Practical Magic. Zauberhafte Schwestern - Alice Hoffman - E-Book
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Practical Magic. Zauberhafte Schwestern E-Book

Alice Hoffman

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Beschreibung

Entdecke die Magie des Alltags: "Practical Magic – Zauberhafte Schwestern" ist der zweite Band der "New York Times"- Bestsellerserie um die Owens-Familie.  Seit mehr als zweihundert Jahren macht man die Frauen der Owens-Familie für jedes Übel verantwortlich, das in der kleinen Ostküsten-Gemeinde in Massachusetts geschieht. Kein Wunder, man hält sie für Hexen. Und auch Gilian und Sally bleibt dieses Schicksal nicht erspart. Als Kinder Außenseiter und skeptisch beäugt, als junge Frauen gleichermaßen begehrt wie gefürchtet, bietet jeder Tag eine neue Herausforderung. Doch für die größte sind sie ganz allein verantwortlich: Denn als sich die beiden Schwestern voneinander entfremden, braucht es mehr als ein bisschen Magie, um sie wieder zusammenzubringen. Für die Leserinnen von Deborah Harkness, Matt Haig, Cassandra Clare und Diana Gabaldon sowie die Fans der Kult-Serien »Charmed« oder »Sabrina«

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Alice Hoffman

Practical Magic. Zauberhafte Schwestern

Roman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Entdecke die Magie des Alltags: „Practical Magic – Zauberhafte Schwestern“ ist der zweite Band der „New York Times“- Bestsellerserie um die Owens-Familie.

 

Seit mehr als zweihundert Jahren macht man die Frauen der Owens-Familie für jedes Übel verantwortlich, das in der kleinen Ostküsten-Gemeinde in Massachusetts geschieht. Kein Wunder, man hält sie für Hexen. Und auch Gilian und Sally bleibt dieses Schicksal nicht erspart. Als Kinder Außenseiter und skeptisch beäugt, als junge Frauen gleichermaßen begehrt wie gefürchtet, bietet jeder Tag eine neue Herausforderung. Doch für die größte sind sie ganz allein verantwortlich: Denn als sich die beiden Schwestern voneinander entfremden, braucht es mehr als ein bisschen Magie, um sie wieder zusammenzubringen.

 

Für die Leserinnen von Deborah Harkness, Matt Haig, Cassandra Clare und Diana Gabaldon sowie die Fans der Kult-Serien »Charmed« oder »Sabrina«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf

www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Alice Hoffman wurde 1952 in New York geboren und lebt heute in Boston. Ihre Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit »The Rules of Magic« und »Practical Magic« schrieb sie eine zauberhafte Familiengeschichte, die gerade zum zweiten Mal verfilmt wird.

Für Libby Hodges

Für Carol DeKnight

Gegen die meisten Übel auf Erden

Kann ein Mittel gefunden werden.

Gibt es Heilung, suche, bis sie gefunden ist.

Gibt es keine, dann nimm es, wie es ist.

Mother Goose

Teil einsAberglaube

Seit über zweihundert Jahren wurden die Owens-Frauen für alles Schlechte verantwortlich gemacht, das in der Stadt geschah. Wenn es einen feuchten Frühling gab, wenn bei den Kühen auf der Weide Blut in der Milch war, wenn ein Fohlen an einer Kolik starb oder ein Baby mit einem roten Muttermal auf der Wange zur Welt kam – stets glaubte jeder, diese Frauen in der Magnolia Street müssten zumindest ein wenig am Schicksal gedreht haben. Es war ganz gleich, welches Unglück eintrat – ob der Blitz einschlug, Heuschrecken kamen oder jemand ertrank. Es spielte auch keine Rolle, ob sich die Situation durch Logik, Wissenschaft oder schlichtes Pech erklären ließ. Beim kleinsten Anzeichen von Problemen oder einem Hauch von Unbill zeigten die Leute mit dem Finger auf die Owens und gaben ihnen die Schuld. Bald hatten sie sich eingeredet, im Dunkeln sei es in der Nähe des Owens-Hauses gefährlich, und nur besonders dumme Nachbarn wagten es, über den schwarzen schmiedeeisernen Zaun zu spähen, der den Garten wie eine Schlange umgab.

Im Haus gab es weder Uhren noch Spiegel, aber drei Schlösser an jeder Tür. Unter den Dielen und in den Wänden lebten Mäuse, oft fand man sie auch in den Kommoden, wo sie an bestickten Tischtüchern und den Spitzenrändern von leinenen Platzsets knabberten. Fünfzehn verschiedene Holzsorten waren für die Fenstersitzbänke und Kaminumfassungen verarbeitet worden, darunter Goldeiche, Silberesche und besonderes Kirschholz, das nach reifen Früchten duftete, selbst mitten im Winter, wenn die Bäume draußen kahl und schwarz waren. Wie staubig es auch sonst im Haus sein mochte, das Holz musste nie poliert werden. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man in der Vertäfelung im Esszimmer oder in dem Geländer, an dem man sich auf dem Weg die Treppe hinauf festhielt, sein Spiegelbild sehen. In den Zimmern war es dunkel, selbst mittags, und im heißesten Juli noch kühl. Wer sich auf die Veranda wagte, wo der Efeu üppig rankte, hätte stundenlang versuchen können, durch die Fenster zu spähen, er hätte nichts erkannt. Beim Blick nach draußen war es genauso, die grünlichen Fensterscheiben waren so alt und so dick, dass alles auf der anderen Seite wie ein Traum erschien, auch der Himmel und die Bäume.

Oben auf dem Dachboden wohnten zwei kleine Mädchen, Schwestern, von denen eine nur dreizehn Monate älter war als die andere. Sie wurden nie vor Mitternacht ins Bett geschickt oder daran erinnert, dass sie sich die Zähne putzen sollten. Es störte niemanden, wenn sie zerknitterte Kleider trugen oder auf die Straße spuckten. Und während die kleinen Mädchen aufwuchsen, durften sie ihre Schuhe im Bett anbehalten und in ihrem Zimmer mit schwarzen Stiften lustige Gesichter an die Wände malen. Sie durften zum Frühstück Dr Pepper trinken, wenn ihnen der Sinn danach stand, oder zum Abendessen Marshmallowkuchen essen. Sie durften aufs Schieferdach klettern, sich auf den First setzen und ganz weit zurücklehnen, um den ersten Stern zu erspähen. Dort oben verbrachten sie windige Märznächte und schwüle Augustabende, tuschelten miteinander und diskutierten darüber, ob wenigstens ganz kleine Wünsche einmal wahr werden konnten.

Die Mädchen wurden von ihren Tanten großgezogen, die ihre Nichten nicht fortschicken konnten, auch wenn sie es vielleicht gewollt hätten. Immerhin waren die Kinder Waisen, deren leichtsinnige, verliebte Eltern sie mit einer Babysitterin zu Hause gelassen hatten, um ihre zweiten Flitterwochen zu genießen, und nicht bemerkt hatten, dass in ihren Bungalow nach einem Blitzschlag Rauch gedrungen war. Kein Wunder, dass die Schwestern bei Gewittern immer zusammen in einem Bett schliefen; beide hatten furchtbare Angst vor dem Donner und brachten nicht mehr als ein Flüstern heraus, wenn der Himmel grollte. Wenn sie dann eng umschlungen irgendwann einschliefen, hatten sie oft denselben Traum. Manchmal konnten sie die Sätze der anderen beenden, und wenn sie die Augen schlossen, errieten sie mühelos, welchen Nachtisch sich die Schwester am meisten wünschte.

