers gebrochene Zeile schreiben kann, weil man sein Buch – wie Dietmar Dath das gemacht hat – nicht einmal unabhängig vom Inhalt (und von der Rechtschreibung) mit Sämmtliche Gedichte etikettieren kann, ohne sich in den speziellen Resonanzraum der lyrischen Tradition einzuschreiben. Man steht immer mit einem Fuß in (genau) dieser Vergangenheit, um sich mit dem anderen in die Zukunft vorzutasten. Daher kann man in der deutschsprachigen Tradition keine Lyrik schreiben, ohne sich sofort entweder auf der Seite der einen oder auf der Seite der anderen Streitpartei zu positionieren. Genau diese Frage der Positionierung stellte sich auch für jene Gruppe »neuer Leute«, die um das Jahr 2000 die Bühne der deutschsprachigen Lyrik betraten. Avantgarde-Anschluss heißt kein Erlebnis nirgends. Oder doch Erlebnis? Das würde Avantgarde-Verrat bedeuten.
Da der Einfluss der Avantgarde so groß war, verschob sich automatisch auch der Blick auf die Popliteratur der neunziger Jahre. Mit Liste, Katalog, Remix und Montage erschienen Popromane als gekonnte Aktualisierungen der modernen Avantgarde. Nicht zufällig hat sich einer der wichtigsten Autoren des Popromans, Wolf Haas, jahrelang mit den »sprachtheoretischen Grundlagen der konkreten Poesie«, und das heißt vor allem mit Wittgensteins Sprachphilosophie, auseinandergesetzt. Die Popwelle der neunziger Jahre war so gesehen ein weiteres Kettenglied einer »langen Moderne«. Der Poproman holte nur nach (und aktualisierte), was innerhalb der Lyrik kontinuierlich vers-, stil- und traditionsprägend geblieben war. Aus der Sicht der Lyrik konnte man im Jahr 2000 daher nur sagen: »Endlich!« Und anfügen konnte man noch: »Danke, Popliteratur, deine Wiederaufnahme hat die experimentellen Verfahren so populär gemacht, dass sie jetzt auch außerhalb der engen Avantgardekreise bejubelt werden.«
Diese Sichtweise wies dem Poproman zugleich einen Ort im literarischen Diskurs zu: Besonders relevant und interessant war er aus Sicht der Lyrik vor allem, wenn man ihn elegant zur Seite schob und den Blick auf die Traditionslinie freilegte, die über Autoren wie Brinkmann oder Benn, über die Poetik der konkreten Poesie oder von Oulipo zur Moderne um 1900 und von dort weiter zur Frühromantik (und schließlich sogar bis zu einzelnen Elementen barocker Literatur) führt. Man sieht diese Neuausrichtung des Blicks auf eine lange Moderne an Ann Cottens theoretischer Arbeit über Listenverfahren: Obwohl die Listen und Kataloge der Popromane eigentlich direkt vor ihrer Nase liegen, interessiert sie sich in ihrer 2005 veröffentlichten Studie für die Listen in der Konkreten Poesie, so der Titel ihrer Arbeit. Cotten untersucht dort, wie die Listen im Zuge der emphatischen Moderne verwendet wurden, wie die konkrete Poesie diese Schreibweisen beerbte und inwiefern Cottens heutige Lyrik-Kolleg*innen Daniel Falb und Monika Rinck ihrerseits dieselbe Tradition beerben. Nach dieser Anbindung an die avantgardistische Moderne sucht die Gegenwartslyrik. Die Lyriker*innen nach 2000 sind als Postpoplyriker*innen insofern an Pop interessiert, als er an eine viel weitere Tradition der avantgardistischen Moderne anschließt. Die Lyrik ist nur insofern eine Postpoplyrik, als sie zugleich auch postsurreal, postexpressionistisch, postdadaistisch oder auch postkonkret ist.
Darüber hinaus waren die Lyriker*innen, die um 2000 zu schreiben begannen, selbstverständlich auch direkt von ihren unmittelbaren Vorgängern beeinflusst. Einerseits wollte niemand auch nur die kleinste Errungenschaft der lyrischen Avantgarde missen. Ein Rückfall hinter diese Positionen war überhaupt keine Option. Andererseits machte sich die Stimmung breit, dass das Feld der experimentellen Lyrik gesättigt, dass sie eigentlich die Sache einer anderen Generation sei. Für alle, die etwas Neues wagen wollten, war klar, eine noch detailliertere Sprachzerlegung, ein noch verschraubterer Dreh in schwindelerregende Abstraktionshöhen, ein noch verwinkelterer Eigenweltbau konnten es nicht sein. Kurz gesagt, ging es der neuen Lyrik mit ihren avantgardistischen Vorgängern genauso wie mit der Popliteratur: Viel Gutes dran, aber so konnte es nicht weitergehen.
Die Frage, wie man an die lyrische Avantgarde der direkten Vorgänger anschließen wollte und wie gerade nicht, schnurrte Anfang der 2000er Jahre in einem einzigen Text zusammen, der ungeheuer einflussreich wurde und dessen Argumente bis heute durch die Lyrikdebatten geistern. Der Dichter Franz Josef Czernin nahm sich in einer Radikalkritik Durs Grünbeins Gedichtband Falten und Fallen vor. Und er zerlegte die im Feuilleton gefeierten Gedichte des damals meistbestaunten Lyrikers mit einem solchen Scharfsinn, dass nichts als ein wenig Wortstaub von ihnen übrig blieb. Czernins wichtigstes Argument lautet: Grünbein bediene sich, um seine Lyrik mit Aktualität aufzuladen, verschiedener historischer Verfahren, und zwar – darin liegt der Vorwurf –, ohne sich über die historischen Eigenarten und Funktionen dieser Verfahren im Klaren zu sein. Genau diese exakte Archiv- und Verfahrenskenntnis fordert Czernin aber von der Lyrik, wenn sie nicht nur auf Aktualität (und ein wenig Antikenkult) dressierter Wohlklang sein will, sondern beansprucht, Einsichten über die eigene Zeit zu vermitteln. Czernins Kritik ist scharf und gnadenlos und wahrscheinlich auch ungerecht. In jedem Fall hinterlässt sie bei den Lyriker*innen nach 2000 tiefgreifende Spuren. Grünbein wird zu einer Negativfolie für die Lyriker*innen. Czernin avanciert – zumindest für eine gewisse Zeit – zum Chefkommentator der neuen Lyrik, dem beispielsweise in der BELLA triste 17 die Gedichte der wichtigsten neuen Autor*innen zur Begutachtung vorgelegt werden.
