The Rules of Magic. Eine zauberhafte Familie - Alice Hoffman - E-Book
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The Rules of Magic. Eine zauberhafte Familie E-Book

Alice Hoffman

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Beschreibung

Finde deine Magie! Mit "The Rules of Magic" hat die Bestseller-Autorin Alice Hoffman eine berührende Geschichte über Liebe, Magie und den wunderbaren Zusammenhalt der Familie geschrieben. New York, Anfang der 60er Jahre. Franny, Jet und Vincent Owens sind keine gewöhnlichen Kinder, denn sie entstammen einer Familie von Hexen: Die schöne Franny hat blasse Haut und, passend zu ihrem Temperament feuerrote Haare. Jet ist sensibel und kann Gedanken lesen, und der charismatische Vincent verfügt schon in jungen Jahren über eine überwältigende Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. Alles riecht nach Ärger, und dass die drei das magische Talent ihrer Vorfahren geerbt haben, macht die Sache nicht besser.   Von Beginn an gibt ihre Mutter Susanna ihren Kindern deshalb ein paar Regeln mit auf den Lebensweg: keine Spaziergänge bei Mondschein, keine roten Schuhe, keine schwarze Kleidung, keine Katzen oder Krähen im Haus, und das Allerwichtigste: »Verliebt euch nie, niemals!«   Doch Franny, Jet und Vincent sind jung und voller Tatendrang: Natürlich werden sie jede einzelne Regel brechen – und mit den Folgen leben müssen. Für Leserinnen von Deborah Harkness, Jennifer L. Armentrout, Cassandra Clare, Deborah Harkness, Diana Gabaldon und Fans der Kultserie »Charmed«.

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Alice Hoffman

The Rules of Magic. Eine zauberhafte Familie

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Kemper

FISCHER E-Books

Es gibt kein Heilmittel gegen Liebe außer mehr Liebe.

Henry David Thoreau

Teil einsIntuition

Es war einmal eine Zeit, da war vieles noch anders als heute, man konnte von zu Hause fortlaufen, seine Herkunft verschleiern und in die feine Gesellschaft aufgenommen werden. Genau das hatte die Mutter der Kinder getan. Susanna gehörte zu den Owens aus Boston, einer sehr alten Familie, der nicht einmal die Gesellschaft der Abkömmlinge der Mayflower und die Töchter der Amerikanischen Revolution die Mitgliedschaft verweigern konnten. Dabei hätten diese exklusiven Vereinigungen ihnen am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen und den Schlüssel zweimal rumgedreht. Ihre Urahnin Maria Owens, die 1680 zum ersten Mal amerikanischen Boden betreten hatte, blieb ein Mysterium, sogar für ihre eigene Familie. Niemand wusste, wer der Vater ihres Kindes war, oder konnte sich erklären, wie es ihr als alleinstehender Frau, scheinbar ohne Vermögen oder Einkommen, gelungen war, ein so wunderbares Haus zu bauen. Die lange Reihe von Marias Nachfahrinnen wirkte nicht weniger fragwürdig. Ehemänner verschwanden spurlos. Töchter gebaren Töchter. Kinder liefen fort und wurden nie wieder gesehen.

In jeder Generation gab es jemanden, der Massachusetts den Rücken kehrte, und auch Susanna Owens hatte das getan. Sie war als junge Frau nach Paris durchgebrannt, hatte später geheiratet und sich in New York niedergelassen. Um ihre Kinder zu schützen, hatte Susanna ihre Familiengeschichte vor ihnen geheim gehalten, was dazu führte, dass die Kinder immer wieder über ihre Abstammung spekulierten. Sie waren nicht wie andere Kinder, das wurde sehr früh klar, und Susanna sah sich gezwungen, Regeln aufzustellen. Keine Spaziergänge im Mondschein, keine Ouija-Bretter, keine Kerzen, weder rote Schuhe noch schwarze Kleidung, niemals barfuß laufen, keine Amulette, keine nachtblühenden Pflanzen, Katzen oder Krähen, nie Romane über Magie lesen oder weiter als bis zur 14th Street gehen. Doch so sehr Susanna auch auf diese Regeln pochte, die Kinder setzten sich immer wieder über sie hinweg. Sie ließen sich nicht davon abbringen, ungewöhnlich zu sein. Das älteste Kind war Frances, ein Mädchen mit milchweißer Haut und blutroten Haaren. Von klein auf hatte sie eine besondere Verbindung zu Vögeln; schon als sie in der Wiege lag, versammelten sich die Tiere vor ihrem Fenster, als wären sie gerufen worden. Dann kam Bridget, wegen ihrer jettschwarzen Locken kurz Jet genannt, die ebenso schüchtern wie hübsch war und zu wissen schien, was andere dachten. Und zuletzt Vincent, das geliebte Nesthäkchen und in jeder Hinsicht eine Überraschung. Er war der erste und einzige Junge in der Familie, ein begnadeter Musiker, der pfeifen konnte, noch bevor er sprechen lernte, so charismatisch und furchtlos, dass seine besorgte Mutter ihm als Kleinkind ein Geschirr anlegte, damit er nicht entwischte.

Die Kinder wuchsen Ende der fünfziger Jahre auf, sie entwickelten sich schnell, und ihr seltsames Benehmen wurde mit der Zeit noch seltsamer. Für Spiele hatten sie nichts übrig, und die anderen Kinder im Park fanden sie uninteressant. Ihre Familie wohnte in einem maroden Stadthaus in der 89th Street in der Upper East Side. Wenn ihre Eltern zu Bett gegangen waren, kletterten die Kinder aus dem Fenster, turnten auf dem Dach herum und stiegen die Feuertreppen hinunter, später streiften sie zu jeder Tages- und Nachtzeit durch den Central Park. Sie schrieben mit schwarzer Tinte an die Wohnzimmerwände, lasen gegenseitig ihre Gedanken und versteckten sich im Hauswirtschaftsraum im Keller, wo ihre Mutter sie nie fand. Als hätten sie es sich zur Aufgabe gemacht, brachen sie eine Regel nach der anderen. Franny trug Schwarz und zog auf ihrem Fensterbrett nachtblühenden Jasmin, Jet las sämtliche Romane von Edith Nesbit und fütterte in der Seitenstraße streunende Katzen, und Vincent erkundete schon mit zehn den verbotenen Teil der Stadt jenseits der 14th Street.

Alle drei hatten graue Augen, wie jeder in ihrer Familie, doch davon abgesehen waren die Geschwister grundverschieden. Frances war mürrisch und misstrauisch, Jet dagegen gutmütig und so sensibel, dass schon eine kritische Bemerkung bei ihr einen Ausschlag hervorrufen konnte. Die modebewusste Jet folgte den eleganten Fußspuren ihrer Mutter, während Frances meist nachlässig gekleidet war und sich die Haare nicht kämmte. Für sie war es die größte Freude, mit verdreckten Stiefeln durch Sheep Meadow im Central Park zu streifen. Wilden Vögeln war Frances immer noch eng verbunden, sie musste nur die Hand heben, und die Tiere kamen zu ihr. Wenn sie so schnell lief, dass sie selbst fast flog, wirkte es von weitem, als könnte sie mit den Vögeln sprechen und würde eher in ihre Welt gehören als in unsere.

Vincent besaß eine ungeheure Anziehungskraft, schon wenige Stunden nach seiner Geburt versteckte ihn eine Schwester von der Wöchnerinnenstation des Columbia-Presbyterian Hospital unter ihrem Mantel und wollte ihn entführen. Vor Gericht sagte sie aus, das versuchte Kidnapping sei nicht ihre Schuld, sie sei verzaubert gewesen und habe dem Kind nicht widerstehen können. Im Laufe der Jahre kamen solche Behauptungen immer wieder auf. Vincent wurde nach Strich und Faden verwöhnt, von Jet wurde er behandelt wie eine Puppe und von Frances wie ein wissenschaftliches Experiment. Wenn man ihn zwickte, überlegte Frances, würde er dann weinen? Wenn man ihm eine Schachtel Kekse gab, würde er alle essen, bis ihm schlecht wurde? Wie sich zeigte, lautete die Antwort auf beide Fragen Ja. Wenn Vincent ungezogen war, was häufig vorkam, erfand Frances Geschichten über alle möglichen Bestrafungen für kleine Jungen, die nicht hören wollten, aber ihre Schauermärchen konnten ihn nicht aufhalten. Trotzdem beschützte sie ihn immer, auch dann noch, als er sie längst überragte.

Die Kinder verabscheuten ihre Schule, dabei hatte Susanna Owens alles darangesetzt, sie dort unterzubringen, sie hatte sogar Cocktailpartys für die Schulleiter der Starling gegeben. Mit ihrem Haus konnte man immer noch Eindruck machen, auch wenn es aus Geldmangel marode war – ihr Vater war Psychiater und behandelte viele seiner Patienten kostenlos. Susanna staffierte den Salon für diese Besuche mit Silbertabletts und Seidenkissen aus, die sie eigens für den Anlass kaufte und am nächsten Tag zu Tiffany und Bendel zurückbrachte. Die Starling war eine versnobte, klüngelhafte Einrichtung in der 78th Street mit einem Wachmann vor dem Eingang. Alle Schülerinnen und Schüler mussten Uniformen tragen, allerdings zog Franny oft ihren grauen Rock hoch, rollte die kratzigen Kniestrümpfe herunter und zeigte ihre sommersprossigen Beine. Bei feuchtem Wetter kräuselten sich ihre roten Haare, und wenn sie länger als fünfzehn Minuten in der Sonne verbrachte, bekam sie einen Sonnenbrand. Franny fiel in jeder Gruppe auf, was sie furchtbar störte. Sie war groß für ihr Alter und erreichte schon in der fünften Klasse ihre endgültigen eins zweiundachtzig. Ihre Arme und Beine waren schon immer auffallend lang, wie die eines jungen Fohlen. Deshalb dauerte diese schlaksige Phase zehn Jahre, von ihrer Zeit als mürrisches, selbst die Jungen überragendes Kindergartenkind bis sie fünfzehn wurde. Sie trug oft rote Stiefel aus Secondhandläden. Eigenartiges Mädchen, stand in ihrer Akte. Sollte vielleicht psychologisch untersucht werden.