So nah sich die beiden standen, so unterschiedlich waren sie in ihrem Aussehen und Temperament. Abgesehen von den schönen grauen Augen der Owens-Frauen ließ nichts darauf schließen, dass die Mädchen miteinander verwandt waren. Gillian war blond, während Sallys Haare so schwarz waren wie das Fell der ungezogenen Katzen, denen die Tanten erlaubten, durch den Garten zu schleichen und ihre Krallen an den Vorhängen im Wohnzimmer zu wetzen. Gillian war faul und verschlief gern den ganzen Vormittag. Sie sparte ihr Taschengeld und bezahlte dann Sally dafür, Gillians Mathehausaufgaben zu machen und ihre Partykleider zu bügeln. Sie trank flaschenweise den Schokodrink Yoohoo und aß klebrige Hershey-Schokoriegel, während sie auf dem kühlen Kellerboden lag und Sally dabei zusah, wie sie die Metallregale abstaubte, in denen ihre Tanten Eingelegtes und Marmeladen aufbewahrten. Doch nichts tat Gillian lieber, als auf den Samtkissen der Fenstersitzbank oben auf dem Treppenabsatz zu liegen, wo in einer Ecke neben den Damastvorhängen ein Porträt von Maria Owens, die das Haus vor langer Zeit gebaut hatte, Staub ansetzte. Dort konnte man sie an Sommernachmittagen finden, so entspannt und träge, dass Motten auf ihr landeten, weil sie Gillian für ein Kissen hielten.

Sally war dreihundertsiebenundneunzig Tage älter als ihre Schwester und so gewissenhaft, wie Gillian müßig war. Sie glaubte nichts, was sich nicht mit Zahlen und Fakten belegen ließ. Wenn Gillian auf eine Sternschnuppe deutete, erinnerte Sally sie daran, dass dort nur ein alter Gesteinsbrocken Richtung Erde fiel und beim Sturz durch die Atmosphäre heiß wurde. Sally hatte schon immer gern den Stier bei den Hörnern gepackt; sie konnte ungeregelte Verhältnisse und Unordnung nicht leiden, dabei war das alte Haus ihrer Tanten in der Magnolia Street vom Dachboden bis zum Keller voll davon.

Als sie die dritte und Gillian die zweite Klasse besuchte, schmuggelte Sally das Kochbuch Joy of Cooking ins Haus und fing an, nach Rezepten daraus gesunde Mahlzeiten zuzubereiten, Gerichte wie Hackbraten, frische grüne Bohnen und Gerstensuppe. Jeden Morgen füllte sie Gillians und ihre Brotdosen mit Vollkornsandwiches mit Truthahn und Tomate, Möhrenstiften und Haferkeksen mit Zuckerguss. All das warf Gillian sofort in den Müll, wenn Sally sie in ihrem Klassenzimmer abgeliefert hatte, weil sie lieber die Burger mit Hackfleischsauce und die Brownies aß, die in der Cafeteria verkauft wurden, und sie oft genug das Kleingeld aus den Manteltaschen ihrer Tanten mopste, um sich holen zu können, was sie wollte.

Tag und Nacht, so nannten die Tanten sie, und obwohl die Mädchen über den kleinen Scherz nicht lachten und ihn kein bisschen witzig fanden, erkannten sie doch seinen wahren Kern. Sie verstanden früher als die meisten Schwestern, dass der Mond immer auf die Hitze des Tages neidisch ist, während sich die Sonne nach etwas Dunklem, Verborgenem sehnt. Sie bewahrten die Geheimnisse der anderen; mit der Hand auf dem Herzen schworen sie, die andere nie zu verraten, nicht einmal, wenn es um harmlose Dinge ging. Wenn etwa eine der Schwestern eine Katze am Schwanz gezogen oder aus dem Garten der Tanten Fingerhut gestohlen hatte.

Vielleicht hätten sich die Mädchen wegen ihrer Unterschiede früher oder später in die Haare bekommen, vielleicht wären sie gemein geworden und hätten sich auseinandergelebt, wenn sie Freunde gefunden hätten, aber sie wurden von den anderen Kindern in der Stadt gemieden. Niemand traute sich, mit den Schwestern zu spielen, und die meisten Mädchen und Jungen kreuzten die Finger, wenn Sally und Gillian in ihre Nähe kamen, als könnte sie das schützen. Ein paar besonders mutige und abenteuerlustige Jungen folgten den Schwestern auf dem Weg zur Schule, gerade im richtigen Abstand, damit sie im Notfall weglaufen konnten. Diese Jungen warfen gern Winteräpfel oder Steine nach den Mädchen, aber selbst die besten Sportler, die Stars ihrer Baseballmannschaften, landeten bei den Owens-Mädchen keinen einzigen Treffer. Jeder Stein und jeder Apfel fiel vor den Füßen der Schwestern zu Boden.

Für Sally und Gillian reihte sich im Alltag eine kleine Demütigung an die andere: Kein Kind fasste einen Bleistift oder Buntstift an, den kurz zuvor ein Owens-Mädchen berührt hatte. In der Cafeteria oder bei Schulversammlungen setzte sich niemand neben sie, und wenn die anderen Mädchen den Waschraum betraten, um die Toilette zu benutzen, zu tratschen oder sich die Haare zu kämmen, und dabei unerwartet auf eine der Schwestern stießen, kreischten manche von ihnen sogar laut auf. Wenn im Sportunterricht Mannschaften aufgestellt wurden, wählte niemand Sally oder Gillian, obwohl Gillian schneller lief als alle anderen in der Stadt und einen Baseball übers Dach der Schule bis zur Endicott Street schlagen konnte. Sie wurden nie zu Partys oder Treffen der Pfadfinderinnen eingeladen, und niemand fragte, ob sie Himmel und Hölle spielen oder auf einen Baum klettern wollten.

»Die können uns alle mal«, sagte Gillian und reckte ihr hübsches Näschen hoch in die Luft, wenn sie auf dem Weg zum Musik- oder Kunstunterricht an Jungen vorbeikamen, die unheimliche Koboldgeräusche von sich gaben. »Die sollen Dreck fressen. Warte ab. Irgendwann betteln sie uns an, dass wir sie nach Hause einladen, und dann lachen wir sie nur aus.«

Wenn Gillian besonders gemein aufgelegt war, drehte sie sich manchmal abrupt um und rief: »Buh«, und dann pinkelte sich immer einer der Jungen in die Hose und war viel tiefer gedemütigt als Gillian. Sally dagegen brachte solche kleinen Racheaktionen nicht über sich. Um möglichst unauffällig zu sein, trug sie dunkle Kleidung. Sie verbarg, wie klug sie war, und meldete sich im Unterricht nie. Sie verstellte sich so erfolgreich, dass sie nach einer Weile selbst an ihren Fähigkeiten zweifelte. Zu dieser Zeit war sie schon so leise wie eine Maus geworden. Machte sie in der Klasse doch mal den Mund auf, gab sie mit Piepsstimme falsche Antworten; irgendwann saß sie nur noch hinten und sagte kein Wort mehr.

Trotzdem ließ man sie nicht in Ruhe. Als Sally in der vierten Klasse war, stellte jemand eine offene Ameisenfarm in ihren Spind, und sie fand wochenlang zerquetschte Ameisen zwischen ihren Buchseiten. In der fünften Klasse legten ein paar Jungs ihr eine tote Maus aufs Pult. Ein besonders unsensibles Kind hatte der Maus ein Namensschild auf den Rücken geklebt. Darauf stand in krakeliger Schrift Sali, aber dieser Fehler verschaffte Sally kein bisschen Genugtuung. Der kleine gekrümmte Körper mit seinen winzigen Schnurrhaaren und perfekten Pfoten rührte Sally zu Tränen, doch als ihre Lehrerin fragte, was passiert sei, zuckte sie nur mit den Schultern, als könnte sie nicht mehr sprechen.

