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Die geheime Geschichte eines besonderen Ortes, betörend schön und spannend: »Am Ufer des Haddan River« von Alice Hoffman jetzt als eBook bei dotbooks. Es gibt Geheimnisse, die besser nicht ergründet werden – und solche, die darauf drängen, ans Licht zu kommen … Seit über 150 Jahren ragt das altehrwürdige Internat über der kleinen Stadt am Haddan River auf: ein Ort wie aus der Zeit gefallen, um den sich prachtvolle Rosen ranken, aber auch düstere Gerüchte. Als ein Schüler tot am Ufer des Flusses gefunden wird, will die Schulleitung den Mantel des Schweigens darüber decken. Drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, suchen trotzdem nach der Wahrheit: ein Polizist mit dunkler Vergangenheit, eine Lehrerin, die hin und her gerissen ist zwischen Verstand und Gefühl, und die junge Carlin, die noch nicht weiß, ob sie brav allen Regeln folgen soll – oder den Mut hat, eine Rebellin zu sein … Als hätten Jane Austen und Donna Tart gemeinsam über die Jahrhunderte hinweg einen Schauerroman geschrieben: »Es gibt wenige Autorinnen, die sich so auf das klassische Geschichtenerzählen verstehen wie Alice Hoffman. Dieses Buch steckt voller wunderbarer und auf herrlichste Art unerwartete Wendungen.« The New York Times Book Review Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Am Ufer des Haddan River« der New-York-Times-Bestsellerautorin Alice Hoffman – ein einzigartiges Lesevergnügen, wie man es nur sehr selten finden wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 477
Über dieses Buch:
Es gibt Geheimnisse, die besser nicht ergründet werden – und solche, die darauf drängen, ans Licht zu kommen … Seit über 150 Jahren ragt das altehrwürdige Internat über der kleinen Stadt am Haddan River auf: ein Ort wie aus der Zeit gefallen, um den sich prachtvolle Rosen ranken, aber auch düstere Gerüchte. Als ein Schüler tot am Ufer des Flusses gefunden wird, will die Schulleitung den Mantel des Schweigens darüber decken. Drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, suchen trotzdem nach der Wahrheit: ein Polizist mit dunkler Vergangenheit, eine Lehrerin, die hin und her gerissen ist zwischen Verstand und Gefühl, und die junge Carlin, die noch nicht weiß, ob sie brav allen Regeln folgen soll – oder den Mut hat, eine Rebellin zu sein …
Als hätten Jane Austen und Donna Tart gemeinsam über die Jahrhunderte hinweg einen Schauerroman geschrieben: »Es gibt wenige Autorinnen, die sich so auf das klassische Geschichtenerzählen verstehen wie Alice Hoffman. Dieses Buch steckt voller wunderbarer und auf herrlichste Art unerwartete Wendungen.« The New York Times Book Review
Über die Autorin:
Alice Hoffman, geboren 1952 in New York, studierte Creative Writing an der Stanford University. Sie hat über vierzig Romane und Jugendbücher veröffentlicht, die mehrfach preisgekrönt, verfilmt und in viele Sprachen übersetzt wurden. Die besondere Eindringlichkeit, die ihr Werk auszeichnet, wurde von der amerikanischen Zeitschrift Entertainment Weekly treffend zusammengefasst: »Alice Hoffman scheint in die Haut ihrer Figuren zu schlüpfen, ihre Luft zu atmen und ihre Gedanken zu denken – und dies mit einer Könnerschaft, die einen vergessen lässt, dass es sich um erfundene Charaktere handelt.« Und auch das renommierte Nachrichtenmagazin Newsweek spricht LeserInnen und KritikerInnen gleichermaßen aus der Seele: »Alice Hoffman ist eine der besten Erzählerinnen ihrer Generation!«
Die Website der Autorin: alicehoffman.com
Bei dotbooks veröffentlichte Alice Hoffman ihre Romane »Die Frauen der Hemlock Street«, »Ein Sommer in Fox Hill« und »Die Geheimnisse der Sparrow-Frauen«.
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eBook-Neuausgabe April 2021
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel »The River King« bei G. R Putnam’s Sons, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel »Der Flusskönig« im Goldmann Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2000 by Alice Hoffman
Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Bildmotives von shutterstock/Boiko Olka
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-392-6
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Alice Hoffman
Am Ufer des Haddan River
Roman
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
dotbooks.
Die Haddan School wurde 1858 an den schräg abfallenden Ufern des Haddan River erbaut, einem morastigen und gefahrvollen Ort, der sich von Anfang an als unglückselig erwies. In jenem ersten Jahr, als es überall in der kleinen Stadt nach dem Holz geschlagener Zedern roch, kam ein gewaltiger Sturm auf, der Schwärme von Fischen aus den schilfigen Untiefen scheuchte und in einer silbrig schimmernden Wolke über den Ort erhob. Wasserfluten ergossen sich vom Himmel, und am nächsten Morgen war der Fluss über die Ufer getreten, und die frisch geweißelten Holzgebäude der Schule standen inmitten trüber Seen voller Wasserlinsen und Algen.
Wochenlang brachte man die Schüler in Ruderbooten zum Unterricht; Welse schwammen durch die überfluteten Staudengärten und betrachteten mit kühlen glasigen Augen die Verwüstung. Jeden Abend in der Dämmerung hangelte sich der Koch der Schule auf ein Fensterbrett im zweiten Stock und warf seine Angel aus, um Silberforellen zu fangen, jene süße, fleischige Forellenart, die es nur im Haddan River gibt und die besonders gut schmeckt, wenn man sie mit Schalotten in Öl anbrät. Als die Flut endlich zurückging, waren die Böden der Wohnheime mit einer dicken schwarzen Schlickschicht bedeckt, und im Haus des Rektors schlüpften Stechmücken in Waschbecken und Kommoden. Die einfältigen Kuratoren hatten sich von der lieblichen Aussicht auf die üppige Wasserlandschaft mit ihren Weiden und Seerosen verleiten lassen, die Gebäude zu nah am Fluss zu errichten, eine Fehlentscheidung, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Noch heute findet man Frösche in den Rohren der Gebäude, und Wäsche und Kleider in den Schränken riechen nach Algen, als seien sie in Flusswasser gewaschen worden und nie vollständig getrocknet.
Nach der Flut mussten Böden und Dächer in den Häusern im Ort erneuert werden; öffentliche Gebäude wurden abgerissen und von Grund auf neu errichtet. Ganze Kamine, aus denen noch Rauch quoll, trieben die Main Street entlang, die einen Wasserstand von zwei Metern hatte und zum Fluss geworden war. Eisenzäune wurden aus dem Boden gerissen und die Metallpfosten, spitz wie Pfeile, den Wellen überlassen. Pferde ertranken, Maulesel wurden weggeschwemmt, und wenn man sie retten konnte, weigerten sie sich danach, etwas anderes zu fressen als Sumpfschraube und Wasserlinsen. Entwurzelter Giftsumach landete in Gemüseeimern und wurde versehentlich mit Möhren und Kohl gekocht, ein Gericht, das einige vorzeitige Todesfälle zur Folge hatte. Luchse erschienen an den Hintertüren und miauten, gierig nach Milch; einige fand man neben Säuglingen in Wiegen, wo sie an den Flaschen nuckelten und schnurrten wie Hauskatzen, die man durch die Vordertür eingelassen hatte.
Damals gehörten die fruchtbaren Felder bei Haddan reichen Farmern, die dort Spargel, Zwiebeln und eine sonderbare Art von gelbem Kohl anpflanzten, der für seine gewaltige Größe und seinen zarten Duft bekannt war. Diese Farmer stellten ihren Pflug beiseite und beobachteten, wie Jungen aus Neuengland und Übersee eintrafen und in der Schule Quartier bezogen, doch selbst die Wohlhabendsten unter ihnen konnten sich den Unterricht für ihre Söhne dort nicht leisten. Die einheimischen Jungen mussten mit den staubigen Bücherstapeln in der Bücherei an der Main Street auskommen, und mit den Kenntnissen, die sie sich in ihren eigenen Stuben und auf den Feldern aneignen konnten. Bis zum heutigen Tag haben sich die Leute von Haddan ein bodenständiges Wissen erhalten, auf das sie mächtig stolz sind. Sogar die Kinder können das Wetter vorhersagen, und am Himmel erkennen sie jedes Sternbild und nennen es beim Namen.