Die Schwestern waren in ihrer Schule Außenseiterinnen, vor allem Jet gab ein leichtes Ziel ab. Die Kinder in ihrer Klasse konnten sie mit einem gemeinen Zettel oder absichtlichem Schubsen zum Weinen bringen. Als Jet begann, sich die meiste Zeit des Tages auf der Mädchentoilette zu verstecken, schritt Franny ein. Die anderen lernten schnell, dass man die Owens-Schwestern nicht verärgern sollte, es sei denn, man wollte über seine eigenen Füße stolpern oder bei einem Referat plötzlich stottern. Die Schwestern hatten etwas Bedrohliches an sich, sogar wenn sie nur in der Mensa Tomatensandwiches aßen oder in der Bibliothek nach Romanen stöberten. Legte man sich mit ihnen an, bekam man die Grippe oder Masern. Machte man sich über sie lustig, konnte man damit rechnen, dass man ins Büro des Direktors gerufen wurde, weil man angeblich geschwänzt oder geschummelt hatte. Offen gesagt war es das Beste, man ließ die Owens-Schwestern in Ruhe.

Frannys einziger Freund war Haylin Walker, der siebeneinhalb Zentimeter größer und genauso ungesellig war wie sie. Die Starling zu besuchen, war in seiner Familie Tradition, er war von Geburt an dazu verdammt. Seine Großeltern hatten die Sporthalle gestiftet, sie hieß Walker Hall und wurde von Franny, die Sport hasste, nur Höllenhalle genannt. In der sechsten Klasse hatte Hay sich bei einer berühmt-berüchtigten Protestaktion an den Dessertwagen in der Cafeteria gekettet und höhere Löhne für die Mitarbeiter dort gefordert. Franny bewunderte seinen Mut, aber die anderen Schüler hatten ihn nur mit großen Augen angestarrt und nicht mit eingestimmt, als er »Gleichheit für alle!« skandiert hatte.

Der Hausmeister hätte Haylin gern gewähren lassen, musste die Ketten aber mit einer Metallsäge durchtrennen. Danach bekam Haylin eine ordentliche Standpauke vom Schuldirektor zu hören. Er sollte einen Aufsatz über Arbeitnehmerrechte schreiben, was er als Ehre empfand, nicht als Strafe. Statt der verlangten zehn Seiten reichte er einen fast fünfzig Seiten dicken Stapel ein, mit Zitaten von Thomas Paine und Roosevelt und ordentlich mit Fußnoten versehen. Er konnte das nächste Jahrzehnt kaum erwarten. In den Sechzigern würde sich alles ändern, sagte er Franny. Und wenn sie Glück hätten, würden sie dann frei sein.

Haylin verabscheute seine reiche, privilegierte Abstammung und trug verschlissene, fadenscheinige Kleidung und alte Stiefel mit Löchern in den Sohlen. Es gab nur zwei Dinge, die er sich wünschte: einen Hund und die Erlaubnis, eine öffentliche Schule zu besuchen. Beides verweigerten ihm seine Eltern. Sein Vater war der größte Anteilseigner einer 1824 gegründeten, weltweit tätigen Bank mit Hauptsitz in Manhattan, was Hay äußerst peinlich war. In der Highschool überlegte er, seinen Namen offiziell in Jones oder Smith zu ändern, damit ihn niemand mit seiner Familie und ihrer berüchtigten Habgier in Verbindung bringen konnte. Franny vertraute er unter anderem deshalb, weil Äußerlichkeiten sie völlig kaltließen. Es war ihr egal, dass er in einem Penthouse an der Fifth Avenue wohnte oder dass sein Vater einen Butler hatte, der in Oxford gewesen war und einen Cutaway und polierte Schuhe trug.

»Was für ein Aufwand«, sagte Franny immer.

Vor allem interessierten sich beide für Wissenschaft. Haylin untersuchte zurzeit die Auswirkungen von Cannabis auf seine Kalorienzufuhr. In weniger als einem Monat hatte er gut zwei Kilo zugenommen, weil er nicht nach Marihuana, sondern nach cremegefüllten Donuts süchtig wurde. Er wirkte tiefenentspannt, es sei denn, er sprach über Biologie, über Ungerechtigkeit oder über seine Zuneigung zu Franny. Ständig lief er ihr nach, und es schien ihm egal zu sein, ob er sich damit lächerlich machte. Wenn sie zusammen waren, lag in seinen Augen ein wildes Funkeln, das Franny beunruhigte. Es war, als hätte er noch eine andere Seite, einen verborgenen, emotionalen Teil seines Wesens, den er und Franny lieber ausblendeten.

»Erzähl mir alles über dich«, bat Haylin sie oft.

»Du weißt doch schon alles«, antwortete Franny dann. Er kannte sie besser als jeder andere. Besser als sie selbst, fürchtete sie manchmal.

Im Gegensatz zu Franny und Jet hatte Vincent in der Schule keine Probleme. Er nahm Gitarrenunterricht und überflügelte seinen Lehrer im Handumdrehen, und bald folgten ihm Scharen verknallter Mädchen durch die Schulflure. Schon früh interessierte er sich für Magie. Er zog seinen Klassenkameraden Münzen aus den Ohren und zündete Streichhölzer durch ein leichtes Pusten an. Im Laufe der Zeit entwickelten sich seine Talente. Er konnte den Strom im Haus der Owens mit einem einzigen Blick verrücktspielen lassen, so dass die Lampen erst flackerten und dann ganz ausgingen. Verschlossene Türen entriegelten sich ohne eine Berührung, Fenster öffneten und schlossen sich, wenn er in der Nähe war. Als Franny fragte, wie er das schaffe, wollte er seine Methoden nicht preisgeben.

»Finde es selbst heraus«, antwortete er grinsend.

Vincent hatte ein Schild mit der Aufschrift BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR an seine Tür gehängt, aber Franny marschierte einfach in sein Zimmer und durchsuchte es. Weder in den Schreibtischschubladen noch im Wandschrank fand sie etwas Interessantes, aber zwischen den Spinnweben unter Vincents Bett entdeckte sie ein okkultes Handbuch mit dem Titel Der Magus. Franny kannte seine Geschichte, weil es zu den Büchern gehörte, die ihre Mutter verboten hatte. Als es 1801 erschien, war es so beliebt, dass nicht genug Exemplare gedruckt werden konnten. Manche Menschen waren so versessen auf das Buch, dass sie es stahlen, und viele Anhänger versteckten es unter den Dielen. Vincents zerlesenes Exemplar hatte nichts von seiner Macht eingebüßt. Es roch nach Schwefel, und als Franny es sah, bekam sie sofort einen Niesanfall. Wenn sie sich nicht täuschte, war sie gegen das Ding allergisch.

Der Magus fühlte sich so heiß an, dass sie sich am Einband die Finger verbrannte, als sie ihn aus seinem Versteck zog. Einen solchen Gegenstand nahm man nicht aus einer Laune heraus in die Hand. Man musste wissen, wonach man suchte, und man musste mutig genug sein, mit ihm umzugehen.

Franny warf den Band auf den Küchentisch, als Vincent zu Mittag aß, so schwungvoll, dass sich der Kartoffelsalat und der Krautsalat über den Tisch verteilten. Der schwarz-goldene Rücken war nach den vielen Jahren gebrochen. Als das Buch auf den Tisch knallte, ächzte es.

»Woher hast du das?«, fragte sie.

Vincent sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Von einem Stand für gebrauchte Bücher neben dem Park.«

»Im Leben nicht«, widersprach Franny bestimmt. »Du warst noch nie an einem Bücherstand!«

Andere Menschen konnte Vincent hinters Licht führen, selbst Jet konnte er mit seinem Charme hereinlegen, aber Franny hatte für so etwas ein Gespür. Die Wahrheit fühlte sich hell und grün an, doch Lügen sanken zu Boden. Sie waren schwer wie Metall, ein Material, von dem Franny sich möglichst fernhielt, weil es ihr das Gefühl gab, sie sei hinter Gittern gefangen. Aber Vincent war ein reizender Lügner, und Franny spürte ihre Liebe zu ihrem Bruder, als er mit den Schultern zuckte und die Wahrheit sagte.

»Du hast recht. Ein Bücherstand dürfte es auch nicht verkaufen«, gestand er. »Es ist immer noch verboten.«

Um die Jahrhundertwende waren alle Exemplare, die man aufspüren konnte, auf dem Washington Square in einem großen Feuer verbrannt worden, und ein kaum bekanntes Gesetz verbot es den Bibliotheken und Buchläden in New York City noch heute, es zu besitzen oder zu verkaufen. In dem Buch, das jetzt aufgeschlagen auf dem Tisch lag, erkannte Franny Bilder von Hexen, die zu einem Galgenhügel geführt wurden. Unter der Illustration stand 1693. Franny schauderte, sie kannte diese Jahreszahl. Sie hatte vor kurzem in Geschichte einen Aufsatz über die Hexenprozesse in Salem geschrieben und wusste, dass 1693 viele der Beschuldigten aus Neuengland geflohen waren. Sie hatten eine tolerantere Heimat gesucht und sie in Manhattan gefunden. Während in Neuengland Politik, Gier und Religion den Hexenwahn schürten und Cotton Mather und der berüchtigte, grausame Richter John Hathorne die Flammen lodern ließen, fanden in New York nur zwei Hexenprozesse statt. Auf Long Island waren 1658 in Queens und 1665 in der Stadt Setauket in beiden Fällen Bewohner angeklagt, die Verbindungen nach Boston hatten. In New York, hatte Franny herausgefunden, konnte man frei sein.

