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Christian Elster

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Beschreibung

Streamingdienste, Vinylflohmärkte, die verstaubte CD-Sammlung - nie gab es so viele Möglichkeiten auf Musik zuzugreifen wie heute. In Form ethnografischer Tracks zeigt Christian Elster, was Musiksammeln zwischen Plattenladen und Onlinediensten für Menschen bedeuten kann. Hierfür beleuchtet er Praktiken, Artefakte, Orte, Diskurse und Figuren des Sammelns und zeigt auf, dass die technisch grundierte und sinnliche Praxis wesentlich auf das Selbstverständnis vieler Menschen Einfluss nimmt. Sammeln kann deshalb als Alltagskompetenz verstanden werden, die in physischen und digitalen Umgebungen individuelle Ordnungen und sinnstiftende Wegmarken schafft.

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Seitenzahl: 364

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Christian Elster (Dr. phil.) ist Postdoc am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Neben Pop- und kulturwissenschaftlicher Technikforschung befasst er sich mit kulturellen Dimensionen des Wetters und ethnografischem Schreiben.

Christian Elster

Pop-Musik sammeln

Zehn ethnografische Tracks zwischen Plattenladen und Streamingportal

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2018 auf Antrag der Promotionskommission Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Moritz Ege als Dissertation angenommen.

Die digitale Buchpublikation wurde publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Non-Commercial 4.0 Lizenz (BY-NC). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium ausschliesslich für nicht-kommerzielle Zwecke. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de) Um Genehmigungen für die Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Alex Solman / Maria Arndt Umschlagabbildung und Illustrationen: Alex Solman Korrektorat: Eltje Böttcher Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5527-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5527-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-5527-8https://doi.org/10.14361/9783839455272

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Tracklist

Intro

1. Pop als Feld

2. Stöbern

3. Im Plattenladen

4. Vinyl

5. Ordnen

6. Die Biografie einer Spice Girls-CD

7. iPod

8. Der Sammler als (Anti-)Figur

9. Spotify

10. Aussortieren

Hidden Track

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dank

Intro

»Ist es so falsch, zu Hause bei seiner Schallplattensammlung sein zu wollen? Plattensammeln ist nicht so wie Briefmarken oder Bierdeckel oder antike Fingerhüte sammeln. Da steckt eine ganze Welt drin, eine schönere, schmutzigere, gewalttätigere, friedlichere, farbenfrohere, schlüpfrigere, gemeinere und liebevollere Welt als die, in der ich lebe. Da gibt es Geschichte und Geografie und Poesie und zahllose andere Dinge, die ich in der Schule hätte lernen sollen, einschließlich Musik.« (Hornby 1996: 89) »Surfing someone’s iPod is not merely a revelation of character but a means to a rich personal narrative, navigated by click wheel.« (Levy 2006) »[The Playlist] felt like an intimate gift from someone who knew my tastes inside and out, and wasn’t afraid to throw me a curveball. But the mix didn’t come from a friend – it came from an algorithm.« (Popper 2015)

Liner Notes

Ich packe meine Musiksammlung aus. Gut verstaut in Kartons hat sie die Fahrt von München nach Hamburg unbeschadet überstanden. Nun sitze ich auf dem Fußboden, um mich herum stapelweise Schallplatten und ein Karton mit CDs, einem Haufen Kassetten und einer externen Festplatte voller Musik. Als ich versuche, Ordnung in die durch das Ein- und Auspacken durcheinandergeratenen Tonträger zu bekommen, rufen die Hüllen der Platten unweigerlich Erinnerungen wach. Zum Beispiel an einen Freund meines großen Bruders, der mir, ich war 16 oder 17, klarmachte, dass Schallplatten hundertmal cooler seien als CDs. Um die Jahrtausendwende waren Schallplatten für mich staubige Relikte gewesen, von der Musikindustrie totgesagt und von meinen Eltern in den Keller verbannt. Nun lernte ich, dass sie in einer anderen Welt quicklebendig geblieben waren. Schon der Altersvorsprung meines Mentors machte seine Popkultur-Kompetenz unanfechtbar und ich kaufte also fortan, wenn möglich, Vinyl. Das gestaltete sich in der süddeutschen Kleinstadt, aus der ich komme, gar nicht so einfach. Im örtlichen Drogeriemarkt Müller gab es nur CDs und ein paar Band-Shirts direkt über der Parfümerieabteilung. Hier trieb ich mich schon als Kind gern herum, wohl ahnend, welche Welt sich für mich zwischen all den Tonträgern einmal aufspannen würde – eine, die ganz eigenen Ordnungen folgt und ungeahnte Verheißungen verspricht. Popmusik, das lernte ich bald, ist mehr als Klang. Es geht um Kleidung, Gesten, Attitüden, Treffpunkte, Accessoires, Style.

Andere Cover erinnern mich beim Einsortieren in der neuen Wohnung an meinen Studentenjob bei einem Musik-Mailorder. Ich empfing an jedem Arbeitstag kistenweise Tonträger, sortierte sie ins Lager, packte und verschickte Bestellungen und stellte mir manchmal vor, wie vorfreudig die Empfänger:innen am nächsten Tag sein würden, wenn der Paketdienst klingelt. Ich bekam Platten und CDs zum Vorzugspreis und so fluchten die Umzugshelfer, die mich ein paar Jahre später von Freiburg nach München begleiteten, nicht schlecht, als wir das ganze Zeug in den dritten Stock schleppen mussten. Unverständnis schlug mir entgegen. Musik könne man doch auch viel einfacher, billiger und platzsparender bekommen. Dabei war es ja nicht so, dass nicht noch Musik auf dem Computer, einer externen Festplatte und einem iPod gespeichert gewesen wäre. Die dort abgelegten Sounddateien fielen nur buchstäblich nicht so ins Gewicht. Und es gab auch in München genug von denen, die meine Vinyl-Leidenschaft teilten, mit denen ich über rare Singles und obskure B-Seiten, langerwartete Neuveröffentlichungen und absolut überflüssige Reissues fachsimpeln konnte. Auch daran erinnern mich manche der Tonträger jetzt wieder – denn natürlich liegen auch einige dieser überflüssigen Reissues auf dem Fußboden herum.

Ende der 00er Jahre wurde zusehends von einem Revival der Schallplatte gesprochen. Mich irritierte das, gab es doch jene Musik, die mich interessierte, immer auf Vinyl. Aus dieser Irritation heraus wurden Schallplatten für mich in dieser Zeit von einem Sammelgegenstand immer mehr zum Forschungsobjekt. Was machte den analogen Tonträger plötzlich attraktiv? Das war der Ausgangspunkt, der schließlich zur vorliegenden Arbeit geführt hat. Nun ist wieder ein Umzug geschafft. Ich bin nach Hamburg gezogen, um an meiner Dissertation über das Musiksammeln zu arbeiten. Und wie ich hier so auf dem Boden sitze inmitten meiner Musiksammlung und mich selbst über sie erfinde, stecke ich bereits über beide Ohren in meiner Forschung.

