Prävention all inclusive - Simone Gottwald-Blaser - E-Book

Prävention all inclusive E-Book

Simone Gottwald-Blaser

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Beschreibung

Schutzmaßnahmen zur Prävention von sexuellem Missbrauch in Einrichtungen sind für alle Mädchen* und Jungen* wichtig. Doch wie müssen Schutzkonzepte für Einrichtungen gestaltet bzw. verändert werden, damit sie alle Kinder und Jugendlichen wirksam schützen können? Hierfür braucht es passgenaue, einrichtungsspezifische und inklusive Schutzkonzepte, die auch die Lebenssituation und die Bedarfe von Mädchen* und Jungen* mit Behinderung mitdenken und versuchen, diesen gerecht zu werden. Simone Gottwald-Blaser und Adelheid Unterstaller geben im vorliegenden Buch konkrete und praxisnahe Anregungen zur Gestaltung institutioneller Schutzkonzepte. Dabei behandeln sie insbesondere folgende Aspekte: - Informationen zu sexuellem Missbrauch und zu Präventionsmöglichkeiten von Einrichtungen - Bedeutung einer sensibilisierten präventiven Haltung und eines reflektierten Umgangs mit Nähe und Distanz in professionellen Beziehungen - Inklusive Verfahren zur Partizipation und Beschwerde - Geschlechterrollenreflektierende und -öffnende Arbeit - Elternarbeit im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch Mit Beispielen aus der beruflichen Praxis und hilfreichen Anregungen und Reflexionsfragen werden Leitungs- und Fachkräfte durch dieses Buch bei der Bearbeitung des Themas unterstützt. Ziel ist es, auch bei der Prävention dem Grundsatz der Inklusion immer näher zu kommen: Es ist normal, verschieden zu sein!

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Gedanken und Anregungen zur Gestaltung institutioneller Schutzkonzepte zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen* und Jungen* mit und ohne Behinderung

AMYNA e. V. (Hg.)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I Einige Gedanken vorweg …

Kapitel II Basiswissen

Was ist sexueller Missbrauch?

Wie viele Mädchen* und Jungen* sind von sexuellem Missbrauch betroffen?

Was wissen wir über die Betroffenheit von Mädchen* und Jungen* mit Behinderung?

Was müssen wir über sexuellen Missbrauch wissen, um (auch) Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen schützen zu können?

Was ist ein institutionelles Schutzkonzept?

Gibt es behinderungsspezifische Gefährdungsaspekte, die bei Schutzkonzepten mitgedacht werden müssen?

Was meint also Inklusion bei der Erstellung von Schutzkonzepten?

Welche Schritte gilt es auf dem Weg zu einem Schutzkonzept zu gehen?

Welche Bausteine gehören zu einem institutionellen Schutzkonzept? ....

Wie werden Bausteine von Schutzkonzepten inklusiv?

Was können Kriterien für „gute“ Schutzkonzepte sein?

Fazit und Ausblick

Kapitel III Ausgewählte Bausteine für Schutzkonzepte

Baustein 1: Die Haltung macht’s!

Ausgangspunkte

Ziele des Bausteins

Welche Aufgaben ergeben sich für wen?

Was ist eine „professionelle Haltung“?

Strukturelle Verankerung des professionellen Umgangs mit Nähe und Distanz in der Einrichtung

Baustein 2: Umgang mit Nähe und Distanz in professionellen Beziehungen

Ausgangspunkte

Beispiele für Situationen der besonderen Nähe im Alltag von Einrichtungen und Institutionen

Ziele des Bausteins

Welche Aufgaben ergeben sich für wen?

Prävention auf pädagogischer Ebene: Wie gelingt ein professioneller Umgang mit Nähe und Distanz im beruflichen Alltag?

Wie äußern Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen ihren Wunsch nach Nähe bzw. Distanz?

Prävention auf struktureller Ebene: Nähe und Distanz als Leitungsaufgabe

Kennzeichen guter Schutzvereinbarungen

Beispiele für Schutzvereinbarungen in Einrichtungen und Institutionen, in denen auch Mädchen* und Jungen* mit Behinderung leben

Baustein 3: Partizipation und Beschwerde für Mädchen* und Jungen* mit und ohne Behinderung

Ausgangspunkt

Partizipation im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch

Beschwerde im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch

Warum wirken Verfahren zur Partizipation und Beschwerde aus der Sicht von Tätern und Täterinnen präventiv?

Ziele des Bausteins

Welche Aufgaben ergeben sich für wen?

Umsetzung von Verfahren zur Partizipation für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen

Umsetzung von Verfahren zur Beschwerde für Mädchen* und Jungen* mit Behinderung in Einrichtungen

Einrichtungsinterne Beschwerdeverfahren für Einrichtungen und Institutionen

Bedeutung von Beschwerdeverfahren für das Team

Bedeutung von Eltern für die Implementierung von Partizipations- und Beschwerdeverfahren

Fazit und Ausblick

Baustein 4: Typisch Mädchen*? Typisch Junge*? Typisch ICH!