»Und was willst du mit dem Ding?« Frannys Fingerspitzen waren schwarz verschmiert, und sie hatte ein flaues Gefühl im Magen.

Es passte natürlich zu Vincent, dass er sich für das Okkulte interessierte statt für gewöhnliche Dinge wie Fußball oder Leichtathletik. Er wurde regelmäßig für seine üblichen Streiche von der Schule suspendiert, für Wassereimer, die irgendwo herunterfielen, oder Pfefferspray, das sich von selbst verteilte. Ihrem Vater war Vincents anhaltend schlechtes Benehmen sehr peinlich, zumal er vor kurzem das Buch Ein Fremder im Haus veröffentlicht hatte, eine Analyse verhaltensauffälliger Jugendlicher. Es war seinen Kindern gewidmet, und trotzdem hatte keines von ihnen vor, es zu lesen, obwohl es beinahe ein Bestseller war.

Franny ahnte, woher Vincent den Magus hatte. Von dem Ort auf der Liste ihrer Mutter, der ihnen verboten war. Downtown Manhattan. Gerüchten zufolge bekam man dort alles, was es in anderen Teilen der Stadt nicht gab. Tierherzen, Menschenblut, Zaubersprüche mit tödlicher Wirkung. In Wahrheit wollte ihre Mutter sie aus Greenwich Village fernhalten, weil dort angeblich verlotterte Künstler, Drogensüchtige, Homosexuelle und Anwender der schwarzen Magie lebten. Und trotzdem hatte Vincent es dorthin geschafft.

»Vertrau mir, du musst dir keine Sorgen machen«, brummelte er und zog den Magus schnell wieder zu sich. »Wirklich, Franny, es ist nur ein dummes Buch.«

»Sei vorsichtig«, ermahnte Franny ihn.

Vielleicht wollte sie damit auch sich selbst warnen, weil ihre Fähigkeiten ihr oft Angst machten. Dazu gehörte nicht nur, dass Vögel zu ihr kamen oder sie Eiszapfen nur berühren musste, um sie schmelzen zu lassen. Das ließ sich beides wissenschaftlich erklären. Sie hatte ein ruhiges Wesen und erschrak nicht vor flatternden Vögeln, und ihre Körpertemperatur war höher als die der meisten Menschen, deshalb war es logisch, dass das Eis schmolz. Aber eines Nachts hatte sie auf der Feuertreppe vor ihrem Zimmer gestanden und sich so intensiv vorgestellt, sie würde fliegen, dass es sich einen Moment lang so angefühlt hatte, als würden ihre Füße nicht mehr den Boden berühren. Das war empirisch unmöglich.

»Wir wissen nicht genau, womit wir es zu tun haben«, sagte sie leise zu ihrem Bruder.

»Aber da ist etwas, oder?«, fragte Vincent. »Wir haben etwas in uns. Mutter will zwar, dass wir so tun, als wären wir wie alle anderen, aber das sind wir nicht, und das weißt du.«

Sie ließen diesen Gedanken sacken. Die Mädchen besaßen besondere Fähigkeiten, genau wie Vincent. Zum Beispiel konnte er schemenhaft Bruchstücke der Zukunft sehen. Er hatte gewusst, dass Franny heute den Magus finden und mit ihm darüber reden würde. Er hatte es sich sogar mit blauer Tinte auf die Haut geschrieben. Jetzt hob er den Arm, um es ihr zu zeigen. Franny findet das Buch.

»Zufall«, sagte Franny sofort. Es gab keine andere vertretbare Erklärung.

»Bist du sicher? Wer sagt, dass es nicht mehr ist?« Vincent senkte die Stimme. »Wir könnten versuchen, es herauszufinden.«

Sie zogen ihre Küchenstühle zusammen und setzten sich dicht nebeneinander. Sie wussten nicht, was sich in ihnen entfaltete, aber als sie sich konzentrierten, schwebte der Tisch zwei Fingerbreit in die Höhe. Vor lauter Schreck schlug Franny mit den flachen Händen auf den Tisch, um ihn aufzuhalten. Sofort fiel er krachend zurück auf den Boden.

»Wir sollten noch warten.« Franny war von diesem eigenartigen Moment heiß geworden.

»Warum? Je eher wir wissen, was es ist, desto besser. Wir wollen es kontrollieren und nicht davon kontrolliert werden.«

»Da ist nichts«, beharrte Franny, logisch wie immer. Ihr war klar, dass ihr Bruder von Magie sprach. »Für jede Aktion und Reaktion gibt es eine wissenschaftliche Erklärung.«

Nach dem Ereignis in der Küche war die Tischplatte schräg, immer wieder rutschten Teller und Gläser herunter, als wollten sie die beiden daran erinnern, dass Vincent recht hatte. Wer sie auch waren und wie ihre Familiengeschichte auch aussah, sie waren nicht wie andere Menschen.

***

Experimente dieser Art hätten Dr. und Mrs. Burke-Owens nicht gefallen, wenn sie von ihnen gewusst hätten. Sie waren elegante, ernsthafte Menschen, die ihre Abende mit einem Tom Collins oder einem Whiskey Sour im Yale Club verbrachten, denn nach seinem Bachelor-Studium in Harvard hatte der Doktor in New Haven Medizin studiert. Eine Stadt, von der ihre Mutter hoffte, sie nie wieder betreten zu müssen. Beide achteten bei ihren Sprösslingen auf Symptome angeborener Störungen, und bisher waren sie nicht besonders hoffnungsvoll. In seinen Arbeiten zur Persönlichkeitsentwicklung vertrat Dr. Burke-Owens die These, die Veranlagung wiege schwerer als der Einfluss der Umgebung und nichts könne die Persönlichkeit eines Kindes ändern. Nicht nur das Gehirn habe feste Strukturen, sondern auch die Seele. Seinen Erbanlagen könne man nicht entkommen, auch nicht in einer gesunden Umgebung, und das verhieß für Frances, Bridget und Vincent nichts Gutes.

Zu ihrem Glück war ihr Vater mit seinen Patienten ausgelastet, die das Haus der Owens unauffällig durch einen Seiteneingang betraten und in sein Sprechzimmer im Untergeschoss gingen. Während der Sitzungen schlich Vincent oft hinunter zur Garderobe und durchsuchte die Jackentaschen der Patienten nach Geld, Bonbons und Valium. Danach lagen alle drei Kinder auf dem Küchenboden, entspannt von den kleinen gelben Pillen, die Vincent gefunden hatte, lutschten Brach’s Ice Blue Mints und hörten sich die schluchzenden Geständnisse an, die durch die Heizungsschächte nach oben drangen. Durch ihr Lauschen kannten sie Zwangsvorstellungen, Depressionen, Manien, sexuelle Vorlieben und Übertragung, bevor die meisten ihrer Altersgenossen auch nur wussten, was ein Psychiater war.

***

Jedes Jahr traf ein Karton voll schwarzer Seifenstücke mit Lavendelduft, einzeln in knisterndes Zellophan gepackt, aus Massachusetts ein. Susanna weigerte sich, den Absender zu nennen, aber sie wusch sich mit nichts anderem. Vielleicht war ihr Teint deshalb so sanft und strahlend. Wie die Seife tatsächlich wirkte, entdeckte Franny, nachdem sie Weihnachten ein Stück stibitzte. Sie und Jet probierten die Seife aus, und ihre Haut strahlte danach wirklich, aber sie wurden auch so albern, dass sie nicht aufhören konnten zu lachen. Sie füllten das Waschbecken mit Seifenblasen und bespritzen sich gegenseitig mit Wasser, bis sie nass bis auf die Haut waren. Als ihre Mutter sie dabei ertappte, wie sie die glitschige Seife hin und her warfen wie eine heiße Kartoffel, nahm sie ihnen das Stück weg.

»Das ist nichts für Kinder«, sagte sie, obwohl Franny fast siebzehn war und Jet im nächsten Sommer sechzehn wurde.

Ihre Mutter versteckte eindeutig etwas vor ihnen hinter den dicken Schichten Wimperntusche, die sie immer trug. Sie erzählte nie von ihrer Familie, und die Kinder kannten keinen einzigen ihrer Verwandten. Je älter sie wurden, desto mehr wuchs ihr Misstrauen. Susanna Owens sprach in Rätseln und gab nie klare Antworten. Legt eure Messer nicht über Kreuz, verlangte sie, wenn sich bei Tisch ein Streit anbahnte. Wenn in einer Schale die Butter schmolz, bedeutete es, dass jemand in der Nähe verliebt war, und ein Vogel im Haus konnte das Pech aus dem Fenster tragen. Sie bestand darauf, dass ihre Kinder Blau trugen, um sich zu schützen, und dass sie sich Lavendelsäckchen in die Taschen steckten. Franny warf die Säckchen weg, sobald sie außer Sichtweite war.