Etliche Jahre nach Gründung der Haddan School wurde in der Nachbarstadt Hamilton eine öffentliche High-School gebaut, was für die Jungen einen Fußmarsch von fünf Meilen bedeutete, auch an Tagen, an denen der Schnee ihnen bis zu den Knien reichte und es so kalt war, dass nicht einmal die Dachse ihren Bau verließen. Jedes Mal wenn ein Junge aus Haddan sich durch den Sturm zur Schule kämpfte, wuchs sein Unmut gegen die Haddan School, wie ein kleines bösartiges Furunkel auf der Haut, das bei der leisesten Berührung aufplatzen konnte. So wurde im Laufe der Zeit ein stählerner Groll geschmiedet, und von Jahr zu Jahr wuchs dieser Hass an, bis die Angehörigen der Schule und die Einwohner des Dorfes einander so fern waren, als seien sie durch einen Zaun getrennt. Binnen kurzem wurde jeder, der diese Grenze zu überschreiten wagte, entweder für einen Märtyrer oder für einen Dummkopf gehalten.
Und doch hatte es einen Zeitpunkt gegeben, an dem eine Versöhnung zwischen den beiden Welten möglich schien: Als der angesehene Rektor Dr. George Howe, der als der beste Schulleiter in der Geschichte der Schule gilt, beschloss, Annie Jordan zu ehelichen, das schönste Mädchen des Dorfes. Annies Vater war ein geachteter Mann, der an der Stelle Felder besaß, wo heute die Route 17 auf die Autobahn stößt, und er erklärte sich mit der Hochzeit einverstanden, doch bald zeigte sich, dass Haddan gespalten bleiben würde. Dr. Howe war eifersüchtig und unnahbar und wies die Einheimischen ab, die an seiner Tür erschienen. Sogar Annies Familie vergraulte er binnen kurzem. Ihr Vater und ihre Brüder, brave, einfache Männer mit schmutzigen Stiefeln, verstummten, wenn sie auf Besuch kamen, als hätten das feine Porzellan und die in Leder gebundenen Bücher ihnen die Sprache geraubt. Bald entfernten sich die Menschen des Dorfes von Annie, als habe sie einen Verrat an ihnen begangen. Wenn Annie sich für so edel und erhaben hielt, in ihrem vornehmen Haus am Fluss, dann hatten die anderen ein Anrecht auf Vergeltung, und so gingen die Mädchen, mit denen Annie aufgewachsen war, auf der Straße grußlos an ihr vorüber. Sogar Annies Jagdhund, ein träges Tier namens Sugar, rannte jaulend davon, wenn Annie der Farm ihrer Eltern einen ihrer seltenen Besuche abstattete.
Nach kurzer Zeit merkte man, dass die Heirat ein schlimmer Fehler gewesen war – jeder Mensch, der ein wenig weltzugewandter war als Annie, hätte das von Anfang an begriffen. Dr. Howe hatte bei seiner eigenen Hochzeit seinen Hut vergessen, immer ein Zeichen dafür, dass ein Mann sich herumtreiben wird. Er gehörte zu jener Art von Männern, die ihre Frau besitzen, ihr aber im Gegenzug nicht gehören wollen. An manchen Tagen sprach er in seinen eigenen vier Wänden kaum einen Satz, und in manchen Nächten kam er erst im Morgengrauen nach Hause. Ihre Einsamkeit war es, die Annie dazu veranlasste, sich den Gärten der Schule zu widmen, verwaisten verwilderten Streifen Land, auf denen Efeu und Nachtschatten wucherten, dunkle Ranken, die auch noch das zarteste Gewächs erstickten, das in dem mageren Boden vielleicht gedeihen wollte. Annies Einsamkeit erwies sich als Glücksfall für die Schule, denn sie war es, die jene Klinkerwege in Gestalt eines Stundenglases anlegen ließ und mithilfe sechs kräftiger junger Männer die Trauerweiden pflanzte, unter deren Ästen noch heute junge Mädchen ihren ersten Kuss bekommen. Annie brachte das erste Schwanenpaar dazu, sich in der Biegung des Flusses hinter dem Haus des Rektors anzusiedeln, zänkische gequälte Kreaturen, die sie vor einem Farmer in Hamilton gerettet hatte, dessen Frau ihre blutigen Federn zum Füllen der Bettdecken benutzte. Jeden Abend vor dem Essen, wenn die Luft dunstig grün schimmerte vom Licht über dem Fluss, ging Annie mit einer Schürze voll altem Brot zum Ufer hinunter. Brotkrumen zu verstreuen, brachte Glück, so glaubte sie, ein Zustand, den sie selbst seit ihrer Hochzeit nicht mehr erlebt hatte.
Manche Menschen meinen, Schwäne bringen Unglück, und vor allem Fischer scheuen sie, doch Annie war vernarrt in ihre Haustiere. Wenn die Vögel Annies schöne Stimme hörten, traten sie vor sie hin wie vornehme Herren. Sie fraßen ihr aus der Hand, ohne je ein Tröpfchen Blut zu hinterlassen, und am liebsten mochten sie die Ränder von Roggenbrot und Vollkorncracker. Als Leckerbissen brachte Annie ihnen manchmal ganze Kuchen, die im Speisesaal übrig geblieben waren. In ihrem Weidenkorb häufte sie Törtchen mit Äpfeln und wilden Himbeeren aufeinander, und die Schwäne verschlangen sie in einem Stück, sodass ihre Schnäbel purpurrot wurden und ihre Bäuche rund wie Medizinbälle.
Selbst diejenigen, die meinten, Dr. Howe habe einen schwerwiegenden Fehler bei der Wahl seiner Frau begangen, konnten nicht umhin, Annies Gärten zu bewundern. Im Handumdrehen gediehen in den prächtigen Rabatten rosiger Fingerhut und cremefarbene Lilien, seidigen Glocken gleich, auf deren Blütenblättern Tautropfen glänzten. Doch am geschicktesten war Annie mit ihren Rosen, und die neidischen Mitglieder des Haddan Garden Club, der in jenem Jahr in dem Bestreben gegründet wurde, die Stadt zu verschönern, munkelten, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. Manche wagten gar zu behaupten, dass Annie zermahlene Katzenknochen auf die Wurzeln ihrer Kletterrosen streue oder die Setzlinge wahrhaftig mit ihrem eigenen Blut dünge. Wie sonst ließ es sich erklären, dass ihr Garten im Februar in voller Blüte stand, während man in den anderen nichts als Steine und Erde sah? In Massachusetts kennt man nur kurze Erntezeiten und gnadenlosen frühen Frost. Nirgendwo sonst muss ein Gärtner mit wechselhafteren Bedingungen rechnen, ob es nun Dürrezeiten, Überschwemmungen oder Käferplagen sind, die schon ganze Landstriche kahl gefressen haben. Annie Howe blieb von solchen Heimsuchungen verschont. In ihrer Obhut überstanden sogar die empfindlichsten Hybriden den ersten Nachtfrost, sodass in den Gärten der Schule noch im November Rosen gediehen, wenn auch ihre Blätter dann nicht selten von einem Eisrand gesäumt waren.
Viele von Annies Schützlingen gingen zu Grunde in dem Jahr, als sie starb, doch einige der Zähesten überlebten. Wer auf dem Schulgelände umherspaziert, findet noch die süß duftende Prosperity, auch Climbing Ophelia und jene zarten ägyptischen Rosen, die an regnerischen Tagen ein so intensives Nelkenaroma verströmen, dass den Händen des Gärtners noch nach Tagen ein süßer Duft anhaftet. Von all diesen Rosen waren Mrs. Howes preisgekrönte weiße Polarrosen gewiss die schönsten. Kaskaden weißer Blüten schlummerten ein Jahrzehnt, um dann das metallene Spalier neben dem Mädchenwohnheim zu umranken und sich dort zu entfalten, als hätten die Rosen all diese Jahre gebraucht, um wieder Kraft zu schöpfen. Im September, wenn die neuen Schülerinnen eintrafen, übten Annie Howes Rosen auf manche Mädchen eine seltsame Wirkung aus, vor allem auf die empfindsamen, die zum ersten Mal fern von zu Hause und leicht beeinflussbar waren. Wenn diese Mädchen an den Sträuchern in den Gärten hinter St. Anne's vorbeigingen, spürten sie etwas Kaltes am Ende ihres Rückgrats, ein heftiges Kribbeln, als erteile ihnen jemand eine Warnung: Gib Acht, wen du liebst und von wem du geliebt wirst.
Meist werden die Neuankömmlinge gleich zu Anfang über Annies Schicksal unterrichtet. Noch bevor die Koffer ausgepackt und die Klassen zugeteilt sind, wissen sie, dass das gewaltige Gebäude, das einer Hochzeitstorte gleicht und in dem die Mädchen untergebracht sind, zwar offiziell Hastings House heißt – eingedenk eines Herrn, dessen großzügige Schenkung seiner dümmlichen Tochter und damit auch anderen Mädchen die Aufnahme ermöglichte –, aber von niemandem so genannt wird. Bei den Schülern heißt das Haus nur »St. Anne's«, nach Annie Howe, die sich dort an einem milden Märzabend an den Dachbalken erhängte, wenige Stunden, bevor in den Wäldern wilde Iris zu blühen begannen. Es wird immer Mädchen geben, die sich weigern, den Dachboden von St. Anne's zu betreten, nachdem sie diese Geschichte gehört haben, und andere, die sich einer spirituellen Reinigung unterziehen oder sich gruseln wollen und sich unweigerlich erkundigen, ob sie in dem Raum wohnen können, in dem Annie ihrem Leben ein Ende setzte. An Tagen, an denen es zum Frühstück Rosenwassergelee gibt, das vom Küchenpersonal nach Annies Rezept gekocht wird, bekommen sogar die furchtlosesten Mädchen Schwindelanfälle: Sobald sie sich etwas von dem Gelee auf ihren Toast gestrichen haben, müssen sie den Kopf zwischen die Knie hängen lassen und tief atmen, bis ihr Kreislauf sich wieder beruhigt.