Selbst wenn jemandem die exakte Argumentation von Czernin gegenüber Grünbein nicht eingeleuchtet haben mag, eines war mit diesem Text schlagartig klar: Die Ansprüche an die eigene Lyrik, ihr Verhältnis zur Lyrikgeschichte und zu den direkten Vorgängern haben höchsten Ansprüchen gerecht zu werden. Naivität ist fehl am Platz. Hochgradig verfahrenskundig und historisch geschult soll die eigene Lyrik sein, um im Kontrast zum Vergangenen radikal gegenwärtig sein zu können. Czernins eigene Lyrik löst das auf höchstem Abstraktionsniveau ein. Aber wie sollte man als dessen Nachfolger noch daran anschließen, wenn man einerseits den Abstraktionsgrad nicht noch weiter steigern konnte und man andererseits von Verbotsschildern umzingelt war, die einem streng vor Augen führten, was vermeintlich ein Verrat an der Avantgarde sei?
Damit ist die Ausgangsposition der neuen Lyrik bestimmt. Flankiert von der Popliteratur einerseits, von der lyrischen Avantgarde andererseits, formierten sich die Möglichkeiten und die Aufgaben für jene Gegenwartslyriker*innen, die ihre Schreibkarrieren um das Jahr 2000 begannen. Von der Seite der Pop- und Konsumkultur stellte sich die Frage: Wie konnte man die Lyrik, die in der Popwelle der neunziger Jahre keine Rolle gespielt hatte, wieder lebendig machen, ohne in naiven Realismus zu verfallen? Wie bekam die Lyrik wieder Kontakt mit den pulsierenden Themen und Diskursen der eigenen Zeit? Gab es dafür Figuren, Szenen, Sprachformen, Vokabeln, Redeweisen oder Verfahren? Konnte man dafür einen lässigen, leichten, eingängigen Ton finden und Rhythmen und Melodien entwerfen, die sich sofort nach der eigenen Lebenswirklichkeit anfühlen? Der Lyrik einen Aktualitätsstromschlag verpassen war die erste Aufgabe. Hieß das im Hinblick auf Sujets und Verfahren einfach nur Rolf Dieter Brinkmanns Programm einer »neuen Subjektivität« für das angehende 21. Jahrhundert aufwärmen? Sollte man die Arbeit von Rainald Goetz und Thomas Meinecke ein paar Jahre verspätet auf dem Feld der Lyrik wiederholen? Tatsächlich klangen die Anfänge der neuen Lyrik (vor allem bei einer Reihe männlicher Dichter) sehr stark nach Brinkmann. Den Eindruck bekommt man, wenn man Tom Schulz’ »Abends im Lidl« liest oder Matthias Göritz’ versierte Trilogie »Loops«, »Pools« und »Tools« oder wenn man betrachtet, wie intensiv sich ein Autor wie Jan Volker Röhnert sowohl in der Theorie (Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie) als auch in der Poesie mit Brinkmanns Positionen auseinandersetzt.
Bei Brinkmanns versiertem Realismus, dem Gegenmodell des »naiven Realismus«, hatten noch alle sprachlichen Verfahren der glänzenden Oberfläche und den fotografischen oder filmischen Bildeffekten unterworfen zu sein. Seine Lyrik war noch in klarer Ablehnung gegenüber jedem (von ihm gerne beschimpften) selbstgenügsamen, leblosen, sich in immer luftigere Abstraktionshöhen schraubenden Avantgardegestus der High Modernity gedacht. Das Prinzip war: Nur nicht in den Verdacht einer Benn-Nachfolge geraten. Allergisch reagierte Brinkmann auf jene Konzeptlyrik, die selbstgesetzte Experimentvorlagen durchspielte, oder auf die text-visuellen Parcours und Installationen der konkreten Poesie.
Genau diesen Gegensatz hoben die »neuen Leute« auf. Sie wollten beides, und zwar sollte beides direkt auf der Oberfläche der Texte sichtbar sein. Die zeitgenössische Aktualität des »versierten Realismus« sollte mit den Verfahren, den Freiheiten und Brüchen der Avantgarde in direkte Spannung treten. Realistische Sequenzen? Ja. Glaubwürdige Figuren? Gerne. Szenen, die wirkten, als wären sie aus dem Leben gegriffen? Unbedingt. Aber all dies durchschossen von Passagen, in denen sich die Bilder nicht fügten, die Perspektive zerbrach, Glossolalie und Typographie von der Handlung ablenkten, die Informationsübertragung gestört wurde und das Gedicht sich in schwindlige Höhen der Abstraktion erhob oder in die Abgründe der Reflexion bohrte. Alles geht, solange man weiß, was man tut, wenn man sich eines bestimmten historischen Verfahrens bedient. Dann kann man sowohl seine Vorliebe für einen antiken Vers wie den Adoneus pflegen als auch mit Listen und Katalogen arbeiten. Wild durfte die Mischung wirken, aber gekonnt und kenntnisreich sollte sie konzipiert sein. Und sehr wohl sollten die Leser*innen bemerken, dass sie sich im Zuge ihrer Lektüre durch einen sprachlich gemachten Parcours bewegten.