Ausgangspunkte

Ziele des Bausteins

Welche Aufgaben ergeben sich für wen?

Geschlechterrollen im pädagogischen Alltag und ihre Wirkung

Bedeutung von Geschlechterrollen bei Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen

Geschlechterrollenöffnende Arbeit als Baustein von Schutzkonzepten zur Prävention von sexuellem Missbrauch?

Wie kann man im pädagogischen Alltag geschlechterrollenöffnend arbeiten?

Baustein 5: Elternarbeit im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch

Ausgangspunkte

Ziele des Bausteins

Welche Aufgaben ergeben sich für wen?

Situation von Eltern mit Kindern mit Behinderung

Was bringen Eltern und Mitarbeitende in die Elternarbeit mit ein?

Elternarbeit im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch

Formen und Inhalte von Elternbildung zur Prävention von sexuellem Missbrauch

Fazit und Ausblick

Kapitel IV Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Autorinnen

AMYNA stellt sich vor

Kapitel I

Einige Gedanken vorweg …

Im Jahr 2013 wurde vom Stadtrat der Landeshauptstadt München der 1. Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) beschlossen. Diese „neue“ politische Aufmerksamkeit führte dazu, dass auch bei AMYNA, im Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch, Personalstunden geschaffen werden konnten, die explizit für die Erarbeitung von Ideen zur Umsetzung von Inklusion bei der Prävention von sexuellem Missbrauch genutzt werden1. Im Zentrum der Arbeit des Instituts steht die Frage: Wie können wir Prävention gestalten, sodass wirklich alle Mädchen* und Jungen*2 bestmöglich vor sexuellem Missbrauch durch Erwachsene geschützt sind?

Obwohl der Schutz von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung schon seit der Gründung des Vereins mitgedacht wurde, zeigte die intensive Beschäftigung mit dem Thema sowie der Austausch mit Fachkräften im Rahmen von Fortbildungen und Beratungen, dass in diesem Bereich weiterhin Handlungsbedarf besteht, denn:

Einerseits zeigen aktuelle Studien nach wie vor, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ein erhöhtes Risiko haben, in ihrer Kindheit und Jugend von sexuellem Missbrauch betroffen zu sein. Andererseits zeigt sich in den meisten Einrichtungen und Institutionen, die von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung besucht werden, dass das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch zwar bei immer mehr Mitarbeitenden vorhanden ist und dass diese sich auch bemühen, einzelne Schutzmaßnahmen in ihrem Berufsalltag umzusetzen. Allerdings sind Einrichtungen, die tatsächlich ein umfassendes, einrichtungsspezifisches und strukturell sowie im pädagogischen Alltag zuverlässig umgesetztes Schutzkonzept entwickelt haben, unserem Eindruck nach heute immer noch sehr selten.

Neben der oftmals angespannten Personalsituation im pädagogischen und pflegerischen Bereich und den fehlenden Ressourcen und/oder Strukturen für Prävention in den Einrichtungen berichten die Mitarbeitenden davon, dass ihnen das „Handwerkszeug“ fehlt, um Prävention in ihrem Arbeitsalltag umzusetzen – gerade auch für die inklusive Gestaltung von Maßnahmen, die versucht, möglichst allen Mädchen* und Jungen* der Einrichtung und ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit gerecht zu werden.

Die Idee dieser Veröffentlichung war es darum, Leitungs- und Fachkräften in Einrichtungen und Institutionen, die (auch) von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung besucht werden, Ideen zu geben, wie ein solches Handwerkszeug für inklusive Präventionsmaßnahmen aussehen kann. Auf dem Weg dahin wurden auch wir immer wieder mit der Komplexität dieser Aufgabe konfrontiert. Um nur einige dieser Aspekte aufzuzeigen:

— Mädchen* und Jungen* mit Behinderung besuchen und nutzen ganz unterschiedliche Einrichtungen, Institutionen und Dienste, wie beispielsweise (inklusive) Kindertagesstätten, Heilpädagogische Tagesstätten, Regel- und Förderschulen, Internate, (teil-)stationäre Wohngruppen, (inklusive) Freizeittreffs, spezialisierte Fahrdienste, unterschiedliche therapeutische Angebote etc. Somit richten sich Präventionsmaßnahmen sowohl an Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe als auch an diejenigen der sogenannten Behindertenhilfe sowie an Schulen und Internate, die im Verantwortungsbereich der Kultusministerien stehen. Diese unterschiedlichen Strukturen und Zuständigkeiten führen unter anderem zu sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen, unter denen Maßnahmen zur Prävention von sexuellem Missbrauch geplant werden müssen, um umsetzbar zu sein.

