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Das Kitzeln gehört zum Menschsein wie keine andere Empfindung. Christian Metz legt die allererste Philosophie des Kitzels vor – an der Schnittstelle von Kulturwissenschaft, Emotionsgeschichte und Lachforschung. Der Kitzel hat nicht nur Geschichte, er macht Geschichte. Vor allem aber macht er Geschichten: Jeder Mensch hat schon einmal einen anderen gekitzelt – und für Erstaunen sorgt nicht, wer kitzlig ist, sondern wer behauptet, es nicht zu sein. Der Kitzel ist ein merkwürdiges Phänomen. Als gemischte Empfindung erzeugt er Lust und Schmerz, Lachen und Abwehr gleichzeitig. Als Berührung ist er so flüchtig, dass er keinerlei Spuren hinterlässt. Kein Wunder, dass er bislang weder in der Humorforschung noch in der Geschichte der Gefühle beachtet worden ist. In seiner fulminanten Studie zeigt Christian Metz jedoch, dass der Kitzel sehr wohl eine bedeutende Rolle spielt. Ob als historisches Instrument der Folter, Element der Sexualität oder aufregender Nervenkitzel: Von Aristoteles über Platon und Descartes, von Grimmelshausen bis Jean Paul, von Hegel bis Darwin, Nietzsche und Freud führt der Kitzel ein bedeutendes Leben in der Kulturgeschichte. Indem Metz den Kitzel methodisch aufschlüsselt und seinen Narrativen über die Jahrhunderte hinweg nachspürt, gelingt ihm ein faszinierender Blick auf dessen anthropologischen, philosophischen, kunstgeschichtlichen und – als erzählter Kitzel – literarischen Einfluss. Der Kitzel, das wird klar, ist ein unverzichtbarer Teil der Emotionsforschung und muss nach dieser Genealogie völlig neu bewertet werden.
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Seitenzahl: 1148
Christian Metz
Kitzel
Genealogie einer menschlichen Empfindung
FISCHER E-Books
Der Mensch ist dem Menschen immer noch ein Rätsel. Das liegt nicht nur an den komplexen Fragen, die Molekulargenetik und Neurowissenschaft aufgeworfen haben. Rätsel geben uns auch jene Eigenschaften auf, die offen zutage liegen, mit denen jeder alltäglich und selbstverständlich umgeht und deren Geheimnis doch erst entziffert werden müsste. Zu diesen vertraut-fremden Eigenschaften gehört es, kitzlig zu sein.[1] Obwohl kaum jemand in seinem Alltag einen Gedanken daran verschwenden dürfte, dass er oder sie kitzlig ist oder dass man endlich mal wieder jemanden kitzeln sollte, gehört das Kitzelempfinden zu unserer Körperkonstitution. Aufhorchen lässt einen eher schon, wenn jemand von sich behauptet, überhaupt nicht kitzlig zu sein. Glaubt man den einschlägigen Kitzelexperten, dann ist der Mensch von Geburt an kitzlig und verliert diese Eigenschaft – im Gegensatz zu anderen sensorischen und emotionalen Fähigkeiten – bis zum Tod nicht. Nach Robert Provine, der sich bislang am intensivsten mit dem Kitzel auseinandergesetzt hat, spielt das Kitzligsein eine grundlegende Rolle in der Entwicklung des einzelnen Menschen.[2] Für den Säugling ermöglicht das Kitzeln, so feiert Johan Schloemann Provines Forschung in der Süddeutschen Zeitung,
nicht weniger als de[n] Anfang eines Verständnisses vom Selbst, welches vom umgebenden Raum und von anderen Menschen abgesetzt wird. Beim Gekitzeltwerden lernt man, wo der eigene Körper aufhört, denn die Grenze der Person wird erst einmal durch die Haut gebildet. […] Ohne diese Abgrenzung nach außen kann gar kein ›inneres‹ Ich-Bewusstsein entstehen.[3]
Das Kitzeln ist – anders als die komplexeren Emotionen und Gefühle – Teil jener basalen Empfindungen, die unabdingbar zur biologischen Grundausstattung verschiedener Säugetierarten, unter anderen des Menschen, gehören.[4] Aus diesen basalen Erfahrungen erst setzen sich späterhin die komplexen Gefühlsqualitäten zusammen.[5] Kitzlig zu sein gehört aus naturwissenschaftlicher Sicht zur conditio humana. Fehlt diese Empfindung, läuft etwas schief. Der Neurowissenschaftler und Leibniz-Preisträger Michael Brecht hat in den vergangenen Jahren die Forschung zum Kitzel maßgeblich vorangetrieben. Als Keimzelle sozialer Interaktion stelle das Kitzeln den Grundstein des Spiels dar. Mit seinen Experimenten, die er an lebenden Ratten durchführt, zeigt er, dass beim Kitzeln zum ersten Mal eine »Als-ob-Situation« aufgebaut wird. Der Kitzelnde tut so, als würde er angreifen, lässt seine Handlung aber in einer sanften Berührung münden.[6] Brecht bestätigt die basale Funktion des Kitzels auch für die Phylogenese. Das Kitzligsein gehört zu den evolutionär ältesten Empfindungen. Wer wissen will, was die Grundelemente des Menschseins ausmacht, muss den Kitzel in Augenschein nehmen.[7] Die Eigenschaft, kitzlig zu sein, bildet zum einen die Grundlage und den Auslöser für bestimmte biologische Verhaltensabläufe. Zugleich weiß jeder Mensch, wie er mit der Kitzligkeit umzugehen hat. Zu wissen, wie man kitzelt oder wie man darauf reagiert, wenn man gekitzelt wird, präsent zu haben, was man dabei fühlt, wo das Spiel beginnt und wo es endet, sind kulturell erworbene Techniken, die Veränderungen unterliegen, die eingeübt und trainiert werden können. Der Umgang mit dem eigenen Kitzligsein gehört zu den basalen Körpertechniken (nicht nur) des Menschen.[8]
Trotz seiner basalen Körperfunktion bleibt der Kitzel bis heute ein rätselhaftes Phänomen.[9] Er lässt sich so recht in keine Kategorie einordnen. Er ist Berührungsfigur und Empfindung unter einem Namen. Das Zucken, das er auslöst, ist wohl ein Reflex. Das Lachen hingegen setzt einen kognitiven Prozess voraus. Auf irritierende Weise vereint der Kitzel Gegensätze in sich. Er verursacht Lachen, kann gleichzeitig aber einen ungeheuren Furor und heftige Abwehrreaktionen auslösen. Als gemischte Empfindung verursacht er im selben Moment Lust und Schmerz. Schreibt man in der Emotionsforschung der Lust zu, dass sie den Körper vergessen mache, während der Schmerz die physiologische Bedingtheit des Lebens direkt ins Bewusstsein rufe,[10] so überlagern sich beim Kitzeln transitorische Selbstvergessenheit und leidvolle Körperlichkeit. Als weitere Seltsamkeit kommt der Gegensatz zwischen kleinster Berührung und großer Körperreaktion hinzu. Beschränkt sich das Kitzeln auf die punktuelle Reizung einzelner, hochsensibler Körperstellen wie Fußsohlen, Achselhöhlen, Kniekehlen, Bauch oder Halspartie, versetzt die Berührung doch den gesamten Körper in konvulsivische Zuckungen. Wer gekitzelt wird, lacht nicht nur, sondern schnappt auch nach Luft und verliert für einen Moment die Kontrolle über sich. Dem Kitzel haftet sein Ruf als mittelalterliche Foltermethode bis heute an, weil er den Gekitzelten in seine Gewalt bringt, ohne eine Verwundung oder auch nur die Spur eines Übergriffs zu hinterlassen. Im Extremfall, so lautet eine topische Warnung, kann der Gekitzelte sich zu Tode lachen. Da mag die kitzlige Fingerspitzenberührung noch so sanft und harmlos wirken. Wie aber passt die Bedrohung durch den Kitzel damit zusammen, dass nur lacht, wer von engen Vertrauten gekitzelt wird?[11] Wie lässt sich eine so merkwürdige Form von Geselligkeit erklären? Warum nur ist der Mensch sein Leben lang mit einer so lächerlichen Eigenschaft geschlagen?[12]
Oder handelt es sich gar nicht um eine, sondern um mehrere verschiedene Empfindungen? Die Physiologie unterscheidet streng zwischen zwei Arten des Kitzels: Von der harten, mit Lachen verbundenen Empfindungsform (Gargalesis) trennt sie eine sanfte Variante des Kitzels (Knismesis).[13] Für den sanften Kitzel ist die gesamte Haut des Menschen empfindlich. Evolutionsbiologen sind sich heute einig, dass diese Berührungssensitivität vor gefährlichen Insekten und Spinnen warnen soll, die auf der Haut herumspazieren. Als Warnsystem löst der sanfte Kitzel einen Schauder aus, der meist über die akute Erregung hinaus andauert und sich erst durch ein Streichen über die erregte Stelle stillen lässt. Allerdings wirft auch der sanfte Kitzel eine Reihe von Fragen auf: Klar ist, dass er kein Lachen auslöst. Seltsam scheint, dass er trotz seiner Alarmfunktion als angenehm empfunden werden kann. Ungeklärt bleibt bislang, wie der sanfte Kitzel mit dem schleimhautreizenden Typus des Hals- oder Rachenkitzels verwandt ist. Und wie es mit seiner Beziehung zum Nasen-, Ohren- oder gar Gaumenkitzel steht? Offen ist auch, ob er eine eigenständige Empfindung ist oder ob er nur die sanfte Variante des Lachkitzels darstellt. Eine wichtige Orientierung in dieser Leitfrage des Kitzeldiskurses bietet der Umstand, dass man das Auftreten des Lachkitzels und des sanften Kitzels den zwei Affektstufen der Rhetorik zuordnen kann: Der heftige Lachkitzel tritt stets in der Affektstufe pathos auf, dem sanften Kitzel hingegen lässt sich die gemäßigte Affektstufe des ethos zuordnen. Sind die Kitzelarten komplett voneinander geschieden, dürfte es keinen Übergang geben. Sind sie graduell verschieden, müsste man nur die Berührungs- oder Empfindungsintensität steigern oder abschwächen, um von der einen Kitzelweise in die andere zu wechseln. Wegzucken, Schaudern und Lächeln würden dann in Abwehrreaktion, konvulsivisches Zucken und Lachen umschlagen.[14]
Das war es aber noch nicht mit der Gestaltenvielfalt des Kitzels. Zu ihr gehört außerdem der erotische oder sexuelle Kitzel, dessen Rolle noch vollständig ungeklärt ist.[15] Und wie sieht es eigentlich mit dem Nervenkitzel aus?[16] Nachdem diese deutschsprachige Besonderheit im Laufe des 20. Jahrhunderts im Triumphzug ins Reich der Emotionen eingezogen ist,[17] schwankt ihre Einschätzung zwischen den Extremen: Einerseits gleicht der Nervenkitzel angeblich die Anspannung aus, die sich im stressigen Berufsalltag anstaut; andererseits, so sagt man, sorgt er erst für die Spannung, die im Alltagsleben fehlt. Kann der Nervenkitzel beides? Hat er über den Namen hinaus etwas mit dem Kitzel zu tun? In Sachen Kitzel sind noch so ziemlich alle relevanten Fragen offen.