Diese kurze biografische Passage – wäre sie auf eine Tonträgerhülle gedruckt, würde man sie vermutlich ›Liner Notes‹ nennen – ist ein Bekenntnis, das ich gegenüber den Leser:innen dieser Studie gleich zu Beginn ablegen will. Ja, diese Arbeit über das Musiksammeln ist von einem Musiksammler geschrieben worden. Von einem, der sich immer wieder neu und euphorisch in seinen Untersuchungsgegenstand verliebt, der ihn aber auch oft genug verflucht hat. Wie kann einem das Nachdenken über eine Sache bloß so den Spaß an ihr verderben? Gewollt und ungewollt bin ich immer wieder selbst zum Forschungsobjekt geworden. Das ist charakteristisch für ethnografische Forschungen. Es ist aber nicht ratsam, die eigenen Erfahrungen zum Maß der Dinge zu machen, man sollte sich sogar dringend davor hüten. Als Ethnograf lernt man das schon im Proseminar und es wurde mir im Laufe meiner Forschung immer wieder vor Augen geführt. Dankenswerterweise hat sich eine ganze Reihe an Sammler:innen (genauso wie expliziten Nichtsammler:innen) bereit erklärt, an dieser Studie mitzuwirken. Sie haben mir tiefe Einblicke in ihr Denken und Handeln und in ihre Sammlungen gegeben. Sie haben mich überrascht und gerührt, mich begeistert und versetzt. Und sie haben mir jede Menge neuer Musik nahegebracht. So konnte ich ungeahnte Einblicke gewinnen in das, was sich alles hinter staubigen Rillen, klappernden CD-Stapeln und meilenlangen Playlisten verbergen kann.

Technik Fast Forward

Emil Berliner, ein in die USA ausgewanderter Deutscher, erfand 1887 die Schallplatte. Sie ist »die erste Darstellungsweise von Musik, die sich als Ding besitzen lässt« (Adorno zit.n. Poschardt 1997: 233). Flüchtiger Klang war fortan technisch konservierbar. Seither kann Musik, tonal aufgenommen, gesammelt werden. Rasant avancierte die ›Tonkonserve‹ von einer Kuriosität über einen Luxusartikel zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand (vgl. Friederici et al. 2006: 106). In den Nachkriegsjahrzehnten wurde Polyvinylchlorid zum Kunststoff der popkulturellen Revolution und Vinylschallplatten zu begehrten Sammelobjekten. Die Schallplatte war fortan nicht mehr nur Distinktionsobjekt in den Salons wohlhabender Bürger, sondern Schlüsselartefakt einer neuen materiellen Kultur der Jugend, die in dieser Zeit vermehrt als Käuferschaft in Erscheinung trat. Es bildete sich ein machtvolles und machtdurchdrungenes kulturelles Feld heraus, das bis heute wirksam ist und in dem auch diese Studie zu verorten ist: Pop.

In den 1960er Jahren bekam die Schallplatte Konkurrenz von der Kassette und wurde in den 1980er Jahren von der CD als Massenmedium abgelöst. 1993 wurde Musik in Form der MP3-Datei ›körperlos‹, benötigt nur noch minimalen Speicherplatz, der zu immer geringeren Kosten in immer größeren Mengen zur Verfügung steht. 1999 programmierten die beiden amerikanischen Studenten Shawn Fenning und Sean Parker die Musiktauschbörse Napster. Millionen von Songs strömten fortan durch die frisch etablierten Infrastrukturen des Internets weltweit von einer Festplatte zur nächsten (vgl. Nowak/Whelan 2014). 2001 lancierte Apple das Programm iTunes und bot bis 2019 Songs ab 99 Cent an. Seit 2006, in Deutschland seit 2012, gibt es den schwedischen Streamingdienst Spotify. Musik wird nicht mehr auf die eigene Festplatte geladen, sie kommt ›just in time‹ aus der Cloud. Das Internet ist heute ein unerschöpfliches »Anarchiv« (Reynolds 2013: 62), in dem Musik rund um die Uhr gehört, gesucht, heruntergeladen und gestreamt werden kann.

Parallel zu dieser Entwicklung erleben, scheinbar anachronistisch, analoge Medien wie Vinylschallplatten ein Revival (vgl. Elster 2015). Die Auswahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume, auf Musik zuzugreifen und mit Musik umzugehen, haben sich so in den letzten zwei Jahrzehnten in gleichem Maße erweitert wie die technisch-materiellen Ausformungen, die Musik annehmen kann. Dieses Moment der Gleichzeitigkeiten steht im Mittelpunkt dieser Forschung. Musiksammeln als kulturelle Praxis erweist sich in diesem Zusammenhang als ein analytischer Kristallisationspunkt, an dem auch Zuschreibungen an analoge und digitale Technik, Assoziationen mit Materialität sowie ökonomische und kulturell-ästhetische Wertvorstellungen über Popmusik offen zutage treten.

Identität: Shuffle

Musiksammeln lässt sich als eine Subjektivierungspraxis verstehen, als eine Methode, sich ›seiner selbst‹ gewahr zu werden. Jede Person ist heute »Sinnbastler« (Hitzler 1994: 75) und arbeitet beständig an ihrer Biografie und ihrem ›Selbst‹. Andreas Reckwitz beschreibt individualästhetischen und lebensstilorientierten Konsum – zu dem auch Musiksammeln zählt – als eine zentrale Selbsttechnik postmoderner Subjekte (Reckwitz 2006: 555). Musiksammeln hat immer etwas mit dem Selbstverständnis und der Selbstpositionierung der sammelnden Personen zu tun. Die gesammelten Dinge und Daten bilden als Träger vielschichtiger subjektiver und kollektiver Bedeutungen eine Schnittstelle zwischen Individuen und deren sozialen Umgebungen (vgl. Frith 1992). Es hat sich in meiner Forschung gezeigt, dass sich das Sprechen über Sammlungen und die Praxis des Sammelns selbst als wertvolle Zugänge erweisen, will man derartige Subjektivierungsweisen ethnografisch greifbar machen.

Schon meine einleitenden biografischen Erzählungen geben Aufschluss darüber, dass Popmusik und der sammelnde Umgang mit dazugehörigen Artefakten für das Selbstverständnis von Menschen zentral sein kann. Im Forschungsfeld der Popular Music Studies, das sich zwischen Musiksoziologie, Musikwissenschaft und Cultural Studies verorten lässt, ist eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, die sich mit der identitätsstiftenden Kraft von Musik befassen. Autor:innen wie Simon Frith (1992, 1999), Tia DeNora (2000), Antoine Hennion (2001, 2004) und Ros Jennings (2012) erforschen die individuellen und sozialen Funktionen, die Musik in westlichen Gesellschaften erfüllt. In einem Spannungsfeld aus direktem körperlich-sinnlichen Erleben der Musik und übersubjektiven, kulturellen Bedeutungszuschreibungen wird Musik als eine sozialisierende und identitätsstiftende Ressource interpretiert, die, so formuliert es DeNora (2000), gleichermaßen als »technology of self« (ebd.: 46), »container of feeling« (ebd.: 58) und »device of social ordering« (ebd.: 109) agiert. Insbesondere innerhalb musikbasierter Subkulturen kann Musik einen geradezu weltschaffenden Charakter annehmen. Das betonen Arbeiten der frühen britischen Cultural Studies (McRobbie 1976, Willis 1978, Hebdige 1979) wie auch aktuellere Studien, die auch im Fach Europäische Ethnologie entstanden sind (Bonz 2008, Schwanhäußer 2008, Ege 2013).

Auch Autor:innen, die sich mit dem Sammeln befassen, interpretieren, so unterschiedlich ihre Ansätze sind, das Sammeln von Gegenständen oft unter dem Gesichtspunkt der Subjektivierung. Ein kurzer exemplarischer Streifzug: Für Walter Benjamin ist die Sammlung ein »Damm gegen die Springflut von Erinnerungen« (Benjamin 1972: 388), die zugleich mit ihrem Subjekt auch ihren Sinn verliere (ebd.: 395). Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Menschen sammelnd Sinn generieren, die Welt um sich herum anordnen und sie somit handhabbar machen (Poehls/Faust 2015). Konrad Köstlin schreibt in einem Ums Leben sammeln betitelten Sammelband vom »homo collectans«, der seine Biografie besammelt und über die Sammelobjekte mit seiner Umwelt in Kontakt tritt (vgl. Köstlin 1994: 12). Jean Baudrillard (1991) und Justin Stagl (1998) sehen im Sammeln eher kompensatorische Aspekte. Bei Baudrillard ist das Sammeln Ausdruck einer beschädigten Identität (Baudrillard 1991: 112), bei Stagl gleichzeitig ein Mittel, diese zu flicken (Stagl 1998: 47). Auch solche pathologisierenden Perspektiven deuten auf die identitätsstiftende Kraft des Sammelns hin.