Zu Beginn des Schuljahrs, wenn die Lehrer zurückkommen, erinnert man sie immer daran, dass sie die Noten nicht nach oben aufrunden und die Geschichte von Annie für sich behalten sollen. Derlei Unsinn führt zu überhöhten Notendurchschnitten und Nervenzusammenbrüchen; beides sieht man nicht gerne an der Haddan School. Trotz allem ist die Geschichte immer wieder im Umlauf, ohne dass die Schulleitung etwas dagegen unternehmen kann. Jeder Schüler weiß Bescheid über Annies Schicksal, das zum Leben in Haddan gehört wie die Route der Grasmücken, die sich vor dem großen Flug um diese Zeit des Jahres auf Sträuchern und Bäumen versammeln und sich unter dem weiten Himmel Botschaften zuzwitschern.
Häufig ist es außergewöhnlich warm zu Beginn des Schuljahrs, als wolle der Sommer noch ein letztes Mal auftrumpfen. Rosen blühen üppig, Grillen zirpen eifrig, Fliegen hocken reglos auf Fenstersimsen, träge von Sonne und Wärme. Selbst von den gewissenhaftesten Lehrern ist bekannt, dass sie während der Einführungsrede von Dr. Jones einschliefen. Auch in diesem Jahr dösten viele der Anwesenden während der Ansprache ein, und einige Lehrer dachten insgeheim, wie schön es wäre, wenn die Schüler ausblieben. Die Septemberluft, schwer von gelbem Blütenstaub und sattem, zitronenfarbenem Licht, duftete betörend. Am Fluss beim Bootsschuppen raschelten die Trauerweiden und ließen Kätzchen in den Schlamm fallen. Das klare Perlen des Wassers hörte man bis in die Bibliothek, vielleicht weil das Gebäude selbst aus Flussgestein erbaut war, grauen mit Glimmer gesprenkelten Felsbrocken, die einheimische Jungen für einen Dollar am Tag vom Fluss herangeschafft hatten – Arbeitskräfte, deren Hände bluteten von ihren Mühen und die fortan die Haddan School noch im Schlaf verwünschten bis in alle Ewigkeit.
Wie gewöhnlich waren die Leute neugieriger auf die neu angestellten Lehrkräfte als auf die alten, zuverlässigen Kollegen, die sie schon lange kannten. In kleinen Ortschaften ist das Unbekannte immer am aufregendsten, und diese Regel galt auch in Haddan. Die meisten hatten mit Bob Thomas, dem massigen Dean, und seiner hübschen Frau Meg schon unzählige Male zu Abend gegessen, oder mit Duck Johnson, der Sport unterrichtete und immer nach dem dritten Bier rührselig wurde, im Haddan Inn an der Bar gehockt. Die wechselhafte Romanze zwischen Lynn Vining, der Kunsterzieherin, und Jack Short, dem verheirateten Chemielehrer, hatte man zur Genüge erörtert und zerpflückt. Ihr Verhältnis war vorhersehbar, wie viele der Liebesaffären, die sich in der Schule zutrugen – man fummelte im Lehrerzimmer, fiel sich im geparkten Auto in die Arme, küsste sich in der Bibliothek, trennte sich zum Ende des Schuljahrs wieder. Interessanter waren da schon die Feindschaften, wie zum Beispiel zwischen Eric Herman, der Geschichte des Altertums lehrte, und Helen Davis, zuständig für amerikanische Geschichte und Leiterin des Fachbereichs, einer Frau, die seit fünfzig Jahren zum Lehrkörper in Haddan gehörte und angeblich von Tag zu Tag ungenießbarer wurde, wie Milch, die man zum Sauerwerden in die Mittagshitze stellt.
Trotz der Wärme und der einschläfernden Rede von Dr. Jones, an der sich Jahr für Jahr nie etwas änderte, trotz des trägen Summens der Bienen vor dem Fenster, wo an einer fein verästelten Hecke noch Chinarosen blühten, richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf die neue Lehrerin für Fotografie, Betsy Chase. Man sah auf den ersten Blick, dass Betsy mehr Anlass für Klatsch und Tratsch geben würde als jede Fehde im Haus. Doch nicht nur ihre fiebrige Ausstrahlung, die hohen Wangenknochen und die dunklen widerspenstigen Haare weckten das Interesse der Anwesenden. Sie war auch vollkommen unpassend gekleidet. Da saß sie, eine attraktive Frau, die aber offensichtlich von allen guten Geistern verlassen war, denn sie trug eine alte schwarze Hose und ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt, eine Aufmachung, die in Haddan kaum bei den Schülerinnen geduldet wurde, geschweige denn bei einem Mitglied des Lehrkörpers. Ihre Füße steckten in billigen Plastiklatschen aus einem Ramschladen, die bei jedem Schritt ein klatschendes Geräusch erzeugten. Außerdem hatte sie einen Kaugummi im Mund, und als sie sich unbeobachtet fühlte, ließ sie eine Blase knallen; das klebrige Ploppen hörte man noch in der hintersten Reihe. Dennis Hardy, der Mathematiklehrer, der direkt hinter Betsy saß, berichtete den anderen später, dass sie nach Vanille duftete, einer Tinktur, mit der sie den Geruch von Chemikalien aus der Dunkelkammer von ihrer Haut entfernte und die so intensiv nach Backwaren roch, dass viele Menschen in ihrer Nähe unvermittelt Heißhunger auf Haferflockenkekse oder Biskuittorte bekamen.
Vor acht Monaten erst hatte Betsy den Auftrag für die Jahrbuchfotos bekommen. Die Schule hatte ihr auf den ersten Blick missfallen, sie fand sie zu brav und idyllisch. Als Eric Herman sie zum Essen einlud, war Betsy überrascht und auch misstrauisch. Sie hatte etliche verpfuschte Beziehungen hinter sich, aber sie sagte zu, weil sie trotz der Statistiken, die ihr eine einsame triste Zukunft prophezeiten, noch immer Hoffnung hegte. Eric war umso vieles solider als die Männer, mit denen sie sich auskannte, all diesen Grüblern und Künstlertypen, die es nicht einmal schafften, pünktlich zu einer Verabredung zu erscheinen, geschweige denn sich um die Altersvorsorge zu kümmern. Bevor Betsy merkte, wie ihr geschah, hatte sie eingewilligt, ihn zu heiraten, und bewarb sich auf eine Stelle im Fachbereich Kunst an der Schule. Im Haddan Inn war bereits das »Weidenzimmer« für die Hochzeit im Juni reserviert, und Bob Thomas, der Dekan, hatte ihnen eines der begehrten Cottages auf dem Schulgelände zugesagt, sobald sie verheiratet waren. Bis dahin war Betsy Hausmutter in St. Anne's, und Eric hatte die Aufsicht im Chalk House, einem Wohnheim für Jungen, das so nahe am Fluss gelegen war, dass die schrecklichen Schwäne nicht selten auf der Veranda nisteten und jedem, der vorüberging, nach den Waden schnappten, bis man sie mit einem Besen verscheuchte.
Im letzten Monat war Betsy gleichzeitig damit beschäftigt gewesen, ihren Unterricht und ihre Hochzeit zu planen. Beides waren überschaubare Dinge, doch sie fühlte sich oft, als sei sie unversehens in einer anderen Welt gelandet, in der sie eindeutig nichts zu suchen hatte. Heute beispielsweise trugen alle Frauen in der Bibliothek Sommerkleider, die Männer sommerliche Anzüge und Krawatten, und Betsy saß da in T-Shirt und Hosen und war wieder einmal einer Fehleinschätzung aufgesessen. Sie besaß einfach kein Urteilsvermögen, sie war ein hoffnungsloser Fall. Seit ihrer Kindheit stürzte sie sich blindlings in alles hinein, ohne vorher zu prüfen, ob es ein Netz gab, das sie auffing. Natürlich hatte ihr auch keiner gesagt, dass die Rede von Dr. Jones ein derart offizieller Akt war; alle hatten nur erzählt, er sei uralt und kränklich und eigentlich lägen alle Entscheidungen bei Bob Thomas. Um ihren Fauxpas wenigstens ein bisschen auszugleichen, kramte Betsy jetzt in ihrem Rucksack nach Lippenstift und Ohrringen, auch wenn damit nicht mehr viel wettzumachen war.