Zugleich wurden auch die strikten Normen und Verbote der lyrischen Avantgarde kritisch hinterfragt und die vermeintlich unüberwindlichen Gegensätze zum Verschwimmen gebracht. Damit sind wir zurück bei der Frage, wie man sich gegenüber der Erlebnislyrik positionieren sollte: Die »neuen Leute« entfalteten ein ausgeprägtes Interesse am Modell von »Erlebnis« und »Ereignis«. Hendrik Jackson führt geradezu trotzig – mit einem »doch« – das Verhältnis zwischen Gedicht und Ereignis wieder in die Poetik ein, und zwar indem er den einfachen Rückbezug durch einen aporetischen Ruck-bezug des Gedichts auf das Erlebnis ersetzt: »Poesie ruck-bezieht (das plötzliche Anspannen der Seile, das Fangtuch, der Schatten unterhalb des Gestänges) doch auf Ereignisse, auf das Erfahrene (nicht aber auf eine simpel vorgestellte Realität).« (Jackson, Im Innern, 27) Die Beziehung zwischen Ereignis und Gedicht ist also nicht einfach, sondern stets (an)gespannt. Gleichzeitig tauchte plötzlich wieder das lyrische Ich in den Texten auf und berichtete von Erfahrungen, Gedanken und Emotionen. Allerdings nicht in der naiven Form, dass dort tatsächlich ein unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen und Gedanken möglich wäre. Sondern in der – eigentlich bei Goethe und Hegel schon angelegten – doppelten Struktur und damit also in der gewieften Form. Denn einerseits ist es qua Sprache gerade nicht möglich, Ereignisse, Gedanken und Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen. Andererseits verfügen wir über kein besseres Werkzeug als unsere Sprache und müssen im Wissen um die Unmöglichkeit der Möglichkeit die Aporie aushalten und es trotz des konstitutiven Dilemmas wieder und wieder versuchen. Und weil diese Erkenntnis alles andere als taufrisch und schockierend ist, kann man dies auch in neuer Gelassenheit der Aporie gegenüber tun. Das klingt vielleicht nach hybrider Theorie, deckt sich aber doch längst mit der Alltagserfahrung. Man muss sich nur den unseligen sprachlichen Aufwand vor Augen führen, den ein Partner in einer intimen Situation auf sich nimmt, wenn der andere ihn – halb Liebender, halb Kontrolleur – fragt: Was denkst du gerade? Die bestimmende Denkfigur der neuen Lyrik lautet indes: sich über vermeintliche Gegensätze hinwegsetzen, sie überschreiten. Zum wichtigsten Verfahren wurde die Re-Kombination. Das Ergebnis war die spannungsreiche Vereinigung der Gegensätze. In Begriffe gefasst wäre die neue Lyrik so etwas wie eine »experimentelle Erlebnislyrik« und eine »Postpop-Avantgarde« zugleich.
Es gibt keine Lyriker*innen, die nach 2000 zu publizieren begonnen haben, an denen diese Ausrichtung spurlos vorbeigegangen ist. Mehr noch: Jedes einzelne Gedicht positioniert sich gegenüber dieser Konstellation. In jeweils unterschiedlicher Gewichtung interferieren Pop, lyrische Avantgarde, Erlebnis. Die Lyrik früherer Zeiten hat auf diese historische Selbstverortung im einzelnen Gedicht glatt verzichtet. Das heißt umgekehrt: Die Lyrik nach 2000 zeichnet sich dadurch aus, dass das einzelne Gedicht offenlegt, wie es sich zu Pop, lyrischer Avantgarde und Erlebnis verhält. Jeder einzelne Text setzt die Kunst der Verschränkung in die unterschiedlichsten Figurationen um. Ereignis, Avantgarde und Popkultur werden verwoben, vernäht, ineinander verstrickt, gefaltet und miteinander verschraubt. Überlagerungen, Überlappungen lassen das eine Verfahren unter dem anderen hervorschimmern. Sie umschlingen oder umranken sich, sind ineinander verflochten, überkreuzen sich, verwinkeln sich ineinander oder ecken aneinander an. Wie das im einzelnen Gedicht aussieht? Das können drei Texte veranschaulichen, die aus drei unterschiedlichen Phasen der Gegenwartslyrik stammen. Der erste kommt aus zentraler Lage des Tableaus, aus dem Jahr 2007, als sich die Schreibformen und Denkweisen bereits einigermaßen gesetzt haben. Er steht hier an erster Stelle, weil an ihm die Poetik der Faltung auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der zweite wurde im Jahr 2017 veröffentlicht, als viele Schreibweisen schon zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Der dritte führt in die Anfangszeit um 2003 zurück. Er steht in diesem Fall erst an dritter Stelle, weil an ihm die Faltung am schwersten zu rekonstruieren ist. Es geht also nicht darum, eine ausbuchstabierte Lesart zu entwickeln, sondern nur darum, die charakteristische Poetik isoliert in den Blick zu bekommen.
Am Anfang steht also die augenfälligste Faltungsvariante: Der Wille zur spannungsreichen Überlagerung ist dort besonders deutlich sichtbar, wo er sich auch graphisch in die Engführung von zwei Textarten und Formsprachen überträgt. Wenn man die Seiten eines solchen Gedichtbandes durchblättert, erscheint einem das wie eine Art doppelter Buchführung. Ausgangsfigur ist schlicht die Parallelführung, das Nebeneinanderlegen. In Uljana Wolfs zweitem Gedichtband Falsche Freunde (2007) zeichnet sich auf der einzelnen Seite oben eine Art Wortstammbaum ab, der Wortverwandtschaften darstellt.
in meiner kehle sitzt ein lump, der jedes lied zu einer lüge umverklumpt. wenn ich ruf: er wars, nicht ich, der log, rollt er mir grollend einen holzklotz auf die zunge. junge, brumm ich, du bist eine last, dann er: und du das letzte. darauf schweig ich, doch weiß ich, er bleibt dran, legt arge listen an, für jeden räusper, den er, und warum auch nicht, als einen anschlag auslegt, ein gedicht.