Forschungsfragen

Ausgehend von der Feststellung, dass Musik heute sehr verschiedene technisch-materielle Ausformungen annimmt und Musiksammeln identitätsstiftende Funktionen erfüllen kann, stellen sich vier zentrale Forschungsfragen, die auf die materielle Gestalt von Musik und die damit verbundenen Artefakte, die Qualitäten von Musiksammeln als Selbsttechnik sowie auf deren gegenseitiges Verhältnis abzielen. Diese Fragen werde ich im Folgenden erläutern und exemplarisch in bestehende Forschungszusammenhänge einordnen. Dabei stütze ich mich auf drei theoretische Säulen: die Popular Music Studies, die kulturwissenschaftliche Technikforschung sowie die Material Culture Studies. Die Kombination dieser Zugänge wird sowohl den Spezifika des sammelnden Umgangs mit Musik, deren technischer Grundierung als auch den mannigfaltigen Mensch-Ding- beziehungsweise Mensch-Daten-Beziehungen gerecht, die Musiksammeln fundamental mitbestimmen.

1.Wie gestaltet sich Musiksammeln als Alltagspraxis?

Im Laufe meiner Forschung stellte sich bald heraus, dass die Vorstellungen von dem, was Sammeln ist, so vielfältig sind wie die Musikgeschmäcker der Menschen, mit denen ich sprach. Mich interessiert aus einer ethnografischen Perspektive deshalb, wie sich Sammeln als eine Alltagspraxis im Einzelnen gestaltet, an welchen Orten es stattfindet, welche Artefakte, Ideen und Praktiken damit in Verbindung stehen, wie diese auf Subjektivierungen Einfluss nehmen und wie die Menschen ihrem Handeln Bedeutung verleihen. In der Forschungsliteratur etablierte Sammelkonzepte verstehen Sammeln, mindestens implizit, als eine systematische, connaisseurhafte (Benjamin 1972, Baudrillard 1991), oft auch neurotische Handlung (Reich 1989, Baudrillard 1991, Stagl 1998), die von in der Regel männlichen Sammlern vollzogen wird. Diese Vorstellungen haben sich bezüglich meiner Erfahrungen im beforschten Feld als zu stark verengend erwiesen. Auch der Versuch, ausgehend von bestimmten idealtypischen Handlungen, Typen von Sammler:innen zu identifizieren (Shuker 2004) und somit festzuschreiben, ist nicht der Ehrgeiz dieser Studie. Mein Ziel ist es, die Praktiken des Sammelns in ihrer Komplexität exemplarisch verstehbar zu machen. Die Perspektive der sammelnden Menschen steht dabei im Zentrum, denn nur so können individuelle Praktiken, (Selbst-)Erfahrungen und Sinnkonstruktionen eingefangen werden sowie etwaige Wandlungen, die Sammeln im Zuge der Digitalisierung erfährt, greifbar gemacht werden.

2.Welchen Einfluss nehmen die technisch-materiellen Veränderungen auf die Qualität des Musiksammelns als Selbsttechnik?

Obwohl Musikhören und -sammeln immer in ein spezifisches Setting aus technisch-materiellen Objekten eingebunden ist, werden diese in den meisten kulturwissenschaftlich-ethnografischen Forschungen nur mit einer Randnotiz bedacht oder geraten, als allzu selbstverständliche und deshalb ›unsichtbare‹ Objekte, gar nicht erst in den Blick der Forscher:innen. Medientechnik selbst wird in diesem Forschungsfeld durchaus als Grundlage für massenkulturelle Phänomene reflektiert (Benjamin 2000, Horkheimer/Adorno 2004, Schramm 2009, Hesmondhalgh 2013). Wie Technik und deren materielle Erscheinung die alltägliche Musikerfahrung von Menschen prägt, wird hingegen kaum thematisiert. Ausnahmen bilden beispielsweise Arbeiten zum iPod (Bull 2007, 2009, 2012) und zu Spotify (Hagen 2015), zur kulturellen Bedeutung des Mixtapes (Herlyn/Overdick 2003), zur MP3-Datei (Sterne 2006, 2012), zur Mobilisierung des Hörens (Weber 2008, Ulrich 2012) sowie zu Zusammenhängen zwischen Audiotechnik und Erinnerungspraktiken (Bijesterveld/van Dijck 2009). Durch die Fokussierung auf je ein spezifisches Abspielmedium spiegelt sich in diesen Arbeiten jedoch nicht die Heterogenität des alltäglichen und sammelnden Umgangs mit Musik wider, wie ich sie beobachten konnte. Explorative Ansätze, die versuchen, dieser Komplexität gerecht zu werden, sind rar (Magaudda 2011, Nowak 2014) und fokussieren eher auf Technik und weniger auf die Frage, wie diese in Subjektivierungsprozessen wirksam wird. Versuche, die Bedeutungen des Musikhörens und -sammelns aus technisch-materieller Perspektive zu erörtern, wurden bislang also kaum unternommen. Dabei sind sie für dieses Feld doch essenziell – gleichermaßen für das Verständnis gegenwärtiger Medienpraktiken wie auch komplexer Subjektivierungsweisen.

3.In welchem Verhältnis stehen Sammler:innen und ihre (im)materiellen Sammelobjekte?

Dinge und Dingbeziehungen sind ein Grundelement menschlicher Vergesellschaftung (vgl. Heidrich 2007b: 225). Sie geben als »kulturelle Emissäre Auskunft über gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse« (König/Papierz 2013: 284). Die individuelle Anordnung, das Sich-Umgeben mit Dingen sei dabei für Menschen gegenwärtiger Gesellschaften, in denen – so der postmoderne Diskurs – stabile Ordnung weitgehend abhanden gekommen sei, weltschaffend und sinnstiftend (vgl. Miller 2010: 219). Im Zuge der Digitalisierung ist immer wieder von einem »Verschwinden der Dinge« (Kuni 2010: 185) die Rede und es stellt sich die Frage, wie sich diese Ordnungen und Identifikationen in virtuellen Umgebungen gestalten. Mensch-Ding-Beziehungen, die bisher zentrales Interesse der Material Culture Studies sind, werden in digitalen Umgebungen zunehmend zu Mensch-Daten-Beziehungen oder um diese erweitert. Es ist aus kulturwissenschaftlicher Sicht von großer Bedeutung, welchen Einfluss der Wandel von dinglichen zu »undinglichen« (Flusser 1993) Sammlungen auf biografische (An-)Ordnungen, soziale Positionierungen und damit verbundene Erinnerungskulturen nimmt. Sinnliche, haptische und räumliche Aspekte – und wie diese im Digitalen simuliert werden können – spielen dabei ebenso eine Rolle wie Fragen des Besitzes und der Verfügungsmacht über die gesammelten materiellen und immateriellen Artefakte (Kibby 2009, Hagen 2015).

4.Welchen Einfluss nehmen die Eigenschaften und Handlungsvorgaben der involvierten technischen Artefakte auf das Sammeln?