Bislang liegt das Phänomen des Kitzels fest in den Händen von Psychologen, Physiologen, Biologen, Neurowissenschaftlern, Medizinern und Verhaltensforschern. Allerdings fristen Empfindung und Kontaktfigur in diesen Disziplinen das Dasein eines Sonderlings.[18] Nach einer Flut physiologischer Studien aus der Zeit der Jahrhundertwende um 1900 haben nicht mehr als eine Handvoll Wissenschaftler dem Kitzel eigene Beiträge gewidmet. Sie haben erforscht, aufgrund welcher antizipatorischen Gehirntätigkeiten man sich nicht selbst kitzeln kann, dass Roboter ebenso Kitzel auslösen können wie der Mensch[19] und welche neuronalen Gebiete und Strukturen von Menschen, Affen und sogar Ratten beim Kitzeln aktiviert werden.[20] Außerdem ging es ihnen darum, inwiefern Kitzeln soziale Beziehungen stiftet und wieso es von bestimmten Stimmungen und Kontexten abhängt, dass man Empfindungen als angenehm oder als unangenehm empfindet.[21]
Noch ernüchternder sieht die Lage in den Kulturwissenschaften aus.[22] Symptomatisch dafür lassen sich die insgesamt fünf auf Deutsch erschienenen kultur- und literaturwissenschaftlichen Beiträge zu dem Thema betrachten. Manfred Schneider stößt in Hegels Phänomenologie des Geistes auf den Entwurf eines »Diebs-Mörders-Dichters-Kitzels«. Er erhebt das Kuriosum zum Titel seines Aufsatzes, geht aber nicht dem Kitzel, sondern Hegels »Kritik der Phrenologie« nach.[23] Der Philosoph Knut Ebeling nimmt sich für einen versprochenen Beitrag zu Batailles »Kitzel« zunächst die gebräuchlichen Lexika und Handbücher vor, um dort die philosophische Auseinandersetzung mit dem Kitzeln nachzuvollziehen. Zerknirscht stellt er fest:
Der Kitzel oder das Gekitzelt-Werden kommt nicht nur in sämtlichen philosophischen oder ästhetischen Lexika nicht vor. Genauso wenig wird diese wesentliche menschliche Affektation oder Affiziertheit von den Handbüchern historischer Anthropologie oder der Phänomenologie erwähnt.[24]
Nach diesen ersten Stichproben gibt Ebeling keineswegs auf. Voller Hoffnung stürzt er sich in eine von Hegel bis Heidegger reichende Lektüre. Er sucht überall dort, wo er die Verhandlung des Phänomens erwartet hätte, kommt aber zu dem ernüchternden Schluss: »Doch nichts, Fehlanzeige.«[25] Tatsächlich gibt es bis heute keine Philosophie des Kitzels. Bis auf jenes Schlaglicht, das Ebeling in seinem Aufsatz schließlich selbst auf Georges Batailles Überlegungen zum Lachen wirft.[26] In die Forschung zur Lachkultur fügt sich Harald Kämmerers Studie zur Satire im 18. Jahrhundert.[27] Er bekommt den Kitzel kurzzeitig in den Blick, als er auf Poisenetts »Untersuchung über das Lachen« stößt. Kämmerer zieht den interessanten Schluss: »[D]er Kitzel spielt in der ästhetischen Debatte über das Lächerliche generell eine große Rolle.«[28] Aber nach dieser Feststellung verlässt er – aus gutem Grund – das Gebiet des Lächerlichen umgehend, um sich dem Satirischen zuzuwenden. In seiner Theorie der Satire kommt er zwar punktuell auf den Kitzel zurück, kann ihm aber keine systematische Relevanz abgewinnen. Seine Einschätzung wiederum beruht auf Carsten Zelles grundlegender Studie zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Zelle spricht dort an einer Stelle vom »damals verbreitete[n] Beispiel des Kitzels«, an dem sich die »Dialektik des Erhabenen analog zur Mechanik der Sinnenreize« nachvollziehen lasse.[29] Indem er allerdings den Kitzel als bloßes Beispiel einstuft, suggeriert er, der Kitzel sei durch andere exemplarische Empfindungen zu ersetzen. Den größten Platz räumt Rainer Stollmann dem Kitzel ein. Er erkennt im Kitzel »Ursprung und Lust des Lachens«.[30] Nach seinem bemerkenswerten Eingangskapitel jedoch verwendet er den Kitzel als Metapher für jedweden Auslöser des Lachens. Seine Analyse der Lachkultur hat dann mit dem Kitzelphänomen nur noch indirekt zu tun.
Das war es auch schon. Mehr liegt zum Kitzel nicht vor. Es gibt bislang keine einzige Monographie zu diesem Thema.[31] Es existiert weder eine Natur- noch eine Wissens- oder Kulturgeschichte des Kitzels, von einer systematischen Studie über die Ästhetik des Kitzels ganz zu schweigen. Das Kitzeln hat bis heute höchstens beiläufig Anlass zur theoretischen Betrachtung gegeben.[32] Die Kenntnisse und Materialien, welche das bisherige Forschungsquintett erarbeitet hat, bilden eine wichtige Grundlage für die folgenden Überlegungen. An der Sachlage ändern sie freilich nichts: Es gibt bis heute keine systematische Forschung zum Kitzel.