An einem herrlichen Apriltag, als Sally die sechste Klasse besuchte, folgten ihr sämtliche Katzen ihrer Tanten zur Schule. Danach wollten nicht einmal die Lehrer ihr allein auf dem Flur begegnen und suchten nach Ausreden, um plötzlich kehrtzumachen, wenn sie ihnen entgegenkam. Bevor sie davonhasteten, warfen sie Sally ein seltsames Lächeln zu, vielleicht nur aus Angst. So reagieren manche Menschen auf schwarze Katzen, sie werden ganz zittrig und verschreckt und müssen an dunkle, gefährliche Nächte denken. Dabei waren die Katzen der Tanten nicht einmal besonders furchterregend. Sie waren verwöhnt, schliefen gern auf den Sofas und waren allesamt nach Vögeln benannt, neben Cardinal gab es Crow, Raven und Goose. Ein unbeholfenes Kätzchen hieß Dove und ein übellauniger Kater Magpie, er fauchte die anderen oft an und hielt sie in Schach. Es war schwer vorstellbar, dass ein so harmloser Haufen einen Plan ausgeheckt haben sollte, um Sally in eine peinliche Situation zu bringen, aber genau danach sah es aus. Allerdings war es gut möglich, dass ihr die Katzen nur folgten, weil sie für die Mittagspause ein Thunfischsandwich eingepackt hatte. Sie war allein, Gillian lag mit einer vorgetäuschten Halsentzündung zu Hause im Bett und würde dort fast eine Woche bleiben, Zeitschriften lesen und Schokoriegel verputzen, ohne darauf zu achten, ob die Laken Flecken bekamen, denn es kümmerte sich ja sowieso Sally um die Wäsche.

An diesem Morgen bemerkte Sally die Katzen, die ihr folgten, erst an ihrem Pult. Ein paar Mitschüler lachten, aber drei Mädchen waren auf die Heizung geklettert und kreischten. Man hätte denken können, eine Bande Dämonen wäre hereingekommen, aber es waren nur die flohverseuchten Vierbeiner, die Sally zur Schule nachgelaufen waren. Schwarz wie die Nacht stolzierten sie an den Stühlen und Pulten vorbei und schrien wie irische Todesfeen. Sally wollte sie verscheuchen, aber die Katzen kamen ungerührt immer näher. Sie liefen vor ihr hin und her, reckten die Schwänze in die Luft und miauten so schaurig, dass Milch sauer geworden wäre.

»Hau ab«, flüsterte Sally, als Magpie auf ihren Schoß sprang und seine Krallen in ihr schönstes blaues Kleid drückte. »Verschwinde«, flehte sie ihn an.

Miss Mullins kam herein, schlug mit ihrem Lineal aufs Lehrerpult und legte Sally mit gestrenger Stimme nahe, sie solle die Katzen aus dem Zimmer schaffen – tout de suite –, sonst müsse sie nachsitzen, aber selbst jetzt weigerten sich die aufsässigen Biester zu gehen. Panik griff um sich, und Sallys leichter erregbare Mitschüler tuschelten schon etwas von Hexerei. Immerhin wurden Hexen oft von Vertrauten begleitet, von Tieren, die ihre finstersten Wünsche erfüllten. Je mehr Vertraute, desto finsterer der Wunsch, und hier war eine ganze Herde abstoßender Wesen. Mehrere Kinder fielen in Ohnmacht, manche hatten ihr Leben lang Angst vor Katzen. Jemand holte den Sportlehrer, der mit einem Besen herumwedelte, aber auch davon ließen sich die Katzen nicht vertreiben.

Hinten im Klassenzimmer nutzte ein Junge, der gerade an diesem Morgen seinem Vater eine Schachtel Streichhölzer gestohlen hatte, das Chaos aus und steckte Magpies Schwanz in Brand. Der Gestank von brennendem Fell erfüllt den Raum, noch bevor Magpie zu kreischen begann. Sally rannte zu dem Kater, kniete sich hin und erstickte die Flamme, ohne zu zögern, mit ihrem blauen Lieblingskleid.

»Ich hoffe, dass dir was ganz Schlimmes passiert«, schrie sie den Jungen an, der Magpie angezündet hatte. Sie stand auf, den Kater wie ein Baby auf den Armen, Gesicht und Kleid rußverschmiert. »Dann siehst du, wie das ist«, sagte sie zu dem Jungen. »Dann weißt du, wie sich das anfühlt.«

In diesem Moment trampelten die Kinder im Klassenzimmer über ihnen auf den Boden – aus Freude, weil sie gerade erfahren hatten, dass die Bulldogge ihrer Englischlehrerin ihren Rechtschreibtest gefressen hatte –, und eine Schalldämmplatte fiel dem garstigen Jungen auf den Kopf. Kreidebleich unter seinen Sommersprossen sackte er zu Boden.

»Das hat sie gemacht!«, riefen einige Kinder, während die anderen den Mund weit und die Augen noch weiter aufrissen.

Sally lief mit Magpie auf dem Arm hinaus, und die restlichen Katzen folgten ihr. Die Tiere strichen ihr auf dem ganzen Heimweg über die Endicott und die Peabody Street um die Füße, folgten ihr ins Haus und die Treppe hinauf, und als sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, kratzten die Katzen bis zum Abend an ihrer Tür.

Sally weinte zwei Stunden lang ohne Unterbrechung. Sie liebte die Katzen, das war das Problem. Sie stellte ihnen heimlich Milchschälchen nach draußen und trug sie in einer Stricktasche zum Tierarzt in der Endicott Street, wenn sie sich bei ihren Raufereien verletzten und die Wunden sich infizierten. Sie hatte einen Narren an diesen scheußlichen Katzen gefressen, vor allem an Magpie, aber als sie in ihrem Klassenzimmer gesessen und sich in Grund und Boden geschämt hatte, hätte sie mit Freuden zugesehen, wenn jemand sie alle in einem Eimer mit eiskaltem Wasser ertränkt oder mit einem Luftgewehr erschossen hätte. Sobald sie sich gesammelt hatte, versorgte sie Magpie, sie reinigte seinen Schwanz und verband ihn mit Mull, aber sie wusste, dass sie ihn in ihrem Herzen verraten hatte. Von diesem Tag an hielt Sally nicht mehr viel von sich. Sie bat ihre Tante nicht mehr um besondere Gefallen und verlangte auch nicht die kleinen Belohnungen, die ihr zustanden. Sally richtete über sich so unnachgiebig und kompromisslos, wie niemand anders es getan hätte; sie hatte nicht genug Mitgefühl und innere Stärke bewiesen, und als Strafe versagte sie sich von diesem Moment an die Erfüllung ihrer Wünsche.