Irgendwann überlegten sie, ob ihre Mutter vielleicht eine Spionin sei. Russland war der Feind, und in der Starling mussten sich die Schüler als Notfallübung für Bombenangriffe oft unter ihren Tischen zusammenkauern und die Hände über den Kopf halten. Spione hatte keine familiären Bindungen, aber eine rätselhafte Vergangenheit, genau wie ihre Mutter, und sie antworteten oft ausweichend, was auch passte. Sie verfälschten ihre persönliche Geschichte, um ihre wahren Hintergründe und Absichten zu verschleiern, und Susanna hatte nie erwähnt, wo sie studiert hatte. Sie sprach auch nicht über ihre Kindheit und verriet nichts über ihre Eltern, sie behauptete nur, sie seien während einer Kreuzfahrt gestorben, als sie noch jung waren. Die Owens-Kinder kannten nur ein paar Eckpunkte: Susanna war in Boston aufgewachsen und hatte als Model in Paris gelebt, bevor sie mit dem Vater der Kinder, selbst ein Waise ohne Verwandte, eine Familie gegründet hatte. Ihre Mutter war immer todschick, selbst bei bewölktem Wetter setzte sie ihre schwarz-goldene Sonnenbrille auf, sie trug edle Designermode aus Paris und als Parfüm Chanel No 5, so dass jedes Zimmer, das sie betrat, wunderbar duftete.

»Und dann kamt ihr drei«, sagte Susanna oft fröhlich, obwohl jeder merkte, dass sie die Kinder als eine Prüfung empfand. Offensichtlich war sie nicht für das Familienleben geschaffen. Sie war eine furchtbare Köchin, und jede Art von Hausarbeit schien sie zu verwirren. Die Waschmaschine bereitete ihr immer wieder Ärger und lief aus. Der Herd war öfter kaputt als funktionstüchtig, und jedes Gericht, an dem sie sich versuchte, blieb halb roh. Selbst Makkaroni mit Käse waren eine heikle Angelegenheit. Einmal die Woche kam eine Frau, um zu wischen und zu saugen, aber Susanna feuerte sie, weil sie den Kindern gezeigt hatte, wie ein Ouija-Brett funktionierte. Das Brett wurde konfisziert und im Kamin verbrannt.

»Ihr kennt die Regeln!«, rief sie. »Ruft nicht die Dunkelheit herbei, wenn ihr nicht auf die Folgen vorbereitet seid.« Susanna wirkte richtig wütend, als sie das Ouija-Brett mit einem Schürhaken in die Flammen schob.

Die strengen Regeln ihrer Mutter machten die Kinder nur noch neugieriger. Warum zog sie am ersten Mai die Vorhänge zu und ließ sie im Dunkeln sitzen? Warum trug sie bei Mondlicht eine Sonnenbrille? Warum geriet sie in Panik, wenn ihnen das Salz ausging, und lief sofort in den Laden, um neues zu kaufen? Sie suchten nach Hinweisen auf ihre Familiengeschichte, fanden aber nur wenige Andenken. Eines Tages allerdings entdeckte Franny auf dem obersten Brett des Flurschranks ein in Musselin gewickeltes altes Fotoalbum. Die verblassten Bilder darin zeigten Frauen in einem üppigen, verwilderten Garten, eine Gruppe Mädchen in langen Röcken, die in die Kamera strahlten, eine schwarze Katze auf einer Veranda, Susanna als junge Frau vor der Notre-Dame. Als Frannys Mutter sie auf dem Sofa im Salon mit dem Album fand, nahm sie es ihr sofort weg. »Es ist zu deinem Besten«, sagte sie sanft. »Ich will nur, dass du ein normales Leben führen kannst.«

»Mutter«, seufzte Franny. »Warum glaubst du, ich würde das wollen?«

***

Was vorherbestimmt ist, wird auch geschehen, ob man es will oder nicht. An einem Junimorgen änderte sich ihr Leben für immer. Es war 1960, und plötzlich hatten sie das Gefühl, alles sei möglich und könne abrupt und ohne Vorwarnung geschehen. Das Schuljahr hatte geendet, was sie als echte Erleichterung empfanden, doch das Leben zu Hause war erdrückend. Über New York City hing schmutzige, feuchte Luft wie eine Glocke. Als die Temperaturen über dreißig Grad stiegen und die Geschwister sich zu Tode langweilten, traf ein Brief ein. Der Umschlag schien zu pulsieren, als würde ein Herz in ihm schlagen. Obwohl er keine Briefmarke trug, hatte der Postbote ihn durch den Briefschlitz in ihrer Haustür geworfen.

Susanna sah den Brief nur an und sagte: »Er ist von meiner Tante Isabella.«

»Wir haben eine Tante?«, fragte Franny.

»O Gott, nicht von ihr«, warf Dr. Burke-Owens ein. »Mach den Brief nicht auf.«

Aber Susanna hatte schon einen Fingernagel unter die Klappe des Umschlags geschoben. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als würde sie eine Tür öffnen, die lange geschlossen war. »Es ist eine Einladung für Franny. Jede bekommt eine, wenn sie siebzehn wird. Das ist Tradition.«

»Dann sollte ich gehen«, sagte Franny schnell. Sie hätte sich auf alles eingelassen, um den Regeln ihrer Mutter zu entkommen.

»Wenn du das tust, wird nichts mehr sein wie zuvor«, warnte ihre Mutter.

»Unwahrscheinlich.« Franny nahm ihr den Umschlag aus der Hand. Sie war mutig, sehr mutig, und sie wagte sich auch in Situationen, vor denen andere zurückgeschreckt wären. Außerdem war der Brief an sie gerichtet, nicht an ihre Mutter.

»Du musst dich auf jeden Fall von Massachusetts fernhalten«, schaltete ihr Vater sich ein. »Der Kontakt zu einem Mitglied der Familie, egal zu welchem, würde Eigenschaften wecken, die im Moment schlummern.«

Franny ignorierte ihren Vater und betrachtete die altmodische Handschrift, die an die Fußspuren eines Vogels erinnerte.

Du kannst noch heute Nachmittag aufbrechen und zum Abendessen da sein.

»Warst du dort, als du siebzehn geworden bist?«, fragte Franny ihre Mutter.

Susanna blinzelte mit ihren großen grauen Augen. So, wie Franny sie ansah, konnte sie nicht lügen. »Ja«, gab sie zu. »Danach bin ich nach Paris gegangen, und damit hatte es sich. Aber du.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich dich allein gehen lassen kann. Du bist jetzt schon so rebellisch.«

»Bin ich nicht!«, bewies Franny ihren typischen Widerspruchsgeist.

Vincent trat ihr auf den Fuß, damit sie den Mund hielt. Er sehnte sich nach einem Abenteuer. »Wir begleiten sie«, sagte er.

»Wir können auf sie aufpassen«, fügte Jet hinzu.

Ihr Entschluss stand fest. Sie würden den Sommer nicht zu Hause verbringen. Während ihre Eltern noch diskutierten, waren Franny, Vincent und Jet schon mit Packen beschäftigt und riefen einander zu, sie sollten ihre Badesachen und Sandalen nicht vergessen. Sie waren aufgekratzt, weil sie endlich herausfinden würden, woher sie kamen.

Als sie ihre Koffer, Rucksäcke und Vincents Gitarre in die Küche brachten, saß ihre Mutter allein mit geröteten Augen am Tisch. Verdutzt sahen die Kinder sie an. War sie ihre Verbündete oder ihre Feindin?

»Es ist nun einmal eine offizielle Einladung«, sagte Susanna. »Ich habe eurem Vater erklärt, dass man meiner Tante gegenüber nicht unhöflich sein sollte, aber ich weiß nicht, ob er es verstanden hat.« Sie wandte sich an Vincent und Jet. »Passt ihr auf Franny auf?«

Sie versprachen es.

»Isabelle wird euch überraschen«, sagte Susanna. »Sie wird euch auf die Probe stellen, wenn ihr es am wenigsten erwartet. Ihr werdet glauben, niemand würde euch beobachten, aber ihr entgeht nichts. Und ihr müsst versprechen, dass ihr zu mir zurückkommt«, bat sie mit Tränen in den Augen. Sie zeigte ihre Gefühle selten so offen, und die Kinder merken, wie niedergeschlagen sie war. Dadurch wirkte die Reise nach Massachusetts nur umso verlockender.

»Natürlich kommen wir zurück«, sagte Franny. »Wir sind New Yorker.«

»Es ist nur für den Sommer«, beruhigte Jet ihre Mutter.

Jeder musste irgendwann sein Zuhause verlassen, nicht wahr? Sie mussten allein hinaus in die Welt ziehen und herausfinden, wer sie waren und was die Zukunft für sie bereithielt. Für den Anfang war Vincent schon mit einem Busticket zufrieden, und er sah seinen Schwestern an, dass sie genauso dachten. Sie würden sich nicht umentscheiden, keinen Rückzieher machen und sich nicht für das gewöhnliche Leben entscheiden, das ihnen bisher tagtäglich aufgezwungen worden war.

***

Sie kamen an Mittsommer an, dem Tag der Sommersonnenwende, der so lang ist, dass man endlich einmal das Gefühl hat, man hätte alle Zeit der Welt. Die Rosen blühten, und eine grüne Wolke aus Pollen wehte durch die Abenddämmerung. Als sie durch die kleine Stadt gingen, kamen die Anwohner an ihre Fenster und gafften. Jeder wusste, dass schwarz gekleidete Fremde wahrscheinlich zur Magnolia Street wollten. Die meisten Menschen mieden die Owens, sie glaubten, jeder engere Kontakt könnte ihre Gegenwart und sogar ihre Zukunft ruinieren. Einigen Mitgliedern der Familie sagte man nach, sie könnten ein Pferdehaar in eine Schale mit Wasser legen und es in eine Schlange verwandeln. Wenn sie einen Kreis aus Staub streuten, sollte man besser nicht hineintreten, auch nicht, wenn der Staub verweht war, sonst konnte man in ein Loch aus Begierde oder Bedauern fallen und nie wieder herausfinden.

»Die wirken nicht besonders gastfreundlich«, sagte Jet besorgt, als die Nachbarn sie finster anstarrten.