Sie hatte wirklich die Orientierung verloren, seit sie in einer Kleinstadt lebte. Sie war die Großstadt gewohnt, Schlaglöcher und Taschenräuber, Strafzettel und Sicherheitsschlösser. Ob morgens, mittags oder abends, es gelang ihr einfach nicht, sich in Haddan zurechtzufinden. Sie machte sich auf den Weg zur Apotheke an der Main Street oder zu Selena's Sandwich Shoppe an der Ecke der Pine Street und landete am Friedhof hinter dem Rathaus. Sie wollte im Supermarkt Brot oder Muffins kaufen und fand sich auf den gewundenen Wegen wieder, die zum Sixth Commandment Pond führten, einem tiefen Teich in einer Biegung des Flusses, an dessen Ufern Schachtelhalm und Sumpfschraube wuchsen. Wenn sie sich erst einmal verlaufen hatte, brauchte sie oft Stunden, um zu St. Anne's zurückzufinden. Die Leute im Ort hatten sich schon an den Anblick der hübschen dunkelhaarigen Frau gewöhnt, die umherirrte, Kinder und Schülerlotsen befragte und dann doch wieder den falschen Weg einschlug.
Auch wenn sich Betsy Chase nicht zurechtfand: Haddan hatte sich in den letzten fünfzig Jahren kaum verändert. Der Ort bestand aus drei Straßenzügen, die für manche Einwohner die ganze Welt bedeuteten. Außer Selena's Sandwich Shoppe, wo den ganzen Tag Frühstück serviert wurde, gab es den Drugstore, an dessen Tresen die besten Himbeer-Zitrone-Rickeys im gesamten Commonwealth gemixt wurden, sowie einen Eisenwaren- und Haushaltsladen, in dem man von Nägeln bis Veloursamt alles erstehen konnte. Ferner hatten sich ein Schuhgeschäft, die 5&10 Cent Bank und der Lucky-Day-Blumenladen dort angesiedelt, der bekannt war für seine duftenden Kränze und Girlanden. St. Agatha's hieß die Kirche mit der Granitfassade, und die Bücherei mit den Buntglasfenstern war die erste im ganzen County gewesen. Das Rathaus war zweimal abgebrannt und schließlich aus Mörtel und Stein wieder aufgebaut worden. Es hieß, es sei nun unzerstörbar, obwohl der steinerne Adler davor jedes Jahr aufs Neue von einheimischen Rabauken vom Sockel geschubst wurde.
Die Main Street säumten große weiße Häuser, deren Rasenflächen von schmiedeeisernen Zäunen mit kleinen Spitzen umgeben waren: ansehnliche bauliche Hinweise darauf, dass Gras und Rhododendren hier als privates Eigentum galten. Wenn man sich dem Ort näherte, wurden die weißen Häuser immer größer, als hätte jemand aus Holz und Ziegeln eine kleine Spielstadt erbaut. Der Bahnhof lag am Rand des Ortes, gegenüber befanden sich Tankstelle und ein Mini-Mart, die Reinigung und ein neuer Supermarkt. Die Stadt war zweigeteilt durch die Main Street. Östlich der Main Street lebten die Menschen in den weißen Häusern; wer bei Selena's am Tresen arbeitete oder am Fahrkartenschalter im Bahnhof, wohnte im Westteil der Stadt.
Unterhalb der Main Street befanden sich nur noch ein paar Neubausiedlungen und Felder. Die Grundschule lag an der Evergreen Avenue. Wenn man sie Richtung Osten, zur Route 17, entlangfuhr, landete man beim Polizeirevier. Ein Stück weiter nördlich, etwa auf der Grenze zwischen Haddan und Hamilton, in einem Niemandsland, auf das keine der beiden Ortschaften Wert legte, lag das Millstone, eine Bar, in der es fünf Sorten Bier vom Fass und freitagabends Livemusik gab und auf deren Parkplatz es in schwülen Sommernächten zu hitzigen Auseinandersetzungen kam. Streitigkeiten zwischen Eheleuten waren dort bis zur Scheidung eskaliert, und auf dem Gelände hatten sich so oft Betrunkene geprügelt, dass man in den Lorbeerbüschen am Rand des Asphalts handvollweise ausgeschlagene Zähne finden würde, wenn man sich die Mühe machte, danach zu suchen. Es hieß, dass der Lorbeer deshalb jene sonderbare milchige Farbe angenommen hatte, elfenbeinweiß mit einem blassrosa Rand, und dass jede Blüte geformt war wie der Mund eines erbitterten Mannes.
Am Rand der Ortschaft stieß man auf Felder und unbefestigte Straßen, und eines späten Nachmittags kurz vor Schuljahrsbeginn hatte sich Betsy einmal dort verirrt, in der Dämmerung, als der Himmel kobaltblau war und die Luft süß nach Gräsern duftete. Sie hielt nach einem Gemüsestand Ausschau, den Lynn Vining, die Kunsterzieherin, ihr empfohlen hatte, weil es dort angeblich den besten Kohl und die besten Kartoffeln gab, und fand sich unversehens vor einer strahlend blauen endlosen Wiese wieder, auf der Strohblumen und Rainfarn blühten. Mit Tränen in den Augen stieg Betsy aus dem Wagen. Sie war nur drei Meilen von der Route 17 entfernt, aber sie kam sich vor, als sei sie auf dem Mond. Sie hatte völlig die Orientierung verloren, und sie wusste es. Sie konnte nicht mehr verstehen, wie sie es geschafft hatte, in Haddan zu landen und mit einem Mann verlobt zu sein, den sie kaum kannte.
Wenn sie nicht auf die Idee gekommen wäre, einem Zeitungswagen nach Hamilton zu folgen, der vergleichsweise großstädtischen Nachbarstadt, in der es ein Krankenhaus, eine höhere Schule und sogar ein Multiplexkino gab, stünde sie wohl heute noch da. Von Hamilton aus fuhr Betsy nach Süden zur Autobahn, über die sie dann nach Haddan zurückfand. Doch das Gefühl, sich verirrt zu haben, verfolgte sie noch lange. Selbst wenn sie mit Eric im Bett lag, brauchte sie nur die Augen zu schließen, und sie sah jene Wiese mit den unzähligen Blumen vor sich, von denen jede einzelne die Farbe des Himmels hatte.
Doch unterm Strich betrachtet: Was gab es an Haddan auszusetzen? Es war ein reizendes Städtchen, das in Reiseführern Erwähnung fand wegen seiner guten Forellen und der prachtvollen Laubfärbung im Oktober. Wenn Betsy sich in einem so geordneten übersichtlichen Ort ständig verirrte, dann mochte das an jenem hellgrünen Licht liegen, das allabendlich über dem Fluss aufstieg. Sie hatte es sich angewöhnt, für alle Fälle eine Taschenlampe und eine Landkarte mit sich herumzutragen. Sie ging nur auf den bekannten Wegen zwischen den alten Rosenbüschen, doch sogar die wirkten im Dunkeln bedrohlich. Die gewundenen schwarzen Ranken verschmolzen mit der Nacht, die Dornen verbargen sich in den trockenen Ästen, bis eine ahnungslose Spaziergängerin ihnen nahe kam und sich an ihnen die Haut aufritzte.
Trotz des Polizeiberichts in der Tribune, in dem es keine schlimmeren Verbrechen zu vermelden gab als Unachtsamkeit im Straßenverkehr oder das Blockieren des Bürgersteigs durch Laubsäcke an einem Dienstag, obwohl die Säcke erst am zweiten Freitag des Monats eingesammelt wurden, fühlte sich Betsy in Haddan nicht sicher. Sie konnte sich gut vorstellen, dass in einem Ort wie diesem jemand eines sonnigen Nachmittags am Fluss spazieren ging und plötzlich verschwand, verschlungen wurde von einem Gestrüpp aus Apfelbeere und wildem Wein. Jenseits des Flusses begannen die dichten Kiefern- und Ahornwälder, die sich nachts dunkel gegen den Himmel abzeichneten und in denen die letzten Leuchtkäfer des Sommers umherschwirrten.