Nach dem Zwischenfall mit den Katzen wurden Sally und Gillian eher gefürchtet als ignoriert. Die anderen Mädchen in der Schule zogen sie nicht mehr auf, sondern suchten schnell das Weite, wenn die Owens-Schwestern vorbeigingen, und hielten immer den Blick gesenkt. Zettelchen mit Gerüchten über Hexerei wurden von Pult zu Pult weitergereicht, auf den Fluren und Toiletten raunte man Anschuldigungen. Die Kinder, die selbst schwarze Katzen hatten, bettelten ihre Eltern um ein anderes Haustier an, einen Collie, ein Meerschweinchen oder sogar einen Goldfisch. Wenn die Footballmannschaft verlor oder im Kunstraum ein Brennofen explodierte, sah jeder die Owens-Mädchen an. Nicht einmal die größten Rüpel trauten sich, sie in der Pause beim Völkerball abzuwerfen oder sie mit Papierkügelchen zu beschießen, und niemand warf noch Äpfel oder Steine nach ihnen. Bei Pyjamapartys und Pfadfinderinnentreffen schworen manche Mädchen, Sally und Gillian könnten andere durch Hypnose in Trance versetzen und dazu bringen, wie ein Hund zu bellen oder von einer Klippe zu springen, wenn sie es wollten. Mit einem Wort oder einem Nicken könnten die Schwestern jemanden verzaubern. Und wenn sie richtig böse würden, müssten sie nur die Neunerreihe rückwärts aufsagen, dann wäre es um einen geschehen. Dem Opfer würden die Augen im Kopf schmelzen. Fleisch und Knochen würden zu Pudding werden. Am nächsten Tag würden sie das Opfer in der Schulcafeteria servieren, und niemand würde etwas mitbekommen.

Doch so eifrig die Kinder diese Gerüchte auch verbreiteten, in Wahrheit hatten die Mütter der meisten wenigstens einmal im Leben die Tanten aufgesucht. Hin und wieder tauchte jemand bei ihnen auf, der Tee mit Chili gegen einen empfindlichen Magen oder ein Seidenpflanzenextrakt für die Nerven wollte, aber jede Frau in der Stadt wusste, warum man wirklich zu den Tanten ging: Ihre Spezialität war die Liebe. Die Tanten wurden nicht zu Mitbringbüfetts oder Benefizveranstaltungen für die Bücherei eingeladen, aber wenn eine Frau mit ihrem Liebsten im Streit lag, wenn sie von einem anderen als ihrem Ehemann schwanger war oder entdeckte, dass sich der Mann, den sie geheiratet hatte, durch alle Betten schlief, dann kam sie zum Haus der Owens. Kurz nach Einbruch der Dämmerung klopfte sie an die Hintertür, zu der Zeit, in der die Schatten die Gesichtszüge verbargen, damit niemand erkannte, wer unter dem Blauregen stand, einer verschlungenen Rankpflanze, die älter war als sämtliche Einwohner der Stadt.

Es war egal, ob es eine Grundschullehrerin war, die Ehefrau des Pastors oder vielleicht die langjährige Freundin des Kieferorthopäden in der Peabody Street. Es war auch egal, dass die Leute schworen, schwarze Vögel würden vom Himmel herabstoßen und jedem die Augen auspicken, der sich dem Haus der Owens von Osten her näherte. Begierde konnte Menschen erstaunlich mutig machen. So wie die Tanten es sahen, konnte das Verlangen erwachsene, vernünftige Frauen hinterrücks überfallen und sie so töricht machen wie einen Floh, der ständig denselben alten Hund jagt. Hatte eine Frau sich einmal entschieden, an die Hintertür des Owens-Hauses zu klopfen, trank sie auch bereitwillig Tee aus Frauenminze mit Zutaten, über die man nicht laut sprechen durfte und die zuverlässig noch in derselben Nacht Blutungen auslösten. Sie hatte schon beschlossen, dass sie sich von einer der Tanten mit einer Silbernadel in den linken Ringfinger stechen lassen würde, wenn ihr das den Liebsten noch einmal zurückbrachte.

Die Tanten schnalzten mit der Zunge, wenn eine Frau über den Natursteinweg aufs Haus zukam. Verzweiflung erkannten sie aus einem Kilometer Entfernung. War eine Frau Hals über Kopf verliebt und wollte dafür sorgen, dass das Objekt ihrer Begierde zu ihr zurückkehrte, gab sie dafür gern eine Kamee her, die seit Generationen ihrer Familie gehörte. War eine Frau betrogen worden, zahlte sie noch mehr. Aber am schlimmsten waren die Frauen, die den Mann einer anderen wollten. Sie waren für die Liebe zu allem bereit. Ihr Verlangen verdrehte ihnen den Kopf, bis sie nicht mehr wussten, wo oben und unten war, und sie scherten sich nicht um Anstand und Sitte. Wenn die Tanten eine dieser Frauen auf dem Steinweg entdeckten, schickten sie die Mädchen sofort auf den Dachboden, sogar im Dezember, wenn schon vor halb fünf die Dämmerung einsetzte.

An diesen schummrigen Abenden protestierten die Schwestern nie, es sei zu früh oder sie seien noch nicht müde. Sie gingen Hand in Hand auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Auf dem Treppenabsatz, auf dem das verstaubte alte Porträt von Maria Owens hing, riefen sie »gute Nacht« nach unten, verschwanden in ihrem Zimmer und zogen sich ihre Nachthemden über, dann gingen sie leise zur Hintertreppe, um nach unten zu schleichen, die Ohren gegen die Küchentür zu drücken und jedem Wort zu lauschen. Wenn es abends besonders dunkel war und Gillian sich noch mutiger als sonst fühlte, schob sie die Tür mit dem Fuß einen Spaltbreit auf, und Sally traute sich nicht, sie wieder zu schließen, weil die Tür hätte knarren und sie verraten können.

»Das ist so albern«, flüsterte Sally oft. »Totaler Unsinn.«

»Dann geh doch ins Bett«, raunte Gillian zurück. »Na los.« Dabei wusste sie, dass Sally auf keinen Fall verpassen wollte, was als Nächstes geschah.

Von ihrem Beobachtungsposten an der Hintertreppe sahen die Mädchen den alten schwarzen Herd, den Tisch und den geknüpften Teppich, auf dem die Kundinnen der Tanten oft hin und her liefen. Sie sahen mit eigenen Augen, wie sehr die Liebe einen Menschen von Kopf bis Fuß im Griff haben konnte, ganz zu schweigen von allen Körperteilen dazwischen.

Deshalb wussten Sally und Gillian Dinge, von denen die meisten ihrer Altersgenossen nichts ahnten: Eine Frau war immer gut beraten, wenn sie die abgeschnittenen Fingernägel ihres Liebsten aufhob, sie waren einmal Teil seines Körpers gewesen und konnten nützlich sein, falls er irgendwann fremdgehen sollte; die Sehnsucht nach einem Mann konnte einer Frau so zusetzen, dass sie sich in die Küchenspüle übergab oder bitterlich weinte, bis ihre Augen blutunterlaufen waren.

An Abenden, an denen der Mond rötlich in den Himmel stieg und in der Küche wieder eine Frau saß und weinte, schworen Sally und Gillian feierlich, sie würden sich nie von ihren Gefühlen beherrschen lassen.

»Igitt«, flüsterten die Mädchen einander zu, wenn eine Kundin ihrer Tanten in Tränen ausbrach oder ihre Bluse hochzog, um zu zeigen, dass sie sich den Namen ihres Liebsten mit einer Rasierklinge in die Haut geritzt hatte.

»Wir nicht«, gelobten die Schwestern noch entschlossener.

In dem Winter, in dem Sally zwölf war und Gillian fast elf, erfuhren sie, dass es in Liebesdingen nichts Gefährlicheres gab, als seinen Herzenswunsch erfüllt zu bekommen. In diesem Winter kam eine junge Frau, die in der Apotheke arbeitete, zu den Tanten. In den letzten Tagen war es extrem kalt geworden. Der alte Ford Kombi der Tanten wollte morgens nicht anspringen und gab nur ein Stottern von sich, und die Reifen waren am Betonboden der Garage festgefroren. Die Mäuse wagten sich nicht aus den warmen Schlafzimmerwänden hervor, die Schwäne im Park konnten ihren Hunger mit den gefrorenen Pflanzen nicht stillen. Es war eisig geworden zu dieser Jahreszeit, und der violette Himmel wirkte so erbarmungslos, dass junge Mädchen bei einem Blick nach oben schauderten.