»Zum Teufel mit denen«, entgegnete Franny. Hatte ihre Schwester in der Starling School denn nichts gelernt? Die Meinung anderer Leute bedeutete nichts, es sei denn, man schenkte ihr Bedeutung.

Vincent sah schon mit vierzehn unverschämt attraktiv aus. Er war eins zweiundneunzig groß und wirkte trotz seiner Hagerkeit imposant. Jetzt schüttelte er die hochgereckte Faust und johlte den Gaffern zu. Sofort ertönte entlang der Straße das Klicken von Türschlössern.

»Großartig«, sagte Vincent. »Die machen uns keinen Ärger.«

Er fiel überall auf, aber besonders hier, wo seine Altersgenossen in weiten Jeans auf einem staubigen Feld Baseball spielten und gerade innehielten, um die Fremden zu beobachten, die sich in ihre kleine Stadt verirrt hatten. Vincent hatte seine schwarzen Haare glatt nach hinten gekämmt und trug seine Gitarre über der Schulter, obwohl sein Vater erklärt hatte, eine Gitarre sei, ebenso wie ein Sportwagen, Ausdruck eines beschädigten männlichen Egos. »Dann habe ich halt einen Schaden.« Vincent hatte mit den Schultern gezuckt. »Wer nicht?«

Am Ende der Magnolia Street blieben sie eingeschüchtert stehen. Das Haus war riesig, es hatte schiefe Schornsteine und Dutzende Fenster aus grünem Glas. Das Grundstück war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, aber ein Tor war nirgends zu entdecken.

»Spürt ihr hier etwas?«, fragte Vincent seine Schwestern.

»Mücken?«, riet Franny. Sie betrachtete die matschigen Pfützen im weitläufigen Gemüsegarten. »Wahrscheinlich gute Chancen, sich die Ruhr einzufangen.«

Vincent verzog das Gesicht. »Nur die Harten kommen in den Garten«, sagte er und ging weiter, um sich umzusehen. Im Garten wucherten die Pflanzen so üppig und grün, dass einem schwindlig wurde. Es gab ein Hühnerhaus, vor dem braune und weiße Hühner gackernd Körner vom Boden pickten, einen Gartenschuppen umgeben von blauvioletten Pflanzen, die Vincent überragten, und ein Gewächshaus, das mit einem Vorhängeschloss versperrt war und wie ein vielversprechendes Versteck wirkte.

»Hier drüben«, rief Vincent, nachdem er etwas dorniges Gestrüpp entfernt hatte. Er hatte ein rostiges Tor gefunden, hinter dem ein bläulicher Natursteinweg begann. Seine Schwestern folgten ihm zur Veranda vor dem Haus und liefen die Stufen hinauf. Als Franny klopfen wollte, öffnete sich die Tür von selbst. Alle drei wichen einen Schritt zurück.

»Die Tür ist einfach alt«, sagte Franny gleichmütig. »Mehr nicht. Es ist heiß, und der Holzrahmen hat sich gedehnt.«

»Meinst du?« Vincent streckte sich zu seiner vollen Länge und spähte ins schattige Innere. Er spürte, dass etwas in der Luft lag. »Das ist längst nicht alles. Hier ist mehr, Hunderte Jahre mehr.«

Isabelle Owens war in der Küche zugange und hatte der Tür den Rücken zugewandt. Sie war eine beeindruckende Frau, zierlich, aber mit einem bestimmten Auftreten. Ihre weißen Haare hatte sie nachlässig hochgesteckt, und trotz ihres Alters hatte sie einen perfekten Teint. Sie trug jeden Tag schwarz, auch heute. Franny starrte sie an, bis ihre Tante sich plötzlich in ihre Richtung drehte. Mit klopfendem Herzen versteckte Franny sich instinktiv hinter einer Topfpflanze. Vincent und Jet machten es ihr nach, sie duckten sich neben ihrer Schwester und hielten sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen. So nervös hatten sie Franny noch nie gesehen.

»Pst«, zischte Franny ihnen zu.

»Ich dachte mir schon, dass ihr alle kommt, also warum traut ihr euch nicht herein? Seid ihr Kaninchen oder mutige Seelen?«, rief ihre Tante. »Ein Kaninchen läuft davon und glaubt sich in Sicherheit, bis es von einem Habicht geschnappt wird. Eine mutige Seele isst mit mir zu Abend.«

Sie folgten der Aufforderung, obwohl sie spürten, dass sie damit ein anderes Leben begannen.

Franny betrat als Erste die Küche, wie es sich gehörte, schließlich war sie die Erstgeborene und Beschützerin. Außerdem war sie neugierig. Die beeindruckend große Küche war mit einem langen, alten Tisch aus Kiefernholz ausgestattet, an dem zwölf Personen Platz finden konnten, außerdem gab es einen wuchtigen schwarzen Herd, wie er seit Jahrzehnten nicht mehr verkauft wurde. Isabelle hatte einen Gemüseeintopf, Plumpudding und frisches Rosmarinbrot vorbereitet. Der Tisch war mit Tellern und Schalen mit englischem Landschaftsmuster und altem Zinnbesteck gedeckt, das mal poliert werden musste. Im Haus gab es keine Uhren, und es schien zu versprechen, dass die Zeit in einer ganz anderen Geschwindigkeit verstreichen würde, sobald man seine Schwelle übertreten hatte.

»Danke für die Einladung«, sagte Franny höflich.

Irgendetwas musste man ja sagen, wenn man den Menschen, bei dem man die gesamten Sommerferien verbringen würde, nicht kannte, besonders, wenn dieser jemand Kräfte zu besitzen schien, vor denen man offensichtlich Respekt haben sollte.

Isabelle musterte sie. »Wenn du dich richtig bedanken willst, kümmere dich um das, was im Esszimmer wartet.«

Die Geschwister sahen sich an. Das war sicher eine dieser Prüfungen, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte.

»In Ordnung.« Franny stellte sich der Herausforderung, ohne auch nur zu fragen, worum es ging. »Das mache ich.«

Ihr Bruder und ihre Schwester folgten ihr neugierig. Das Haus war riesig und hatte drei Etagen. In allen Zimmern hingen dichte Vorhänge vor den Fenstern, die jeden Sonnenstrahl aussperren konnten, und trotz der Staubkörnchen, die durch die Luft tanzten, schimmerten sämtliche Holzoberflächen. Fünfzehn verschiedene Holzsorten waren für die Kaminsimse und die Wandpaneele verarbeitet worden, darunter Goldeiche, Silberesche, Kirsche und mehrere Baumarten, die mittlerweile ausgestorben waren. Es gab zwei Treppen, eine zugige, verwinkelte Hintertreppe und eine elegante Haupttreppe aus Mahagoni. Die Geschwister blieben stehen und blickten die geschnitzte Treppe hinauf zum Absatz. Dort hing seitlich über einer Fenstersitzbank das Porträt einer schönen dunkelhaarigen Frau in Blau.

»Das ist eure Vorfahrin Maria Owens«, erklärte ihre Tante, als sie die drei ins Esszimmer führte.

»Sie starrt uns an«, flüsterte Jet ihrem Bruder zu.

Vincent schnaubte. »Blödsinn. Reiß dich zusammen, Jet.«

Im Esszimmer war es dämmrig, die Damastvorhänge waren zugezogen. Wie sich zeigte, musste kein Geist vertrieben werden, sondern nur ein braunes Vögelchen, das durch ein halb geöffnetes Fenster hereingeflattert war. Jedes Jahr am Mittsommertag fand ein Spatz den Weg ins Haus und musste mit einem Besen vertrieben werden, weil ihm alles Pech folgte, wenn er davonflog. Isabelle wollte gerade den Besen dafür weitergeben, doch das war nicht nötig. Der Vogel kam von allein zu Franny, wie es die Vögel im Central Park immer taten, landete auf ihrer Schulter und plusterte sich auf.

»Eine Premiere.« Isabelle gab sich Mühe, nicht beeindruckt zu klingen. »Das hat bisher noch kein Vogel gemacht.«

Franny nahm den Spatz in die gewölbten Hände. »Hallo«, sagte sie leise. Der Vogel spähte sie mit seinen glänzenden Augen an, ihre Stimme schien ihn zu beruhigen. Am offenen Fenster ließ Franny den Spatz fliegen. Jet und Vincent kamen zu ihr und blickten ihm nach, als er zwischen den Ästen eines uralten Baumes verschwand, einer der wenigen Ulmen in Massachusetts, die das Ulmensterben überlebt hatten. Franny wandte sich zu ihrer Tante um. Sie sahen sich voll stummer Anerkennung an.

»Willkommen zu Hause«, sagte Isabelle.

***

Nachdem sich die Geschwister eingelebt hatten, fragten sie sich, warum sie nicht jeden Sommer in der Magnolia Street verbracht hatten. Mit Tante Isabelle konnte man erstaunlich gut auskommen. Sie stellten begeistert fest, dass ihrer Tante gutes Benehmen vollkommen egal war. Sie scherte sich nicht um gesunde Ernährung oder Schlafgewohnheiten. Zum Frühstück gab es Süßigkeiten, wenn sie wollten. Und den ganzen Tag Limonade. Wenn ihnen danach war, durften sie bis zum Morgengrauen aufbleiben und bis mittags schlafen. Sie mussten weder ihre Zimmer ordentlich halten noch ihre Sachen wegräumen.

»Macht, was ihr wollt«, sagte sie den Geschwistern. »Solange ihr niemandem schadet.«

Wenn Vincent rauchen wollte, musste er sich nicht hinter dem Gartenschuppen verstecken, allerdings ließ Isabelle keinen Zweifel daran, dass sie es missbilligte. Das Rauchen gehörte zu den Dingen, die schadeten, auch wenn Vincent selbst derjenige war, der darunter litt.