(Wolf, Falsche Freunde, 21)
Die Wörter stammen nicht aus einer Wortfamilie, sondern pflegen »falsche Freundschaften«. Sie täuschen eine Verwandtschaft vor. Die Last, die man im Deutschen zu tragen hat, ist last but not least mit dem englischen Wort nur aufgrund der Buchstabenfolge ein Zwilling des englischen »last« – oder sollten sie zuletzt etwa doch mehr als gedacht miteinander teilen? Solche Stammbäume falscher Freundschaft zu entwerfen nimmt (visuelle) Techniken der modernen Avantgarde auf. Wer die Matrizen liest – von der Last über die Liste, zur List bis zuletzt zum »log«, das ebenso »er log« wie als Kommentar zu eigenen Verfahren »die Aufzeichnung« heißen kann –, liest ein minimalistisches Gedicht, vorgetäuschter, aber darin eben doch dauerhafter Beziehungen. Höchst lakonische Beziehungsdramen, die zwischen den Sprachen ruhen und jetzt geweckt werden. Direkt unterhalb setzt Wolf die Schemata in Erlebnisminiaturen um. Damit beginnt die Verwebung der einzelnen Elemente. Nicht etwa ein konkretes Erlebnis, sondern die entworfene Matrix bildet den Ausgangspunkt der dargestellten Ereignisse. Der »Lump«, der in der Kehle sitzt, wird ja erst ein solcher, wenn er ein Lied singt, wie Red Hot Chili Peppers’ »I could have lied, I’m such a fool«. Doch so weit muss man gar nicht gehen, um die Überlagerungen in den Blick zu bekommen. Bereits die Aufteilung der Buchseite macht klar, dass hier zwei Darstellungs- und Schreibweisen kollidieren. Das Betrachten des Verwandtschaftsbildes einerseits, die zeilenweise Lektüre der Verwandtschaftszeilen andererseits. So geht neue Lyrik.
Auf engstem Raum vollführt auch Levin Westermann in seinem 2017 erschienenen Band 3511 Zwetajewa diese Kollision von gegensätzlichen Texttraditionen. Im titelgebenden Zyklus umranken seine Texte die – dort blaugedruckten – Tagebucheinträge und Briefauszüge von Marina Zwetajewa:
01:00 Uhr · Der See
Nebel. Nebel und Nacht. Alles liegt bewegungslos
und schwarz. Die Landschaft ist verschwunden,
man sieht jetzt – einfach nichts. Doch Nebel
ist nicht nichts. 8. August 1923 – Wenn Sie der sind,
dem ich schreibe, dann quälen Sie sich ebenso wie ich.
Der Mann schaut auf das Wasser. Es ist zu still.
Das hat ihm immer Angst gemacht, damals schon,
als Kind. Der Mann bevorzugt Wellen. Wind.
(Westermann, 3511, 46)
Greifen da nicht einfach zwei verschiedene Erlebnisstrukturen ineinander, einmal in Vers-, einmal in Tagebuchform? Das stimmt einerseits. Aber wenn es andererseits heißt »Alles liegt bewegungslos und schwarz«, dann geht es bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion um den schwarzgedruckten Text auf dem weißen Blatt Papier. Wenn im Anschluss auf das »man sieht jetzt« ein Gedankenstrich folgt, der die Zeit des Denkens markiert, dann fordert die Lyrik gezielt eine andere Art von Lektüre, als es ein Tagebucheintrag tun würde. Nämlich eine, welche die gedruckten Zeichen als ebenso wichtig ansieht wie das, was durch sie gesagt wird. Ist außerdem der eine Text erst einmal wie ein Readymade in den anderen gewandert, kann man sich in diesem Kontext nicht mehr sicher sein, ob die vermeintlich zitierte Zeile überhaupt von Zwetajewa stammt oder ob sie ihr nur zugeschrieben wurde. Auch bei Westermann überlagern sich Verfahren der Avantgarde (Montage, Readymade) mit dem Aufruf von Mustern des Erlebnisses.
Es kommt aber nicht darauf an, jedem einzelnen Text schon von Ferne diese Verfugung vorheriger Gegensätze anzusehen. Es geht auch stiller, kleinteiliger, so dass die Kombinatorik von Avantgarde, Erlebnis und Pop nur im Zuge genauer Lektüre aufscheint. Zum Beispiel bei der Technik der Überlagerung in einem der vier Gedichte, die Daniel Falb 2003 in Lyrik von JETZT publizierte:
umgeworfene BMWs, genaue beschreibung der sachschäden im tageslicht und
so viel tourismus; ich sah überall muskeln und durch die gesten
hindurch auf das meer. ein paar tage lang hieß die animateurin tina, dann
blieb sie plötzlich weg und alle ahnten etwas. im hotelzimmer
gab es kabelfernsehen, wir sahen die tagesschau, die terroristen waren wirklich gut gemacht. (Falb, Lyrik von JETZT, 77)
Ein erster Blick auf den Text genügt, schon leuchten die beiden Marken BMW und Tagesschau. Der Text arbeitet also nicht nur mit Medien, Konsum und Marken, sondern er führt vor, wie Marken aus der Fern(seh)sicht funktionieren: Sie springen dem Beobachter aus der grauen Masse entgegen. Da blitzt die Popästhetik auf und man denkt sofort, es geht wie bei Brinkmann weiter. Aber bei Letzterem waren die Markenprodukte stets in realistische, den erlebten Alltag aufrufende Szenen eingelassen. Dazu gehörte der obligatorische Vorwurf, das Naheliegende liege der gekünstelten Lyrik so fern: »Die am weitesten entfernten / Sachen z.B. am Morgen, kurz / nachdem man aufgestanden ist // eine große Dose Nivea-Creme / (Familiendose), ein paar Nägel / die in die Wand geschlagen / werden müssen« (Brinkmann, Gras, 41). Falb archiviert Marken, sein Plot aber bleibt demonstrativ in einzelne Bruchstücke zerrissen. Sie fügen sich nicht mehr zu einer realistisch wirkenden Bade(zimmer)- oder Fernsehszene zusammen. Bis zuletzt bleibt offen, wie der Blick hindurch durch Muskelspiele und Gesten auf das Meer und die Tagesschau vermittelt sind. Vielleicht sind sie auch nur strukturell gleich, weil die Tagesschau dem Fernblick am animierten »Pool der Zeit« analog ist und den Betrachter zu jener Art von gut unterhaltenem Touristen macht, der angestrengt versucht, mehr zu sehen, als da ist. Die Bildsequenzen stürzen vor den Augen der Leser*innen also in avantgardetypischer Weise gezielt ab, um daraus die Kritik an der Bildmacht von Tagesschau und Versschau gleichermaßen zu entfalten.