— Auch das Alter und der Entwicklungsstand der Mädchen* und Jungen*, die geschützt werden sollen, muss bei der Entwicklung von Schutzmaßnahmen mitgedacht werden: Erscheint eine Regelung für den Schutz von Kindern angemessen, so schränkt diese mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rechte und Möglichkeiten von Jugendlichen unangemessen ein. Eine Herausforderung ist hier vor allem der Umgang mit Schutzmaßnahmen für Mädchen* und Jungen*, bei denen eine große Diskrepanz zwischen der körperlichen und der kognitiven Entwicklung besteht, z. B. bei Menschen mit Lernschwierigkeiten

3

. Die Aspekte Alter und Entwicklungsstand müssen differenzieren hinsichtlich der Frage, wer mit einer Schutzmaßnahme geschützt werden kann und soll und welche Anforderungen die meist zunehmende Fähigkeit zur (sexuellen) Selbstbestimmung bei der Umsetzung der Maßnahmen mit sich bringt.

— Ähnliches gilt für unterschiedliche Behinderungen, Beeinträchtigungen und Erkrankungen: Auch diese sind von Mensch zu Mensch sehr verschieden und stellen darum verständlicherweise auch ganz unterschiedliche Anforderungen an Schutzmaßnahmen. Die Anforderungen von Menschen mit körperlicher Behinderung sind nicht vergleichbar mit denen von Menschen mit Lernschwierigkeiten oder von denen mit unterschiedlichen Sinnesbehinderungen, seelischen Behinderungen oder auch unterschiedlichen chronischen Erkrankungen. Selbst innerhalb dieser „Oberbegriffe“ gibt es natürlich ebenfalls keine Homogenität: Jeder Mensch ohne und mit Behinderung ist unterschiedlich – und dieser Unterschiedlichkeit gilt es im Sinne von Inklusion auch bei Schutzmaßnahmen gerecht zu werden. Aufgabe ist es darum, von der Orientierung an meist weitgefassten „Zielgruppen“ wegzukommen und den individuellen Blick auf einzelne Menschen zu üben und zu pflegen.

— Die Komplexität der Anforderungen an Präventionsmaßnahmen wird außerdem durch unterschiedliche Berufsgruppen gesteigert, die mit Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen arbeiten. Von Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen über Heilerziehungspfleger*innen und therapeutische Fachkräfte bis hin zu Lehrkräften, Busfahrer*innen oder vielen anderen Berufsgruppen: Sie alle arbeiten in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichem Auftrag mit den Mädchen* und Jungen*. Verbunden sind sie manchmal nur durch den gemeinsamen Auftrag, das Wohl und die Entwicklung von Kindern zu fördern und deren körperliche und psychische Unversehrtheit zu schützen.

Diese unterschiedlichen Aspekte sollen einen Einblick geben, wie schwer es fällt, „allgemeine“ Empfehlungen für inklusive Präventionsmaßnahmen auszusprechen, die allen Situationen gerecht werden und in denen sich alle Leser*innen wiederfinden. Hätten wir dies zumindest in Ansätzen versuchen wollen, so hätten wir starke Einschränkungen machen müssen und den Fokus beispielsweise auf Präventionsmaßnahmen für Kinder mit unterschiedlichen Körperbehinderungen in Kindertageseinrichtungen richten müssen.

Für diese Veröffentlichung haben wir uns jedoch dazu entschieden, erst einmal keine Einschränkung hinsichtlich der angesprochenen Einrichtungen oder Berufsgruppen, aber auch nicht hinsichtlich der angesprochenen Altersgruppen oder „Arten“ der Behinderung vorzunehmen. Dies hat natürlich Konsequenzen: Für die Leser*innen werden an vielen Stellen Lücken und Fragen offen bleiben. Nicht jede Einrichtung wird sich in jedem Beispiel wiederfinden, nicht alle Probleme werden gesehen, besprochen oder gar gelöst werden.

Dennoch haben wir diese Entscheidung getroffen, weil wir davon überzeugt sind: Umsetzbare und alltagstaugliche Schutzkonzepte können nur erstellt werden, wenn das Wissen aus der Präventionsarbeit von den Leitungs- und Fachkräften vor Ort an die Mädchen* und Jungen* sowie an die Situation und die Rahmenbedingungen der Einrichtungen und Institutionen angepasst wird. Mitarbeitende sind eine große und wichtige Ressource für den Schutz und auch für die Entwicklung von Schutzmaßnahmen für Mädchen* und Jungen* ohne und mit Behinderung, die wir gerne nutzen und aktivieren möchten, um Prävention inklusiv zu gestalten.

Wir laden unsere Leser*innen darum ein, das Gelesene selbst an ihre eigene Praxis anzupassen – als Expert*innen für die eigene Arbeitssituation und auch für die anvertrauten Mädchen* und Jungen*. Wir vertrauen auf ihren Blick, ihre Kompetenzen und ihre Kreativität, um fehlende Inhalte oder nicht passende Beispiele in Bezug auf ihre eigene Arbeitssituation weiterzudenken und anzupassen und sich auf den Weg zu machen, eigene Wege zu finden und zu erkunden.