Die Kundin, die an einem dunklen Abend zu den Tanten kam, war nicht hübsch, aber sie war für ihr freundliches, liebenswertes Wesen bekannt. Sie brachte alten Leuten an Feiertagen Essen, sang mit Engelsstimme in einem Chor und gab immer einen zusätzlichen Spritzer Sirup ins Glas, wenn Kinder an der Getränketheke eine Cola Vanille bestellten. Doch als sie in der Dämmerung ins Haus kam, litt diese unscheinbare, sanfte junge Frau solche Qualen, dass sie sich auf dem Häkelteppich zusammenkrümmte und die Fäuste ballte, bis sich ihre Nägel wie Katzenkrallen in die Handflächen drückten. Sie warf den Kopf in den Nacken, ihre Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht, und sie biss sich die Lippe blutig. Sie verzehrte sich vor Liebe und hatte schon fünfzehn Kilo abgenommen. Die Tanten schienen Mitleid mit ihr zu haben, was selten vorkam. Obwohl die junge Frau kein Geld hatte, bekam sie den stärksten Trank, den die Tanten hatten, und dazu genaue Anweisungen, wie sie den Mann einer anderen dazu bringen konnte, sich in sie zu verlieben. Dann wurde sie gewarnt, was einmal getan sei, könne nicht rückgängig gemacht werden, deshalb müsse sie sich ihrer Sache ganz sicher sein.

»Ich bin mir sicher«, sagte die Frau ganz ruhig mit ihrer schönen Stimme, und das genügte den Tanten offenbar, denn sie gaben ihr auf einer ihrer guten Untertassen, dem Porzellan mit den blauen Weiden und dem Fluss aus Tränen, das Herz einer Taube.

Sally und Gillian hockten im Dunkeln auf der Hintertreppe. Ihre Knie berührten sich, ihre Füße waren nackt und schmutzig. Obwohl sie zitterten, grinsten sie sich an und sprachen leise den Zauber der Tanten mit, den sie im Schlaf aufsagen konnten: »Mein Liebster wird diesen Stich im Herzen spüren, seine Zuneigung soll dann mir gehören. Ruhe und Schlaf findet er nicht, bevor er zu mir kommt und mit mir spricht. Erst wenn er mich über alles liebt, soll er Frieden finden, der ihm Ruhe gibt.« Gillian tat so, als würde sie mit einer Nadel zustechen – so, wie die junge Frau an sieben Abenden hintereinander in das Taubenherz stechen und dabei die Worte wiederholen sollte, bevor sie ins Bett ging.

»Das klappt nie im Leben«, flüsterte Sally, als sie sich danach im Dunkeln die Treppe hinauf und in ihr Zimmer tasteten.

»Vielleicht doch«, raunte Gillian zurück. »Auch wenn sie nicht hübsch ist, könnte es trotzdem funktionieren.«

Sally reckte sich; sie war älter und größer und wusste immer alles besser. »Wir werden ja sehen.«

Fast zwei Wochen lang beobachteten Sally und Gillian die Verliebte. Wie angeheuerte Detektivinnen saßen sie stundenlang an der Imbisstheke der Apotheke und gaben ihr ganzes Taschengeld für Cola und Pommes frites aus, damit sie die junge Frau im Auge behalten konnten. Wenn sie nach Hause ging, folgten die Schwestern ihr. Sie wohnte mit einer anderen jungen Frau zusammen, die bei der Reinigung arbeitete. Je mehr die Mädchen sie im Laufe des Tages beobachteten, desto stärker hatte Sally das Gefühl, sie würden in die Privatsphäre der jungen Frau eindringen. Aber die Schwestern waren immer noch davon überzeugt, sie würden wichtige Nachforschungen betreiben, auch wenn Gillian gelegentlich nicht ganz sicher war, welches Ziel sie wirklich verfolgten.

»Es ist ganz einfach«, erklärte Sally ihr. »Wir müssen beweisen, dass unsere Tanten überhaupt keine Kräfte besitzen.«

»Wenn ihr ganzer Zauber nur heiße Luft ist«, sagte Gillian grinsend, »sind wir normal, wie alle anderen.«

Sally nickte. Sie konnte nicht mal ansatzweise beschreiben, wie wichtig ihr das war, weil sie sich sehnlichst wünschte, wie alle anderen zu sein. Nachts träumte Sally von einem kleinen Häuschen mit einem Holzzaun davor, und wenn sie morgens aufwachte und die schwarzen Metallspitzen sah, die sie umgaben, traten ihr Tränen in die Augen. Andere Mädchen, das wusste sie, wuschen sich mit normalen Seifen wie Ivory oder der süß duftenden Camay, während sie und Gillian die schwarze Seife benutzen mussten, die ihre Tanten zweimal im Jahr auf der hinteren Platte ihres Ofens selbst siedeten. Andere Mädchen hatten Mütter und Väter, die sich nicht um Sehnsüchte oder das Schicksal scherten. In keinem anderen Haus in ihrer Straße oder in der ganzen Stadt gab es eine Schublade voller Kameen, die für die Erfüllung von Wünschen eingetauscht worden waren.

Sally blieb nur die Hoffnung, dass ihr Leben nicht ganz so ungewöhnlich war, wie es schien. Wenn der Liebeszauber für das Mädchen aus der Apotheke nicht funktionierte, dann waren die Fähigkeiten der Tanten vielleicht nur vorgetäuscht. Also warteten die Schwestern und beteten darum, dass nichts passierte. Und als es gerade sicher schien, dass sich wirklich nichts tat, hielt in der Abenddämmerung der Schuldirektor der Schwestern, Mr. Halliwell, mit seinem Kombi vor der Wohnung der jungen Frau. Betont beiläufig ging er ins Haus, aber Sally fiel auf, dass er sich vorher umsah; seine Augen waren verquollen, als hätte er sieben Nächte nicht geschlafen. An diesem Abend gingen die Mädchen nicht zum Abendessen nach Hause, obwohl Sally den Tanten Lammkoteletts und gebackene Bohnen versprochen hatte. Der Wind frischte auf, ein eisiger Regen hatte eingesetzt, aber die Mädchen blieben auf ihrem Posten. Mr. Halliwell kam erst um neun Uhr aus dem Haus, und auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, als wüsste er nicht recht, wo er war. Er ging an seinem Auto vorbei, ohne es zu erkennen, erinnerte sich erst auf halbem Weg nach Hause daran, dass er es irgendwo abgestellt hatte, und brauchte dann fast eine Stunde, um die Stelle zu finden. Danach erschien er jeden Abend genau zur gleichen Zeit. Einmal wagte er es sogar, mittags in die Apotheke zu kommen und eine Cola und einen Cheeseburger zu bestellen, von dem er keinen Bissen aß; er starrte nur die junge Frau an, die ihn verzaubert hatte. Er saß auf dem letzten Barhocker und glühte so sehr vor Liebe, dass die Linoleumtheke, auf die er seine Ellbogen gestützt hatte, Blasen warf. Als ihm nach einer Weile auffiel, dass Sally und Gillian ihn beobachteten, verlangte er, dass die Schwestern zurück in die Schule gingen. Dann nahm er seinen Burger in die Hand, aber er konnte immer noch nicht den Blick von der Frau abwenden. Ihn hatte wirklich etwas erwischt, keine Frage; die Tanten hatten bei ihm genau ins Schwarze getroffen, als hätten sie ihn mit Pfeil und Bogen abgeschossen.