Technische Artefakte sind mit Affordanzen (Hutchby 2001) ausgestattet. Ihr Design, ihre Funktionen und ihre Materialität legen also bestimmte Handlungen in Verbindung mit ihnen näher oder ferner, begünstigen oder verhindern sie. Musiksammeln lässt sich aus dieser Sicht als eine technisch hinterlegte Handlung verstehen, die durch ihre Eigenschaften als Subjektivierungspraxis technisch grundierte Erfahrungen und Selbstverständnisse hervorbringt. Vertreter:innen der kulturwissenschaftlichen Technikforschung gehen von einer »unauffälligen Omnipräsenz des Technischen« (Bausinger 1981: 238) aus, die kulturelle Praktiken, Erfahrungen und Sinnkonstruktionen in modernen Gesellschaften maßgeblich und meist unbemerkt (mit)prägt (Beck 1997, Hengartner 1998, 2004, 2012, Schönberger 2007). Medienwissenschaftliche und soziologische Theorien tendieren dazu, in diesem Zusammenhang tiefgreifende Transformationsprozesse zu beschreiben (Jenkins 2006, 2013, Bunz 2012). Technik birgt jedoch zunächst lediglich ein »Enabling-Potenzial«, das »ganz unterschiedliches Handeln und damit auch differenziert zu betrachtende Formen des Wandels wie im Übrigen auch die Persistenz« ermöglicht (Schönberger 2007: 203). Wie Medientechniken im Einzelnen genutzt und bewertet werden, wie sie in die Praxis des Musiksammelns eingebunden sind und somit auch zu einer technischen Hinterlegung gegenwärtiger Identitätskonstruktionen führen, ist ebenfalls Gegenstand dieser Arbeit.

Follow the Tracks

Diesen Fragen geht die Studie in Form von Tracks nach, die sich zu einer Playlist zusammenfügen. Die Tracks verweisen nicht nur auf das Musikstück oder die Tonspur, sie repräsentieren mein methodisches Vorgehen. Sie bezeichnen die ›Spuren‹ im Feld – die Personen, Praktiken, Artefakte, Orte und Diskurse, denen ich während meiner Forschung gefolgt bin.

Im Stöbern, Ordnen und Aussortieren wird Sammeln ethnografisch greifbar. Diese Handlungen habe ich beobachtet und in qualitativen Interviews und informellen Gesprächen mit meinen Interviewpartner:innen thematisiert.1 Ich habe Presswerke und Plattenläden besucht, analoge und digitale Musikmedien analysiert, Romane und Kurzgeschichten gelesen, Filme und Youtube-Clips gesehen, Zeitungsartikel, Werbeanzeigen und Songtexte gesammelt, die mit dem Musiksammeln in Verbindung stehen (vgl. Lindner 2003, 2012). Die Tracks sind Ergebnis dieser ethnografischen Spurensuche. Die Playlist als Ganzes eröffnet ein umfassendes, kuratiertes und konzeptionell gestaltetes Panorama auf das Thema. Die Tracks folgen in ihrer Anordnung einer Dramaturgie. Ihren Anfang nimmt diese beim Stöbern nach Musik, ihr Ende findet sie im Aussortieren von Platten und Files. Dazwischen bildet sich in der Anordnung der Tracks eine technikhistorische Chronologie von der Schallplatte, über den iPod bis hin zum Stream ab. Dennoch stehen die Tracks auch für sich alleine. Sie können von vorn bis hinten durchgelesen, kurz ›angespielt‹, übersprungen oder kreuz und quer im Shuffle-Modus gelesen werden – ganz wie viele Musiksammler:innen es vom Umgang mit einer Playlist gewohnt sind. Die Tracks nehmen Sammeln aus den Perspektiven verschiedener Menschen und Artefakte, spezifischer Praktiken und Diskurse in den Blick. Sie variieren dabei in Ausschnitt, Auflösung und Tiefenschärfe und haben so das Potenzial, Ungleichzeitigkeiten und Verschränkungen, Zusammenhänge und Widersprüche, die sich im empirischen Material abbilden, besser darstellbar zu machen als ein monografischer Text. Im Sinne der Writing Culture-Debatte (Berg/Fuchs 1993) trägt diese Struktur zum Erkenntnisgewinn bei. Beate Binder ist der Ansicht: »Schreibform und Inhalt können nicht getrennt werden. [D]en Herausforderungen ethnografischer Repräsentation [kann] nur begegnet werden, wenn Form und Inhalt aufeinander bezogen bleiben.« (Binder 2015: 122) Die Form folgt somit dem Forschungsgegenstand. Die Illustrationen, die den Tracks voranstehen, bilden eine zusätzliche Spur. Ihr Zeichner, Alex Solman, ist bekannt für seine grafischen Arbeiten für den Hamburger Golden Pudel Club. Als leidenschaftlicher Plattensammler bereichert er die Studie durch seine vielschichtigen visuellen Interpretationen der Texte um eine weitere Perspektive.

Der erste Track Pop als Feld skizziert anhand wissenschaftlicher Diskursstränge das kulturelle Feld, in dem Sammeln bedeutungsvoll wird und das auch zentral für diese Arbeit ist. Dass Sammeln keine rein rationale und zielgerichtete Handlung ist, sondern überaus sinnliche und mußevolle Seiten hat, belegt der Track Stöbern. Im Plattenladen zeigt im Folgenden auf, welche Atmosphären sich für Sammler:innen in Tonträgergeschäften eröffnen können. Außerdem wird deutlich, dass diese Räume von unsichtbaren Trennlinien durchzogen sind und es hier von sozialen Fallstricken nur so wimmelt. Im Track Vinyl dreht sich alles um die Schallplatte, deren Wiederkehr und um die Bedeutungen, die ihr heute zugesprochen werden. Dass das Ordnen einer Musiksammlung alles andere als profan ist und in einem komplexen Spannungsfeld von subjektiven und kulturell etablierten Kategorien vonstattengeht, erfahren Leser:innen dort. Der Track Biografie einer Spice Girls-CD nimmt die Perspektive auf einen Sammelgegenstand ein und begleitet ihn und seine Besitzerin beim Erwachsenwerden, in einer Zeit, in der Musiktauschbörsen populär geworden sind. Als ›digitaler Faustkeil‹ rückt anschließend der iPod in den Fokus. Das Gerät ist Zeuge und Antriebskraft eines neuen mobilen und digitalen Umgangs mit Musik, der heute ganz alltäglich erscheint. Woran es liegt, dass sich Menschen mit Tausenden Tonträgern nicht als Sammler:innen bezeichnen (lassen) wollen und welche Diskurse dem zugrunde liegen, darum dreht sich der Track Der Sammler als (Anti-)Figur. Einige Tiefenbohrungen in die Benutzeroberfläche von Spotify unternimmt der daran anschließende Track. Hier wird deutlich, dass sich Sammeln unter den Vorzeichen des Musikstreamings transformiert und in neue technische und ökonomische Infrastrukturen eingebettet ist. Was passiert, wenn einem die Sammlung über den Kopf wächst, und warum es schwieriger sein kann, sich von MP3-Dateien als von Schallplatten zu trennen, darum geht es im letzten Track Aussortieren.

An zahlreichen Schnittstellen kreuzen sich die empirischen Spuren, die in den Tracks gebündelt sind. Mit diesem Pfeil () sind solche Verlinkungen markiert, die auf Aspekte verweisen, die auch Gegenstand eines anderen Tracks sind.

Dieses Intro und der Hidden Track am Ende der Studie bilden eine Klammer, mit der diese Spuren kontextualisiert und gebündelt werden. Im Hidden Track werde ich die wichtigsten, wenn auch teils widersprüchlichen Antworten, die die Tracks auf die hier formulierten Fragen liefern, zusammenfassen und diskursiv verorten. Zudem erläutere ich dort mein methodisches Vorgehen, aus dem schließlich diese Track-Struktur erwachsen ist. Denn so, wie ich nach meinem Umzug nach Hamburg im Chaos meiner Musiksammlung saß, um sie bald wieder ordentlich ins Regal zu räumen, musste ich auch Struktur in die Vielfalt und das Durcheinander meiner ethnografischen Materialsammlung bringen.

1Detailliertere Informationen zum methodischen Vorgehen und der Auswahl der Gesprächspartner:innen finden sich im Hidden Track, dem letzten Kapitel der Studie.