So unterschiedlich die drei Texte sind: Sie teilen die Gemeinsamkeit, jene drei lyrischen Verfahrensweisen ineinanderzufalten, die bislang getrennt voneinander verhandelt wurden. Darin besteht eines der wichtigsten Vorhaben und Verfahren der neuen Lyrik, die sich direkt aus ihrer (literatur-)historischen Position ergeben. Die Spannbreite unterschiedlicher Umsetzungen dieser Figurationen ist weit gefächert. Sie hängt vor allem davon ab, an welche Facette der literarischen Avantgarde die einzelnen Autor*innen für sich anschließen und wie sie die einzelnen Elemente gewichten. Die aufgezeigte Konstellation bildet den Ausgangspunkt, damit die Gegenwartslyrik überhaupt Fahrt aufnimmt. Sie ist der steile Hang, den die Lyriker*innen auf ihre Weise herunterrauschen oder sich elegant herunterschlängeln oder gleich mal in einem Riesensatz hinunterspringen. Einen solchen künstlerischen Freiraum vor Augen zu haben, der literarische Abenteuer verheißt, stellt noch kein ausgefeiltes Programm dar, aber ein Möglichkeitsversprechen.
Wer sich öffentlich zu Wort melden will, benötigt dafür einen Ort, von dem aus das überhaupt möglich ist. Einen Ort, von dem aus sich Aufmerksamkeit gewinnen und Ideen in die Zirkulation einbringen lassen. Wenn man über Lyrik spricht, ist man leicht dazu verführt, die Existenzbedingungen von Autor*innen, den Vertrieb und Verkauf von Texten und Büchern, die Organisation von Auftritten, Lesungen und Performances von der Literatur abzukoppeln. Zumindest im Fall der Gegenwartslyrik aber würde das hinter die Ansprüche und Leistungen der Autor*innen und die spezifische Formation der Lyrik selbst zurückfallen. Eng verschränkt mit der Produktion ihrer Lyrik – und alles andere als nebenbei – haben diese Dichter*innen über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg entscheidend am Aufbau einer eigenständigen lyrischen Öffentlichkeit mitgearbeitet, die ihrerseits die Eigenschaften der Lyrik und das Auftreten der Autor*innen beeinflusst hat. Den Ausgangspunkt dieses Strukturwandels bildete der damals unter zahlreichen Autor*innen verbreitete Eindruck, die Lyrik wäre in der literarischen Öffentlichkeit heimatlos geworden. Der Roman wäre – als des Lesers Liebling – in den großen Verlagen und überregionalen Feuilletons zu Hause. Das Drama seinerseits hause institutionell fest verankert im deutschen Theater. Und die Lyrik? Als Antwort auf diese Frage hat sich die Gegenwartslyrik ihre Verlage, Aufführungsorte, ihre Vertriebsstrukturen und sogar ihre eigene Lyrikkritik selbst geschaffen. In einigen Fällen hat sich im Zuge dieser Selbstverortung das Bedürfnis nach einem Zuhause sogar in der Namensgebung der entstandenen Institutionen niedergeschlagen. Die »Literaturwerkstatt Berlin«, seit Jahren wichtiger Bezugsort für die Lyrik, hat sich 2016 in »Haus der Poesie« umbenannt. In München hat sich – in hübscher Metonymie zu Haus und Heimat – seit 1989 das »Lyrik Kabinett« als Veranstaltungsort und als eine auf Lyrik spezialisierte Bibliothek etabliert. Und wenn Detlef Kuhlbrodt dem kookbooks-Verlag zum Jubiläum gratuliert, spricht er von Autor*innen, die dort »Heimat und Zuflucht gefunden haben«. Die neue Lyrik ist heute überwiegend in kleinen, unabhängigen Verlagen zu Hause; in Verlagshäusern – nicht selten handelt es sich um Privathäuser einzelner Personen – wie Urs Engelers in der Schweiz ansässigem Verlag roughbooks, der seine Bücher nur noch über das Internet und ohne ISBN vertreibt, oder wie dem anerkannten Ostheimer Peter Engstler Verlag. Parallel dazu haben sich neue Independent-Verlage wie luxbooks, Voland & Quist oder Reinecke & Voß etabliert. Das Verlagshaus Berlin, Brueterich Press oder auch der poetenladen-Verlag haben sich sogar ausschließlich auf das Verlegen von Lyrik spezialisiert.