»Zufall«, beharrte Sally.

»Ich bin mir da nicht so sicher.« Gillian zuckte mit den Schultern. Jeder konnte sehen, dass die Frau aus der Apotheke innerlich strahlte, während sie Karamellsauce auf Eisbecher schüttete und Rezepte für Antibiotika und Hustensirup einlöste. »Sie hat bekommen, was sie wollte. Wie auch immer es passiert ist.«

Nur stellte sich heraus, dass es nicht ganz das war, was die junge Frau gewollt hatte. Sie kam wieder zu den Tanten, dieses Mal noch verzweifelter als vorher. Die Liebe war eine Sache, die Ehe etwas ganz anderes. Wie es schien, war Mr. Halliwell nicht sicher, dass er seine Frau verlassen konnte.

»Ich glaube, das willst du nicht sehen«, raunte Gillian ihrer Schwester zu.

»Woher weißt du das?«

Die Mädchen flüsterten einander ins Ohr; sie fürchteten sich ein wenig, was sie sonst nie taten, wenn sie von der sicheren Treppe aus lauschten.

»Ich habe es schon einmal gesehen.« Gillian war noch blasser als sonst; ihre blonden Haare standen ab und umgaben ihren Kopf wie eine Wolke.

Sally rückte von ihrer Schwester ab. Sie begriff, warum die Leute manchmal sagten, ihnen würde das Blut in den Adern gefrieren. »Ohne mich?«

Gillian ging oft ohne ihre Schwester zur Hintertreppe, um sich auf die Probe zu stellen, um zu testen, wie mutig sie war. »Ich dachte, das würdest du nicht wollen. Manchmal machen sie ganz schön eklige Sachen. Das würdest du nicht aushalten.«

Danach musste Sally neben ihrer jüngeren Schwester auf der Treppe bleiben, und sei es nur, um zu beweisen, dass sie es sehr wohl konnte. »Wir werden ja sehen, wer was aushält«, flüsterte sie.

Allerdings wäre Sally auf keinen Fall geblieben, sie wäre in ihr Zimmer gelaufen und hätte den Riegel vorgeschoben, wenn sie gewusst hätte, dass man etwas Schreckliches tun muss, wenn man einen unwilligen Mann zur Heirat bewegen will. Sie schloss die Augen, als die Tanten die Trauertaube hereinbrachten. Und als sie die Taube auf die Arbeitsplatte drückten, hielt Sally sich die Ohren zu, damit sie die Schreie nicht hören musste. Sie sagte sich, sie habe Lammkoteletts gekocht und Hähnchen gebraten, und das jetzt sei fast dasselbe. Trotzdem aß Sally nach diesem Abend nie wieder Fleisch, Geflügel oder auch nur Fisch, und sie fröstelte jedes Mal, wenn ein Schwarm Spatzen oder Zaunkönige erschrocken aus einem Baum aufflog. Noch lange danach griff sie nach der Hand ihrer Schwester, sobald der Himmel dunkel wurde.

Den ganzen Winter über sahen Sally und Gillian die junge Frau aus der Apotheke mit Mr. Halliwell. Im Januar ließ er sich scheiden, um sie zu heiraten, und zog mit ihr in ein kleines weißes Haus an der Ecke Third und Endicott Street. Nach der Hochzeit sah man sie fast nur noch zusammen. Egal, wohin die junge Frau ging, ob zum Markt oder zum Sport, Mr. Halliwell folgte ihr wie ein gut abgerichteter Hund, der keine Leine brauchte. Nach Schulschluss ging er direkt zur Apotheke; er tauchte auch zu ungewöhnlichen Zeiten mit einem Strauß Veilchen oder einer Schachtel Pralinen dort auf, und manchmal bekamen die Schwestern mit, dass seine neue Frau ihn anherrschte, trotz der Geschenke. Konnte er nicht mal eine Minute ohne sie verbringen? Das zischte sie ihrem Geliebten zu. Konnte er sie nicht mal in Ruhe lassen?

Als im Frühling der Blauregen aufgeblüht war, kam die junge Frau aus der Apotheke wieder zu den Tanten. Sally und Gillian ernteten in der Dämmerung im Garten Frühlingszwiebeln für einen Gemüseeintopf. Der Zitronenthymian hinten im Garten verströmte schon wieder seinen köstlichen Duft, wie immer zu dieser Jahreszeit, und der Rosmarin war nicht mehr so blass und spröde. Der feuchte Frühling hatte unzählige Mücken hervorgebracht, und Gillian schlug nach den Plagegeistern, die auf ihrer Haut saßen. Sally musste an ihrem Ärmel zupfen, um sie darauf aufmerksam zu machen, wer da auf dem Natursteinweg näher kam.

»Oh-oh«, machte Gillian und hielt inne. »Sie sieht ja schrecklich aus.«

Die junge Frau aus der Apotheke wirkte wie eine Greisin. Ihre Haare waren stumpf, und sie hatte den Mund seltsam verzogen, als hätte sie auf etwas Saures gebissen. Sie rieb ihre Hände aneinander; vielleicht hatte sie raue Haut, aber wie es aussah, war sie wohl eher furchtbar nervös. Sally hob den Weidenkorb mit den Zwiebeln auf und beobachtete, wie die Kundin ihrer Tanten an die Hintertür klopfte. Als niemand öffnete, hämmerte sie wütend gegen das Holz. »Machen Sie auf!«, rief sie ein ums andere Mal. Sie schlug immer wieder gegen die Tür, und das Geräusch verhallte ohne eine Antwort.

Als die junge Frau die beiden Mädchen entdeckte und auf den Garten zusteuerte, wurde Gillian totenblass und klammerte sich an ihre Schwester. Sally wich nicht von der Stelle, sie hätte auch nirgendwohin ausweichen können. Die Tanten hatten einen Pferdeschädel an den Zaun gehängt, um die Nachbarskinder von den Erdbeeren und der Minze fernzuhalten. Jetzt hoffte Sally, der Schädel würde auch böse Geister fernhalten, denn die Frau aus der Apotheke sah ganz wie ein Geist aus und stürmte auch so auf die Schwestern zu, geradewegs durch diesen Garten, in dem Lavendel, Rosmarin und Knoblauch schon üppig blühten, während die meisten anderen Gärten noch kahl dalagen.

»Seht nur, was sie mir angetan haben«, rief die junge Frau weinend. »Er lässt mich keine Minute lang in Ruhe. Er hat alle Schlösser ausgebaut, sogar das von der Badezimmertür. Ich kann weder schlafen noch essen, weil er mich ohne Pause beobachtet. Er will mich ständig vögeln. Ich bin wund und erschöpft.«

Sally wich zwei Schritte zurück und fiel dabei fast über Gillian, die sich immer noch an sie klammerte. So redeten die Leute normalerweise nicht mit Kindern, aber die junge Frau scherte sich offenbar nicht darum, was richtig oder falsch war. Sally sah, dass ihre Augen rot verweint waren. Die junge Frau hatte einen gemeinen Zug um den Mund, als könnten über diese Lippen nur böse Worte kommen.

»Wo sind die Hexen, die mir das angetan haben?«, fragte die junge Frau.

Die Tanten beobachten vom Fenster aus, wozu Begehrlichkeiten und Dummheit einen Menschen bringen konnten. Als Sally zum Haus hinübersah, schüttelten sie traurig den Kopf. Sie wollten mit der jungen Frau nichts mehr zu tun haben. Manche Leute kann man nicht vor einer Katastrophe bewahren. Man kann es versuchen, man kann sie laut warnen, aber sie gehen trotzdem ihren eigenen Weg.