Wenn sich jetzt eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie des Kitzels annimmt, macht sich jener Verdacht breit, der im Jahre 1789 bereits den Satiriker Joseph J. Winkler von Mohrenfels beschlichen hat, als er seine »ethymologisch-kritisch-philologisch-historisch-philosophische Abhandlung vom Kützel« veröffentlichte. Damals mutmaßte er: »[K]önnte die philosophisch-systematische Abhandlung über den Kitzel das allerunnötigste Ding unter dem Monde sein?«[33] Eine gewisse Aktualität dieser Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Und doch hat sich die Situation grundlegend verändert, dank einer seit den 1990er Jahren fest etablierten kulturhistorischen und -theoretischen Gefühls- und Emotionsforschung.[34] Längst gilt als unumstritten: Gefühle und Emotionen prägen das Handeln des Einzelnen zu einem erheblichen Anteil. Allerdings galt die Aufmerksamkeit der Forschung bislang entweder einseitig den Schmerzen, der Angst oder Furcht oder eindeutig der Lust und Freude. Eine gemischte Empfindung blieb bislang außen vor, trotz ihrer basalen Bedeutung für die Kulturen von Freude, Schmerz, Spiel und menschlicher Interaktion. Und wo ist das Kitzeln in unserer Gegenwart sonst noch relevant? Nehmen wir noch zwei exemplarische Felder hinzu. Zum einen, wenn es in Zeiten künstlicher Intelligenz vermehrt darum geht, was den Menschen (gemeinsam mit anderen Säugetieren) überhaupt ausmacht. Was sagt es über das menschliche Bewusstsein aus, wenn es egal ist, ob man von einem Menschen oder einem Roboter gekitzelt wird? Wie geht man mit dem Unterschied um, dass gekitzelte Roboter das charakteristische Kitzelverhalten zwar aufzeigen, aber den Kitzel zu keiner Zeit empfinden können? Wer in Anschlag nimmt, dass der Mensch auch gegenüber anderen Säugetieren eine spezifische Interaktion von Kognition und Körperlichkeit aufweist und mit dem Körperbewusstsein auf eigene Weise in seine Umwelt eingebunden ist, schaut auf basale Empfindungen und Körpertechniken wie das Kitzeln. Oder betrachten wir zum anderen probeweise das Feld des sexuellen Kitzels, das noch gänzlich unerforscht ist. Wie muss bewertet werden, dass sich ausgerechnet im Deutschen die Bezeichnung »Kitzler« als Synonym für die Klitoris etabliert hat? Der eigenartige Begriff tritt nach Auskunft des etymologischen Wörterbuchs erstmals im 18. Jahrhundert auf.[35] Seither gehört er zum Inventar der Alltagssprache, findet sich zugleich aber auch in Lexika, Schul- und Fachbüchern wieder.[36] Der Kitzler ernennt den sexuellen Kitzel zu einem dezidiert weiblichen Phänomen. Diese an sich schon fragwürdige Zuschreibung wirkt umso irritierender, weil sie sich außer im Deutschen offenbar nur noch im Niederländischen (»kiddeler«) durchgesetzt hat. Im Kontrast zur Selbstverständlichkeit, mit der weithin der Begriff »Kitzler« verwendet wird, erkennt die Forscherin Maria Pober im »Kitzler« ein Paradebeispiel dafür, dass bis heute »eine sexuelle Doppelmoral« herrsche. Obwohl sich die Gesellschaft als aufgeklärt und offen geriere, vermittle die Sprache ein unzureichendes Verständnis von den weiblichen Geschlechtsorganen und von weiblicher Sexualität:
Daher sind auch die Voraussetzungen für die weibliche Potenz und die weiblichen Geschlechtsorgane nicht lexikalisiert, und zwar weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht. Der weibliche Genitalapparat ist entweder standardsprachlich oberflächlich mit Vulva oder lächerlich mit der deutschen Bezeichnung kitzler für Klitoris motiviert.[37]
Pober steht mit ihrer Einschätzung, der Begriff Kitzler diene dazu, den weiblichen Genitalapparat zu verlachen, nicht allein da. Mithu M. Sanyal erweitert diesen Vorwurf in ihrer Monographie Vulva. Die Enthüllung des weiblichen Geschlechts ebenso nachdrücklich wie in ihrem Vorwort zu Rebecca Chalkers Buch Klitoris. Die unbekannte Schöne. Sie fordert ihre Leser auf, etwas gegen den arglosen Gebrauch eines Begriffs wie »Kitzler« zu tun:
Weil nämlich in den gängigen Medizinbüchern dieses für unser Lustempfinden so zentrale Organ auf eine kleine Spitze reduziert wird, zu der man noch dazu umgangssprachlich kindisch Kitzler sagt … Nun macht die Klitoris eine Menge und noch viel mehr, aber Kitzeln ist wahrlich nicht ihre vordringliche Funktion.[38]
Für Sanyal schließt »Kitzler« eine Infantilisierung der weiblichen Sexualität ein. Er gehört zu jenem Vokabular, das der Diskriminierung des weiblichen Geschlechts und der weiblichen Sexualität Vorschub leiste. Wie man zu dieser Kritik im Einzelnen auch stehen mag, vonseiten der Kitzelforschung drängen sich eine Reihe von Fragen auf: Was haben »Kitzler« und weibliche Sexualität mit dem »Kitzeln« zu tun? Birgt die Genese des Begriffs wichtige Bestandteile für die Geschichte des sexuellen Kitzels? Und wie gehen wir damit um, dass sich solche Formen des Kitzels in unserer Gegenwartskultur eingenistet haben? Welche Denkmuster, Weltansichten und Einflüsse übernehmen wir in unsere Kitzelkultur, die bis heute ebenso wenig wie ihre Geschichte reflektiert und theoretisiert worden ist. Es wird also Zeit, unsere Gegenwart, jene Elemente des Kitzels, die bislang ohne jeden Vorbehalt übernommen wurden, kritisch zu hinterfragen. Dafür allerdings sind Kenntnisse über die Geschichte des Kitzels notwendig. Und die liegt nicht mal in Umrissen vor.
Darüber hinaus hat die Historikerin Ute Frevert längst schon konstatiert, dass Gefühle über das Handeln des Einzelnen auch den Verlauf der Geschichte entscheidend mitbestimmen: »Gefühle sind geschichtsträchtig und -mächtig.«[39] An diese Aussage lässt sich jetzt anknüpfen, um sie zugleich zu erweitern: Nicht nur so komplexe Gefühle wie Liebe oder Angst, sondern auch eine so basale Empfindung wie der Kitzel ist geschichtsträchtig und -mächtig. Weil Kitzligsein ein Merkmal des menschlichen Wesens ist, weil sich im Kitzel die elementaren Aspekte des Menschseins (Empfindungsfähigkeit, Lust, Schmerz) formieren, weil der Umgang mit dem Kitzligsein eine basale Körpertechnik darstellt. Wenn auch der Gedanke, der Kitzel mache große Geschichte, zu hoch greifen sollte, so schreibt er doch Geschichten. Wenn die Soziologin Eva Illouz in ihren Studien zur Liebe schreibt, sie verstehe die Erforschung eines so wirkmächtigen Gefühls als »zentralen Beitrag zur Erforschung der Grundlagen und des Kerns der Moderne«,[40] dann gilt dieser Anspruch ebenfalls für eine Empfindung wie den Kitzel. Insofern versteht sich die Erforschung des Homo titillatus, des kitzligen Menschen, als Radikalisierung der Gefühlsforschung. Sie nimmt sich vor, noch basaler als auf der Gefühlsebene anzusetzen, nämlich beim menschlichen Empfinden.
Ein weiteres Argument für die kulturwissenschaftliche Kitzelforschung ist entscheidend: Es lässt sich aus dem anthropologischen Wissen ableiten, dass sich jede Körperempfindung mit einer spezifischen Semantik überlagert. Keine körperliche Erfahrung geht ohne diese Interferenz vonstatten. Barbara Duden hat dieses Verständnis schon vor mehr als zwei Jahrzehnten pointiert in ihrer körpergeschichtlichen Leitfrage gefasst:
Wie sind wir Menschen zu dem Körper gekommen, den wir haben, den wir erleben, der uns natürlich und selbstverständlich erscheint? Einen solchen Körper hatten weder unsere Großeltern noch die Menschen um 1800 und schon gar nicht die Menschen der Antike. Emotions- und Körpergeschichte dienen also nicht zur Vergangenheitsbewältigung. Vielmehr kommt es auf die Distanz zur eigenen Selbstverständlichkeit an.[41]
Gemeinsam mit der Selbstverständlichkeit löst sich die vermeintliche Natürlichkeit der Körperempfindungen auf und erweist sich als kulturell geformt. Die traditionelle Opposition zwischen Natur und Kultur (culture) wird hinfällig. Natur und Kultur formieren gleich ursprünglich den Kitzel, sie überlagern sich in der Formation einer solchen Empfindung.[42] Der Kitzel wiederum wird zur Sache gemacht, die sich aus dem Zusammenspiel vielfältiger Diskurse, Denkmuster und Stereotype formiert.[43] Wenn sich die Opposition von Natur und Kultur auflöst, hat das drei gravierende Folgen: Erstens reicht es methodisch nicht aus, statistische Daten über den Kitzel zu erheben, ihn experimentell zu erproben oder ihn empirisch zu vermessen. Als semantisches Phänomen muss der Kitzel immer auch gelesen und gedeutet werden.[44]Zweitens erweisen sich der Kitzel und das Kitzeln als historisch variable Phänomene. Als archaisches, evolutionär altes Phänomen bringt der Kitzel zwar eine Disposition zu bestimmten Handlungen und Reaktionen (manche sagen ja sogar Reflexen) mit sich, aber zugleich ist er eben gleichermaßen ein semiotisches Konstrukt, das immer wieder neu kodiert und dessen Vorstellungen immer wieder neu verwoben und gewichtet werden. Verändern sich die Denkmuster über den Kitzel und den Körper, wandeln sich Eigenschaften, Gestalt und Empfinden des Kitzels selbst.[45] Der Kitzel macht nicht nur Geschichte, er hat zudem auch eine. Das bedeutet zugleich, dass sich anhand des Kitzels immer wieder neues Wissen kristallisiert und neu formiert. Es geht also darum, die Geschichte des Kitzels in den Blick zu nehmen. Wobei umgehend einzuschränken ist, dass es sich weder um die eine Geschichte handelt noch dass hier eine lineare Entwicklungsgeschichte erzählt wird. Drittens gilt: Da der Kitzel notwendig mit dem Wissen und den Logiken des menschlichen Körpers, der Wahrnehmung, der Geschlechterkonstruktion und der intimen Beziehungen verbunden ist,[46] prägt die jeweilige historische Semantik jede individuelle Kitzelerfahrung. Die Muskelspannung, die durch den Kitzel ausgelöst wird, mag ein Reflex sein, aber Lachen, Abwehrverhalten, Lust kommen zustande, weil der Kitzelreiz kognitiv verarbeitet wird.[47] Ist erst mal das Gehirn mit im Spiel, dann läuft stets auch das kulturelle Wissen in der Empfindung mit.[48] Für die Literaturwissenschaft ist das besonders interessant. Denn nicht zuletzt die Hirnforschung hat in den vergangenen Jahren erarbeitet, dass es sich bei den mentalen Skripts, welche das somatische Wissen des Körpers durchkreuzen, um Erzähleinheiten handelt.[49] Diese Einheiten entfalten stets eine (noch so minimale) Handlung oder folgen einem Handlungsschema. Da die tradierten narrativen Muster das individuelle Empfinden durchdringen,[50] sind die Kitzelnden wie die Gekitzelten in einem spezifischen Sinne »Wiederholungstäter« oder »Wiederholungsopfer«. Im Moment des Kitzelns reagieren die Personen nicht ausschließlich individuell oder willkürlich, sondern wiederholen automatisch jene aus Versatzstücken, Denkmustern und Reglements des Kitzelns formierten Erzähleinheiten, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind.[51] Emotionalität und Handeln folgen einer strukturellen Syntax der Empfindung. Diese Gleichzeitigkeit von Individualität und allgemeiner Struktur hat Roland Barthes im Blick auf den Charakter der Schrift mit dem Begriff der »Schreibweise« belegt. In Anlehnung an Barthes’ Schriftbegriff lässt sich dieser Terminus für den Kitzel adaptieren.[52] In jeder Kitzelweise überlagert sich das Individuelle mit der allgemeinen narrativen Syntax und Grammatik des Kitzelns. Ziel dieser kulturwissenschaftlichen Studie, die sich aus literaturwissenschaftlichem Selbstverständnis für die Narratologie zuständig fühlt, ist, die topischen Erzähleinheiten zu erarbeiten und zu deuten, welche den Kitzel in historischer Variabilität prägen.