Wie eng der Ausbau der lyrischen Öffentlichkeit, die Existenzbedingungen der Autor*innen, die Produktionsbedingungen und die Lyrik selbst verwoben sind, kristallisiert sich am deutlichsten am 2003 gegründeten kookbooks-Verlag heraus, der über das Ästhetische hinaus zur wichtigen Referenz und zur Vorzeigeinstitution der neuen Lyrik geworden ist. Seine rasante Entwicklung vom unbekannten Neuling zum »renommierten deutschen Independent Verlag kookbooks« – so firmiert er z.B. in einem Aufsatz über die Lyrik der Gegenwart (Degen, Poetik, 213) – steht stellvertretend für den Aufbau und Erfolg der lyrischen Öffentlichkeit. Bei kookbooks hat die Verlegerin Daniela Seel eben nicht einfach nur hochkarätige Lyriker*innen versammelt, sondern darüber hinaus auch eine neue Kultur der Zusammenarbeit etabliert, die viel über das Selbstverständnis und Erscheinungsbild der »neuen Lyrik« aussagt. Im Verlag stehen Selbstermächtigung und -organisation an erster Stelle. Er ist eine »Unternehmung von Dichter*innen/Künstler*innen für Dichter*innen/Künstler*innen«, angelegt auf offene Kritik und regen, beharrlichen Austausch. Er ist nach Seels Worten eben kein Unternehmen, sondern eine gemeinsame Unternehmung. So gab es in dem Verlag von Beginn an keine Lektoren. Vielmehr werden die Texte von den Autor*innen untereinander diskutiert. Zugang zu dem Kreis bekommt man daher auch nicht durch eine Vertragsunterschrift. Man muss in das Gefüge hineinwachsen, so Seel, »durch langsame Annäherung, Austausch, gemeinsame Projekte, Textinteressen«. Der Verlag versteht sich nicht nur als Publikationsorgan, das für die Umsetzung und Gestaltung der Bücher sowie den Vertrieb und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Er ist eine Gesprächs- und Diskussionsplattform, auf der alle beteiligten Personen – auch das ist typisch für die neue lyrische Öffentlichkeit – in mehreren Funktionen gleichzeitig agieren. Sie sind Autoren, Leser, Lektoren, Veranstalter, Kritiker, Kommentatoren, Talentscouts, Übersetzer, Kollegen und Konkurrenten in Personalunion. Auch die Verlegerin selbst ist zugleich Lyrikerin, deren Bände im eigenen Verlag erscheinen. Man arbeitet, bei allen persönlichen Unterschieden, auf Augenhöhe miteinander. Wurde die Popliteratur in der öffentlichen Wahrnehmung zuletzt von Männern dominiert (Tanja Dückers hat einmal vorgeschlagen, analog zum »Fräuleinwunder« der deutschen Literatur vom »Männleinwunder« zu sprechen), geht es noch in Julia Kristevas Die Revolution der poetischen Sprache darum, dass die Lyrik vermeintlich dem weiblichen Sprechen zuzuordnen sei, haben sich diese Fragen in einem Verlag wie kookbooks offenbar erledigt. Und zwar durch die kollektive, lyrische Praxis selbst. Zum gemeinsamen Arbeiten gehört die ständige Reflexion von Gruppendynamiken, Arbeitsabläufen und Denkprozessen, die entweder in theoretischen Auseinandersetzungen wie in Bertram Reineckes Poeticon-Band Gruppendynamik oder wiederum – wie in Monika Rincks poetischem Essay Ah, Das Love-Ding! – innerhalb des literarischen Arbeitens reflektiert werden und sich zu wichtigen Themen- und Handlungssträngen entfalten. Zur Praxis der Lyrik gehört aber auch der Wille zum Dilettantismus, denn selbstverständlich ist keiner der Beteiligten ausgebildeter Lektor, Pressesprecher, Vertriebsfachmann oder Veranstaltungsmanager. Es gab seit der Klassischen Moderne keine Generation von Lyriker*innen, die eine so enge Verbindung zur Literaturvermittlung und zur Buch- und Medienbranche hatte. Dazu gab es innerhalb der Lyriksphäre aber auch keine Alternative. Man konnte machen, was man wollte, aber man musste es schon selbst tun. Das dann aber bitte gerne auch exzentrisch, elitär, zumindest eigen. Wer um 2000 Lyriker*in wurde und in einem unabhängigen Verlag publizierte, ließ sich zugleich auch auf eine bestimmte Lebensform ein. Kein Wunder, dass mit dem Wahlspruch des kookbooks-Verlags, »Poesie als Lebensform«, eine Losung im Umlauf war, welche direkt an die Forderung der Avantgarde anschloss, Literatur und Leben zu vereinen. Das Leben soll Poesie, die Poesie das Leben sein. Die Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise erzeugte einen bestimmten Typus von Autor*in. Am deutlichsten tritt dieser im Kontrast zu den Popautor*innen zutage, die alle bei großen Verlagen untergekommen sind und deren Bezeichnung als »Popliteratur« von einer Marketingabteilung eines Verlags erdacht wurde. Die Lyriker*innen sind nicht gleich mit dem großen Scheinwerferlicht medialer Aufmerksamkeit empfangen worden und von Lektoren, Pressesprechern oder Managern umsorgt worden. Da schreiben keine Lyriker*innen, die sich im Elfenbeinturm der Poesie eingemauert haben. Für solche Turmbauten würden die Preisgelder und Stipendien bei weitem nicht ausreichen. Die Lyriker*innen wissen zu gut, worüber sie sprechen, wenn sie von prekären Arbeitsbedingungen in Deutschland schreiben. Die Entscheidung, sich selbst Strukturen zu schaffen und eigenständig zu wirtschaften, geht mit handfesten Nachteilen einher. Um nur drei zu nennen: Sowohl die Verlage als auch die Autor*innen befinden sich bis heute zum größten Teil in finanziell prekärer Situation. Das Arbeiten findet, schon weil es in der Freizeit stattfindet, die neben dem