1.Pop als Feld

»Nur wenige Leute würden die Allgegenwart und Macht der Populärkultur bestreiten. […] Sie beeinflusst maßgeblich, wie Menschen sich selbst verstehen und ihrem Leben und der Welt einen Sinn geben. […] Sie ist ein wichtiger und mächtiger Bestandteil der materiellen historischen Realität, der die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Existenz entscheidend kanalisiert.« (Grossberg 1999: 215f.)

Keine Schallplatte verlangt danach, gesammelt zu werden, und auch keine MP3-Datei. Das Sammeln ist nicht in die Dinge und Daten eingeschrieben. Erst innerhalb eines Bedeutungssystems ergibt diese Praxis buchstäblich Sinn. Im Fall des Musiksammelns, so wie ich es für meine Studie in den Fokus genommen habe, ist ›Pop‹ das zentrale Feld, in dem Sammeln bedeutungsvoll wird – und das in gewissem Ausmaß auch sammelnd konstituiert wird. Dieser Track eröffnet deshalb die Tracklist. Es geht hier weniger um konkrete Sammelpraktiken als vielmehr um den Rahmen, in dem sie stattfinden.

Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen beschreibt Pop als einen komplexen Zusammenhang aus Musik, medientechnischen Artefakten, Live-Konzerten, textiler Kleidermode, Gesten, urbanen Treffpunkten usw., der seine Wirkung erst durch die Hörer:innen, die Fans, die Kund:innen, also auch die Sammler:innen von Popmusik entfaltet (vgl. Diederichsen 2014: XI). Die Rezipient:innen – in welcher Form sie im Einzelnen auch immer mit Pop umgehen – sind in diesem Verständnis ein unabdingbares Element dieser Kultur. Erst aus ihrem Blickwinkel eröffnen sich symbolische Ordnungen und Bedeutungszusammenhänge, die mannigfaltige Identifikationsangebote parat halten und die es zudem ermöglichen, Sammelgegenstände in ein Verhältnis zueinander zu setzen, sie zu bewerten und einzuordnen (Ordnen).

Pop lässt sich als eine kulturelle Sphäre begreifen, als eine Welt des Begehrens, der Verheißungen, des Vergnügens und als eine Projektionsfläche, auf der sich je nach Betrachtungswinkel eine ›bessere‹, ›wahrere‹, ›aufregendere‹ Welt abzeichnet. Diese Sphäre breitet sich in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten von Nordamerika her in der westlichen Welt aus. Musik, bildende Kunst, Literatur und Mode bilden seither die Grundkoordinaten dieses eigenlogischen, historisch spezifischen kulturellen Feldes, das »spätestens seit Ende der 1960er Jahre einen konstitutiven Einfluss auf gesellschaftliche ›Selbstverständigungsdiskurse‹ und ›Selbstbeschreibungen‹« (Kleiner 2012: 13) nimmt.

Der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz ist der Ansicht, dass sich in diesem Feld heute alle, »und sei es auch nur ein bisschen, zu Hause fühlen«, denn »[s]eit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird in dieser Schicht ein guter Teil der großen Gefühle, gebunden an Namen, Gestalten, Sounds, Rhythmen und Melodien, gespeichert und global repräsentiert« (Bonz 2001: 11). Medientechnisch hinterlegt finden unterschiedlich stark ausgeprägte Identifikationen durch Pop statt, was in der Praxis des Sammelns zum Ausdruck kommt.

Die Bedeutungen und Assoziationen, die mit ›Pop‹ in Verbindung stehen, sind vielschichtig, unübersichtlich, bisweilen widersprüchlich und bezeichnen nur teilweise die Sphäre, deren Wirkkraft den Ausgangspunkt dieser Arbeit darstellt. Mir geht es in diesem Track deshalb darum, die Beschaffenheit des Feldes anhand der wichtigsten wissenschaftlichen Diskursstränge thesenartig zu skizzieren. Ich orientiere mich dabei grob an der historischen Entwicklung des Feldes. Zunächst werde ich dafür das Verhältnis von Pop und dem Populären beleuchten. Diese Differenzierung erscheint schillernd, ist für das Selbstverständnis innerhalb des Feldes aber essenziell. Anschließend fokussiere ich auf das Verhältnis von Pop und Widerstand, ein Zusammenhang, der Pop maßgeblich geprägt hat und mindestens auf einer ästhetischen Ebene bis heute prägt. Weiter geht es um die gegenwärtige Gestalt des Feldes und um den Konflikt, der aus dem Gegenwartsversprechen von Pop und dessen Sensibilität für die eigene Geschichte erwächst. Anschließend folgt ein Blick auf Subjektivierungen, die in diesem Feld stattfinden, bevor ich das Verhältnis von Pop und Wissenschaft skizziere. In diesem Spannungsfeld bewegt sich diese Arbeit.

Pop und das Populäre

Das englische ›popular‹ ist Ursprung von ›Pop‹ und das, so konstatiert Diedrich Diederichsen, könne schlecht ins Deutsche übersetzt werden (vgl. Diederichsen 2013: 185). Das ›Populäre‹ ist ein unscharfer Begriff, der in der englischsprachigen Diskurstradition (insbesondere durch die Cultural Studies) eine andere, politischere Aufladung erfahren hat, die für das Verständnis und die Analyse von Pop und dessen Interpretation als Identifikationsraum zentral ist.

Als Kind der frühen Industrialisierung ist das Populäre historisch deutlich älter als Pop und besteht weiterhin fort (vgl. Kleiner 2012: 15). Das Populäre markiert, zumindest historisch gesehen, eine Abgrenzung zur Hochkultur, meint also das Gegenteil von ›elitär‹. Als Antipode zur Hochkultur kann es sich beim Populären diskurshistorisch entweder um eine Kultur ›von unten‹ handeln, also um Volkskultur; oder aber um Massenkultur, eine Kultur für das ›Volk‹, das, was vielen gefällt. Beide Verständnisse des Populären gehen mit ästhetisch bewertenden und sozial verortenden Zuschreibungen einher. Man denke beispielsweise an frühe volkskundliche Forschungen, die in der (scheinbar im Schwinden begriffenen) Volkskultur der ›einfachen Leute‹ etwas erhaltenswertes ›Authentisches‹, ›Echtes‹ vermuteten (vgl. Ege 2017: 311), oder andererseits an Adornos und Horkheimers Thesen zur Kulturindustrie, die in der ›Masse‹ das ›Entfremdete‹, ›Manipulierte‹ sahen, in den Produkten der Kulturindustrie das ›Niedere‹, ›Niveaulose‹, ›Nicht-Künstlerische‹ (vgl. Horkheimer/Adorno 2004). Wie Menschen mit diesen Kulturprodukten umgehen, steht dabei nicht im Fokus. Ihr Handeln erscheint aber im ersten Fall implizit als ›kreativ‹ und ›authentisch‹, im zweiten als ›unmündig‹ und ›betrogen‹. Solche Zuschreibungen, die meist einem unterschiedlich kanalisierten bürgerlichen Konservatismus entsprangen, bestehen in zahlreichen Schattierungen bis heute fort. Dabei gehört

»die strikte Unterscheidung von Kunst und Unterhaltung oder Hoch- und Massenkultur zu den durchgängigen Motiven der kulturkritischen Konstituierung und Begleitung von Popkultur sowie der von Zeit zu Zeit ausbrechenden moral panics« (Geisthövel 2014: 186).