Zu diesen Zielen kommt hinzu, dass sich Knut Ebelings Fazit »Fehlanzeige« als zu dramatisch gestimmt erweist. Wer den Blick erst einmal für das Phänomen geschärft hat, wird erstaunt feststellen, dass der Kitzel in der Kultur überaus präsent ist, und zwar in allen möglichen Feldern von der Philosophie, Biologie, Medizin und Anthropologie bis hin zur Literatur, Malerei, dem Film und der Musik. Gerade in Zeiten von big data und Suchmaschine fehlt es weder an Material noch an der Möglichkeit, auf die Quellen zuzugreifen; zumal zu den Fundstellen, an denen der Kitzel begrifflich genannt wird, noch jene hinzukommen, an denen der Kitzel als Idee oder das Kitzeln als Handlung inszeniert wird. Wer den Kitzel sucht, wird von Fundstellen geradezu überschüttet.[53] Es kann also nicht um die pure Masse des Erscheinens gehen. Wichtiger ist: Der Kitzel prägt so einschlägige Diskurse wie die Frage nach menschlicher Intimität, nach Lust, Schmerz und Gewalt, nach Zeugung und Sexualität. Und er findet sich in einer Vielzahl kanonischer Texte, an deren kultureller Bedeutung kein Zweifel besteht. Tatsächlich spielt die basale Empfindung des Kitzels in den großen anthropologischen Philosophien sowie in Kunst und Ästhetik eine viel größere Rolle, als wir bislang dachten. Allerdings tut sie das auf eine ganz bestimmte Weise, die zum einen dazu führte, dass er so lange unbeachtet blieb, zum anderen aber auch seine besondere Aussagekraft ausmacht. Der Kitzel liegt erstens stets im Detail. Bis auf wenige Ausnahmen spielt er kaum einmal die Hauptrolle; der Kitzel ist nicht wirklich als Heldenfigur geeignet. Deshalb gibt es keine eigenständige Studie zum Kitzel oder kaum ein Sachwortregister in einem Buch, in dem »Kitzel« aufgeführt wäre. Deshalb muss man in jedem einzelnen Wissensfeld – bis auf wenige Ausnahmen – stets nach dem Kitzel suchen. Zweitens erhält der Kitzel dann aber eine entscheidende Relevanz und tritt für kurze Zeit in den Fokus des Interesses, wenn es in der Formation des Wissens zu tiefgreifenden Irritationen kommt und der Mensch auf seine Körperlichkeit und die basalen Fragen des Empfindens und Erlebens zurückgeworfen wird. Anhand der Erzählungen vom Kitzel wird reflektiert, ob eine Anforderung, vermeintliche Eigenschaft oder kulturelle Praxis tatsächlich zum menschlichen Wesen gehört oder dem Menschen nur von außen übergestülpt wurde. In Sachen Kitzel geht es also immer ums Ganze. Als basale und gleichzeitig in der alltäglichen Aufmerksamkeit marginalisierte Empfindung tritt er immer dann auf die Bühne, wenn es um die elementaren Fragen des Menschseins geht, wenn es auf die grundlegenden Körpertechniken des Subjekts ankommt.[54]
Da die Figurationen des Kitzels bislang in den kanonischen Texten verborgen liegen, sollen diese Schriften jetzt erstmals nach dem Kitzel befragt werden. Das Bedeutungspotenzial zahlreicher kanonischer Schriften und Kunstwerke, so lautet die These, lässt sich erst ausmachen, wenn man die dort entfalteten Kitzelerzählungen birgt und ihren Austausch zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Diskursen sowie der Literatur, der Kunst und der ästhetischen Theorie in den Blick nimmt. Auf diese Weise entstehen neue Lesarten zahlreicher bekannter Texte, mit denen man sich also wieder unvertraut macht. Auf die Entfaltung dieser Lesarten kommt es der Studie an.
Um diese Aspekte in den Blick zu bekommen, trägt die (Allgemeine) Narratologie des Kitzels die Züge einer Genealogie. Die Genealogie muss sich nach Foucault,
bei den Einzelheiten und Zufällen der Anfänge aufhalten; sie muß ihrer lächerlichen Bosheit skrupelhafte Aufmerksamkeit leihen; sie muß darauf gefaßt sein, sie nach Ablegung der Masken mit anderen Gesichtern auftreten zu sehen; sie darf sich nicht scheuen, sie dort zu suchen, wo sie sind, und in ›Niederungen zu wühlen‹; sie muß ihnen Zeit lassen, aus dem Labyrinth hervorzukommen, wo sie von keiner Wahrheit bevormundet waren.[55]
Die Studie scheut sich nicht, sich bei den Einzelheiten aufzuhalten. Geduldig wartet sie auf die Momente, in denen der Kitzel auf die Bühne der Kultur tritt, um sie mit höchster Aufmerksamkeit zu verfolgen. Die Genealogie des Kitzels entwirft somit also auch nicht die eine (und schon gar keine vollständige) Geschichte des Kitzels. Da es umgekehrt aber auch keine Zeit gibt, die komplett ohne jeden Kitzel ausgekommen wäre, sucht sie gezielt jene historischen Konstellationen heraus, in denen dem Kitzel eine besondere kulturelle Relevanz zukommt. Im Fokus des Interesses stehen jene Momente, in denen der Kitzel eine solche Aussagekraft gewinnt, dass von dem Formieren seiner Eigenschaften aus neue enzyklopädische Ordnungen erstellt und die Vorstellung von Welt neu eingerichtet wird. An diesen Stellen überlagern sich die drei Leitfragen dieser Studie: Welches Wissen formiert den Kitzel innerhalb einer spezifischen historischen Konstellation? Welches Wissen organisiert seinerseits der Kitzel? Inwiefern strukturiert der Kitzel einzelne Erzählungen? Das heißt: Inwiefern macht der Blick auf den Kitzel diese Texte neu lesbar?
Um die Genealogie des Kitzels in den Blick zu bekommen, bewegt sich die Studie auf dem Feld der symbolischen Ordnung. Das Symbolische bezeichnet hier den unhintergehbar semiotischen Charakter der Kultur (culture). Kultur ist definiert als »der vom Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bewertungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert«.[56] Das Schöne an Ansgar Nünnings Definition ist, wie deutlich sie hervorhebt, dass sich in der symbolischen Ordnung »Empfindungsweisen« materialisieren. Aus der Perspektive der Kitzelforschung wirkt der Begriff wie ein Signalwort. Immerhin ist der Kitzel nicht nur eine Empfindung, sondern materialisiert sich zudem auch in Form von »Kitzelweisen«. Nünning betont also ausdrücklich die Funktion, die Phänomene wie der Kitzel innerhalb der Kultur haben. Eine der Empfindungsweisen, die sich im Symbolsystem materialisieren, ist folgerichtig die Kitzelweise.
Wenn man den Kitzel innerhalb des kulturellen Universums des Wissens betrachtet, dann verkörpert er eine uneigentliche Empfindung. Er ist ein Begriff oder eine Metaphorik und verweist auf eine spezifische Empfindung oder eine Idee der Empfindung.[57] In diesem Sinne ist der Kitzel, das Kitzligsein und das Kitzeln, die in dieser Studie im Fokus stehen, Rhetorik und Pragmatik einer Empfindung respektive einer Berührungsfigur. Mit dieser rhetorischen und diskursiven Wende lassen sich die einzelnen Inszenierungen des Kitzels als historische Spielarten der Empfindung betrachten. Wie von ihnen erzählt wird, lässt sich entweder der Affektstufe ethos oder der Affektstufe pathos zuweisen. Die Kitzelstudie hat es also stets mit jener Art von Paradoxie zu tun, wie sie unter anderem Hans Blumenberg beschrieben hat: Kitzeln ist ein körperliches Phänomen, das sich nicht anders als mit sprachlichen Begriffen erfassen lässt, sich diesem Zugriff aber stets entzieht. Aus dieser logischen Verlegenheit gibt es kein Entkommen. (So wie sich nicht sagen lässt, ob eine im Experiment gekitzelte Ratte tatsächlich die Empfindung »Kitzel« spürt. Oder ob das nur eine anthropomorphe Projektion des Menschen auf die Empfindung des Tieres ist.) Die Untersuchung schließt insofern an die Begriffsgeschichte und Metaphorologie an, als sie verfolgt, wie der Terminus »Kitzel« im Laufe der Jahrhunderte durch verschiedene Wissensgebiete zirkuliert und sich mit einer historischen Semantik auflädt.[58] Das semantische Potenzial des Kitzels lässt sich nicht auf eine singuläre, statisch festgelegte Semantik reduzieren. Vielmehr kann man sie sich ihrerseits als ein Bedeutungsgewebe vorstellen.[59] Jede Lektüre des »Kitzelbegriffs« dringt in dieses Geflecht aus Bedeutsamkeiten und Verweisen ein, sie kodiert um, strukturiert neu, erfindet hinzu, streicht etwas aus, knüpft einen Knoten, schafft eine neue Verbindung.[60] Die Konfiguration von Bedeutung stellt daher einen Prozess dar und muss immer aufs Neue diskursiv fixiert, aufgelöst, textuell (re-)formuliert und ausgehandelt werden.[61] Da man der Signifikation wie einem Schauspiel zusehen kann, avanciert sie selbst zum ästhetischen Ereignis.[62] Wie auf einer Bühne lässt sich verfolgen, unter welchen medialen Bedingungen welche rhetorischen, ästhetischen, narrativen, poetischen Operationen die Semantisierung des Kitzels bestimmen. Die Figurationen des Kitzels orientieren sich jeweils daran, was zu einem spezifischen Zeitpunkt als körperliche, also als anatomische, physiologische, psychologische Eigenschaft des Kitzels imaginiert wird.[63] Zugleich zeigt sich beim Blick hinter die Bühne, welche historischen Wissensformationen, kulturellen Praktiken oder materialen Qualitäten dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Techniken und Machtstrategien zum Einsatz kommen, um den Kitzel zu semantisieren. Umgekehrt lässt sich im Zuge der Lektüre – mitunter nur eines einzigen Satzes – herausarbeiten, welche Wissenselemente für genau diese Formation des Kitzels verantwortlich sind.