»Das ist schlecht für die Lunge«, schimpfte Isabelle. »Aber du führst das Schicksal ja gern in Versuchung, nicht wahr? Keine Angst, es kommt schon alles in Ordnung.«

Ihre Tante schien Seiten von Vincents Psyche zu sehen, von denen nicht einmal seine Schwestern etwas ahnten. Vincent hatte sich nie anmerken lassen, dass er sich oft erschreckte, wenn er an einem Spiegel vorbeikam. Wer war er tatsächlich? Ein Vermisster? Ein Körper ohne Seele? Er verbarg etwas vor sich selbst, und vielleicht sollte er wirklich Rat annehmen. Er drückte die Zigarette in einem Geranientopf aus, obwohl er noch nicht ganz überzeugt davon war, dass er auf seine Gesundheit oder seine Gewohnheiten achten sollte.

»Jeder stirbt an irgendwas«, sagte er.

»Aber wir müssen es ja nicht beschleunigen, oder?« Isabelle nahm den Zigarettenstummel aus dem Blumentopf, damit das Nikotin nicht die Pflanze vergiftete. »Du bist ein guter Junge, Vincent, egal, was die Leute sagen.«

***

In der ganzen Stadt sah man nach Mitternacht nur noch am Haus der Owens Licht. Die hintere Veranda war seit Hunderten Jahren beleuchtet, zuerst mit Öl, dann mit Gas, jetzt mit Strom. Motten flatterten durch den Efeu. In diesen Stunden kamen Frauen zum Haus, die ein Mittel gegen Ausschlag, Fieber oder ein gebrochenes Herz wollten. Die Leute aus dem Ort mochten die Owens zwar nicht und wechselten die Straßenseite, sobald sie Isabelle mit ihrem schwarzen Sonnenschirm auf dem Weg zum Markt entdeckten, aber wenn sie etwas brauchten, schlugen sie sich durch die Dornenbüsche und Ranken bis zur Veranda durch und klingelten. Solange das Verandalicht brannte, waren sie willkommen, das wussten sie. Sie wurden in die Küche gebeten und setzten sich an den alten Kieferntisch. Dann fingen sie an, ihre Geschichten zu erzählen, teilweise etwas zu ausführlich.

»Fassen Sie sich kurz«, sagte Isabelle immer, und ihre strenge Miene brachte die Leute auch dazu. Ein Heilmittel konnte ein halbes Dutzend Eier kosten oder auch einen Diamantring, das kam auf die Umstände an. Manchmal genügte eine symbolische Bezahlung, etwa für Meerrettich und Cayennepfeffer gegen Husten, für Dillsamen, um Schluckauf zu vertreiben, für Fiebertee, der eine Grippe im Keim ersticken sollte, oder für Enttäuschungstee, um die Mütter missratener Söhne in schlaflosen Nächten zu beruhigen. Allerdings wurden auch oft Dinge verlangt, die weit teurer waren, manche Heilmittel kosteten das Wertvollste, das jemand besaß. Wollte man einen Mann an sich binden, der einer anderen gehörte, ein Lügennetz spinnen, um Missetaten zu vertuschen, einen Kriminellen auf den rechten Pfad bringen, zu jemandem am Rande der Verzweiflung durchdringen und ihn zurück ins Leben holen, dann wurde es teuer. Franny hatte zufällig einige der beunruhigenderen Zutaten in der Vorratskammer entdeckt: das blutige Herz einer Taube, kleine Frösche, ein Glasfläschchen mit Zähnen, Haarsträhnen, die man kochen oder verbrennen musste, je nachdem, ob man jemanden zu sich rufen oder fortschicken wollte.

Franny setzte sich oft auf die Stufen hinter dem Haus und lauschte. In der Drogerie hatte sie ein blaues Notizbuch gekauft, in das sie die Heilmittel ihrer Tante schrieb. Mormonentulpe, um Träume zu verstehen, Goldmelisse für einen erholsamen Schlaf, Samen von Schwarzem Senf, um Albträume fernzuhalten, Heilmittel mit ätherischen Ölen aus Mandeln, Aprikose oder Myrrhe von Dornenbüschen in der Wüste. Legte man zwei Eier, die niemals gegessen werden durften, unter sein Bett, beseitigten sie Missstimmungen. Essig diente als reinigendes Bad. Knoblauch, Salz und Rosmarin ergaben einen alten Zauber, der das Böse vertrieb.

Wollte eine Frau ein Kind bekommen, sollte sie Mistelzweige über ihr Bett hängen. Zeigte das keine Wirkung, dann sollte sie in ein dickes Seil neun Knoten machen, das Seil verbrennen und die Asche essen, und schon bald würde sie schwanger werden. Um sich zu schützen, musste man Blau tragen. Mondsteine halfen bei Beziehungen zu den Lebenden, Topase bei Kontakten zu den Toten. Mit Kupfer, das Venus heilig ist, konnte man einen Mann zu sich rufen und mit schwarzem Turmalin Eifersucht tilgen. Wenn es um Liebe ging, musste man immer vorsichtig sein. Ließ man etwas, das dem Mann gehörte, den man liebte, in eine Kerzenflamme fallen, gab Kiefernnadeln und Ringelblumen dazu, dann stand er am nächsten Morgen vor der Tür; man sollte sich also sicher sein, dass man das wollte. Der einfachste und verlässlichste Liebeszauber bestand aus Anis, Rosmarin, Honig und Gewürznelken und musste neun Stunden lang auf dem alten Ofen bei niedriger Temperatur vor sich hin köcheln. Er hatte schon immer 9,99 Dollar gekostet, hieß deshalb Liebestrank Nummer neun und funktionierte am besten in der neunten Stunde des neunten Tages des neunten Monats.

Nachdem Franny so einiges gehört hatte, kam sie zu dem Schuss, dass Magie sich gar nicht groß von Wissenschaft unterschied. Beide strebten nach Bedeutung, wo es keine gab, nach Licht in der Dunkelheit, nach Antworten auf Fragen, die Sterbliche nicht begreifen konnten. Tante Isabelle wusste, dass ihre Nichte auf den Stufen saß und mitschrieb, aber sie sagte nichts. Sie hatte Franny sehr ins Herz geschlossen. Die beiden waren sich ähnlicher, als Franny vielleicht wahrhaben wollte.

***

Zum Glück war Tante Isabelle bis tief in die Nacht mit ihren Kundinnen beschäftigt und machte üblicherweise nachmittags ein Nickerchen. Damit bescherte sie Frances, Jet und Vincent lange, träge Tage, an denen sie tun konnten, was sie wollten. Sie schlenderten in die Stadt und kamen an einem alten Friedhof vorbei, wo auf jedem Grabstein der Name Owens stand. Der Anblick der vielen moosbedeckten Steine berührte sie, und sie blieben schweigend vor dem rostigen Zaun stehen. Als Jet sich genauer umsehen wollte, weigerten sich die anderen.

»Es ist Sommer, und wir sind frei. Machen wir uns doch einfach mal einen schönen Tag.« Franny schnappte sich Jets Arm und zog sie an den Friedhofstoren vorbei.

»Einen richtig schönen Tag«, stimmte Vincent zu. »Zumindest so schön, wie es in diesem Kaff geht.«

Sie bestellen Eiscreme-Soda am Linoleumtresen der alten Apotheke, bummelten im Schatten der Bäume durch schmale Straßen und legten sich im Park ins Gras, wo sie immer wieder in Lachen ausbrachen, wenn die Schwäne ungezogene Kinder über die Wiese jagten, um ihr Revier zu verteidigen. An besonders heißen Tagen wanderten sie am liebsten zum Leech Lake, den kaum jemand besuchte, weil im trüben tieferen Wasser hinter dem Schilf unzählige Blutegel lauerten. Franny hatte in ihrem Rucksack immer ein Paket Salz dabei, um festgesaugte Blutegel zu lösen, aber aus irgendeinem Grund wagte sich keiner in ihre Nähe.

»Verschwindet«, rief Franny, und sie verschwanden.

Die Owens-Geschwister sonnten sich stundenlang, dann forderten sie sich gegenseitig heraus, von den hohen Felsvorsprüngen ins eiskalte grüne Wasser zu springen. Wie tief sie auch eintauchten, sie kamen sofort wieder zitternd und prustend an die Oberfläche. Sie konnte nicht versinken und nicht einmal den Kopf unter Wasser halten.

»Wir gehen gar nicht unter«, sagte Jet fröhlich, ließ sich auf dem Rücken treiben und spritzte mit dem Wasser. Sogar in ihrem alten schwarzen Badeanzug war sie bildhübsch, eine dieser jungen erblühenden Frauen, die oft Eifersucht oder Lust weckten.

»Ihr wisst ja, wen man nicht ertränken kann«, warf Vincent von einem flachen Felsen aus ein. Das hatte er aus dem Magus mit seinen Zeichnungen gelernt, auf denen Frauen an Stühle gefesselt und in Teiche gesenkt wurden. Er strich sich die langen schwarzen Haare zurück. Sein Vater würde ausrasten, wenn er mit dieser Mähne in die Stadt zurückkehrte. Als seine Schwestern ihn nur verwirrt ansahen, gab er die Antwort. »Hexen.«

»Es gibt für alles wissenschaftliche Erklärungen«, sagte Franny in ihrer direkten Art. »Ich glaube nicht an Märchen.«

»Franny«, widersprach Vincent bestimmt. »Du weißt, wer wir sind.«

Ihr gefiel nicht, was ihr Bruder andeutete. Waren sie keine echten Menschen, gehörten sie zu den Wesen, die gefürchtet und von der Meute durch die Straßen getrieben wurden? Wurden sie deshalb von den Nachbarn gemieden, und hatte an diesem seltsamen Tag in der Küche, als sie ihre Kräfte ausprobiert hatten, der Tisch deshalb geschwebt?