Brotberuf bleibt, im Modus der Selbstausbeutung statt. Der Vertrieb der Bücher zieht weiterhin nur kleine Kreise. Das ist keine Überraschung, aus der es jetzt ein böses Erwachen geben würde. Nur kann man sich als Leser*in und damit Profiteur der neuen Vielfalt vor Augen führen, wie hoch der Preis ist, den andere zahlen, damit es diese Lyrik überhaupt gibt. »das amortisiert sich nicht«, lautete das Motto für das Jubiläumsprogramm des kookbooks-Verlags. Man kann nur bewundern, wie konsequent einzelne Lyriker*innen diese eigenständige Lebens-, Schreib- und Publikationsform bis heute beibehalten, obwohl sie zum Teil andere Möglichkeiten hätten. Ästhetischer und gesellschaftstheoretischer Bezugspunkt dieser Publikations- und Arbeitsweise, mit der ehemaligen literarischen Königsdisziplin »Lyrik« aus der zentralen Randlage der Literatur eine Alternative zu den herrschenden Bedingungen zu eröffnen, ist (meist unausgesprochen) ein an der Kritischen Theorie geschultes Verständnis der Lyrik als Sand im Getriebe der eingespielten ökonomischen und gesellschaftlichen Mechanismen. Zugleich wäre es ein Missverständnis, wenn man die lyrische Öffentlichkeit als Gegenöffentlichkeit bezeichnen würde. Es handelt sich vielmehr um den konsequenten Ausbau einer literarischen Nischen-Ökonomie, die dennoch mit den Strukturen des Buchmarktes oder des überregionalen Feuilletons vernetzt ist. Zur Realität gehört also, dass einzelne Lyriker*innen (wie Marion Poschmann, Ann Cotten, Kerstin Preiwuß beim Suhrkamp Verlag) sehr wohl bei etablierten Verlagen publizieren. Und bis heute hat noch kein unabhängiger Verlag dagegen protestiert, wenn eines seiner Bücher im Feuilleton einer großen Tageszeitung gefeiert oder mit einem renommierten Preis ausgezeichnet wurde. Die kookbooks-Autor*innen zumindest sind größtenteils Lieblinge des Feuilletons.
Zu keiner Zeit ging es um ideologische Träume. Nirgendwo war zu lesen, etwa gleich mal die »Wirtschaft« oder den »Kapitalismus« aushebeln zu wollen. Vielmehr war das Ziel, das Wirtschaften den eigenen Anforderungen, Bedingungen und Vorstellungen gegenüber angemessen zu gestalten. Das Gedicht steht also nicht jenseits der Ökonomie, aber – gemessen etwa am Marktwert von Musik oder bildender Kunst – doch am äußersten Rand ökonomischer Zirkulation. So heißt es im Nachwort von Steffen Popps Debüt über das Gedicht: »kein Marktwert beschwert es, kein kulturelles Management unterminiert es, nur so kann es in neue Perspektiven eintreten, sich ausbreiten und Energie ernten.« (WA 66) Das wird zwar ironisch gewendet und weiß um seine Übertreibung (wirklich überhaupt keinen Marktwert hat die Lyrik?), aber es will doch zugleich für die Abstufung sensibel machen, dass, wer sich entscheidet, Lyriker*in zu werden, eine bestimmte Lebensweise wählt, in der man nicht allzu schnell in Gefahr gerät, sich schon wieder ein neues Cabriolet zu kaufen. Dass dafür aber Lyrik tatsächlich auch in einen Raum hinein und aus einem Raum heraus spricht, in dem weithin die Priorität der Ökonomie zugunsten eines anderen Rankings aufgehoben ist. Für diese zentrale Randlage stand bezogen auf die Verlagslandschaft um das Jahr 2000 noch die Hauptstadt Berlin selbst, da die Großverlage dort bis zum Umzug des Suhrkamp Verlags nur kleinere Dependancen hielten. Die Blütezeit der Lyrik hat durchaus auch eine lokalgeographische Dimension. Ohne den bezahlbaren Wohnraum, die Möglichkeit, zahlreiche Veranstaltungsorte und Treffpunkte aus der Taufe zu heben, hätte es sie so nicht gegeben.
Doch gleichzeitig war auch noch keine literarische Öffentlichkeit so ortsunabhängig wie die heutige. Zugleich nämlich hat die Lyrik so konsequent wie keine andere literarische Gattung den digitalen Raum für sich erschlossen. Im Digitalen haben sich neben den Websites der unabhängigen Verlage bedeutende Online-Zeitschriften (lyrikzeitung.org, signaturen-magazin.de, fixpoetry.de) und Lyrikportale (lyrikline.org, planetlyrik.de) etabliert. Damit ist ein gewichtiger Anteil der Lyrikkritik ins Digitale gewandert. Wer sich über die Feinheiten und Eigenheiten der Lyrikszene auf dem Laufenden halten will, schaut ins Netz. Auf Facebook läuft eine nicht abebbende Lyrikdebatte. Auf den einschlägigen Seiten und in den Foren werden tagtäglich neue Gedichte publiziert, Gedichtbände rezensiert und ambitionierte Streitgespräche ausgefochten. Auch hier zeigt sich – im Zuge der Selbstorganisation –, dass die einzelnen Personen in mehreren Rollen und Funktionen gleichzeitig agieren. Das Internet hat sich als idealer Publikationsort für einzelne Gedichte erwiesen. Die Texte lassen sich in Rubriken (wie »Gedicht der Woche«) wie Singles publizieren oder als Zyklus aus einem Band auskoppeln. Was früher nur in Anthologien oder Zeitschriften möglich war, geht jetzt auch im Netz. Zumal Gedichte für den Bildschirm eines Laptops oder PCs absolut kompatibel sind. Wenn sie nicht sowieso als Audiodateien abrufbar sind oder in Videoclips und Livemitschnitten präsentiert werden. Für den Smartphone- und EPUB-Gebrauch hat das Verlagshaus Berlin extra die eigenständige E-Book-Reihe »Edition Binaer« gegründet. Das Digitale ist für die zeitgenössische Lyrik zu einem selbstverständlichen Publikations- und Vertriebsort geworden.