Eine grundlegende Eigenschaft der symbolischen Ordnung insgesamt bestimmt noch die jeweilige Semantik des Kitzels und damit den Gegenstand dieser Untersuchung. Das Symbolsystem selbst hat einen prozessualen Charakter. Es verfügt weder über ein Zentrum noch über einen Ursprung oder ein Telos. Mit seinen ständig neuen Verästelungen, Neuformierungen, Überlagerungen trägt es die Eigenschaften eines Rhizoms.[64] Die Kultur, als das semiotische Universum des Wissens, ist eine Struktur ohne übergreifende oder gar essenzialistisch verankerte, konstante Ordnung. Das schließt umgekehrt nicht aus, dass sich kurz- oder mittelfristig sehr wohl Einheiten, Muster oder Formationen bilden. Es gibt Ordnungen, sie sind im Fall des Kitzels direkt an das Wissen vom Körper rückgekoppelt (es herrscht also gerade kein anything goes!), aber sie weisen keinen unwiderruflichen, statischen Charakter auf.
Am wirksamsten formiert sich das Wissen in Form von Erzählungen. Diese Vorherrschaft der narrativen Form in der Formulierung jedweden postmodernen Wissens hat bereits Lyotard festgeschrieben: »Die Erzählung ist die Form dieses Wissens par excellence.«[65] Keine Wissensformation kommt ohne das Erzählen aus. Aus einer anderen Perspektive hat das ebenfalls Roland Barthes als unbedingte Notwendigkeit angesehen und deshalb von der »Universalität des Erzählens« gesprochen.[66] Das Erzählen bildet in allen kulturellen Feldern von der Medizin, Ökonomie und Geschichtsschreibung bis zu den Künsten den wirksamsten Katalysator, um (relativ) stabile Ordnungen und Muster zu generieren und diese erfolgreich in der Erinnerung und dem Bewusstsein des Einzelnen sowie im kulturellen Gedächtnis einzuprägen.[67] Und vielleicht muss man das an dieser Stelle noch einmal festhalten: Auch individuelles Empfinden ist von Mikroeinheiten kulturellen Erzählens durchdrungen. Auch vermeintlich narrationsferne Bilder, Filme, Fotografien und Musikstücke weisen stets kleinste Erzählsequenzen auf, auch wenn diese Kunstformen nicht vollständig im Akt des Erzählens aufgehen. Die Studie fokussiert sich daher (nur) auf die Erzählungen des Kitzels, und zwar auf die Erzählungen, die von ihm erzählt werden und die er erzählt.[68] Sie geht davon aus, dass ein Begriff wie der Kitzel innerhalb der semiotisch strukturierten Kultur in erster Linie und am wirkungsvollsten durch Erzählungen formiert und tradiert wird. Der Begriff »Kitzel« konstituiert sich umgekehrt aus einer Akkumulation von Erzählungen, die es zu analysieren gilt. Kultursemiotik, Metaphorologie, Begriffsgeschichte und Allgemeine Erzähltheorie werden daher in dieser Studie methodisch kurzgeschlossen. Das heißt eben auch: Nicht in jeder Erzählung vom Kitzel muss der Begriff »Kitzel« tatsächlich vorkommen.[69] Mitunter genügt es, einen Vorgang zu inszenieren, den man gemeinhin mit dem Skript »Kitzel« identifiziert.[70]
Eine Besonderheit dieser Studie besteht darin, die Kitzelerzählung in den einzelnen Untersuchungsgegenständen auch dann ernst zu nehmen, wenn sie in großen Werken – wie beispielsweise in Hegels Phänomenologie des Geistes – nur an einer einzigen Stelle und damit als winziges Detail auftritt. Das fordert philologische Genauigkeit und bringt eine gewisse Entschleunigung der Lektüre mit sich. Vier Fragestellungen verschränken sich im Zuge dieser Detail-Betrachtungen ineinander. Erstens, wie sieht der Kitzel aus, den eine Erzählung zu einem bestimmten Zeitpunkt inszeniert? Zweitens, welches Wissen formiert den Kitzel, damit er genau diese Figur annimmt? Hat die Erzählung zum Beispiel ein Stereotyp aus der Medizin oder der Biologie aus ihrem Kontext herausgerissen, um sie in ihr eigenes semiotisches »Spiel der Zeichen« einzuführen? Drittens, liegt die Aufmerksamkeit darauf, wie der Kitzel die einzelnen Erzählungen strukturiert und dadurch neu lesbar macht? Vor allem dort, wo der Kitzel in den Erzählungen ästhetische und poetologische Relevanz erhält. Und viertens, welches Wissen organsiert seinerseits der Kitzel? Zum Beispiel wenn die narrative Semantik des Kitzels auf die kulturellen Bereiche außerhalb der Erzählungen übergreift und Wissenskulturen reflektiert oder sogar formiert:[71]
In Gestalt von Narrativen kann sich ursprünglich frei Erfundenes im kollektiven Bewusstsein sedimentieren und zu einer harten sozialen Tatsache werden; narrative Elemente sickern in den Sprachschatz von Gesellschaften ein; dort verfestigen sie sich im Lauf der Zeit zu lexikalischen Wendungen, zu Sprech- und damit Denkweisen, zu Begriffen und sogar Dingwörtern.[72]
Auf diese Weise verstetigen sich spezifische Theorien und Semantiken des Kitzels außerhalb der einzelnen Erzählung zu festen Einheiten und bleiben über einzelne historische Wissenskonstellationen hinaus virulent. Das freie Erfinden ist keineswegs ein Privileg, das nur literarischen Erzählungen zukommt. Erzählungen aller Disziplinen erfinden den Kitzel neu, indem sie ihn in Szene setzen.