Wir hoffen, dass unsere Gedanken und Ideen dieses „Weiterspinnen“ der Leitungs- und Fachkräfte in den Einrichtungen anregt und sie vielleicht sogar Spaß daran entwickeln, die wahrgenommenen Lücken zu schließen und die entstehenden Fragen durch das Ausprobieren individueller Lösungen weiterzudenken oder sogar zu klären.

Letztlich ist genau das das Potenzial und die Idee von inklusiven Herangehensweisen: Vorgefertigte Standardlösungen können nicht funktionieren. Es braucht neue, eigene Ideen und Wege, die vor Ort und gemeinsam von allen Beteiligten entwickelt werden, denn nur sie können bewerten, welche Herangehensweise ihren Bedürfnissen und Anforderungen gerecht wird. Es gilt darum auch für die Prävention von sexuellem Missbrauch die Erkenntnis von Hubert Hüppe, dem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderung:

Wer Inklusion will, sucht Wege. Wer sie nicht will, findet Gründe.

Wir möchten mit diesem Buch versuchen, solche Wege aufzuzeigen und Anregungen dafür zu geben, wie Schutzmaßnahmen gestaltet werden können, um auch Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen vor sexuellem Missbrauch in den Einrichtungen und Institutionen, die sie besuchen, zu schützen. Wir möchten Probleme aufzeigen, Verantwortlichkeiten benennen, konkrete Vorschläge für die Umsetzung machen und so die unterschiedlichen Einrichtungen dabei unterstützen, den Anfang auf ihrem Weg zu einem passenden, umsetzbaren und möglichst wirksamen Schutzkonzept zu finden.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Bausteinen, die im pädagogischen Alltag von Bedeutung sind. Bausteine, die ausschließlich die Träger- und Leitungsebene betreffen (wie z. B. ein präventiv gestaltetes Personalmanagement), werden aus Kapazitätsgründen nur angesprochen, obwohl sie ebenfalls wichtige Maßnahmen für einen umfassenden Schutz darstellen und darum unbedingt mitbearbeitet werden sollen.

Kapitel II vermittelt Basiswissen rund um den sexuellen Missbrauch an Mädchen* und Jungen* mit und ohne Behinderung. Auf dieser Grundlage zeigt es auf, was der Gedanke, Sinn und Nutzen hinter (inklusiven) institutionellen Schutzkonzepten ist, welche Bausteine diese enthalten und was ein „gutes Schutzkonzept“ ausmacht.

Baustein 1 zeigt die Bedeutung einer präventiven und inklusiven Haltung in den Einrichtungen auf, denn die Haltung von Menschen prägt offensichtlich deren alltägliche Handlungen. Und genau diese alltäglichen Handlungen sind es, die sowohl den Gedanken von Inklusion wie auch die beschlossenen Präventionsmaßnahmen für Mädchen* und Jungen* spür- und erlebbar machen. Darum sind reflektierte und sensibilisierte Haltungen der Fachkräfte Ausgangspunkt und Voraussetzung für die nachhaltige Implementierung von Schutzmaßnahmen in Einrichtungen und Institutionen.

Baustein 2 beschäftigt sich mit Situationen der besonderen Nähe in der Arbeit mit Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen. Der professionelle und reflektierte Umgang mit Nähe und Distanz spielt in deren Alltag eine große Rolle und hat auch im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch eine große Bedeutung, was ihn zu einem wichtigen Baustein eines jeden Schutzkonzeptes macht.

Baustein 3 beschäftigt sich mit der Aufgabe von Einrichtungen, die Rechte von Mädchen* und Jungen* zuverlässig zu schützen. Für die Prävention von sexuellem Missbrauch ist vor allem die Stärkung des Rechtes auf Beteiligung und Beschwerde von Bedeutung und bildet darum den Schwerpunkt dieses Kapitels.

Baustein 4 kümmert sich um die Frage, wie man mit Mädchen* und Jungen* ohne und mit Behinderung geschlechterrollenöffnend arbeiten kann – in dem Bewusstsein, dass tradierte und einschränkende Rollenbilder Präventionsmaßnahmen und auch die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch an Mädchen* und an Jungen* erschweren oder gar verhindern können.

Baustein 5 stellt sich der Frage, welche Bedeutung Elternarbeit im Kontext der Prävention von sexuellem Missbrauch hat. Die Gestaltung von Erziehungspartnerschaften mit Eltern ist nicht nur „offiziell“ Aufgabe von Einrichtungen, sondern auch aus Perspektive des Kinderschutzes von Bedeutung, wenn es darum geht, dass alle erwachsenen Bezugspersonen (gemeinsam) Verantwortung für den Schutz von Mädchen* und Jungen* übernehmen müssen, damit diese bestmöglich vor sexuellem Missbrauch durch Erwachsene geschützt sind.

1 Im Bereich AMYNA, GrenzwertICH wurden ebenfalls Personalstunden geschaffen, in denen sich die Kolleginnen mit Fragen rund um sexuelle Grenzverletzungen durch Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung beschäftigen.