In kultursoziologischen Studien und in der Lebensstilforschung werden spätestens seit Pierre Bourdieus »feinen Unterschiede[n]« (1982) kulturelle Präferenzen als Marker sozialer Differenzierung ausgewiesen (vgl. Geisthövel 2014: 180). (Musik-)Geschmack wird – bei Bourdieu im Kontext der Klassengesellschaft – interpretiert als ein Teil von spezifischem Habitus und Lebensstilen, die im sozialen Raum um Geltung streiten. Dominante gesellschaftliche Gruppen errichten eine hierarchische Skala von Legitimität, Niveau und ›Klasse‹ zwischen popularen und oberschichtlichen Milieus, die aus distinktionsorientierter Perspektive als Besitz oder Nicht-Besitz von kulturellen Kapitalien erscheint (vgl. Ege/Elster 2014). Solche klaren, scheinbar eindeutigen sozialen Verortungen ästhetischer Phänomene (hoch/niedrig, E/U usw.) sind in gegenwärtigen Gesellschaften kaum mehr möglich. Das zeigen Studien zum »kulturellen Allesfressertum« (Kern/Peterson 1996), die belegen, dass popkulturelles Wissen längst auch in sozial höherstehenden Schichten von großer Bedeutung ist. Das Feld der populären Kultur und vor allem das der Popmusik bleibt dennoch eines der Distinktionen (vgl. Ege 2013, Thornton 1996). Auch im Sammeln wird das immer wieder deutlich. Geknüpft an die ›richtige‹ Musik geht es hier auch darum ›richtig‹ zu sammeln, sowohl was die Sammelobjekte als auch die Haltung angeht, die dabei eingenommen wird (Im Plattenladen/Der Sammler als (Anti-)Figur).

Christoph Jacke versteht unter populärer Kultur »denjenigen kommerzialisierten, gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert und massenmedial vermittelt, die durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet werden« (Jacke 2009: 43). Damit sind einige Rahmenbedingungen beschrieben, die auch das Pop-Feld, wie es hier verstanden wird, mitkonstituieren. Popmusik ist massenmedial vermittelt, Medientechnik, allen voran die Tonaufzeichnung sowie damit in Verbindung stehende technische und kulturindustrielle Infrastrukturen und Artefakte, sind eine grundlegende Voraussetzung für das Phänomen Pop (Vinyl/iPod/Spotify). Ebenso klingt bei Jacke an, dass die Rezipient:innen mit den Produkten der populären Kultur etwas ›machen‹. Sie nutzen sie oder verarbeiten sie weiter. Auch das ist, wie sich in dieser Studie an der Praxis des Sammelns zeigt, ein wichtiges Merkmal (Stöbern/Ordnen/Aussortieren). Einzig der quantitative Aspekt der Definition trifft auf Pop nur bedingt zu. Natürlich, Popmusik (nicht nur im Sinne der Genrebezeichnung ›Pop‹) ist häufig äußerst populär, Objekt eines musikalischen Massengeschmacks. Doch Pop im emphatischen Sinne erschöpft sich nicht in der bloßen Popularität einer Sache, im Gegenteil: Pop kann äußerst unpopulär sein und beispielweise mikroskopische Szenen bezeichnen, die sich eben bewusst von den Massen, von einem imaginierten Mainstream abgrenzen. So verstanden nimmt nach Diederichsen

»[d]as was alle angeht […] kulturell die Gestalt des Populären an. […] Pop-Musik ist die Aufkündigung einer solchen Gemeinschaft aller mit den Mitteln, mit denen sich Gemeinschaften sonst symbolisch herstellen: Klänge, Abzeichen, Auftrittsformen, Verhaltensregeln. Im Gegensatz zu einer Elite und ihrer sich abgrenzenden Hochkultur, trennt sich die Pop-Musik von der populären Kultur auf deren Terrain und mit deren Mitteln. Ihre Sezession teilt sie den andern mit, die sie nun wahlweise als zu alt, als faschistisch, zu deutsch, aber auch als zu schwach, zu weich und zu inkonsequent adressiert.« (Diederichsen 2014: XII)

Pop ist also ein Bestandteil des Populären, geht jedoch nicht in ihm auf. Im Gegenteil: Pop lehnt sich in diesem Verständnis gegen das Populäre auf und probt den Widerstand.

Pop und Widerstand

Zur Bestimmung von Pop als spezifisches Phänomen der Nachkriegszeit trugen maßgeblich die Arbeiten der Cultural Studies bei. Aus dieser Perspektive ist die Populäre Kultur, wie Kaspar Maase zusammenfasst, ein »semiotisches Kampffeld zwischen der Hegemonie des Machtblocks und Widerständen von ›the people‹« (Maase 2013: 26). Das Populäre wird hier zu einer kulturellen Sphäre, die ›agency‹ bereitstellt. Diese Perspektive wirkt dem insbesondere durch die Frankfurter Schule geprägten Manipulationsvorwurf gegen die Kulturindustrie entgegen. Die Frage lautet hier nicht: ›Was machen die Medien beziehungsweise die Produkte der Kulturindustrie mit den Menschen?‹, sondern andersherum: ›Was machen die Menschen mit den Medien und ihren Produkten?‹ Die Rezipient:innen populärer, kulturindustrieller Produkte, von Musik bis hin zu Fernsehserien, werden hier nicht als manipulierte Massen verstanden, sondern als »stille Produzenten« (De Certeau 1988: 13), die sich populäre Kultur und ihre Artefakte aneignen, sie eigensinnig deuten, neu kombinieren, möglicherweise in ironischer Weise lesen und damit auf aktive Weise ihr Leben ausstaffieren und mit Sinn versehen. Eine Zuspitzung erfährt diese These, wenn es um sub- oder gegenkulturelle Szenen1 geht. Eigensinn wird hier zum Widerstand, die »stille Produktion« zu einer lautstarken. Nicht nur die Frühwerke der Cultural Studies befassten sich mit den Jugendkulturen der ersten Nachkriegsjahrzehnte – mit Mods und Rockern, Hippies und Punks –, prägten dadurch Vorstellungen von Figuren der Popkultur mit und lieferten den Szenen eine kulturtheoretische Metaebene, die, wie ich noch zeigen werde, Einfluss auf das beforschte Feld genommen hat und bis heute nimmt. Pop ist hier assoziiert mit Avantgarde, Underground, Subkultur – bedeutet Rebellion, Widerstand, Subversion (vgl. Kleiner 2012: 14). Dieses Nicht-Einverstanden-Sein artikuliert sich ästhetisch als Stil, in Abgrenzung zur ›hochnäsigen Hochkultur‹ ebenso wie zum ›schlechten Geschmack‹ der Massen, des Populären, des Mainstreams.

Auch wenn spätestens seit den 1990er Jahren teilweise mit sehr überzeugenden Argumenten immer wieder ein Bedeutungsverlust dieser subkulturellen Felder konstatiert und die subversive Kraft von Pop kritisch diskutiert und häufig in Abrede gestellt wird (vgl. hierzu z.B. Büsser 1998: 6ff., Holert/Terkessidis 1996, Seeßlen 2018), bleiben sie zumindest auf ästhetischer Ebene wirksam. Diederichsen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Gegenkulturalisierung ohne Gegenkultur« (Diederichsen 2014: 390). Subkulturelle Formationen hätten als »soziale Ästhetik« Bestand, ihre soziale Rückbindung an (in der Regel) marginalisierte Gruppen, die »gegenkulturellen Stämme«, wäre jedoch weitgehend verloren gegangen. Gegenkulturen, die sich ja immer in Abgrenzung zu einer dominanten Kultur formieren, hätten, so seine Argumentation, in postmodern-pluralisierten Gesellschaften ihre soziale Entsprechung verloren und seien nur noch formal interessant. War also der britische Mod als stilisierter Arbeiteraristokrat im England der 1960er Jahre partout an die working class geknüpft, so bedeutet Mod-Sein heute ein Verstehen ästhetischer Codes (Musik, Kleidung, Geste usw.), ein Sich-Identifizieren mit und durch eine subkulturelle Figuration, mit der durchaus bestimmte Werte verbunden sein können, die aber losgelöst von einer sozialen Struktur funktionieren kann, die möglicherweise längst eine Verformung erfahren hat. Auch wenn also die Problematisierung von Begriff und Konzept der Subkultur einleuchtet und sich empirisch Belege finden lassen, bedeutet das nicht, dass subkulturelle Ästhetiken und damit verbundene (idealisierte) Werte für einzelne Personen und für Geschmacksgemeinschaften wie Musikszenen deshalb wirkungslos geworden wären. Im Gegenteil: An sie gebunden sind Begierden, Spaß, Ideen von einem besseren Leben. Diederichsen analysiert in diesem Zusammenhang kritisch zugespitzt:

»Damit die Menschheit noch eine Weile wissen kann, was ›Abhängen‹, Faulheit, Lässigkeit waren, kann man diese nicht in Personen und ihren Körpern aufbewahren, die Korrumpierungen und alltäglichem Druck ausgesetzt sind, man muss es ästhetisch aufbewahren.« (Diederichsen 2014: 390)

Stile, die an (historische) soziale Figurationen gebunden sind, behalten auf diese Weise – auch wenn sie aus einer vergangenen Zeit stammen – auch für viele Menschen in gegenwärtigen Konstellationen Identifikationskraft. Das zeigt sich schon daran, dass die idealtypische Unterscheidung zwischen ›Mainstream‹ und ›Underground‹ und die Zuordnung zu bestimmten Szenen innerhalb meines Feldes als Selbstzuschreibung wirksam bleibt und schon deshalb von hohem analytischen Wert ist.

Häufig werden subkulturelle Stile (Musik, Kleidung, Frisuren) in abgeschwächter Form ›vom Mainstream‹ einverleibt (vgl. z.B. Diederichsen/ Hebdige 1983). Pop befindet sich so in einem beständigen Spannungsfeld zwischen Subversion (Underground, Szene) und Affirmation (Pop als Unterhaltung, Konsum, Kommerz, Mainstream) (vgl. Kleiner 2012: 14). Die gegenkulturellen Ursprünge, die als Spuren auch im Mainstream-Pop (hier auch vornehmlich ästhetisch) erhalten bleiben, sind wesentlich für die Gestalt dieses kulturellen Feldes, das in der Wahrnehmung vieler Menschen seine Attraktivität dadurch gewinnt, dass es sich von der ›wahren‹ Welt, von den »Ordnungs- und Ausschlusssystemen der Dominanzkultur« (ebd.) unterscheidet, Raum für Spaß, Utopie und Zerstreuung eröffnet. Das materialisiert sich aus Sicht vieler Popfans in popkulturellen Artefakten, was Pop zu einem reizvollen Sammelfeld macht.

Pop in der Postmoderne

Analog zur Diversifizierung westlicher Gesellschaften ist Pop heute fragmentiert – in zahlreiche Genres, Szenen, Stile, in »blühende Nischen« (Büsser 2010). Seit den 1970er Jahren findet eine rasche Diversifizierung von Angeboten statt, die entsprechend der »Pluralisierung und distinktiven Abgrenzung von kleinteiligen Lebensstilen in den westlichen Gesellschaften zu sehen [ist]« (Maase 2013: 32), oder, so könnte man sich vorstellen, diese Lebensstile aktiv (mit)produziert (vgl. Frith 1999: 164). In Anlehnung an das Konzept der Postmoderne, das die Auflösung tradierter Strukturen und Ordnungen postuliert, spricht Jochen Bonz in diesem Zusammenhang von der »Popmoderne« (Bonz 2001: 10) und zieht für ihre Entstehung eine bildhafte Metapher heran. Die frühe Welt des Pop der 1950er und 1960er Jahre beschreibt er als eine Schaufensterscheibe, hinter der sich eine attraktive Auslage befindet. Im Angebot: Elvis, James Dean, The Beatles. Die Betrachter:innen können sich durch Spiegelungen in das Schaufenster hineinbegeben, im Schein ein Teil der Szenerie werden. Die einst homogene Auslage, die sich hinter der Scheibe befindet, vervielfältigt sich mit den Jahren. Die Scheibe zerbirst, die Sphäre des Pop zersplittert. »Es heißt aufpassen, dass man sich nicht noch verletzt.« (Bonz 2001: 9) Die Begierden haben sich mit den Bruchstücken vervielfältigt. Es sind nun die kleinteiligen Splitter, in denen sich Menschen spiegeln können, die sie selbst zusammentragen, aufheben, fallenlassen – Soul, Punk, Hip-Hop, Grunge, House, Mainstream, Underground. Bezüge sind gebrochen, Ordnungen gehen verloren und werden neu hergestellt. Zitat, Revival, Remix, Mash-Up sind Symptome auf künstlerischer Ebene; Auswählen, Kompilieren, Sich-Entscheiden, Sich-Verorten die auf Seiten der Rezipient:innen.

Nicht zuletzt durch die Vervielfältigung von Übertragungskanälen, die durch das Internet exponentiellen Charakter annimmt (Biografie einer Spice Girls-CD/Spotify), wird Pop als kulturelle Sphäre sowie der subjektive Zugriff auf Musik kleinteiliger, situativer und individueller. 1995 sangen Tocotronic: »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein.« Sie beklagten hier mit ironischem Unterton fehlende Kollektive, einen Mangel an Identifikation und Subversion, all das, was in der ›alten‹ Popwelt und den gegenkulturellen Szenen zumindest im romantischen Blick in den Rückspiegel vorhanden schien. 1996 lieferten Tom Holert und Mark Terkessides mit ihrem ebenso sloganhaft betitelten Sammelband »Mainstream der Minderheiten« das akademische Pendant hierzu. Wie Kaspar Maase erkennt, wird diese Formel besonders im digitalen Zeitalter auch analytisch hilfreich (vgl. Maase 2013: 32). Sie lässt sich nicht nur in ihrem ursprünglich implizierten Sinn verstehen – als eine Kritik am Mainstream und an Majors, die unermüdlich und unsensibel minoritäre Genres und Stile vereinnahmen und vermarkten –, sondern auch ganz wertfrei als empirische Tatsache: Der große, massenmedial produzierte konsensuale Mainstream erfährt im Digitalen eine Transformation. Er präsentiert sich zunehmend zerklüftet, zerfahren in zahlreiche Spuren.

Nicht nur Popfans werden hier zu Spurensuchern. Pop, der seit jeher selbstreferenziell ist, hat ein historisches Bewusstsein ausgebildet. Das ist einerseits keine überraschende Entwicklung – Pop ist ein Phänomen mit einer inzwischen etwa 70-jährigen Geschichte. Sowohl Musikjournalist:innen, Wissenschaftler:innen, Museumskurator:innen als auch allen voran Musikfans schreiben Popgeschichte(n). Andererseits widerspricht die Historisierung dem Anspruch von Pop, a priori ein Gegenwartsphänomen zu sein, das sich affektiv dem ›Hier und Jetzt‹ zuwendet – ein Wesenszug, der mit Praktiken wie Sammeln, Archivieren und Ordnen schwer vereinbar scheint (vgl. Holert 2015). Diese Widersprüchlichkeit bildet sich in Diskursen innerhalb des Feldes ab. Diese beziehen sich in den meisten Fällen auf institutionalisierte Formen des Sammelns, weniger auf das Sammeln als individuelle Alltagspraxis, wie sie im Fokus dieser Arbeit steht.