Betsy hatte das Land schon als Kind verabscheut. Sie war ein schwieriges Kind gewesen; als ihre Eltern mit ihr ein Picknick machen wollten, zeterte sie und stampfte mit dem Fuß auf, bis ihre Eltern sie wegen ihrer Bockigkeit zu Hause ließen. An diesem Tag kamen durch Blitze sieben Menschen zu Tode. Ein Perlschnurblitz hatte Zäune und Eichen in Brand gesetzt und Menschen über Felder und Wiesen gescheucht. Linienblitze fuhren in Sekundenschnelle vom Himmel herab und explodierten weiß flammend in der Erde wie Feuerwerkskörper. Statt neben ihren Eltern auf der brennenden Wiese zu liegen, lümmelte Betsy zu Hause auf der Couch, blätterte in einer Zeitschrift und schlürfte rosa Limonade aus einem großen Glas. Noch Jahre später grübelte sie darüber nach, was geschehen wäre, wenn sie ihre unglückseligen Eltern begleitet hätte. Sie wären um ihr Leben gerannt anstatt verblüfft herumzustehen und sich nicht zu rühren. Sie wären Betsy gefolgt und hätten sich hinter einer Wand aus Feuerstein versteckt, die den Blitz abfing, der es auf sie abgesehen hatte, und die so glühend heiß wurde, dass man auf dem wärmsten der Steine noch Monate später Eier braten konnte. Seit damals fühlte Betsy sich schuldig, wie Überlebende es häufig tun, und verlangte geradezu nach Bestrafung. Sie übersah rote Ampeln und fuhr mit fast leerem Tank herum. Sie marschierte nach Mitternacht durch die Straßen der Stadt und rannte bei Gewittern ohne Mantel und Regenschirm nach draußen, weil sie schon vor langer Zeit beschlossen hatte, nicht auf wohlmeinende Menschen zu hören, die behaupteten, derart leichtsinniges Verhalten werde eines Tages dazu führen, dass sie von Kopf bis Fuß unter Strom stehe.
Bevor sie Eric begegnete, war Betsy durch ihr Leben gestolpert, ohne viel vorweisen zu können außer Stapeln von Fotos, einem schwarz-weißen Tagebuch mit Landschaften und Porträts in Aktenordnern und Alben. Ein guter Fotograf musste Beobachter sein, ein stummer Zuschauer, aber irgendwann hatte Betsy begonnen, auf ihr eigenes Leben zu blicken wie ein Außenstehender. Beachten Sie mich nicht, sagte sie zu ihren Motiven. Tun Sie so, als sei ich nicht da, verhalten Sie sich ganz normal. Und während sie so arbeitete, kam ihr eigenes Leben ihr abhanden, sie wusste nicht einmal mehr, wie man sich normal verhielt. Als sie nach Haddan kam, war sie an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Sie war von zu vielen Männern enttäuscht worden, Freundinnen hatte sie keine, in ihre Wohnungen war eingebrochen worden, während sie schlief. Sie rechnete gewiss nicht damit, dass sich etwas an ihrem Leben ändern würde an jenem Tag, als sie in die Schule kam, um die Fotos fürs Jahrbuch zu machen. Und das wäre vielleicht auch nicht geschehen, wenn sie nicht gehört hätte, wie ein Schüler einen anderen fragte: Warum hat das Hähnchen die Haddan School verlassen? Neugierig lauschte Betsy, und als sie die Antwort hörte – weil es was gegen gequirlte Kacke hatte –, lachte Betsy so laut, dass die Schwäne auf dem Fluss erschraken und übers Wasser davonstoben und Schwärme von Eintagsfliegen in die Luft aufstiegen.
Eric Herman drehte sich genau in jenem Augenblick um, in dem Betsy am breitesten grinste. Er sah ihr zu, wie sie die Fußballmannschaft der Größe nach aufstellte, und dann gab er, wie er ihr später versicherte, zum ersten Mal in seinem Leben einer spontanen Regung nach, marschierte auf sie zu und fragte sie, ob sie mit ihm essen gehen wolle, nicht am nächsten oder übernächsten Abend, sondern an diesem Tag, damit keiner von beiden es sich noch anders überlegen konnte.
Eric war einer jener gut aussehenden, selbstsicheren Männer, die immer gut ankommen, ohne sich bemühen zu müssen, und Betsy fragte sich, ob sie vielleicht zufällig gerade in sein Blickfeld geraten war, als er beschloss, dass es nun höchste Zeit war zu heiraten. Sie begriff immer noch nicht, was er mit einer Frau wie ihr wollte, die bei dem Versuch, ganz leise einen Kamm aus ihrem Rucksack herauszuholen, den gesamten Inhalt auf dem Boden der Bibliothek ausschüttete. Jeder aus dem Kollegium der Haddan School hörte die Münzen und Kugelschreiber am Boden entlangrollen und fand sich in seinem ersten Eindruck von Betsy bestätigt. Noch lange, nachdem Dr. Jones seine Rede beendet hatte, kramten die Kollegen Betsys Sachen unter den Stühlen hervor und hielten prüfend Gegenstände in das gedämpfte Licht, als betrachteten sie fremde und geheimnisvolle Artefakte, wo sie doch lediglich eines Notizbuchs, einer Rolle Schlaftabletten oder einer Tube Handcreme habhaft geworden waren.
»Macht nichts«, flüsterte Eric ihr zu. »Ganz normal benehmen«, riet er, obwohl genau das sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Wenn Betsy instinktiv gehandelt hätte, wie Eric es ihr empfahl, hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen, als sie zum ersten Mal durch die Tür des Mädchenwohnheims trat, in dem sie die zweite Hausmutter sein sollte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie über die Schwelle trat, die kalte Hand der Angst, die man häufig spürt, wenn man eine Fehlentscheidung trifft. Betsys enge Räume am Fuße der Treppe waren grauenvoll. Es gab nur einen Schrank, und das Badezimmer war so klein, dass man sich die Knie am Waschbecken stieß, wenn man aus der Dusche kam. Farbe blätterte von den Wänden, und durch die alten blasigen Fenster drang nur der Wind, jeder Sonnenstrahl dagegen verfärbte sich neblig grün. In dieser Umgebung wirkten Betsys Möbel erbarmungswürdig und fehl am Platz: Die Couch passte nicht durch die Tür, der Sessel sah abgewetzt aus, der Schreibtisch wackelte auf den schiefen Kieferndielen und torkelte jedes Mal wie ein Betrunkener, wenn jemand die Tür zuknallte.
In ihrer ersten Woche in der Schule schlief Betsy meist bei Eric im Chalk House. Sie nutzte die Gelegenheit, solange es noch ging, denn wenn erst die Schüler eintrafen, würden sie deren Verhalten und auch ihr eigenes überwachen müssen. Doch es gab noch einen anderen Grund, weshalb Betsy es vermied, in St. Anne's zu schlafen. Jedes Mal, wenn sie in ihren eigenen Räumen übernachtete, fuhr sie irgendwann entsetzt hoch, in ihren Laken verheddert und so verstört, als sei sie im falschen Bett erwacht und nun dazu verdammt, das Leben eines anderen Menschen zu führen. Am Vorabend vor Schulbeginn schlief Betsy in St. Anne's und träumte prompt davon, dass sie sich auf den Feldern vor der Stadt verirrt hatte. Wie verzweifelt sie auch umherrannte, sie landete immer wieder nur auf diesem Brachland. Als es ihr gelang, dem Traum zu entkommen, stolperte sie aus dem Bett, orientierungslos und nach Gräsern duftend. Einen Moment lang glaubte sie, wieder ein kleines Mädchen zu sein, das in einer fremden überheizten Wohnung aufwachte, ganz auf sich gestellt, wie nach dem Tod ihrer Eltern, als sie bei Freunden der Familie leben musste.
Betsy knipste rasch das Licht an und stellte fest, dass es erst kurz nach zehn war. Von der Treppe hörte sie ein dumpfes Klopfen, und die Heizkörper pochten und liefen auf Hochtouren, obwohl es draußen außergewöhnlich warm war. Es war nicht verwunderlich, dass sie nicht schlafen konnte; im Zimmer hatte es mindestens dreißig Grad, und es wurde ständig noch heißer. Die Orchidee, die Betsy nachmittags im Blumenladen gekauft hatte, eine Pflanze, die an tropisches Klima gewöhnt war, hatte schon fast alle Blütenblätter fallen lassen; der grüne Stängel krümmte sich in der Hitze und war zu schwach, um noch eine Blüte zu tragen.
Betsy wusch sich das Gesicht kalt ab, steckte sich einen Kaugummi in den Mund gegen die Trockenheit, zog sich ihren Morgenmantel über und machte sich auf den Weg zur ersten Hausmutter. Betsy ging davon aus, dass die Leute übertrieben, wenn sie Helen Davis als selbstsüchtige alte Hexe bezeichneten, die passenderweise auch noch einen abscheulichen schwarzen Kater besaß, der angeblich Singvögel und Rosen verspeiste. Offenbar wurden an dieser Schule schnell Urteile gefällt, denn seit ihrem Missgeschick bei der Einführungsrede hieß es von Betsy nun schon, sie habe nicht alle Tassen im Schrank. Und Eric wurde von denjenigen, die seinen Leistungsansprüchen nicht gerecht wurden und ihm das für immer nachtrugen, Mr. Perfect genannt. Betsy kümmerte sich für gewöhnlich nicht um die Meinung anderer, doch als sie bei Miss Davis klopfte, rührte sich nichts, obwohl Betsy genau merkte, dass jemand hinter der Tür stand. Sie spürte förmlich das Missfallen der älteren Kollegin, als diese durch den Spion spähte. Betsy klopfte noch einmal, diesmal energischer.