2 In dieser Veröffentlichung wird von Mädchen* und Jungen* gesprochen, um zu betonen, dass damit auch immer transidente, intersexuelle und queer lebende Kinder und Jugendliche gemeint sind. Der Stern* möchte ihre Situation und Bedürfnisse sichtbar machen und daran erinnern, dass die inklusive Gestaltung von Präventionsmaßnahmen immer einen individuellen Blick auf die Mädchen* und Jungen* werfen muss, die hierdurch geschützt werden sollen.

3 Obwohl der Begriff „geistige Behinderung“ in Praxis und Forschung noch immer gängig ist, verwenden wir in dieser Veröffentlichung überwiegend den Begriff Lernschwierigkeiten, um den Wunsch des Netzwerkes „People First“ zu unterstützen, den als überholt und diskriminierend empfundenen Begriff „geistige Behinderung“ nicht mehr zu verwenden.

Kapitel II

Basiswissen

Was ist sexueller Missbrauch?

In Anlehnung an Bange und Deegener (1996, S. 105) wird sexueller Missbrauch4 an Kindern in dieser Veröffentlichung definiert als jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind vorgenommen wird oder zu der ein Kind veranlasst wird, sie an einer anderen Person oder an sich selbst vorzunehmen. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei Macht oder auch die Abhängigkeit oder das Vertrauen eines Kindes aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Mädchen*s oder des Jungen* zu befriedigen.

Man unterscheidet zwischen missbräuchlichen Handlungen mit Körperkontakt („Hands-on Delikte“), wie beispielsweise Zungenküsse, sexualisierte Berührungen oder Penetration (auch mit Fingern und Gegenständen), und Handlungen ohne Körperkontakt („Hands-off Delikte“). Bei diesen stellt die misshandelnde Person keinen Körperkontakt her, sondern verletzt die Grenzen des Kindes, beispielsweise durch eine verbale sexuelle Belästigung, durch exhibitionistische Handlungen oder Voyeurismus. Sexueller Missbrauch kann somit auch stattfinden, wenn sich Täter*in und betroffenes Kind nicht in einem Raum befinden, z. B. durch die Aufforderung zur Übermittlung von Nacktbildern über das Internet.

Aus strafrechtlicher Sicht sind alle sexuellen Handlungen mit und ohne Körperkontakt unter Strafe gestellt, wenn die betroffene Person jünger als 14 Jahre (also aus rechtlicher Sicht ein Kind) ist, denn man geht davon aus, dass Mädchen* und Jungen* sexuellen Handlungen in diesem Alter entwicklungsbedingt noch nicht wissentlich zustimmen können. Ihre ungestörte sexuelle Entwicklung stellt der Gesetzgeber darum unter einen besonderen, absoluten Schutz. Somit ist jede sexuelle Handlung, die an, mit und vor ihnen vorgenommen wird oder zu der sie veranlasst werden, eine Straftat nach § 176 StGB.

Bei Jugendlichen, also Mädchen* und Jungen* zwischen 14 und 18 Jahren, berücksichtigt der Gesetzgeber die zunehmende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung. Der Schutz ist bei ihnen darum nicht mehr absolut, sondern es werden diejenigen Situationen unter Schutz gestellt, in denen ihre Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung eingeschränkt ist oder sein kann, z. B. wenn ein Entgelt für sexuelle Handlungen bezahlt oder eine Zwangslage ausgenutzt wird (§ 182 StGB).

§ 174 StGB schützt Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch durch Personen, denen sie zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut sind, also beispielsweise Eltern und elternähnliche Personen, Vormunde, Lehrkräfte, Betreuer*innen in Wohngruppen oder Anleiter*innen in Werkstätten. Bis zum Alter von 16 Jahren ist dieser Schutz absolut. Zwischen 16 und 18 Jahren ist der Schutz absolut, wenn für die sexuellen Handlungen das Abhängigkeitsverhältnis missbraucht wird, das sich aus dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis ergibt, wenn also beispielsweise schlechtere Noten als Druckmittel verwendet werden.

§ 174c schützt – altersunabhängig – Personen, die wegen einer geistigen, seelischen oder körperlichen Krankheit oder Behinderung Beratung, Behandlung oder Betreuung benötigen, vor sexuellen Handlungen unter Missbrauch dieses Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses.

Sowohl bei § 176 als auch bei § 174 ist bereits der Versuch unter Strafe gestellt.

Der pädagogische Auftrag und die ethischen Anforderungen an Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, Schaden von diesen fernzuhalten, gehen jedoch weit über den strafrechtlichen Rahmen hinaus. Schädigend für Kinder und Jugendliche können viele sexuelle und sexualisierte Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein, die vom Strafrecht nicht oder noch nicht erfasst sind, wie beispielsweise abwertende oder beschämende Bemerkungen, die sich z. B. auf die körperliche Entwicklung oder die Sexualität von Kindern und Jugendlichen ohne und mit Behinderung beziehen.