Wobei es zu kurz greifen würde, die lyrische Öffentlichkeit umgekehrt auf ein digitales Phänomen zu reduzieren. Sie siedelt sich exakt an der Schnittstelle zwischen dem Digitalen und Analogen an. Einzelne Gedichte, Kritiken, Essays und Debatten erscheinen zwar ausschließlich im digitalen Raum. Zugleich aber gelten die Hinweise der Vielzahl von Lesungen, Performances und Publikationen außerhalb des Digitalen. Der Großteil der Lyrik erscheint weiterhin analog. In den zahlreichen Literaturzeitschriften (Ostragehege, Metamorphosen, Schreibheft, BELLA triste) oder in den hochwertig gestalteten Büchern. Die lyrische Öffentlichkeit forciert das Wechsel- und Zusammenspiel zwischen analoger und digitaler Wirklichkeit. Gerade deshalb ist sie auf der Höhe ihrer Zeit. Dieses Wechselspiel ist eng mit den Einnahmequellen von Autor*innen und Verlagen verwoben. Geld verdienen Lyriker*innen – wenn überhaupt mit ihrem Schreiben – entweder durch den Verkauf der Bücher oder durch Lesungen, Performances, Auftritte bei Panels, Diskussionsveranstaltungen und Workshops. Die Publikation im Internet – die wenig bis nichts zum Einkommen beiträgt – hat zwar den Fokus auf die Veröffentlichung einzelner Gedichte verstärkt. Sie hat bei einzelnen Lyrikerinnen wie Mara Genschel, Cia Rinne oder Nora Gomringer auch zur Ausprägung des eigenen Genres »Lyrikfilm« geführt. Vor allem aber hat die literarische Praxis jenseits des Digitalen für Innovationen gesorgt. Es ist daher alles andere als Zufall, wenn der kookbooks-Verlag Lesungen und Lyrikabende veranstaltet. Oder wenn Ann Cotten, Monika Rinck und Sabine Scho über Jahre hinweg als die Rotten Kinck Schow auf Tour gingen. Vor allem aber hat die lyrische Praxis zu einer bewussten Aufwertung der publizierten Bücher geführt. Die »Bookishness« der Lyrik mag einerseits an ihre Grenze gelangt sein, andererseits hat gerade die mögliche Überschreitung zu einer Besinnung auf die Publikations- und Lektüreform »Buch« geführt. Vergleichbar mit dem Musikmarkt, auf dem die Digitalisierung bewirkt hat, dass CDs jetzt kein schnödes Plastik mehr tragen, sondern so aufwendig wie einst nur Schallplatten gestaltet sind, während gleichzeitig LPs einen Nischen- und Expertenmarkt zurückerobert haben, so hat auch die Gegenwartslyrik den Gedichtband in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gestellt. Wenn der kookbooks-Verlag mit seiner Do-it-yourself-Mentalität zum einen an die Punkkultur angeschlossen hat, dann hatte er zum anderen mit dem Blick auf seine Buchprodukte nichts mit dem punkcharakteristischen Dilettantismus zu tun. Vom ersten Band an wurden die Bücher vom Graphiker Andreas Töpfer gestaltet, der die Klappbroschuren als eine varianten- und ideenreiche, jederzeit wiedererkennbare, hochwertig gestaltete Marke profiliert hat. Vom ersten Band an sprechen die Bücher eine eigenständige ästhetische Sprache. Den ersten Preis, den der Verlag überhaupt bekommen hat, war folgerichtig eine Auszeichnung der Stiftung Buchkunst für eines der am schönsten gestalteten Bücher des Jahres. Die kookbooks-Buchästhetik schwankt zwischen technisch kühlem Minimalismus und sinnlichem Luxus. Augenfällig ist das sofort anhand der beiden Vorsatzblätter der Broschuren. Bei einem Hardcover-Buch werden diese beiden Seiten gebraucht, um den Buchkörper mit dem Buchdeckel zu verbinden. Bei den biegsamen Broschuren aber haben sie eigentlich keine Funktion. In zweckfreier Schönheit schmücken sie den Band, gestaltet sind sie aber nicht, als würde hier jemand in Luxus schwelgen, sondern zurückhaltend kühl, durchsichtig, transparent. Wer im Zeitalter der Digitalisierung einen Lyrikband in die Hand nimmt, das machen die kookbooks bewusst, lässt sich auf ein besonderes Erlebnis ein.
Die lyrische Öffentlichkeit, die sich im Zusammenspiel von Digitalem und Analogem ausdifferenziert hat, trägt die typischen Züge einer Subkultur. Zeichen dafür sind ihr Expertentum, ihre eigenständige Netzwerk-Kultur, ihr Fokus auf die eine Gattung »Lyrik«. Die Szene ist jung, exklusiv und urban. In zentraler Randlage der literarischen Öffentlichkeit befindlich, haben sich die Lyriker*innen vernetzt, um neue Wege einzuschlagen. Diedrich Diederichsen hat anhand des Pop zwischen einer ersten Phase, als Pop noch eine Insiderkultur war (Pop 1), und einer zweiten (Pop 2) unterschieden, in der sich eine wachsende Institutionalisierung und eine Annäherung an den Mainstream ausmachen ließen. Übertragen auf die Lyrik seit 2000 heißt das: Die Phase von 2000 bis etwa 2010 lässt sich als Lyrik 1 bezeichnen: Neue Namen, Gesichter, Verlage traten auf, neue Lesungsorte, Institutionen und Publikationsorgane entstanden. Seit einigen Jahren befindet sich die Lyrik im Übergang zu Phase 2