»Unsere Tanten sind in den Urlaub gefahren«, sagte Sally mit brüchiger, wenig überzeugender Stimme. Sie hatte noch nie gelogen, und es hinterließ einen schwarzen Geschmack auf ihrer Zunge.

»Holt sie her«, rief die Frau. Sie hatte sich verändert. Bei Chorproben weinte sie während ihrer Soli, und jemand musste sie auf den Parkplatz bringen, damit sie nicht das ganze Treffen störte. »Jetzt sofort, sonst prügle ich euch windelweich.«

»Lass uns in Ruhe«, sagte Gillian aus ihrem sicheren Versteck hinter Sally heraus. »Sonst verfluchen wir dich noch schlimmer.«

Als die junge Frau das hörte, drehte sie durch. Sie griff nach Gillian und holte aus. Aber ihre Ohrfeige traf Sally, und sie schlug so fest zu, dass Sally zurücktaumelte und den Rosmarin und die Verbenen niedertrampelte. Hinter dem Fenster sagten die Tanten den Spruch auf, den sie als Kinder gelernt hatten, um die Hühner zu beruhigen. Sie hatten einen ganzen Stall voll mageren braun-weißen Federviehs gehabt, und nachdem die Tanten sich die Tiere vorgeknöpft hatten, hatten sie nie wieder gegackert, sie waren sogar so still geworden, dass streunende Hunde sie mitten in der Nacht holen konnten.

»Oh«, sagte Gillian, als sie begriff, was mit ihrer Schwester passiert war. Auf Sallys Wange prangte ein blutroter Abdruck, aber nicht sie weinte, sondern Gillian. »Du schrecklicher Mensch«, sagte sie zu der jungen Frau. »Du bist einfach nur schrecklich!«

»Habt ihr Bohnen in den Ohren? Ihr sollt eure Tanten holen!« Das wollte die Frau sagen, doch niemand hörte ein Wort. Kein Ton drang über ihre Lippen. Weder Schimpfen noch Schreien und schon gar keine Entschuldigung. Sie hob eine Hand an den Hals, als würde jemand sie würgen, aber in Wahrheit erstickte sie an der ganzen Liebe, von der sie dachte, sie könnte ohne sie nicht leben.

Sally beobachtete die junge Frau, die vor Angst kreideweiß geworden war. Wie sich zeigte, würde die Frau aus der Apotheke nie wieder sprechen, sie brachte nur manchmal ein leises Gurren wie von einer Taube hervor, und wenn sie richtig wütend war, kreischte sie wie ein aufgescheuchtes Huhn, das gerupft und gebraten werden sollte. Ihre Freundinnen im Chor betrauerten den Verlust ihrer wunderschönen Stimme, aber nach einer Weile fingen sie an, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie hatte einen krummen Rücken bekommen wie eine Katze, die auf heiße Kohlen getreten war. Wann immer sie freundliche Worte hörte, hielt sie sich die Ohren zu und stampfte mit den Füßen auf wie ein verzogenes Kind.

Bis ans Ende ihrer Tage folgte ihr auf Schritt und Tritt ein Mann, der sie zu sehr liebte, und sie konnte ihm nicht einmal sagen, er solle weggehen. Sally wusste, dass ihre Tanten dieser Kundin nie wieder die Tür öffnen würden, und wenn sie tausendmal zurückkehrte. Es stand der jungen Frau nicht mehr zu, irgendetwas zu verlangen. Was hatte sie sich gedacht? War die Liebe für sie nur ein Spiel gewesen, ein leichter, netter Zeitvertreib? Echte Liebe war gefährlich, sie packte einen im Innersten und klammerte sich fest, und wenn man sich nicht schnell genug von ihr löste, war man irgendwann zu allem bereit. Wäre die junge Frau aus der Apotheke schlau gewesen, hätte sie gleich zu Beginn um ein Gegenmittel gebeten, nicht um einen Zauber. Am Ende hatte sie bekommen, was sie gewollt hatte, und vielleicht hatte sie selbst nichts daraus gelernt, aber jemand anders in diesem Garten hatte es. Ein Mädchen dort war klug genug, ins Haus zu gehen, dreimal abzuschließen und keine einzige Träne zu vergießen, als es die Zwiebeln schnitt, die so bitter waren, dass die anderen den ganzen Abend lang weinten.

***

Jedes Jahr schlüpfte am Abend vor Mittsommer ein Spatz ins Haus der Owens. Auch wenn sie versuchten, ihn davon abzuhalten, fand der Vogel immer einen Weg hinein. Sie konnten Schälchen mit Salz auf die Fensterbänke stellen und von einem Handwerker die Dachrinnen und das Dach reparieren lassen, und trotzdem tauchte der Spatz auf. Er drang in der Dämmerung ins Haus ein, in der Stunde des Kummers; still und eigentümlich entschlossen ließ er sich weder von Salz noch von Backsteinen abhalten, als hätte das arme Ding keine andere Wahl, als auf den Gardinenstangen und dem verstaubten Kronleuchter zu hocken, an dem gläserne Tränen hingen.

Die Tanten hielten ihre Besen parat, um den Vogel aus dem Fenster zu scheuchen, aber der Spatz flog so hoch, dass sie ihn nicht erreichen konnten. Wenn er durchs Wohnzimmer flatterte, zählten die Schwestern mit, weil sie wussten, dass drei Runden Probleme ankündigten, und jedes Mal flog der Spatz drei Runden durchs Zimmer. Probleme waren für die Owens-Schwestern natürlich nicht Neues, vor allem nicht, als sie älter wurden. Nach dem Wechsel zur Highschool klebten die Jungen, die sie so viele Jahre gemieden hatten, wie die Kletten an Gillian. Es konnte passieren, dass sie in den Laden ging, um eine Dose Erbsensuppe zu holen, und nach dem Einkauf mit dem Jungen fest zusammen war, der die Tiefkühlware auffüllte. Je älter sie wurde, desto schlimmer wurde es. Vielleicht lag es an der schwarzen Seife, mit der sie sich wusch und die ihre Haut strahlen ließ. Was auch immer der Grund sein mochte, ihre Haut fühlte sich heiß an, und man konnte Gillian unmöglich ignorieren.

Jungen sahen sie an und waren so benommen, dass sie in der Notaufnahme Sauerstoff oder einen halben Liter Blut bekommen mussten. Glücklich verheiratete Männer, alt genug, um ihr Vater zu sein, kamen auf die glorreiche Idee, Gillian einen Heiratsantrag zu machen und ihr die Welt oder zumindest ihre Version davon zu versprechen.

Wenn Gillian kurze Röcke trug, löste sie auf der Endicott Street Verkehrsunfälle aus. Ging sie an Hunden vorbei, die in ihren Zwingern mit dicken Metallketten angebunden waren, vergaßen die Tiere zu knurren und zu schnappen. An einem glühend heißen Memorial Day schnitt Gillian sich die Haare so kurz wie ein Junge, und fast alle Mädchen in der Stadt ahmten sie nach. Aber keine der anderen brachte den Verkehr zum Erliegen, indem sie ihren hübschen Hals zeigte. Keine schaffte es allein mit ihrem strahlenden Lächeln, Biologie oder Sozialkunde zu bestehen, ohne einen einzigen Test zu schreiben oder jemals Hausaufgaben zu machen. In dem Sommer, in dem Gillian sechzehn war, verbrachte die gesamte Footballmannschaft der Schule jeden Samstagabend im Garten der Tanten. Dort konnte man sie alle in einer Reihe finden, große, kräftige Jungen, die stumm und wahnsinnig verliebt zwischen den Nachtschattengewächsen und den Verbenen Unkraut zupften und sich vorsahen, nicht die Frühlingszwiebeln zu berühren, die so scharf waren, dass sich ein unachtsamer Gärtner schnell die Finger an ihnen verbrennen konnte.