»Hallo! Können Sie mir helfen? Ich habe ein Problem mit der Heizung.«
Helen Davis war hoch gewachsen und eine imposante Erscheinung, auch in Pantoffeln und Nachthemd. Sie legte die Haltung einer Frau an den Tag, die früher schön gewesen ist: Überheblich und selbstsicher, hielt sie es nicht für nötig, höflich zu sein, wenn sie so spät noch von unerwünschten Personen gestört wurde.
»Die Heizkörper«, erklärte Betsy. Da sie gerade aus dem Bett kam, standen ihre launischen Haare in alle Richtungen, und ihre Wimperntusche war verwischt. »Sie lassen sich einfach nicht abstellen.«
»Sehe ich aus wie ein Klempner?« Helen Davis' höhnisches Lächeln war kein erfreulicher Anblick, das hätten viele Schülerinnen bestätigen können. Wer sich ihren Unmut zuzog, dem konnte das Blut in den Adern gefrieren, und schon manche empfindsame neue Schülerin war im Unterricht ohnmächtig geworden, wenn Miss Davis ihr eine einfache Frage gestellt hatte. Miss Davis duldete weder Besserwisserei noch Kaugummikauen, und sie lud niemals jemanden in ihre Wohnung ein.
Die Schulleitung hatte Betsy nicht darüber informiert, dass ihre Vorgängerinnen alle nur ein Jahr durchgehalten hatten. Deshalb ging sie unbefangen an die Situation heran und bat um Unterstützung, statt sich stillschweigend zu verdrücken. »Sie haben doch sicher Erfahrung mit der Heizung«, sagte Betsy. »Das ist ja wohl keine Verschlusssache.«
Miss Davis starrte sie erbost an. »Kauen Sie Kaugummi?«, fragte sie scharf.
»Ich?« Betsy schluckte unvermittelt, doch der Kaugummi klebte in ihrer Luftröhre fest. Während sie verzweifelt um Atem rang, flitzte ein entsetzlich kreischendes Wesen an ihr vorbei. Betsy wich unwillkürlich zurück.
»Angst vor Katzen?«, fragte Miss Davis. Einige von den jüngeren Hausmüttern hatten behauptet, allergisch gegen ihr Haustier zu sein. Betsy hatte nicht viel übrig für Tiere, auch für Katzen nicht, doch ihr war bewusst, dass sie einen schweren Stand haben würde in St. Anne's, wenn Helen Davis nicht auf ihrer Seite war. Eric hatte sich oft darüber lustig gemacht, wie gerne Miss Davis Ben Franklin zitierte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und dieses Wissen nutzte Betsy nun zu ihrem Vorteil
»Sagte nicht Ben Franklin immer, der beste Hund ist eine Katze?«
»Er hat nichts dergleichen gesagt.« Doch Miss Davis merkte wohl, wenn man ihr zu schmeicheln versuchte, und das war schließlich kein Verbrechen. »Warten Sie hier, ich hole Ihnen, was Sie brauchen«, ordnete sie an.
Während Betsy in dem dunklen Flur wartete, geriet sie in eine sonderbare Hochstimmung, als habe sie gerade eine Prüfung mit Bravour bestanden oder sei zur Lieblingsschülerin erklärt worden. Als Helen Davis zurückkam, erhaschte Betsy einen Blick auf die Wohnung, die voll gestopft war mit Krempel, der sich in fünfzig Jahren dort angehäuft hatte. Trotz des hohen samtbezogenen Zweisitzers und des guten Teppichs aus Afghanistan herrschte Chaos in der Wohnung. überall stapelten sich Bücher neben halb vollen Teetassen und Resten von Sandwiches. Es roch muffig nach alten Zeitungen und Katze. Helen zog die Tür hinter sich zu und drückte Betsy einen Quarter in der Hand.
»Man muss die Heizkörper entlüften, das ist das ganze Geheimnis. Drehen Sie mit dem Quarter die Schraube an der Seite, stellen Sie vorher aber einen Topf unter die Heizung. Wenn die Luft abgelassen ist, kühlt sich der Heizkörper ab.«
Betsy bedankte sich bei der älteren Lehrerin, dann ließ sie, linkisch wie üblich, versehentlich die Münze fallen und musste auf allen vieren herumkriechen, um sie wieder zu finden. Als Helen Davis sie in dieser Position sah, erkannte sie in ihr plötzlich die Person, die es in der Bibliothek geschafft hatte, Dr. Jones' Rede zu stören.
»Sie sind die Kleine von Eric Herman«, rief Helen aus. »Natürlich!««
»Die Kleine wohl kaum.« Betsy lachte.
»Ja, wohl kaum. Viel zu alt, um auf einen wie den hereinzufallen.«
»Ach ja?« Betsy erhob sich mit dem Quarter in der Hand. Vielleicht war Helen Davis wirklich so gemein, wie alle behaupteten. Es hieß, sie gebe schlechte Noten, ließe vorsätzlich Schüler durchfallen und habe noch nie eine Note revidiert, selbst wenn Selbstverstümmelungen oder Nervenzusammenbrüche drohten. Die letzte Hausmutter, die sich die Aufsicht in St. Anne's mit ihr teilen musste, hatte mitten im Schuljahr aufgehört, um auf eine Fachschule für Rechtswissenschaften zu gehen, und von ihr hörte man, dass Verfassungsrecht und Strafrecht ein Spaziergang seien im Vergleich zum Umgang mit Helen Davis.
»Eric Herman ist der unaufrichtigste Mann, der mir je untergekommen ist. Schauen Sie sich doch mal seine Ohren an. Männer mit kleinen Ohren haben grundsätzlich kein Ehrgefühl und sind geizig. Alle wahrhaft großen Männer hatten auch große Ohren. Von Lincoln heißt es, er habe mit den Ohren wackeln können wie ein Hase.«
»Also, ich mag Männer mit kleinen Ohren.« Dennoch nahm sich Betsy insgeheim vor, einen genaueren Blick auf Erics Physiognomie zu werfen.
»Er ist scharf auf meine Stelle«, teilte Helen Davis Betsy mit. »Sie können es ruhig wissen: Er jammert und beklagt sich gerne. So ein Mann wird nie zufrieden sein.«
»O doch, er ist zufrieden«, sagte Betsy, obwohl Eric sich tatsächlich über den Fachbereich Geschichte beklagt hatte. Er sagte gerne, man solle Helen Davis feuern und danach enthaupten, um ihren Kopf auf einem der Eisenzäune an der Main Street aufspießen zu können. Dann wäre die Alte wenigstens noch zu etwas nutze, indem sie die Krähen statt der Schüler verscheuche. »Er fühlt sich pudelwohl«, verkündete Betsy.
Miss Davis schnaubte verächtlich. »Schauen Sie sich seine Ohren an, meine Liebe, dann wissen Sie Bescheid.«
Betsy blickte den Flur entlang; da war wieder dieses Klopfen an der Treppe. »Was hat denn dieses grässliche dumpfe Geräusch zu bedeuten?«
»Nichts.« Helens Stimme, die wärmer geworden war, als sie Eric schlecht machen konnte, klang nun wieder scharf. »Es ist etwas spät für derlei faulen Zauber, möchte ich meinen.«
Als Miss Davis die Tür schloss, hörte Betsy, wie sie innen den Riegel vorschob. Helen Davis hatte ihr zumindest einen Quarter geschenkt; seit Betsy angekommen war, hatte ihr niemand auch nur angeboten, ihr behilflich zu sein. Selbst Eric war so mit der Vorbereitung seines Unterrichts beschäftigt, dass er tatsächlich mit seiner Zeit geizte. Dennoch war er ein guter Mann, und Betsy konnte ihm wohl kaum zum Vorwurf machen, dass er sich auf seine Arbeit konzentrierte. Heute Abend war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt, ihre eigenen Eindrücke anhand von Miss Davis' Einschätzung zu überprüfen, die ohnehin voreingenommen war. Vermutlich lag es an der Stille des Wohnheims, dass sie diese Zweifel verspürte, aber die würde nicht mehr lange anhalten. Ab morgen würde es in den Fluren wimmeln von Mädchen, und Betsy würde die Heimwehkranken trösten, den Schüchternen Mut zusprechen und die Wilden so gut wie möglich bändigen müssen. Sie hatte dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen unter diesem Dach tief und fest schlummerte.