»Ich liebe Märchen«, sagte Jet verträumt. Wenn sie im See trieb, fühlte sie sich wie eine Wassernymphe, wie ein richtiger Naturgeist. Sie trocknete sich mit einem Handtuch ab, dann breitete sie eine Spitzendecke über einen tischförmigen Stein und packte das Mittagessen aus: Eiersalatsandwiches und Selleriestangen. In einer Thermoskanne hatte sie Enttäuschungstee nach einem Rezept aus Tante Isabelles Küche mitgebracht. Wer davon trank, wurde fröhlich und guter Dinge, was Franny dringend brauchen konnte, wie Jet fand.

Als sie darüber sprachen, dass sie im Wasser nicht untergingen, breitete sich ein Grinsen auf Vincents Gesicht aus. »Ich finde, es ist doch ziemlich klar, was wir sind.« Er hob die Arme, und die Finken in den Büschen flogen in einer großen, wirbelnden Wolke empor. »Seht ihr, was ich meine? Wir sind nicht normal.«

»Normal ist kein wissenschaftlicher Begriff«, winkte Franny ab. »Außerdem kann jeder Finken erschrecken. Das schafft sogar eine Katze. Versuch mal, sie zu dir zu rufen.« Sie streckte eine Hand aus. Mehrere Finken setzten sich auf ihre Handfläche und zwitscherten, bis Franny sie mit einem sanften Pusten vertrieb. Auf diese Fähigkeit war sie sehr stolz.

»Damit beweist du doch, was ich sage.« Vincent lachte, sprang in den See und schnellte wieder nach oben, als würde das Wasser ihn abstoßen. »Schaut mal!«, rief er aufgekratzt, als er knapp über der Oberfläche trieb.

Beim Abendessen warf Vincent seinen Schwestern einen Blick zu, dann wandte er sich an ihre Tante und fragte, ob die Geschichten, die er über die Owens gehört hatte, stimmten.

»Ihr wisst, wer ihr seid«, antwortete Isabelle. »Und ich rate euch, es nie abzustreiten.«

Sie erzählte ihnen von einer Cousine namens Maggie Owens, die einmal den Sommer bei ihr verbracht hatte. Weil Maggie sich unbedingt mit den Leuten aus der Stadt anfreunden wollte, verbreitete sie wilde Geschichten über ihre Familie. Die Owens würden nackt im Garten tanzen, sich an Unschuldigen rächen und Hagel und Sturm vom Himmel beschwören. Sie schrieb sogar einen Gastbeitrag für die Lokalzeitschrift, verleumdete die Owens und schlug vor, sie alle einzusperren.

Die Familie setzte Maggie vor die Tür und sagte ihr, sie solle zurück nach Boston gehen. Es war eine Sache, dass die Außenwelt gegen sie war, aber ein Mitglied der eigenen Familie? Das war etwas ganz anderes.

Maggie Owens war so wütend, als sie mit ihrem Koffer auf der Straße stand, dass sie einen ganzen Reigen von Flüchen aussprach, und mit jedem Fluch wurde sie kleiner. Manche Zauber richten sich gegen den, der sie benutzt, vielleicht hatten ihre Cousinen im Haus auch einen schwarzen Umkehrspiegel aufgestellt. Jedes boshafte Wort, das Maggie über die Lippen kam, fiel auf sie selbst zurück. Sie konnte nicht einmal mehr das Türschloss entriegeln. Jeder Funken Magie in ihren Adern war verflogen. Sie hatte verleugnet, wer sie war, und wenn man das tut, kann man leicht etwas ganz anderes werden. Höchstwahrscheinlich das erste Wesen, das man sieht, was in ihrem Fall ein Kaninchen war, das durch den Garten lief. Maggie schlief auf dem Rasen als Frau ein und wachte als Kaninchen auf. Jetzt mümmelte sie Grünzeug und trank Milch aus einer Untertasse.

»Haltet die Augen offen«, sagte Isabelle zu den Geschwistern. »Vielleicht seht ihr sie im Garten. So kann es enden, wenn man seine eigene Natur ablehnt. Tut ihr das, arbeitet das Leben gegen euch, und euer Schicksal gehört nicht mehr euch selbst.«

***

Für Jet gab es keinen schöneren Ort als den Garten. Sie liebte die schattigen grünen Oasen, wo Azaleen und Maiglöckchen wild wuchsen. Aber seit sie die Geschichte über ihre Cousine gehört hatte, betrachtete sie die Kaninchen, die an der Petersilie, der Minze und dem gewellten Kopfsalat in seinen säuberlich gepflanzten Reihen knabberten, mit einem mulmigen Gefühl.

»Wir verwandeln uns auf keinen Fall in Kaninchen, falls du darüber nachdenkst«, sagte Franny. »So dumm sind wir nicht.«

»Ich wäre lieber ein Fuchs«, verkündete Vincent. Er brachte sich einen Song von Ramblin’ Jack Elliott auf der Gitarre bei. »Geschickt, schlau, unauffällig.«

»Und ich eine Katze«, sagte Jet. Ihre Tante hatte sechs schwarze Katzen. Wren, ein kleines Kätzchen, war besonders anhänglich geworden und folgte Jet, wenn sie Unkraut jätete. Jet hegte den leisen Verdacht, dass Isabelle die Geschichte der abtrünnigen Cousine vor allem ihr erzählt hatte, als Warnung, weil sie so oft gesagt hatte, sie wolle ein normales Mädchen sein.

Ein großes, furchtloses Kaninchen starrte sie an. Es hatte schwarze Tasthaare und graue Augen. Jet wurde plötzlich kalt. »Maggie?«, fragte sie leise. Sie bekam keine Antwort. »Sollen wir ihr Milch geben?«, fragte sie Franny.

»Milch?«, sagte Franny verächtlich. »Das ist nur ein Kaninchen, mehr nicht.« Franny warf dem Tier ein paar Grasbüschel zu. »Ksch, ksch!«

Verwundert sahen sie, dass das Kaninchen sitzen blieb und ungerührt Löwenzahnstängel mümmelte.

»Das ist sie«, flüsterte Jet und stieß ihre Schwester an.

»Maggie?«, rief Franny. Von der Geschichte ihrer Tante glaubte sie kein Wort, aber dieses Tier war wirklich seltsam. »Verschwinde!«, befahl sie ihm.

Jet dachte, eine Bitte würde vielleicht besser funktionieren als ein Befehl. »O Kaninchen, bitte lass uns in Ruhe«, versuchte sie es respektvoll und freundlich. »Es tut uns leid, dass du keine Frau mehr bist, aber daran bist du schuld, nicht wir.«

Das Kaninchen folgte der Bitte und hoppelte in das Wäldchen, in dem der Bienenstock stand. Während Jet Besenkraut und Brombeerzweige aufeinanderlegte, nahm sie sich vor, jeden Morgen eine Untertasse mit Milch nach draußen zu stellen. Franny sah dem Kaninchen nach und fragte sich, ob hinter dem sanften Wesen ihrer Schwester nicht mehr steckte, als sie und Vincent vermuteten. Vielleicht kannten sie Jet nicht so gut, wie sie dachten.

Mittlerweile hatte Franny eigene Theorien über ihre Herkunft entwickelt. An regnerischen Nachmittagen zog sie allein los. Während die anderen faulenzten, blätterte sie in der Stadtbücherei alte, tintenverschmierte Ausgaben des Salem Mercury und der Essex Gazette durch. Sie hatte entdeckt, dass Hexerei in der Familie Owens eine lange Geschichte hatte. In den Annalen der Stadt, die im recht armseligen Raum für seltene Bücher verwahrt wurden, waren die Verbrechen aufgelistet, die man den Mitgliedern der Familie angelastet hatte. Sie stammten aus einer Zeit, in der jede Frau Gefahr lief, unnatürlicher Handlungen beschuldigt und im Leech Lake ertränkt zu werden. Hexen konnte man allerdings nur ertränken, wenn man ihnen Steine in die Taschen oder Stiefel steckte oder in den Mund stopfte und die Lippen mit schwarzem Faden zusammennähte. Zu den Missetaten der Owens gehörten das Belegen mit Flüchen, Verzauberungen, der Diebstahl einer Kuh, die Benutzung von Kräutern als Heilmittel, unehelich geborene Kinder sowie Feinde, denen Unheil widerfahren war. Die ersten Vorwürfe stammten von John Hathorne, dem Richter bei den Prozessen, die so viele Unschuldige das Leben gekostet hatten.

Franny hatte einen Vermerk gefunden, demzufolge Maria Owens’ Tagebuch im Raum für seltene Bücher verwahrt wurde. Es lag in einer Schublade, die von der Bibliothekarin mit einem eisernen Schlüssel aufgeschlossen werden musste. Das Schloss klemmte und ließ sich erst nach langem Stochern öffnen. In der Schublade lag ein dünnes Buch mit einem fleckigen grau-blauen Einband, sorgfältig in Plastikfolie eingeschlagen.

»Sei vorsichtig damit«, warnte die Bibliothekarin. Sie fürchtete sich offensichtlich vor dem schmalen Band und berührte ihn nicht einmal. Damit Franny das empfindliche Papier nicht beschädigte, gab die Bibliothekarin ihr weiße Handschuhe. In dem Zimmer war es so staubig, dass Franny einen heftigen Niesanfall bekam.

»Du hast genau zwanzig Minuten«, sagte die Bibliothekarin. »Sonst könnte es Probleme geben.«

»Probleme?« Frannys Neugier war geweckt.