Im Verlauf der Untersuchung entsteht so ein Netz von Knoten, die sich überall dort bilden, wo im Universum des Wissens auf besonders eindrückliche, wirkmächtige und verschleißfeste Weise vom Kitzel erzählt wird. Auf diese Knotenpunkte des Diskurses, die zugleich die großen Auftritte des Kitzels auf der Bühne der Genealogie darstellen,[73] beziehen sich die immer neueren Kitzelerzählungen. Das heißt, in die Knoten werden immer neue Fäden eingewoben, so dass sie zu Trägern des vielschichtigen, bunten, hochkomplexen Gewebes von Kitzeltexten werden. Umgekehrt ließen sich von diesem Knotenpunkt aus zahlreiche Fäden zu einzelnen Kitzelerzählungen verfolgen (und sich somit die unendlichen Fundstellen, welche die Suchmaschine einem in Sekundenschnelle anbietet, hypothetisch in Beziehung setzen). Die Verbindungsfäden zwischen den einzelnen Knotenpunkten müssen hierbei nicht unbedingt auf der Oberfläche des Webteppichs zu sehen sein. Mitunter verlaufen sie in tiefer liegenden Schichten. Ihre Verbindungen zeigen sich gegebenenfalls erst, wenn man an dem Faden des einen Knotens zieht, wodurch der andere Knoten in Bewegung gerät.[74] Die vorliegende Studie beschränkt sich auf jene Knotenpunkte mit Höchstrelevanz, von denen sie ausgeht, dass sie das Gewebe tragen. Würde einer von ihnen wegfallen, würde sich das Gewebe der Kitzelnarrative in lose Maschen auflösen. Was bekommt man mit dieser Betrachtungsweise des Kitzels in den Blick? Die kulturelle Transformation des Kitzels?[75] Dieses Konzept würde voraussetzen, dass es tatsächlich den einen Kitzel als anthropologische Konstante gibt, der nur immer wieder neue Gestalt annehmen würde. Aber gerade diese Konstanz gibt es in der paradoxalen Überlagerung von Natur und Kultur nicht. Die Studie richtet stattdessen ihren Blick auf insgesamt fünf wirkmächtige und tiefgreifende Umbesetzungen des Kitzels. »Umbesetzung« ist ein Begriff von Hans Blumenberg. Er bringt ihn prägnant u.a. in seiner Studie Die Legitimation der Neuzeit gegen die säkularisationstheoretischen Konzepte in Stellung, weil diese die vermeintliche Existenz einer historischen Substanz behaupten, die trotz aller Modifikation identisch bleibe und – wie in einer Metamorphose neue Gestalten annehme. Blumenbergs Skepsis ist im Hinblick auf ein Phänomen wie das Kitzeln einschlägig. Das heuristische Prinzip der Umbesetzung bezieht sich auf ein konstantes Bedürfnisraster. Es geht von einer Konstanz von Anforderungen aus, die sich zu erfüllen hat, wodurch der »geschichtliche Prozess seiner ›Umbesetzungen‹ sich als Sanierungen seiner Kontinuitäten und nach dem Prinzip der Selbsterhaltung produziert«. Blumenberg schließt:
Alle Veränderungen, aller Wechsel vom Alten zum Neuen sind nur dadurch für uns zugänglich, daß sie sich […] auf einen konstanten Bezugsrahmen beziehen lassen, durch den die Erfordernisse definiert werden können, denen an einer identischen ›Stelle‹ zu genügen ist.[76]
Der Begriff der Umbesetzung bedeutet, dass differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen verstanden werden können. Was in dem als Säkularisation gedachten Vorgang tatsächlich geschieht, ist nicht die Transformation (Umsetzung) eines authentischen, theologischen Gehalts in eine säkulare Form. Die Religion ist nicht die Substanz, sondern nur der Bezugsrahmen, der andere, tiefer liegende Fragen – eben mit dem Religiösen beantwortet. Der intakt bleibende und funktionale, vorausgesetzte Stellenrahmen aber, der partielle Veränderungen nicht nur erträglich, sondern auch plausibel macht, ist im Fall der Kitzelweisen ein Ensemble aus basalen Fragen wie: Was macht die Empfindungsfähigkeit des Menschen aus? Was unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen? Was macht den Unterschied zwischen den Geschlechtern aus? Wie funktioniert Wahrnehmung? Wie vollziehen sich Fortpflanzung und Sexualität? Wie entstehen basale Körper- und Kulturtechniken? Die Neubesetzung besteht darin, aus diesem Bezugsrahmen von Fragen immer neuer Nuancierung und Konstellation heraus Fragen zu stellen. Welche Fragen an den Kitzel (der Singular verbietet sich eigentlich) gestellt werden, wird für den europäischen Raum bereits (aber sicher nicht erstmals) in der griechischen Antike abgesteckt. Deshalb setzt die Studie dort ein. Wird der Kitzel im Anschluss neu verhandelt, erhält er im Zuge der Umbesetzung ein neues Gesicht. Diese Auftrittsmomente betrachtet die Studie. Daher entwirft sie eine fünfstufige Genealogie des Kitzels. Ausgehend von der griechischen Antike, nimmt sie eine maßgebliche Erscheinungsform des Kitzels im 14. Jahrhundert in den Blick, bevor sie sich der Neubesetzung des Kitzels in der frühen Neuzeit, um 1800, um 1900 und schließlich in der Gegenwart zuwendet. Weil die heute präsenten Kitzelweisen an diese Inszenierungen anschließen, erweist sich die Analyse letztlich als Betrachtung unserer Gegenwart.[77]
Bevor somit jeder Unterschied zwischen Literatur, Kunst, Malerei – sprich Hochkultur – und culture im Sinne von Kultur verschwindet, ist noch die besondere Position der Künste im Erzählungsreigen hervorzuheben: Die Stellung, welche der Kunst – in dieser Studie zuvorderst Malerei und Literatur – zukommt, lässt sich am präzisesten im Vokabular der Systemtheorie erfassen:[78] Den ästhetischen Erscheinungen wird keine erhöhte Metaposition zugeschrieben, von der sie wie ein unbeteiligter Beobachter die Geschehnisse und Konstruktion innerhalb der anderen gesellschaftlichen Systeme beobachten könnten. Die sogenannte Hochkultur, zu der Literatur, Malerei, Film etc. zählen, fungiert vielmehr als ein funktionales System unter anderen Systemen. Als relationale Kunst leistet sie keine Metareflexion. Was sie aber auszeichnet, hat Albrecht Koschorke als Gleichzeitigkeit einer enormen Codevielfalt beschrieben, bei welcher die einzelnen Codes in wechselseitigem Widerspruch zueinander stehen dürfen. Demnach können Texte der Kultur »so vielen Code-Operationen gleichzeitig Raum gewähren«[79] wie keine andere Textart. Koschorke schließt daraus, dass es erlaubt sei, »sie in bestimmten Zusammenhängen als Hypercodes zu konzeptualisieren«.[80] Da der Begriff »Hypercode« seinerseits eine übergeordnete Position suggeriert, sprechen wir stattdessen von »Polycodes«. Die relationale Kunst weist eine (im doppelten Sinne des Wortes »tropische«) Codediversität auf, die sie gleichzeitig konstituieren und wieder unterlaufen kann.[81] Für die Kodifizierung des Kitzels sind Malerei, Film, Fotografie und Literatur aufgrund dieser Eigenschaft von entscheidender Relevanz. Da diese Künste selbst ihren unergründlichen Charakter ausstellen, sind sie für das Phänomen des Kitzels in seiner Unergründlichkeit prädestiniert. Sie kodifizieren den Kitzel in entscheidendem Maße. Zwischen Kitzel und Kunst besteht somit ein besonderes, wechselseitiges Verhältnis.[82] Zum einen gehen die Künste den Funktionsweisen und Geheimnissen des Kitzels nach. Wobei sich ein wichtiger Unterschied zwischen den literarischen Erzählungen und jenen aus Medizin, Anthropologie oder Physiologie zeigt. Während Letztere das Geheimnis des Kitzels lüften, Ordnungen des Kitzels herstellen und das Wissen bergen wollen, liegt die höchste Priorität der Künste nicht unbedingt darauf, das Rätselhafte zu erklären, die Paradoxien aufzulösen und die Widersprüche des Kitzels zu entflechten. Vielmehr halten sie die Paradoxien des Kitzels aus, inszenieren sie, um sich dieser Energie zu bedienen. Die Kunst speist ihre ästhetische Energie aus der faszinierenden Balance des Kitzels zwischen Rätselhaftigkeit und Wissen, zwischen Empfinden und Verstehen, zwischen Eigenem und anderem, zwischen Fassbarem und Unfassbarem, zwischen Zeichenhaftigkeit und Körperreaktion jenseits des Semiotischen. Der Kitzel ist aufgrund seines Doppelcharakters eine entscheidende Triebkraft der Künste, aus der wieder und wieder neue Erzählungen entspringen. Die Studie fokussiert sich also auf jene Phasen, in denen künstlerische Arbeiten das Kitzelwissen und -geheimnis neu codieren und in denen sich gleichzeitig aus dem Kitzel besonders faszinierende Kunst generiert. Statt die naturwissenschaftlichen Rätsel des Kitzels zu lösen, wird diese Studie also neue Fragen und Geheimnisse des Kitzels anhäufen. Sie wird die Komplexität gezielt steigern, um der Genealogie des Kitzels durch die Jahrhunderte folgen zu können.
Wenn das Kitzeln bislang überhaupt Beachtung gefunden hat, dann innerhalb der historischen Lach- und Komikforschung. Alle diese Studien wiederum weisen einen gemeinsamen Referenzpunkt auf. Sie setzen bei Aristoteles’ zoologischer Studie Die Glieder der Geschöpfe ein.[83] Denn dort definiert der griechische Philosoph den Menschen als homo ridens, als lachendes Wesen. Bis heute dürfte es schwer sein, eine Studie über das Lachen ausfindig zu machen, die ohne diese Definition auskommt. Wenn bislang alle Wege zu Aristoteles führten, dann erscheint es sinnvoll, sich in Sachen Kitzel zuerst auch dorthin aufzumachen. Tatsächlich hält die aristotelische Schrift für die Erforschung des Kitzels eine unerwartete Wendung bereit. Aristoteles denkt das Lachen konsequent von der Kitzelberührung aus. Mehr noch: Der Wissenschaftler und Philosoph ernennt entgegen der dominierenden Lesart nicht etwa das Lachen zum proprium hominis. Vielmehr macht für ihn ausdrücklich der Zusammenhang von Kitzligsein und Lachreaktion den Menschen zum Menschen. Aristoteles erfindet statt des homo ridens den homo titillatus, der lacht, weil er gekitzelt wird.[84] Zugleich erstaunt, wie detailliert, klar und systematisch konzise Aristoteles die anatomischen und physiologischen Zusammenhänge zwischen Kitzeln (als Berührung) und Lachen analysiert. Fragen zum Kitzel(n), die er in Die Glieder der Geschöpfe aus- oder offenlässt, beantwortet er einerseits in seiner Nikomachischen Ethik, andererseits in den Problemata physica.[85] Obwohl Letztere als pseudoaristotelisch gehandelt werden, fügen sich die drei Schriften zu einem stimmigen Bild von den physiologischen Abläufen beim Kitzeln und Lachen. Wenn heutige Lachforscher wie die renommierte Historikerin Mary Beard in Zweifel ziehen, ob Aristoteles überhaupt eine systematische Theorie des Lachens entworfen habe,[86] so kann man umgekehrt sagen: Eine konsistente Theorie des Kitzels hat er aber entwickelt.