Als Betsy in ihre Räume zurückkehrte, bemerkte sie den intensiven Rosenduft, der durch den Flur wehte, Auch in ihrer Wohnung schlug ihr der Duft entgegen. Hier war er zwar schwächer, verwirrte sie aber so sehr, dass sie zur Heizung hastete, um sie zu entlüften, und sich dabei die Hände verbrannte. Als sie sich wieder ins Bett legte, war sie darauf gefasst, kein Auge zuzutun, doch in dieser Nacht schlief sie tief und fest. Sie verschlief sogar und konnte nur noch eine Tasse Kaffee trinken, bevor die ersten Schülerinnen eintrafen. Dabei fielen ihr die grünen Ranken vor dem Fenster auf. Annies preisgekrönte weiße Rosen trugen noch einige Blüten, groß wie Kohlköpfe und weiß wie Schnee. Im frühen Licht der Morgensonne schienen ihre innersten Blätter mit einem perlmuttfarbenen grünlichen Hauch überzogen. Betsy lachte über sich selbst; wie dumm von ihr, sich am Abend vorher so verwirren zu lassen. Für jedes sonderbare Phänomen gab es eine vernünftige Erklärung; das hatte sie jedenfalls immer geglaubt. Sie spülte ihre Tasse ab und zog sich an, beruhigt vom Anblick der Rosen. Doch wenn sie auf den Gedanken gekommen wäre, das Fenster zu öffnen, hätte sie festgestellt, dass Polarrosen nicht duften. Nicht einmal die Bienen fanden Gefallen an den cremeweißen Blüten, sie bevorzugten Disteln und Goldrute. Wenn man sich diesen Rosen mit einer Schere nähert, zerfallen sie bei der ersten Berührung. Wenn man eine mit der bloßen Hand brechen will, fließt Blut, denn man sticht sich an jeder einzelnen Dorne.
Der Zug nach Haddan hatte immer Verspätung, und so war es auch an diesem strahlenden Nachmittag. Die Sonne schien, auf den Feldern blühten die späten Astern und Seidenpflanzen, und der Himmel war klar und endlos weit. In den Kiefern an der Eisenbahnstrecke saßen Falken auf den höchsten Ästen, und Sumpfhordenvögel stießen aus der Luft hernieder. Eichen und Weißdorn bildeten hier dunkle Wäldchen, in denen noch viel Wild umherzog und gelegentlich auch ein Elch, der aus New Hampshire oder Maine eingewandert war. Als der Zug langsam durch die Nachbarstadt Hamilton zockelte, rannten ein paar Jungen nebenher; einige winkten den Reisenden fröhlich zu, andere streckten frech die Zunge heraus und verzogen das Gesicht zu sommersprossigen Grimassen, wilde Engel, die den Staub und den Schotter nicht fürchteten, der von den Rädern hochgeschleudert wurde.
An diesem Tag beförderte der Zug viele zukünftige Schüler der Haddan School. Mädchen mit langem, glänzendem Haar und Jungen in ordentlich gebügelten Kleidern, die nach dem ersten Fußballspiel schmutzig und zerfetzt sein würden, versammelten sich im Salonwagen. Wenn der Schaffner die Türen öffnete, hörte man fast überall im Zug Stimmengewirr und Lachen, nur im hintersten Wagen nicht. Dort, ganz am Ende, saß ein Mädchen namens Carlin Leander, das zum ersten Mal ihre Heimat verließ, blickte hinaus auf die Landschaft und freute sich über jeden Strohballen und jeden Weidezaun. Carlin hatte ihr Leben lang davon geträumt, Florida zu verlassen. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass sie das schönste Mädchen ihres County gewesen war mit ihrem aschblonden Haar und jenen ererbten grünen Augen, die daran schuld gewesen waren, dass ihre Mutter mit siebzehn Jahren schwanger in einem Kaff hängen blieb, in dem ein Wanderzirkus als kulturelles Ereignis galt und jedes Mädchen mit eigenem Willen als Fehlgriff der Natur betrachtet wurde.
Carlin Leander hatte ein ganz anderes Wesen als ihre Mutter, und dafür war sie dankbar. Sue Leander konnte man durchaus als warmherzige und liebenswürdige Frau bezeichnen. Doch Carlin hatte nicht die Absicht, fügsam und nett zu werden. Sie war störrisch und eigensinnig; wenn irgendwo vor Schlangen gewarnt wurde, bestand sie darauf, barfuß zu gehen. Die Jungen, die ihr von der Schule nach Hause folgten und von ihrer Schönheit so geblendet und überwältigt waren, dass sie mit ihren Rädern gegen Bäume und in Gräben fuhren, würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Carlin hatte nicht vor, in die Falle zu tappen, nicht in einer Gegend, in der es nach Mitternacht immer noch heißer wurde, in der man zu jeder Jahreszeit von Moskitos gequält wurde und die meisten Menschen an einem Mädchen die Schwächen priesen und die Stärken verleugneten.
Manche Menschen wurden einfach am falschen Ort geboren. Wem das widerfuhr, der besorgte sich zuerst eine Landkarte und dann ein Ticket. Carlin Leander hatte Florida schon verlassen wollen, als sie gerade gehen gelernt hatte, und schließlich war ihr mittels eines Stipendiums für Schwimmerinnen an der Haddan School die Flucht geglückt. Ihre Mutter war zwar dagegen, dass Carlin nach Massachusetts ging, wo die Menschen gewiss verkommen und verderbt waren, doch Carlin trug den Sieg davon, indem sie eine Taktik anwendete, die zu gleichen Teilen aus Bitten, Versprechungen und Tränen bestand.
An diesem strahlenden Tag hatte Carlin einen abgeschabten Koffer bei sich, den sie unter den Sitz geschoben hatte, und einen mit Sneakers und Badeanzügen voll gestopften Rucksack. Den Rest ihrer Habe hatte sie zu Hause gelassen, doch er bestand ohnehin nur aus ein paar fadenscheinigen Stofftieren auf ihrem Bett und einem scheußlichen Mantel, den ihre Mutter ihr als Abschiedsgeschenk bei Lucille's Fine Fashions gekauft hatte, einem flauschigen Acrylmonstrum, das Carlin im Abstellschuppen hinter den Ersatzreifen versteckt hatte. Carlin wollte ihre Fahrkarte als Souvenir aufbewahren, für immer und ewig, wenn sie sich nicht vorher auflöste. Sie hatte sie so oft berührt, dass die Buchstaben förmlich auf ihrer Haut klebten. Carlin hatte versucht sie wegzuschrubben, doch an den Fingerspitzen waren kleine graue Flecken zurückgeblieben, Spuren ihrer Hartnäckigkeit.
Unterdessen raste der Zug Richtung Norden, und als er an den zahllosen Baustellen von Boston vorüberfuhr, spürte Carlin plötzlich kleine knotige Zweifel unter der Haut. Wieso bildete sie sich ein, ein ganz anderes Leben führen zu können? Sie trug billige Jeans und ein T-Shirt aus dem Secondhandladen und hatte ihre Haare achtlos hochgesteckt mit Metallklammern, die in der feuchten Luft von Florida rostig geworden waren. Jeder konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie nicht zu den anderen gut gekleideten Reisenden passte. Sie besaß nicht einmal anständige Stiefel und war noch nie beim Friseur gewesen, hatte sich die Spitzen ihrer Haare immer selbst geschnitten, wenn sie vom Chlor spröde geworden waren. Sie hatte den Staub der Sümpfe an den Füßen und Nikotinflecken an den Fingern, und sie kam aus einer Welt der Bratkartoffeln und Spiegeleier und hohlen Versprechungen, in der eine Frau rasch lernte, dass es keinen Sinn hatte, Tränen zu vergießen über verschüttete Milch oder blaue Male, Andenken an Männer, die behaupteten, sie ein bisschen zu hartnäckig oder zu leidenschaftlich zu lieben.
Doch trotz des Gefühls, dass ihr auf Grund ihrer Herkunft so vieles fehlte, war Carlin wieder guter Dinge, als der Zug die Stadt hinter sich ließ. Goldrute blühte am Wegesrand, und auf den Wiesen weideten Kühe. Die Grasmücken flogen in riesigen Schwärmen Richtung Süden, wendig wie ein einziger Körper, gelenkt von einem einzigen Hirn. Carlin zerrte an dem schmutzigen Fenster, um die Septemberluft hereinzulassen, und stellte erstaunt fest, dass ein großer Junge mit einem Matchsack über der Schulter neben ihr aufgetaucht war und ihr half, das verklemmte Fenster hochzuschieben. Er war mager und hatte einen buschigen Haarschopf, der ihn noch länger, fast storchengleich, erscheinen ließ. Ein langer schwarzer Mantel hing sackartig an ihm, und er trug Arbeitsstiefel, die nicht zugeschnürt waren, sodass seine Füße darin herumschlappten wie Fische. Zwischen seinen breiten Lippen hing eine kalte Zigarette. Auch die frische Luft, die durchs Fenster hereinströmte, konnte die Tatsache nicht verhehlen, dass er stank.