»Du weißt, was ich meine. Das ist ein Zauberbuch, das Maria Owens im Gefängnis geschrieben hat. Es sollte eigentlich verbrannt werden, aber der Bibliotheksvorstand hat sich geweigert. Die Leute dachten, es würde uns Pech bringen, wenn wir es zerstören, deshalb haben wir es wohl oder übel die ganze Zeit aufbewahrt.«

Hütet euch vor der Liebe, hatte Maria Owens auf der ersten Seite ihres Tagebuchs geschrieben. Wisset, dass für unsere Familie Liebe ein Fluch ist.

Von einem Fluch zu lesen, beunruhigte Franny. Seit sie in Massachusetts waren, hatte sie Haylin Briefe geschrieben. Freitagnachmittags brachte Franny sie zur Post und holte die Antworten ab, die er postlagernd schickte. Haylin untersuchte in New York das Ökosystem des Flüsschens Loch, das sich im Central Park durch ein Waldstück namens Ravine schlängelte. Die Glühwürmchen dort leuchteten alle im selben Rhythmus auf. Es war wie ein einziger, gemeinsamer Herzschlag, der eine Botschaft in die Dunkelheit sandte. Dieses Verhalten wurde schon in den Great Smoky Mountains und im Allegheny National Forest beobachtet, aber Haylin war offenbar der Erste, dem das Phänomen in Manhattan aufgefallen war.

Seit Franny das Tagebuch gefunden hatte, besuchte sie jeden Tag den Raum für seltene Bücher und las darin. Die Bibliothekare gewöhnten sich bald an das hochgewachsene, rothaarige Mädchen, das sich mit einer Lupe über die schmale, winzige Schrift beugte, um die Rezepte für Heilmittel zu entziffern. Mit ihrer Suche nach Wissen und Geschichte brachte Franny Leben in die Einrichtung, und einige Bibliothekare gestatteten ihr eine ganze Stunde mit dem Buch, obwohl es den Vorschriften widersprach. Sie waren der Ansicht, Leser sollten mit jedem Buch so viel Zeit verbringen, wie sie wollten.

Als Franny die letzte Seite von Marias Tagebuch erreichte, verstand sie, dass ein einziges gebrochenes Herz immer noch Auswirkungen auf sie alle hatte. Maria war vom Vater ihres Kindes, den sie nie genannt hatte, verstoßen worden. Ich sage nicht mehr, als dass er hätte mein Feind sein sollen, doch ich verliebte mich in ihn und beging den Fehler, meine Liebe zu gestehen. Sie wollte ihre Tochter, ihre Enkelin und alle Töchter der Owens, die noch folgen sollten, beschützen. Keine von ihnen sollte den Kummer erleiden, den Maria durchgemacht hatte, oder das Leben der Menschen zerstören, die sie liebten. Es war ein einfacher Fluch: Jeder Mann, der sich in sie verliebte, sollte zugrunde gehen.

Als Franny das las, wurde sie blass.

Ohne dich ist es hier nicht dasselbe, hatte Haylin in einem seiner Briefe geschrieben.

Offenbar war es ihm peinlich gewesen, dass er eine Grenze überschritten hatte, denn er hatte diesen Satz durchgestrichen und stattdessen Langweilig hier geschrieben. Aber Franny hatte durch die verschmierte schwarze Tinte hindurchsehen können und kannte die Wahrheit. Ohne ihn war es auch nicht dasselbe.

Frag nicht, wie der Zauber lautet oder wie er bewerkstelligt wurde. Ich wurde verraten und verlassen. Das wünsche ich keiner Frau meiner Familie.

»Ich sehe ihr ähnlich, oder?«, fragte Jet eines Tages, als sie Franny auf der Fenstersitzbank fand, wo sie nachdenklich das Porträt betrachtete. In einem von Marias Heilmitteln wurde ein noch schlagendes Taubenherz verlangt, das man dem lebenden Vogel aus der Brust reißen sollte. Für ein anderes sollte man die Haare und abgeschnittenen Fingernägel eines untreuen Mannes mit Zeder und Salbei verbrennen.

»Das möchtest du nicht«, antwortete Franny sofort. »Sie hat kein schönes Ende gefunden. Glaub mir, sie war unglücklich. Man hat sie der Hexerei beschuldigt.«

Jet setzte sich neben ihre Schwester. »Ob mir das auch passiert wäre, wenn ich damals gelebt hätte? Ich kann hören, was andere Leute denken.«

»Kannst du nicht«, sagte Franny, und dann, nach einem Blick auf ihre Schwester: »Oder doch?«

»Ist nicht so, dass ich es will«, sagte Jet. »Es passiert einfach.«

»Na gut. Was denke ich jetzt?«

»Franny.« Jet sträubte sich. »Gedanken sollten etwas Persönliches bleiben. Ich bemühe mich immer, nicht zuzuhören.«

»Doch, komm. Sag es mir. Was denke ich gerade?«

Jet zögerte. Sie nahm ihre langen schwarzen Haare mit einer Hand zusammen und schürzte die Lippen. Seit sie in Massachusetts waren, war sie jeden Tag hübscher geworden. »Du denkst, dass wir nicht wie andere Menschen sind.«

»Na ja, der Meinung war ich schon immer.« Franny lachte erleichtert, weil ihre Schwester nicht mehr erkannt hatte. »Das ist nichts Neues.«

Später ging Jet in den Garten und blieb unter dem Flieder mit seinen dunklen, herzförmigen Blättern stehen. Alles roch nach Minze und Bedauern.

Ich wünschte, wir wären wie andere Menschen.

Das hatte Franny gedacht.

Ich wünschte so sehr, wir könnten uns verlieben.

***

An einem sonnigen Sonntag fanden die Schwestern nach dem Aufwachen ein drittes Mädchen in ihrem Zimmer vor. Ihre Cousine April Owens war zu Besuch gekommen. April war in der vornehmen Welt von Beacon Hill aufgewachsen. Mit ihren platinblonden Haaren, die ihr zu Zöpfen geflochten bis zur Taille reichten, und den sehr hellen grauen Augen sah sie aus wie einem Gemälde einer anderen Ära entsprungen, doch dafür benahm sie sich überraschend modern. Sie hatte ein Päckchen Zigaretten und ein silbernes Feuerzeug bei sich und trug schwarzen Eyeliner. Sie war rau und kämpferisch und scherte sich nicht darum, was irgendjemand anders dachte. Das Eigenartigste war ihr Frettchen, das sie als Haustier an der Leine führte; es lief neben April her und ließ sie interessanter wirken als alle anderen Mädchen, denen die Schwestern je begegnet waren.

»Hat die Katze euch die Zunge geklaut?«, fragte April, als ihre Cousinen sie stumm anstarrten.

»Ganz sicher nicht.« Franny war aus ihren Tagträumen aufgewacht. »Wenn überhaupt, habe ich der Katze die Zunge geklaut.«

»Miau«, machte April.

April war im letzten Jahr siebzehn geworden und hatte den Sommer in der Magnolia Street verbracht, und jetzt war sie aus Beacon Hill fortgelaufen und an den einzigen Ort zurückgekehrt, an dem sie je akzeptiert wurde. Ihr Besuch war eine echte Überraschung und, wie Franny fand, vollkommen unnötig. Aprils Kleidung hätte eher nach Paris oder London als in eine kleine Stadt in Neuengland gepasst. Zu einem kurzen schwarzen Rock trug sie eine dünne Bluse und weiße Lederstiefel. Ihr Lippenstift schimmerte pink, ihr hellblonder Pony bedeckte fast die Augen. Sie hatte angefangen auszupacken: schicke Kleidung, Make-up, ein paar Kerzen und eine zerlesene Ausgabe von Lady Chatterleys Liebhaber, das früher verboten und erst vor kurzem in Amerika erschienen war.

»Das würde ich auch gern lesen«, sagte Jet, als sie den gewagten Roman sah, von dem alle sprachen.

April warf ihrer Cousine das Buch zu. »Aber nicht, dass es dich verdirbt«, sagte sie grinsend.

Ihre Cousine war eindeutig weltgewandter als die Schwestern. April war ungezügelt, sie machte, was sie wollte, und ließ sich nicht von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Beacon Hill einengen. Auf ein Handgelenk hatte sie sich einen blauen Stern tätowieren lassen und dafür mehrere Monate Hausarrest kassiert. Ein zweiter prangte auf ihrer Hüfte, doch den hatten ihre neugierigen, besorgten Eltern noch nicht entdeckt. Von klein auf hatte sie kaum eine Sekunde ohne Aufsicht verbracht, entweder durch ein Kindermädchen, durch eine Privatlehrerin oder durch Mary, die leidgeprüfte Hausgehilfin, die über den vielen Schabernack ihres Schützlings graue Haare bekommen hatte. Dr. Burke-Owens’ Theorien zufolge ließ sich solch tief verwurzeltes Verhalten nicht abstellen, es war wie die Flut, die immer weiter anstieg, was man ihr auch in den Weg legte.

April hatte mehrere Privatschulen besucht und war von jeder verwiesen worden. Autorität erkannte sie nicht an, sie war eine geborene Radikale. Sie erzählte den Schwestern, sie könne durch bloßen Willen das Licht ein- und ausschalten und in vier Sprachen Flüche aussprechen. Sie war auf Reisen nach Europa und Südamerika geschickt worden und hatte unterwegs von Männern Dinge gelernt, bei denen ihren Eltern schwindelig vor Sorge geworden wäre, hätten sie davon gewusst. Mögliche Konsequenzen schienen sie nicht zu schrecken, aber vielleicht hatte Tante Isabelle ihr auch einen Blick auf ihr Schicksal gestattet, und jetzt wusste April, dass ihre Zukunft vorherbestimmt war. Sie würde sich ein einziges Mal verlieben, in den falschen Mann, und sie würde es um nichts in der Welt ändern.