Aristoteles’ Wissensformation umfasst fünf wesentliche Aspekte. Erstens entwirft er unter der Maßgabe des antiken Körpermodells eine Physiologie von Kitzel, feiner Haut und Lachen, die von der Anlage feiner Äderchen in hochempfindlichen Hautpartien über die Reizleitung per Wärme bis zum Lachen und damit zum Ausstoßen von Luft eine in sich schlüssige Erklärung des Phänomens liefert. Diesen Lachkitzelmechanismus verzahnt Aristoteles zweitens mit der Überraschung und der Frage nach der Willenskraft; mithin mit zwei – wie wir heute sagen würden – kognitiven Elementen (des Denkens). Der Kitzel ist demnach auf der Grenze zwischen Leib und Seele angesiedelt. Im Zusammenhang mit dieser Verankerung verbindet Aristoteles drittens den Kitzel und das Kitzeln mit einem Akt der Entäußerung. Da Letzterer vom Gekitzelten nicht willentlich beherrschbar ist, trägt er die Züge eines Geheimnisverrats. Viertens verortet die aristotelische Schrift das Kitzeln im Feld von Geselligkeit, Freude, Lachen und Lust. Das Gewaltpotenzial der gemischten Empfindung und die potenzielle Verwundbarkeit gegenüber dem Kitzeln hingegen schimmern nur an einer Stelle auf. Allerdings geht es bei Aristoteles’ Imaginationen des Kitzels, bei der man unfreiwillig die eigene Willenskraft verliert, durchaus heftig zu. Seine Rhetorik und Pragmatik des Kitzels bewegt sich im Affektfeld des pathos. Fünftens dient der Lachkitzel als Instrument der Differenzierung, zwischen Frau und Mann sowie Mensch und Tier.
Warum Aristoteles sich überhaupt für den Lachkitzel interessiert und worauf seine hohe Wertschätzung des Phänomens beruht, bekommt man in den Blick, wenn man sich die Zielsetzung von Die Glieder der Geschöpfe vor Augen ruft. Die zoologische Schrift will die Ordnung aller Lebewesen rational durchschaubar machen. Zu diesem Zweck bedient sie sich der Anatomie und Morphologie.[87] Die Grundlage der Systematik besteht in Aristoteles’ Überzeugung, dass sich die Menschen von allen anderen Lebewesen klar unterscheiden. Die anatomischen Vergleiche sollen diese Differenz zwischen Mensch und Tier augenscheinlich machen. Der Wille zur anatomischen Weltordnung bestimmt das Erzählverfahren der zoologischen Schrift. Wie ein Arzt tastet Aristoteles in seinen Beiträgen systematisch einen (idealen) Körper ab und untersucht nacheinander Glied für Glied, Organ für Organ. Die vergleichende Beschreibung läuft gezielt auf die Betrachtung des Zwerchfells hinaus:[88]
Vom Herzen und von der Lunge ist nun gesprochen, ebenso von der Leber, der Milz und den Nieren. Diese beiden Gruppen sind voneinander durch das Zwerchfell getrennt.[89]
Das Zwerchfell bildet den Zaun zwischen dem oberen und dem unteren Körperbereich. Der obere ist als wertvoll konnotiert, während der untere »nur um dieses Oberen willen existiert«.[90] Aristoteles geht es in erster Linie um das Zwerchfell, um dessen Funktion und Wirkmacht.[91] Der Lachkitzel erhält deshalb ein so hohes Ansehen, weil er an dieser für den menschlichen Körper maßgeblichen Demarkationslinie wirksam wird. Die fein austarierte Erzählstruktur schließt eine erste Erkenntnis ein: Lebewesen ohne Zwerchfell sind zum Lachkitzel nicht fähig. Ihnen fehlt anatomisch die Trennlinie, an der die Kitzelberührung in Lachen umgesetzt werden kann. Um diese Art von Differenzierung in der zoologischen Weltordnung geht es Aristoteles. Er verhandelt das Kitzelphänomen, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier in den Blick zu bekommen. Daher führt die Definition des Kitzels in das Zentrum antiker Anthropologie.
Wie erklärt sich Aristoteles den Zusammenhang zwischen der leichten, punktuellen, spurlos vorübergehenden Kitzelberührung der Haut und der heftigen Reaktion des Lachens, die mitunter den gesamten Körper affiziert? Seine Betrachtung fokussiert zuerst den physiologischen Reiz-Reaktions-Mechanismus. Demnach entsteht das Lachen schlicht durch Erschütterung und Erwärmung des Zwerchfells: »Wenn das Zwerchfell durch untere Aktivitäten erwärmt oder durch andere Ereignisse in Schwingung versetzt wird, so muß der Mensch lachen.«[92] Das gilt auch und besonders unmittelbar für den Moment, in dem man gekitzelt wird:
Wenn man nämlich gekitzelt wird, lacht man sofort, weil die Bewegung schnell an diese Stelle [das Zwerchfell, C.M.] gelangt, und, obwohl sie nur ganz wenig erwärmt, dennoch die Gesinnung ans Licht bringt und erregt, und zwar gegen den Willen. […] Kitzlig sein ist Lachen infolge einer derartigen Erregung in der Gegend der Achselhöhle.[93]
Offensichtlich denkt Aristoteles das Kitzeln als soziales Phänomen. Es gibt da jemanden oder etwas außerhalb des Körpers, das die Haut kitzelt. Zum Kitzeln gehören im Gegensatz zum Lachen zumindest immer zwei. Kitzeln ist ein interaktives, geselliges Phänomen. Weil auch in der Antike nicht jeder jederzeit die Haut des Gegenübers berührt haben wird, setzt das Szenario ein Mindestmaß von Intimität voraus. Wichtig für das Auslösen der gargalesis ist, an welcher Stelle der Gekitzelte berührt wird. Deshalb beginnt Aristoteles seine Überlegungen in den Problemata physica mit der Frage, warum ausgerechnet Achselhöhle und Fußsohle besonders kitzelempfindlich sind. Aristoteles erklärt das mit der »Feinheit der Haut« und bringt zudem in Anschlag, dass an diesen Stellen eine »besonders große Dichte von feinsten Äderchen vorliegt, welche die Berührung weitertragen«.[94] Nicht zuletzt seien wir an diesen hochsensiblen Stellen »die Berührung nicht gewöhnt«. Ungewohntes bringe eine stärkere Reaktion hervor als das Gewöhnliche. Mit demselben Argument erklärt er, warum man sich selbst nicht in derselben Intensität kitzeln kann, in der andere einen kitzeln können. Fremde Berührungen lösen, so Aristoteles, stets eine stärkere Wahrnehmung aus als eigene. Sie erzeugen zudem ein »Erschrecken«,[95] das die eigene Berührung nicht erzeugen könnte.[96]
Wie der äußerliche Kitzelreiz an das Zwerchfell weitergeleitet wird, erschließt sich vor dem Hintergrund der antiken Humorallehre. Nach Hippokrates’ Lehre konstituiert sich der Körper aus vier Säften (Humores): gelber und schwarzer Galle, Blut und Schleim. Deren Mischverhältnis bestimmt im Zusammenspiel mit den vier Grundqualitäten (kalt, warm, feucht und trocken) Charakter und Gemüt – die jeweilige Stimmung – des Menschen. Jeder Einfluss von außen verändert das Verhältnis der Säfte. Gesundheit und Krankheit erklären sich in diesem somatischen Modell aus dem humoralen Gleichgewicht. In Über die Natur des Menschen hält Hippokrates fest:
Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund. Gesund ist er nun besonders dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist.[97]
Jede Wahrnehmung verändert also das Verhältnis des Menschen zu den von außen wirkenden Kräften und die Balance der Säfte und Kräfte innerhalb des Körpers. Als zentrale Schaltstelle fungiert in diesem Körpermodell das Herz. Es dient als Empfänger und als Verarbeitungsstation aller Informationen. In dieses Konzept integriert Aristoteles die Reizleitung des Kitzels von der Achselhöhle zum Zwerchfell. Die Berührung der Haut erzeugt Wärme und Bewegung. Beide übertragen sich auf die Körpersäfte und werden von diesen an das Zwerchfell weitergeleitet. Das Zwerchfell seinerseits, in der Mitte dünn, trocken, nicht fleischig (sonst wäre es feucht, und das würde seine Reaktionsweise verändern), ist aufgespannt wie das Fell einer Trommel. Aufgrund dieser Eigenschaften reagiert es hochsensibel auf die minimalste Erwärmung, Abkühlung, Berührung oder Bewegung. Deshalb erzeugt bereits der kleinste Kitzelreiz eine rasante und ausgreifende Lachwirkung: »[W]er nämlich gekitzelt wird, lacht schnell, weil die Bewegung schnell an diese Stelle gelangt, und, obschon nur wenig wärmend, sie dennoch deutlich macht.« (S.o.) Mit der hohen Sensibilität und Verstärkerwirkung des Zwerchfells, wie sie sich am deutlichsten bei Verletzungen an dieser Stelle zeigt, erklärt sich Aristoteles den eklatanten Unterschied zwischen leichter, punktueller Berührung der Haut und unmittelbarer, heftiger, konvulsivischer Reaktion des gesamten Körpers. Das Zwerchfell fungiert wie ein Verstärker und ein Transformator, indem es die Reibungswärme in Schwingung umsetzt. Lachen muss der Gekitzelte, weil das Zwerchfell durch die Wärme feucht wird und sich die Feuchtigkeit in Luft wandelt. Die Luft muss ihrerseits ausgestoßen werden, um die Balance der Körpersäfte beizubehalten. In der Problemata physica macht Aristoteles das Ende dieses Dominoeffekts prägnant deutlich: »Diese Luft aber lassen wir, wenn sie sich in größerer Menge angesammelt hat, auf einmal heraus.«[98] Aristoteles definiert das Kitzelgefühl als ein Lustgefühl, das entsteht, weil es den Körper von der überflüssigen Luft befreit: »Das Kitzeln aber ist lustvoll: es ist ein Austritt lufthaltiger, widernatürlich eingeschlossener Feuchtigkeit.«[99]