»Was dagegen, wenn ich mich setze?« Ohne Carlins Antwort abzuwarten, ließ sich der Junge auf dem Platz gegenüber nieder und stellte seinen Matchsack in den Gang. Dass er dort jedem im Weg stand, schien ihn nicht zu kümmern. Seine Haut war so durchsichtig, wie das nur bei Menschen vorkommt, die viel Zeit in dunklen Räumen verbringen, um Migräne oder einen Kater auszukurieren. »Gott, diese Idioten von der Haddan School im Wagen nebenan haben mich irre gemacht. Ich musste da raus.«
Aus dem Zucken unter seinem Auge schloss Carlin, dass sie ihn nervös machte. Ein gutes Zeichen, denn es wirkte beruhigend auf sie, wenn Jungen in ihrer Gegenwart befangen waren. Sie steckte eine Haarsträhne fest, die sich gelöst hatte. »Da fahre ich hin«, sagte sie zu ihrem Mitreisenden. »Zur Haddan School.«
»Aber du bist kein Idiot. Das ist der Unterschied.« Der sonderbare Junge kramte in seinen Sachen und förderte ein Zippo zu Tage. Als Carlin auf das Rauchverbotsschild zeigte, zuckte er die knochigen Schultern und steckte sich die Zigarette an. Carlin lächelte amüsiert, zum ersten Mal, seit sie von zu Hause abgereist war. Sie lehnte sich zurück und wartete ab, was dieser merkwürdige Knabe als Nächstes unternehmen würde, um sie zu beeindrucken.
Er stellte sich als August Pierce aus New York City vor. Sein überforderter Vater, der seit der Geburt des Sohnes keine ruhige Minute mehr gehabt hatte, weil Gus' Mutter starb und er den Jungen alleine großziehen musste, hatte ihn nach Haddan geschickt. Gus' alter Herr war Biologieprofessor und hegte große Hoffnungen für seinen einzigen Sohn; es gab Menschen, die hartnäckig an andere glauben, auch wenn sie immer wieder enttäuscht werden, und Gus' Pierces Vater war einer von ihnen. Nachdem er unablässig gescheitert war, fand Gus, dass er seinem Vater einen letzten Versuch schuldete, auch wenn er nicht glaubte, dass sich etwas ändern würde. Was sollte an Haddan anders sein als an allen anderen Schulen, die er besucht hatte? Warum sollte ihm jemals etwas Gutes zuteil werden? Er war am siebten Tag des siebten Monats geboren und hatte nur Pech gehabt. Er konnte die Finger verschränken und auf Holz klopfen und stieß sich doch den Kopf an jeder Leiter, tat immer genau das Falsche. Alle anderen schritten auf der schnurgeraden Straße Richtung Zukunft voran, nur Gus fiel kopfüber in Kanalschächte und Gullys; für ihn gab es kein Entrinnen.
So sah er sein eigenes Leben als Haftstrafe, und seine Erfahrungen waren die eines Gefangenen. Die Schönheit der Welt, wenn er sie denn wahrnahm, verwirrte und entmutigte ihn noch mehr. Deshalb war es eine freudige Überraschung, dass eine schlichte Begegnung ihn so hoffnungsfroh stimmen konnte. Innerlich zitternd, hatte er spontan gehandelt und sich Carlin gegenüber auf den Sitz fallen lassen. Er hatte insgeheim damit gerechnet, dass sie nach dem Schaffner rief, um ihn entfernen zu lassen, doch nun sprach sie wahrhaftig mit ihm. Ein Spatz, der aus seinem Mund flog, hätte ihn weniger verwundert, als dass dieses schöne Mädchen ihm nun einen Kaugummi anbot. Mädchen wie Carlin pflegten ihn gewöhnlich zu behandeln wie Luft; für sie existierte er in der Unterwelt, einem Universum, indem der Schmerz hauste und die Ausgestoßenen, im Keller der Wirklichkeit, einige Etagen unterhalb der hübschen Gesichter und Zukunftschancen. Wenn Carlin sich vorbeugte und seiner halb erfundenen Geschichte lauschte, ohne ihn auszulachen, dann war alles möglich: Amseln mochten sich in Lebkuchen verwandeln, Weiden konnten in Flammen aufgehen.
»Sag mir eine Zahl zwischen eins und zwanzig«, schlug August Pierce nun seiner neuen Gefährtin vor. »Aber sag mir nicht, welche.« Er hatte sich einige Tricks angeeignet, und dies schien ihm ein gelungener Zeitpunkt zu sein, um sie zum Einsatz zu bringen.
Carlin tat, wie ihr geheißen, starrte ihn aber skeptisch an.
Gus schloss die Augen und tat geheimnisvoll, dann entschied er sich für eine beliebige Zahl. »Sieben«, sagte er triumphierend; er hoffte jedenfalls auf einen Triumph, da er eine List angewendet hatte, die jeder Laienzauberkünstler mit etwas Ahnung von Logik mit links schaffte.
Der Trick hatte zwar verfangen, aber Carlin war alles andere als begeistert. Sie hasste es, durchschaubar zu sein, und wollte auf keinen Fall bloßgestellt werden, wo sie sich doch gerade eine andere Herkunft und Identität zurechtlegte. Sie wollte den anderen erzählen, dass ihre Eltern für die Regierung arbeiteten und sie kilometerweit zu allen Schwimmveranstaltungen gefahren hatten, obwohl sie nie lange an einem Ort geblieben waren. Das klang eindrucksvoller, als von einer Mutter zu berichten, die Kassiererin im Supermarkt war, einem Vater, den Carlin nie zu Gesicht bekommen hatte, und den Tramptouren, die sie unternehmen musste, um zu den Schwimmwettbewerben zu kommen. Ein Junge, der ihre Gedanken lesen konnte, war bedrohlich für sie, denn sie hatte tatsächlich die Sieben gewählt.
»Pure Wahrscheinlichkeitsrechnung«, erklärte Gus, als er merkte, dass Carlin die Nummer nicht toll fand. »Die meisten Leute entscheiden sich entweder für drei oder für sieben.«
Carlin funkelte ihn zornig an. Ihre grünen Augen konnten von einer Sekunde zur anderen grau werden, wie flaches Wasser, in dem sich jeder Wetterwechsel spiegelt. »Ich bin nicht ›die meisten Leute‹«, sagte sie mit Nachdruck.
»Nein«, pflichtete Gus Pierce ihr bei. Das entging sogar einem Trottel wie ihm nicht. »Bestimmt nicht.«
Der Zug fuhr ruckelnd in den Bahnhof ein und gab ein langes tiefes Pfeifen von sich, das die Fenster in den Häusern am Bahndamm erzittern ließ und die Krähen aufschreckte, die auf Bäumen und Telefonmasten hockten. Carlin griff nach ihrem Rucksack. Sie hatte hundertfünfzig Dollar in ihrer Brieftasche als Garantie für eine Rückfahrkarte im Juni, doch bis dahin war sie losgelöst von jeglichen Versprechungen. Sie hätte Gus wahrscheinlich auch stehen lassen, wenn er nicht diese blöde Nummer mit dem Gedankenlesen abgezogen hätte; deshalb war er nicht weiter überrascht, als sie hastig ihren Koffer unter dem Sitz hervorzerrte. Als Gus sich anbot, ihr zu helfen, beäugte sie ihn prüfend. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, es jemandem lieber gleich zu sagen, wenn sie wusste, dass sie sich nicht zu ihm hingezogen fühlte. Damit konnte man sich viel Verwirrung und Mühe ersparen.
»Am besten, wir bringen das gleich hinter uns«, sagte sie. »Ich bin nicht interessiert.«
Gus nickte zustimmend. »Klar, warum auch?«
Er war so verblüfft über die Vorstellung, dass sie ihn überhaupt in Erwägung gezogen hatte, und so aufrichtig, dass Carlin unwillkürlich grinsen musste, als sie zur Tür ging. Als Gus ihr nachsah, fiel ihm auf, dass ihr Haar die Farbe von Sternen hatte, jenen bleichen weit entfernten Galaxien, die so entlegen sind, dass niemand auf den Gedanken kommt, sie auf einer Karte zu vermerken oder ihnen einen Namen zu geben. Er verliebte sich genau in dem Moment in sie, in dem er tat, als sei sie ihm einerlei. Wenn er Carlin beim nächsten Mal begegnete, würde sie ihn wahrscheinlich so wenig bemerken wie Müll oder Unrat. Vielleicht kam es aber auch anders; seit Gus nach Haddan aufgebrochen war, geschahen seltsame Dinge. Auf dem Flug von New York hatte ihm die Stewardess zum Beispiel ein Fläschchen Chivas geschenkt, ohne weitere Fragen zu stellen. Im Salonwagen hatte er eine Tüte Kartoffelchips gekauft und dabei von der Kassiererin ein Tunfischsandwich spendiert bekommen. Und das Verblüffendste und Wunderbarste war natürlich, dass ein schönes Mädchen nicht nur mit ihm gesprochen, sondern ihn sogar angelächelt hatte. Hand aufs Herz, so viel Glück auf einmal hatte August Pierce zum ersten Mal in seinem Leben.