Gillian brach Herzen, wie andere Leute dünne Zweige für ein Feuer zerbrachen. In ihrem letzten Highschooljahr war sie darin so schnell und geübt, dass einige Jungen gar nicht bemerkten, was geschah, bis sie als klägliches Häufchen Elend zurückblieben. Könnte man sämtliche Probleme, in die ein Mädchen in seiner Jugend verwickelt war, zusammennehmen und vierundzwanzig Stunden lang einköcheln, käme bei den meisten ein Klumpen von der Größe eines Schokoriegels heraus. Aber könnte man alle Schwierigkeiten einschmelzen, die Gillian Owens sich einbrockte, ganz zu schweigen von dem vielen Kummer, den sie verursachte, hätte man am Ende eine klebrige Masse so hoch wie das Bostoner Rathaus.

Die Tanten scherten sich nicht im Geringsten um Gillians Ruf. Sie dachten gar nicht daran, einen Zapfenstreich zu verhängen oder mit ihrer Nichte ein ernstes Wörtchen zu sprechen. Als Sally den Führerschein gemacht hatte, nutzte sie den Kombi, um einzukaufen oder Zeug zur Müllkippe zu bringen, aber sobald Gillian fahren durfte, nahm sie das Auto jeden Samstagabend und kam nicht vor der Morgendämmerung zurück. Die Tanten hörten, wann Gillian zur Tür hereinschlich, und sie fanden im Handschuhfach des Fords Bierflaschen. So sind Mädchen halt, dachten die Tanten, besonders Owens-Mädchen. Als einzigen Rat gaben sie ihr mit, ein Baby sei einfacher zu verhindern als großzuziehen, und so leichtsinnig Gillian auch war, das immerhin sah sie ein.

Aber Sally bereitete den Tanten Kopfzerbrechen. Sally, die jeden Abend nahrhafte Gerichte kochte und danach spülte, die dienstags die Einkäufe erledigte und donnerstags die Wäsche nach draußen hängte, damit die Bettlaken und Handtücher frisch dufteten. Die Tanten versuchten, sie anzustiften, nicht immer so brav und beflissen zu sein. Ihrer Ansicht nach war das keine Tugend, sondern nur Rückgratlosigkeit und Angst, die sich als Demut tarnten. Die Tanten fanden, es gäbe Wichtigeres im Leben, als sich um Staubmäuse unter den Betten oder Laubhaufen auf der Veranda zu kümmern. Owens-Frauen pfiffen auf die guten Sitten, sie waren willensstark und eigensinnig, und genau so war es richtig. Alle bereits verheirateten Cousinen hatten darauf bestanden, ihren Namen zu behalten, so dass auch ihre Töchter den Namen Owens trugen. Gillians und Sallys Mutter Regina war besonders schwer zu bändigen gewesen. Die Tanten blinzelten Tränen weg, wenn sie sich daran erinnerten, wie Regina manchmal abends nach einem Gläschen Whiskey zu viel mit bestrumpften Füßen und ausgestreckten Armen auf der Verandabrüstung balanciert war. Auch wenn sie manchmal unvernünftig war, wusste Regina, wie man sich amüsierte, und auf diese Eigenschaft waren die Owens-Frauen stolz. Gillian hatte die wilde Ader ihrer Mutter geerbt, aber Sally hätte Spaß nicht mal erkannt, wenn er sie gebissen hätte.

»Geh aus«, drängten die Tanten samstagabends, wenn Sally sich mit einem Buch aus der Bibliothek auf dem Sofa eingeigelt hatte. »Unternimm was Schönes«, schlugen sie mit ihren leisen, kratzigen Stimmen vor, die Schnecken aus dem Garten vertreiben, aber Sally nicht vom Sofa hochscheuchen konnten.

Die Tanten wollten Sally dazu bringen, geselliger zu sein. Sie fingen an, junge Herren zu sammeln, wie andere alte Damen streunende Katzen auflasen. Sie schalteten Kontaktanzeigen in Collegezeitungen und telefonierten Studentenverbindungen ab. An jedem Sonntag veranstalteten sie Gartenpartys und servierten Sandwiches mit kaltem Rinderbraten und Dunkelbier, aber Sally saß nur mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Metallstuhl und war in Gedanken ganz woanders. Die Tanten kauften für sie roséfarbene Lippenstifte und Badesalz aus Spanien. Per Post bestellten sie Partykleider und Spitzenslips und weiche Wildlederstiefel, aber Sally reichte alles an Gillian weiter, die mit diesen Geschenken etwas anfangen konnte, und las weiter am Samstagabend Bücher und machte donnerstags die Wäsche.

Was nicht heißen soll, Sally habe sich nicht darum bemüht, sich zu verlieben. Sie war aufmerksam und gedankenvoll und besaß eine erstaunliche Konzentrationsgabe, und einige Zeit nahm sie Einladungen ins Kino, zum Tanzen und zu Spaziergängen um den Teich im Park an. Jungen, die sich in der Highschool mit Sally verabredeten, waren verblüfft darüber, wie lange sie sich auf einen einzigen Kuss konzentrieren konnte, und fragten sich unwillkürlich, wozu sie wohl noch imstande war. Noch zwanzig Jahre später dachten viele von ihnen an Sally, in Augenblicken, in denen sie es eigentlich nicht hätten tun sollen, aber Sally empfand für keinen von ihnen etwas und merkte sich nicht einmal ihre Namen. Sie ging mit keinem Jungen ein zweites Mal aus, weil sie es unfair gefunden hätte, und damals fand sie Fairness wichtig, sogar in so eigenartigen und ungewöhnlichen Angelegenheiten wie der Liebe.

Wenn sie sah, wie Gillian sich mit der halben Stadt vergnügte, fragte Sally sich, ob sie nur einen Klumpen Granit hatte, wo ihr Herz sein sollte. Doch als beide Schwestern die Highschool hinter sich hatten, zeigte sich, dass Gillian sich zwar verlieben konnte, es aber nie länger als zwei Wochen anhielt. Sally glaubte allmählich, sie wären beide verflucht, und bei ihrer Herkunft und ihrer Erziehung war es wirklich kein Wunder, dass die Schwestern so viel Pech hatten. Immerhin standen auf den Schreibtischen ihrer Tanten immer noch Fotos der jungen Männer, in die sie einmal verliebt gewesen waren: Brüder, die auf dem Weg zu einem Stelldichein zu stolz gewesen waren, sich unterzustellen, als ein Unwetter ausbrach. Der Blitz hatte die Jungen auf der Stadtwiese erschlagen, und jetzt lagen sie dort begraben, unter einem glatten, runden Stein, auf dem sich morgens und abends in der Dämmerung Turteltauben versammelten. Jedes Jahr im August zog dieser Ort wieder Blitze an, und wenn schwarze Gewitterwolken aufzogen, forderten sich Verliebte gegenseitig heraus, über die Wiese zu rennen. Gillians Freunde waren als Einzige liebestrunken genug, um einen Blitzschlag zu riskieren, und zwei von ihnen fanden sich nach ihrem Sprint über die Wiese im Krankenhaus wieder. Danach standen ihnen für immer die Haare ab, und ihre Augen waren weit aufgerissen, selbst wenn sie schliefen.