Insbesondere der Begriff des Schutzbefohlenen-Verhältnisses, wie er im Strafrecht definiert wird, greift im Hinblick auf tatsächlich existierende (emotionale) Abhängigkeiten von Kindern und Jugendlichen nur unzureichend. Hier gilt es, einrichtungsbezogen (z. B. über einen Verhaltenskodex und/oder über Schutzvereinbarungen (vgl. Baustein: Nähe und Distanz) sorgfältig zu bearbeiten, in welchen Konstellationen für welche Personen im Rahmen der Arbeit eine sexuelle Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen über die Regelungen des Strafrechts hinaus ausgeschlossen werden sollen.

Wie viele Mädchen* und Jungen* sind von sexuellem Missbrauch betroffen?

Die jährlich erscheinende Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes, die das sogenannte „Hellfeld“ beleuchtet, erfasst für das Jahr 2015 749 versuchte und 12.984 vollendete Straftaten nach § 176, 176a und 176b, 1.147 betroffene Jugendliche nach § 182 sowie 416 Fälle nach § 174. Obwohl schon diese Zahlen erschreckend hoch sind und deutlich machen, wie wichtig es ist, Maßnahmen zum Schutz von Mädchen* und Jungen* zu etablieren, muss man bedenken, dass Hellfeld-Studien nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden können: Straftaten, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden, tauchen in diesen Zahlen nicht auf. Dabei geht man in der Fachwelt gerade bei sexuellem Missbrauch davon aus, dass dieser in vielen Fällen nicht aufgedeckt und nur in bestimmten Konstellationen mit höherer Wahrscheinlichkeit angezeigt wird, z. B. wenn die missbrauchende Person dem Kind und/oder seiner Familie eher fremd ist. Je näher sich Täter*in und betroffene Person stehen und je größer die Abhängigkeit der betroffenen Person (oder ihrer Familie) von dem/der Täter*in ist, umso unwahrscheinlicher ist die Aufdeckung5 solcher Straftaten.

Die Dunkelfeld-Forschung (also Studien, in denen Erwachsene und/oder Jugendliche anonym zu Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Jugend befragt werden) dagegen geht von deutlich höheren Zahlen aus. Hier wird vermutet, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen* und jeder achte bis zehnte Junge* in der Kindheit und Jugend von sexuellem Missbrauch betroffen sein könnte (vgl. z. B. Bange 2002, S. 679).

Was wissen wir über die Betroffenheit von Mädchen* und Jungen* mit Behinderung?

Auch Mädchen* und Jungen* mit Beeinträchtigungen und Behinderungen erleben sexuellen Missbrauch durch Erwachsene oder Jugendliche. In empirischen Studien zu deren Betroffenheit zeigt sich sogar, dass sie ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko haben, von sexuellem Missbrauch betroffen zu sein6.

Generell zeigen Studien ein erhöhtes Risiko für Kinder und Jugendliche mit einer geminderten Selbstschutz- und/oder Mitteilungsfähigkeit sowie für Mädchen* und Jungen*, die wenig emotionalen Rückhalt durch ihre nächsten Bezugspersonen erfahren. Besonders gefährdet sind diesen Studien zufolge auch emotional vernachlässigte Kinder und Jugendliche, Mädchen* und Jungen*, die bereits Viktimisierungserfahrungen von Missbrauch oder Gewalt haben, diejenigen, die Partnergewalt erleben mussten und Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund (vgl. z. B. DJI 2011, S. 40 f.; Kindler & Schmidt-Ndasi 2011, S. 29 f.). Es lässt sich vermuten, dass sich das Risiko für Kinder und Jugendliche, auf die mehrere Faktoren zutreffen, noch weiter erhöht. Ein Beispiel hierfür wären geflüchtete Kinder mit Beeinträchtigungen.

In einer repräsentativen Studie zur Lebenssituation von Frauen* mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland geben beispielsweise 20 bis 31 Prozent der Befragten an, in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch durch Erwachsene erlebt zu haben (vgl. Schröttle et al. 2012, S. 162). Werden sexuelle Übergriffe durch andere Kinder und Jugendliche einbezogen, so berichten vor allem gehörlose Frauen* (52 Prozent), psychisch erkrankte Frauen* (36 Prozent), Frauen* mit Körper- und mehrfacher Behinderung (34 Prozent) sowie Frauen* mit Lernschwierigkeiten (25 Prozent) von sexuellen Übergriffen, die sie in der Kindheit und Jugend erleben mussten. Gerade bei Frauen* mit Lernschwierigkeiten weisen die Autorinnen darauf hin, dass hier (trotz einer Befragung in leichter Sprache) von einem erheblichen Dunkelfeld ausgegangen werden muss (vgl. Schröttle 2012, S. 21).

Der Bedarf an Schutzmaßnahmen, die (auch) Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gerecht werden und diese möglichst zuverlässig schützen, wird in Anbetracht dieser Zahlen deutlich und muss sowohl gesellschaftlich, politisch als auch in den Einrichtungen und Institutionen zur Aufgabe aller Erwachsenen werden.