Der gesamte Prozess ist ein unwillkürlicher Vorgang, gegen den man sich nicht wehren kann. Einmal in Gang gesetzt, hat er, indem er im Lachen mündet, einen klaren Zweck. Etwas Überflüssiges würde dem Körper nach den Gleichgewichtsvorstellungen der Antike auf Dauer schaden. Deshalb muss die durch den Kitzel erzeugte überschüssige Energie durch das Lachen abgeführt werden. Das ist der Zweck des Berührung-Zwerchfell-Lach-Mechanismus. Aristoteles’ Antwort auf die Frage, warum es überhaupt einen Kitzel gibt, fällt klar aus: Um dieses Lustgefühl hervorzurufen und sich an ihm zu vergnügen. Alles andere als zufällig kommt der Philosoph in der Nikomachischen Ethik genau dort auf das Kitzeln zurück, wo es um die (moderaten) Freuden im und am Leben geht. Kitzellust ist Lebensfreude, solange sie in Maßen erzeugt und genossen wird.[100]
Wenn es Aristoteles um die Lust des Lachens geht, warum steht dann ausgerechnet der Kitzel im Fokus seiner Betrachtung? Als komisch gelten im weitesten Sinne doch alle »Gegenstände, Ereignisse, Sachverhalte, Äußerungen, die Lachen verursachen; bzw. die Eigenschaft, die diese Wirkung erzeugt«.[101] Für Aristoteles hingegen ist ausdrücklich das vom Kitzeln ausgelöste Lachen so bedeutend, weil aus seiner Sicht einzig der Mensch für den taktilen Kitzelreiz empfindlich ist: »Daß nur der Mensch kitzlig ist, dafür ist die Ursache die Dünnheit seiner Haut und die Tatsache, daß allein von allen Lebewesen der Mensch lacht.«[102]
Im Riechen, Schmecken, Hören und Sehen sind andere Lebewesen dem Menschen überlegen. Aber der felllose, nackte Mensch weist die feinste Berührungsempfindlichkeit auf.[103] Der Kitzel ist unter den feinen Berührungen diejenige, die nur der Mensch empfinden kann. Zugleich kommt hinzu, dass, selbst wenn ein anderes Lebewesen ein punktuelles Kitzelempfinden auf der Haut spüren würde, sich seine Reaktion von der des Menschen grundsätzlich unterscheidet: Nur beim Menschen mündet die Kitzelberührung automatisch in einem Lachen, weil nur bei diesem die unmittelbare Überleitung zum Zwerchfell stattfindet. Das Zusammenspiel von feiner Hautberührung, Zwerchfell(schwingung) und Lachen ist ausschließlich dem menschlichen Körper vorbehalten.[104] Es sorgt dafür, dass der Mensch zum Menschen wird. Nicht das Lachen allein, vielmehr der Lachkitzel im Speziellen stellt eine von Grund auf menschliche Eigenschaft dar. Für den homo titillatus gilt nicht der Satz: »Ich bin Mensch, also bin ich kitzlig.« Sondern: »Ich bin kitzlig, also bin ich Mensch.« Der Reiz-Reaktions-Mechanismus des Lachkitzels, in den der Gekitzelte selbst nicht intervenieren kann, schreibt dem Menschen unter den Lebewesen eine Sonderstellung zu: Der Kitzel ordnet die (zoologische) Welt.[105]
Aristoteles erweitert die Wirkungskette von Kitzel, Zwerchfellschwingung und Lachen um ein zusätzliches Element. Seine systematische Zoologie typologisiert nicht nur die einzelnen Gattungen und Arten, sie erkundet zugleich innerhalb der Gattung Mensch das Zusammenspiel von Seele, Wahrnehmung und Körper. Dieser Zusammenhang hat für Aristoteles höchste Relevanz. Zurückhaltend lässt er ihn anklingen, als er die Intensität der Kitzelempfindung danach bemisst, wie überraschend der Übergriff auf den Gekitzelten erfolgt.[106] Da die Überraschung ins Spiel kommt, hat Kitzligsein eine psychische – genauer gesagt, eine kognitive – Voraussetzung. Unübersehbar wird die Bedeutung des kognitiven Anteils, als Aristoteles in dreifacher Wiederholung insistiert: »Das Zwerchfell nennen einige Phrenes. Es trennt die Lunge und das Herz ab, und dieses Zwerchfell wird bei den blutführenden Tieren, wie gesagt, Phrenes genannt.« Das Zwerchfell beeinflusst
offensichtlich sofort den Verstand und die Wahrnehmung, weshalb es auch ›Phrenes‹ genannt wird. Wenn es nämlich wegen der Nachbarschaft warme überschüssige Flüssigkeit anzieht, verwirrt es offensichtlich sofort den Verstand und die Wahrnehmung, weshalb es auch ›phrenes‹ genannt wird, als ob es einen Anteil am Denken ›phronein‹ hätte.[107]
Tatsächlich greift das vom Kitzel verursachte Zwerchfellschwingen direkt auf die Wahrnehmung und den Verstand des Gekitzelten über, und zwar alles andere als positiv: Es verwirrt beide. Diese Wirkung begründet sich aus der Position des Zwerchfells innerhalb des dreiteiligen Körpermodells. Die Seele besteht aus einem göttlichen Teil, den die Götter im Kopf des Menschen untergebracht haben, damit er von allen Affekten und Trieben unberührt bleibt. Der Hals trennt diesen Bereich der Seele vom menschlichen Teil der Seele ab, der im Brustraum seinen Platz findet. Das Zwerchfell bildet seinerseits das Trennungsglied zwischen mittlerem und unterem Körperbereich. Die Trennung ist unerlässlich. Denn das Verrechnungszentrum für alle Eindrücke und Wahrnehmungen ist in der Antike noch nicht das Gehirn, sondern das Herz. Daher ist die Trennung notwendig, damit »der Ausgangspunkt (für die Aktivität) der wahrnehmenden Seele unbeeinträchtigt und nicht so schnell von der von der Nahrung herrührenden Ausdünstung und der von der zusätzlich herangeführten Wärme ergriffen wird«.[108] An der Demarkationslinie »Zwerchfell« trägt der Mensch das Spannungsverhältnis zwischen geistiger Sphäre und menschlichem Dasein, zwischen Kopf und Rumpf, zwischen Seele und Körper aus. Das für den Menschen charakteristische Spannungsverhältnis ist im Zwerchfell Fleisch geworden. Wenn Kitzeln das Zwerchfell in Bewegung setzt, wirkt sich das unmittelbar auf die angrenzenden Räume und somit auf das Verhältnis von Körper und Denken aus.[109] Der Kitzel codiert, als wäre er ein aggressiver Virus, die Funktion des Zwerchfells in ihr Gegenteil um. Sorgt es normalerweise für die strikte Trennung von Bauch- und Brustraum, erzeugt es in Schwingung extremen Kontakt. Die Signalworte, um diese Umkehr deutlich zu machen, lauten bei Aristoteles »sofort« und »schnell«. Während das Zwerchfell dafür sorgen soll, dass die Wärme »nicht so schnell« aufsteigt, kehrt das Kitzeln die Funktion des Zwerchfells in ihr Gegenteil um, und zwar in Form des kitzeltypischen Verstärkungseffekts – eine kleine, punktuelle, wärmeerzeugende Berührung führt zu einer großen, Körper und Geist ergreifenden Wirkung: »Wer nämlich gekitzelt wird, lacht sofort, weil die Bewegung schnell an diese Stelle gelangt und, obschon wenig wärmend, sie dennoch deutlich macht und gegen den Willen bewegt.« Der Kitzel steckt qua Zwerchfellverstärker das vitale Seelenzentrum an. Daher führt die leichte Berührung der Haut zum sofortigen, kompletten Kontrollverlust über Wille, Wahrnehmung und Verstand.
Offensichtlich ist Aristoteles bewusst, welch großes Irrationalitätspotenzial er dem Lachkitzel beimisst. Mit Nachdruck hält er deshalb fest, das Zwerchfell wirke nur so, »als ob es einen Anteil am Denken [phronein] hätte. Es hat aber keinerlei Anteil daran, liegt jedoch nahe bei dem, was einen Anteil hat, und macht dadurch den Wechsel des Denkens erkennbar.« (S.o.) Aristoteles beharrt so auffällig auf diesem Unterschied, weil er an dieser Stelle kalkuliert gegen Platons Körpermodell anschreibt. Der behauptet nämlich, dass das Zwerchfell selbst ein Teil der Seele sei.[110] Es gilt ihm als Affekt- und Seelensitz.[111] Zu Platon später mehr. Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst: Aristoteles übernimmt von Platon zwar die anatomische Lage und die Trennungs- bzw. Mittlerfunktion des Zwerchfells. Mit Bedacht setzt er allerdings Platons Zwerchfellprinzip der Seelenheimat gegen das der Nachbarschaft. Aristoteles bemüht sich, das Irritationsmoment des Kitzels auf die menschliche Wahrnehmung zu begrenzen. (Es liegt »nahe bei dem, was einen Anteil daran hat, und macht dadurch den Wechsel des Denkens erkennbar«.)[112] Er hat sicher im Blick, dass der Kitzel in Platons Modell ein erheblich größeres Ansteckungspotenzial hätte. Betrachtet man das Zwerchfell als Seelensitz, ist mit der Wahrnehmung auch direkt das Seelenvermögen und damit letztlich der Bereich des göttlichen Zugriffs vom Kitzel betroffen. Das heißt in letzter Konsequenz: Nicht nur die Götter haben über »pneuma«, »spiritus animales« einen Zugriff auf den Menschen. Vielmehr erweist sich der Kitzel mit seiner blitzartigen Inversion der körperlich-seelischen Zwerchfellordnung als Macht, die quasi im Übergriff von »unten« den Menschen zu bestimmen weiß. Der Mensch