Anders als das Sammeln historischer Gemälde oder ethnografischer Artefakte ist das Sammeln von Popmusik bisher kaum institutionalisiert. Aus Sicht der bürgerlichen ›legitimen‹ kulturellen Elite galt Pop lange Zeit als minderwertig und anders als ›klassische‹, ›hochkulturelle‹ Werke nicht als sammel- und erforschungswürdig. Der Gegenwind, der den Vertreter:innen der Cultural Studies noch in den 1980er Jahren entgegenschlug – das Forschungsprogramm wurde als Mickey-Mouse-Wissenschaft diffamiert (vgl. Lindner 2000: 9) – zeugt von diesem Verhältnis der ›Eliten‹ zum ›Pop‹. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wird hier ein Wandel offensichtlich. Es häufen sich Ausstellungen zu popkulturellen Themen und Akteur:innen der Popkultur2 und große Sammlungen im Feld bedeutender Personen werden öffentlich zugänglich gemacht oder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.3 Popkulturelles Wissen ist längst auch in den sozialen Milieus relevant geworden, die noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus traditionell der Hochkultur zugewandt waren. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die Kurator:innen und Wissenschaftler:innen, die sich heute in verantwortungsvollen Positionen befinden, selbst popkulturell sozialisiert sind und dieser kulturellen Sphäre deutlich größere ästhetische und gesellschaftliche Relevanz zusprechen als Vorgängergenerationen. Doch um diese Entwicklung hat sich längst ein kritischer Diskurs entwickelt, in dem die Frage verhandelt wird, ob Pop überhaupt ins Museum gehört (vgl. beispielsweise Reynolds 2013, Spilker 2014, Holert 2015). Auf dem Spiel steht aus Sicht der Kritiker:innen die Deutungshoheit über Pop-Geschichte(n) und Ereignisse, einhergehend mit einem Gefühl einer Entmachtung des Feldes und einer unberechtigten Aneignung von etwas Lebendigem durch ›bürokratische Kurator:innen‹ und ihre ›staubigen Museen‹. »Bei Pop geht es um den Kick des Augenblicks; er lässt sich nicht in eine ständige Ausstellung zwängen«, schreibt der Musikjournalist Simon Reynolds (Reynolds 2013: 43). Die Kritik, die sich hier Bahn bricht, hat der Ethnologe James Clifford bereits in Bezug auf ethnologische Museen formuliert. Sie besteht vornehmlich darin, dass die Sammelgegenstände aus ihrem kulturellen und historischen Kontext herausgelöst und zu einem ›steht für‹ gemacht würden. Sie stellten also die Illusion her, es handle sich um die adäquate Repräsentation der Welt, aus der sie entnommen wurden (vgl. Clifford 1988: 220).

Abgesehen von einigen Ausnahmen4 beschränkt sich dieser Diskurs um die Widersprüchlichkeit zwischen der Praxis des Sammelns und dem Gegenwartsversprechen von Pop auf diese institutionalisierten Formen des Sammelns. Im Kern bleibt das Bewahren von Popkultur eine Grass-Roots-Angelegenheit. Es sind die Sammlungen meiner Interviewpartner:innen, in denen Popgeschichte archiviert ist; und zwar immer in Verbindung mit deren individuellen Geschichten und Erinnerungen. Ein kulturelles Archiv anzufertigen und sich selbst darin zu verorten, beschreibt der Kulturwissenschaftler Gerrit Herlyn als ein zentrales popkulturelles Motiv (vgl. Herlyn: 2017: 18). Das Selbstbezügliche, das Einbringen eigener Erfahrungen, Zeugenschaft und Authentizität sind dabei wesentliche Bestandteile. Pop bleibt in diesen Zusammenhängen sehr wohl lebendig oder, folgt man der eingangs dargelegten Pop-Musik-Definition von Diedrich Diederichsen, erwacht so erst zum Leben.

Popmoderne Subjekte

Das skizzierte kulturelle Feld nimmt immer erst aus den Augen einzelner Menschen konkrete Formen an, bekommt mehr oder weniger Gewicht, kleinere oder größere Bedeutung. »Während Pop heute für viele nur eine weitere Facette ihres Lebens darstellt, ist Pop für die anderen der zentrale Anhaltspunkt«, schreibt Jochen Bonz (2001: 10). Für die einen bleibt Pop eine Sphäre, die betreten werden kann, in die man bisweilen hineingezogen wird, die aber immer wieder verlassen wird. Pop ist ein Aspekt von Welt neben anderen. In Formen der stärkeren Identifikation, in musikbasierten Szenen etwa, stellt Pop für manche Personen nicht eine Sphäre in der Welt dar, sondern die Welt als solche. Musik wird für sie weltschaffend.

»Es geht dabei um den Individuen durchdringenden Eindruck von Wirklichkeit, wie er sich erst einstellt, wenn man in einer Kultur identifiziert ist. Demnach ist der Begriff von der starken Identifikation mit Pop synonym zur Annahme eines popkulturellen Rahmens oder Mediums, in dem sich Geschmacksurteile formieren lassen, Ansichten und Überzeugungen finden, Wünsche und Lebensentwürfe Gestalt annehmen.« (Ebd.: 12)

Postmoderne Identitätskonzepte gehen davon aus, dass Subjekte keine stabilen, autonomen Einheiten sind, die unabhängig von sozialen und kulturellen Kontexten gedacht werden können. Sie sind »schwankende Gestalten« (Reckwitz 2012: 20), die erst im Prozess der Subjektivierung zu solchen (gemacht) werden. Folgt man dieser Vorstellung, obliegt die Arbeit am Selbst in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften dem Einzelnen,

»der sich aus den institutionell vorgegebenen Bausätzen biografischer Kombinationsmöglichkeiten sowie aus sozial verfügbaren Lebensstilen und Identitätsangeboten – vorwiegend vermittelt über Mode, Medien und Populärkultur – seine eigene ›Wahlbiografie‹ und sein ganz persönliches ›Existenzdesign‹ zusammenstellt« (Eickelpasch/Rademacher 2004: 7).

Reckwitz unterscheidet in diesem Zusammenhang weiter zwischen ›Subjekt‹ und ›Identität‹:

»Wenn mit dem Subjekt die gesamte kulturelle Form gemeint ist, in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird, dann bezeichnet die ›Identität‹ einen spezifischen Aspekt dieser Subjektform: die Art und Weise, in der in diese kulturelle Form ein bestimmtes Selbstverstehen, eine Selbstinterpretation eingebaut ist […]. Die Identität des Subjekts ist damit gleichbedeutend mit dem, was häufig auch das ›Selbst‹ (›self‹) genannt wird.« (Reckwitz 2012: 17)

Es geht Reckwitz also um zwei stark in Beziehung stehende Ebenen, die jeweils auf einer anderen ›Flughöhe‹ ansetzen: das ›Subjekt‹ als Gesamtheit und das ›Selbst‹, das die jeweilige Selbstwahrnehmung und -interpretation dieses Subjekt-Seins einschließt. Popmusik, Tonträger, Konzerte, Streamingprogramme, Abspielgeräte, Genres, Szenen, Stars usw. sind als Entitäten vom Einzelnen in der Regel unhinterfragt. Sie konstituieren das ›So-Sein‹ der Welt ebenso mit wie sozial und kulturell kodierte Praktiken wie Musikhören und Musiksammeln. Die medientechnischen Artefakte wirken

»durch die Praktiken ihrer Verwendung oder der stillschweigenden Inanspruchnahme hindurch subjektivierend. Sie verhelfen bestimmten Subjektformen, ihrer Form der sinnlichen Wahrnehmung – ihrer Visualität, Auditivität, Taktilität –, ihrer Art und Weise der Körperbewegung und ihrer körperlichen Gestalt, ihren Vorstellungen von räumlicher und zeitlicher Situiertheit etc. zur Existenz.« (Ebd.: 119)

Innerhalb dieses Rahmens eröffnen sich Spielräume, in denen Personen sich in verschiedener Hinsicht ›identifizieren‹ können. Dabei ist auch Identität nichts Feststehendes, Gegebenes, Unveränderbares, sondern etwas Bewegliches, »ein Prozess, keine Sache, ein Werden, kein Sein« (Frith 1999: 151).