Was müssen wir über sexuellen Missbrauch wissen, um (auch) Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen schützen zu können?

Damit Schutzkonzepte tatsächlich alle Mädchen* und Jungen* bestmöglich vor sexuellem Missbrauch in Einrichtungen schützen, muss bei ihrer Entwicklung das Wissen rund um die Eigenschaften und Vorgehensweisen von in Einrichtungen missbrauchenden Personen mitgedacht werden.

Was wissen wir über den Kontext von sexuellem Missbrauch?

— Sowohl Männer* als auch Frauen* missbrauchen Mädchen* und Jungen*. Je nach Untersuchung sind zwischen drei und 15 Prozent der missbrauchenden Personen Frauen*, wobei auch hier mit einem Dunkelfeld gerechnet werden muss.

— Rund ein Drittel der Täter*innen werden schon vor ihrem 21. Lebensjahr übergriffig.

— Täter*innen können Personen sein, die den Mädchen* und Jungen* bisher fremd waren. Es können aber auch Verwandte der Kinder und Jugendlichen sein oder Personen aus dem sozialen Umfeld des Kindes oder der Familie. In diese letzte Gruppe eingeschlossen sind Personen aus den betreuenden Einrichtungen und Institutionen. Für Deutschland liegen dafür aktuell leider keine aussagekräftigen Untersuchungen und somit keine belastbaren Zahlen vor (vgl. Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.) 2016, S. 39).

Bei Mädchen* und Jungen*, die aufgrund ihrer kognitiven und/oder körperlichen Einschränkungen nie oder nur sehr selten ohne die Begleitung einer ihnen bekannten erwachsenen Person unterwegs sind, muss allerdings davon ausgegangen werden, dass der Anteil an Fremdtäter*innen sehr gering ist (vgl. Unterstaller 2009, S. 16).

Es besteht außerdem die Vermutung, dass bei sexuellem Missbrauch an Kindern mit Behinderung der Anteil an Täter*innen höher ist, der über Einrichtungen, Institutionen und durch Dienste mit diesen in Kontakt kommt. In einer Studie von 1991 waren beispielsweise knapp 44 Prozent der Täter*innen durch Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe mit den Betroffenen in Kontakt gekommen, z. B. als Fahrer*in von speziellen Transportdiensten, als Therapeut*in oder als professionelle Pflegekraft (Sobsey & Doe 1991, S. 243). Auch Wissink et al. gehen davon aus, dass bei Mädchen* und Jungen* mit Behinderungen gerade diese Täter*innen-Gruppe noch deutlich größer sein könnte, als bisher gedacht (vgl. 2015, S. 29).

Der Fokus dieser Veröffentlichung liegt darum auf den Möglichkeiten der Prävention von sexuellem Missbrauch durch Mitarbeitende in Einrichtungen und Institutionen. Dies geschieht in dem Wissen und in der Hoffnung, dass Schutzkonzepte in Einrichtungen den Mädchen* und Jungen* helfen können (und sollen), hier geeignete Vertrauens- und Ansprechpersonen zu finden, denen sie von erlebtem sexuellen Missbrauch in Familie, Partnerschaft oder sozialem Umfeld berichten können und die dann auch wissen, was zu tun ist, um das betroffene Mädchen* oder den betroffenen Jungen* bestmöglich und langfristig vor weiteren Gewalterfahrungen zu schützen.

Welche äußeren Faktoren begünstigen sexuellen Missbrauch in Einrichtungen und Institutionen?

Nicht nur die Frage, wer die Täter*innen sind, sondern auch die Frage, wie diese vorgehen, ist für die Entwicklung von wirksamen Schutzkonzepten relevant: Wer die erfahrungsgemäß oftmals recht ähnlichen Strategien und Vorgehensweisen von Täter*innen kennt, kann daraus ganz konkrete Ansatzpunkte für wirksame Präventionsmaßnahmen ableiten und Täter*innen so ihr meist strategisches Vorgehen auch strategisch erschweren.

Zum Vorgehen von – insbesondere männlichen – Tätern, vor allem im institutionellen Bereich, gibt es inzwischen langjährige Forschung und fundierte Erkenntnisse. Leider gibt es bislang wenige gesicherte Erkenntnisse dazu, wie Täter*innen vorgehen, die Mädchen* und Jungen* mit unterschiedlichen Behinderungen sexuell missbrauchen. Da es aber auch keine Hinweise darauf gibt, dass sich das Vorgehen und die Strategien von Täter*innen bei sexuellem Missbrauch an Mädchen* und Jungen* mit Behinderung maßgeblich unterscheiden und da bekannt gewordene Fälle eine ähnliche Vorgehensweise vermuten lassen, soll das vorhandene Wissen als Basis für die weiteren Ausführungen herangezogen werden.

