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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Lise hat ihre ländlich-schlichte Herkunft längst hinter sich gelassen, mit dem neuen Namen Lizzie lebt sie, von wohlhabenden Verehrern ausgehalten, in den besten Kreisen Wiens. Doch als ihr prächtiges Gewand nicht rechtzeitig zum Derby-Outing geliefert wird, schlüpft sie in ihr altes Mädchenkleid und befindet sich plötzlich – sozusagen inkognito – in einem neuen Leben. In seinen Erzählungen spürt Stefan Zweig mit psychologischem Feingefühl den geheimen Wünschen und Leidenschaften seiner Figuren und auch den Fallstricken der Wirklichkeit nach.
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Seitenzahl: 31
Stefan Zweig
Praterfrühling
Eine Novelle
Fischer e-books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Eine Novelle
Wie ein Wirbelwind stürmte sie zur Tür herein.
»Ist mein Kleid schon gekommen?«
»Nein, gnädiges Fräulein«, antwortete das Dienstmädchen, »ich glaube auch kaum, daß es heute noch kommen wird.«
»Natürlich nicht, ich kenne ja diese faule Person«, rief sie mit einer Stimme, in der schon ein verhaltenes Schluchzen zitterte. »Jetzt ist zwölf Uhr, um halb zwei sollte ich hinunterfahren, in den Prater zum Derby. Und wegen der blöden Person kann ich nicht! Und dazu noch dieses schöne Wetter!«
Und wild, in heller Wut warf sie ihr schlankes Figürchen auf das schmale, persische Sofa hin, das mit Decken und Fransen überreich behängt, in einer Ecke des phantastisch-geschmacklos ausgestatteten Boudoirs stand. Ihr ganzer Körper zitterte vor Ärger, daß sie nicht das Derby mitmachen konnte, bei dem sie doch als bekannte Dame und berühmte Schönheit eine der wichtigsten Rollen spielte. Und heiße Tränen rannen ihr zwischen den schmalen, schwerberingten Fingern herab.
So lag sie ein paar Minuten, dann richtete sie sich ein wenig auf, so daß ihre Hand zu dem kleinen, englischen Tischchen greifen konnte, wo sie ihre Pralinébonbons wußte. Mechanisch steckte sie eines nach dem andern in den Mund und ließ sie langsam vergehen. Und ihre schwere Müdigkeit, die durchschwärmte Nacht, das kühle Halbdunkel des Zimmers und ihr großer Schmerz wirkten zusammen in der Weise, daß sie langsam einnickte.
Ungefähr eine Stunde ruhte sie diesen leichten, traumlosen, halb noch wirklichkeitsbewußten Schlaf. Sie war sehr hübsch, wenn auch die Augen, die sonst in ihrer fröhlichen Unbeständigkeit ihre stärkste Attraktion bildeten, jetzt geschlossen waren. Und nur die feingestrichenen Augenbrauen gaben ihr ein mondänes Aussehen, sonst hätte man sie für ein schlafendes Kind halten können, so zierlich und ebenmäßig waren ihre Züge, von denen der Schlaf den Schmerz über die verlorene Freude genommen hatte.
Gegen ein Uhr erwachte sie, etwas überrascht, daß sie geschlafen hatte, und nach und nach erinnerte sie sich wieder an alles. Auf ihr heftiges, nervös wiederholtes Klingeln erschien wieder das Mädchen.
»Ist mein Kleid gekommen?«
»Nein, gnädiges Fräulein!«
»Diese elende Person! Sie weiß doch, daß ich es brauche. Jetzt ist es aus, jetzt kann ich nicht fahren.«
Und erregt sprang sie auf, lief einigemale im engen Boudoir auf und ab, dann steckte sie den Kopf zum Fenster hinaus, ob ihr Wagen schon gekommen sei.
Natürlich, der war da. Alles hätte gepaßt, wenn nur diese verfluchte Schneiderin gekommen wäre. Und so mußte sie zu Hause bleiben. Sie verbohrte sich nach und nach in die Idee, daß sie todunglücklich sei, wie keine zweite Frau in der Welt.
Aber es machte ihr beinahe ein Vergnügen, traurig zu sein, sie fand unbewußt einen eigenen Reiz darin, sich selbst zu kasteien. Und in dieser Anwandlung befahl sie dem Mädchen, ihren Wagen wegzuschicken, ein Befehl, der von diesem mit überschwenglicher Freude akzeptiert wurde, weil er am Derbytag ein herrliches Geschäft machen konnte.
Kaum sah sie aber schon das elegante Coupé in scharfem Trab davonfahren, als sie ihr Befehl schon wieder reute, und sie hätte ihn am liebsten selbst vom Fenster zurückgerufen, wenn sie sich nicht geniert hätte, denn sie wohnte im nobelsten Viertel Wiens, am Graben.
So, jetzt war’s aus. Sie hatte Zimmerarrest, wie ein Soldat, dem das Verlassen der Kaserne strafweise untersagt ist.