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Stefan Zweig (1881-1942) war ein österreichischer Schriftsteller. 1934 flüchtete er vor den Nationalsozialisten über London und New York nach Brasilien. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Depressive Zustände begleiteten ihn seit Jahren. Seine Frau Lotte folgte Zweig in den Tod. In seinem Abschiedsbrief hatte Zweig geschrieben, er werde "aus freiem Willen und mit klaren Sinnen" aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner "geistigen Heimat Europa" hatte ihn für sein Empfinden entwurzelt, seine Kräfte seien "durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft". Stefan Zweig wurde ein Symbol für die Intellektuellen im 20. Jahrhundert auf der Flucht vor der Gewaltherrschaft.
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Seitenzahl: 19
Wie ein Wirbelwind stürmte sie zur Tür herein.
»Ist mein Kleid schon gekommen?«
»Nein, gnädiges Fräulein«, antwortete das Dienstmädchen, »ich glaube auch kaum, daß es heute noch kommen wird.«
»Natürlich nicht, ich kenne ja diese faule Person«, rief sie mit einer Stimme, in der schon ein verhaltenes Schluchzen zitterte. »Jetzt ist zwölf Uhr, um halb zwei sollte ich hinunterfahren, in den Prater zum Derby. Und wegen der blöden Person kann ich nicht! Und dazu noch dieses schöne Wetter!«
Und wild, in heller Wut warf sie ihr schlankes Figürchen auf das schmale, persische Sofa hin, das mit Decken und Fransen überreich behängt, in einer Ecke des phantastisch-geschmacklos ausgestatteten Boudoirs stand. Ihr ganzer Körper zitterte vor Ärger, daß sie nicht das Derby mitmachen konnte, bei dem sie doch als bekannte Dame und berühmte Schönheit eine der wichtigsten Rollen spielte. Und heiße Tränen rannen ihr zwischen den schmalen, schwerberingten Fingern herab.
So lag sie ein paar Minuten, dann richtete sie sich ein wenig auf, so daß ihre Hand zu dem kleinen, englischen Tischchen greifen konnte, wo sie ihre Pralinébonbons wußte. Mechanisch steckte sie eines nach dem andern in den Mund und ließ sie langsam vergehen. Und ihre schwere Müdigkeit, die durchschwärmte Nacht, das kühle Halbdunkel des Zimmers und ihr großer Schmerz wirkten zusammen in der Weise, daß sie langsam einnickte.
Ungefähr eine Stunde ruhte sie diesen leichten, traumlosen, halb noch wirklichkeitsbewußten Schlaf. Sie war sehr hübsch, wenn auch die Augen, die sonst in ihrer fröhlichen Unbeständigkeit ihre stärkste Attraktion bildeten, jetzt geschlossen waren. Und nur die feingestrichenen Augenbrauen gaben ihr ein mondänes Aussehen, sonst hätte man sie für ein schlafendes Kind halten können, so zierlich und ebenmäßig waren ihre Züge, von denen der Schlaf den Schmerz über die verlorene Freude genommen hatte.
Gegen ein Uhr erwachte sie, etwas überrascht, daß sie geschlafen hatte, und nach und nach erinnerte sie sich wieder an alles. Auf ihr heftiges, nervös wiederholtes Klingeln erschien wieder das Mädchen.
»Ist mein Kleid gekommen?«
»Nein, gnädiges Fräulein!«
»Diese elende Person! Sie weiß doch, daß ich es brauche. Jetzt ist es aus, jetzt kann ich nicht fahren.«
Und erregt sprang sie auf, lief einigemale im engen Boudoir auf und ab, dann steckte sie den Kopf zum Fenster hinaus, ob ihr Wagen schon gekommen sei.