Für die strukturelle Gestaltung von Einrichtungen ist es von Bedeutung zu wissen, dass es sich bei sexuellem Missbrauch um eine beabsichtigte Tat handelt, die nicht „zufällig“ oder „spontan“ passiert. Es gibt Täter*innen, die bewusst über ihren Beruf in Kontakt zu Mädchen* oder Jungen* (ohne oder auch mit Behinderung) kommen möchten und die sehr gezielt schauen, welches Berufsbild, aber dann auch, welche Einrichtung sich für ihr Vorhaben „eignet“. In Fortbildungen wird oft spürbar, dass es vielen Teilnehmer*innen schwerfällt zu glauben, dass Täter*innen wirklich so geplant vorgehen und sich teilweise sogar bewusst für einen Beruf oder eine Einrichtung entscheiden, der ihrem „Vorhaben“ nutzt. Verständlicher wird es, wenn man versucht, sich in die Täter*innen-Perspektive zu versetzen: Täter*innen sind sich in den meisten Fällen bewusst, dass ihr Handeln nicht richtig, sondern eine Straftat ist. Ihr oberstes Ziel ist es darum, dass ihre Tat(en) geheim bleiben und nicht aufgedeckt werden, denn andernfalls müssen sie nicht nur mit strafrechtlichen Konsequenzen, sondern auch mit den sozialen Reaktionen auf eine solche Tat rechnen.

Es muss also aufgrund des aktuellen Erkenntnisstandes davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Täter*innen sich ihr soziales und berufliches Umfeld sehr gezielt aussucht und abwägt, wie wahrscheinlich eine Aufdeckung seiner Tat in diesem Umfeld erscheint.

Aufbauend auf dem Wissen, dass es tatbegünstigende Faktoren gibt, die bislang noch nicht ins Bewusstsein der Forschung und Praxis gelangt sind, sollen darum (basierend auf mittlerweile fundierten Forschungsergebnissen) Faktoren herausgearbeitet werden, die sexuellen Missbrauch in Institutionen und Einrichtungen begünstigen können. Einen sehr aufschlussreichen und lesenswerten Einblick in dieses Thema gibt eine online verfügbare Expertise von Dr. Claudia Bundschuh (2010, S. 47-58), aus der im Folgenden einige Aspekte für ein besseres Verständnis aufgezeigt werden sollen. Ein „geeignetes Umfeld“ aus Täter*innen-Sicht kann demzufolge eine Einrichtung sein,

— die ein weitgehend geschlossenes oder aber ein weitgehend offenes System darstellt: In geschlossenen Systemen (wie zum Beispiel dem Internat des Klosters Ettal, in dem zahlreiche Missbrauchsfälle stattgefunden haben) entwickeln sich starke Abhängigkeiten nach innen. Es fehlt ein äußeres Korrektiv. In offenen Systemen dagegen verwischen die Grenzen zwischen innen und außen, nahezu jeder kann – unkontrolliert – in die Einrichtung gehen und sie wieder verlassen. Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge sind häufig ein Beispiel dafür.

— die unter rigider und autoritärer Leitung steht („überstrukturiert“) oder aber in der es eine wenig strukturierte und unklare Leitung gibt („unterstrukturiert“): Überstrukturierte Einrichtungen sind gekennzeichnet von starren Hierarchien. Entscheidungen werden von der Leitung getroffen, aber nicht transparent gemacht. Sie sind oder erscheinen willkürlich. Die Interessen der Mitarbeitenden werden nicht berücksichtigt – sie werden sozusagen aus ihrer Verantwortung entlassen. Unterstrukturierte Einrichtungen sind gekennzeichnet durch ein „Leitungsvakuum“. Sie bieten wenige fachliche Orientierung, die Mitarbeitenden sind auf sich gestellt. Es besteht ein Mangel an verbindlichen Werten und gemeinsamen Konzepten.

— in der Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern wenig reflektiert werden und in dem folglich die Autonomie- und Mitbestimmungsrechte von Kindern und Jugendlichen oftmals unzureichend geachtet werden.

— in der es wenig Gespür und keine verbindlichen Leitlinien für einen achtsamen, Grenzen achtenden Umgang miteinander gibt.

— in dem es keine oder eine rigide Sexualerziehung gibt.

— in denen es wenig Wissen um sexuellen Missbrauch gibt und die Möglichkeit, dass „so etwas“ im eigenen Umfeld passieren kann, verdrängt wird.

— in dem wenig Wissen um Hilfemöglichkeiten und das Vorgehen im Verdachtsfall vorhanden ist, was unter Umständen dazu führen kann, dass im Verdachtsfall eher weggeschaut wird, als einen „derartigen Vorwurf“ gegen einen Kollegen oder eine Kollegin zu erheben und sich damit vielleicht selbst in Schwierigkeiten zu bringen oder im Team unbeliebt zu machen.

Schutzkonzepte sollen eine Reaktion auf solche tatbegünstigenden Rahmenbedingungen in Einrichtungen sein, indem sie beispielsweise Verantwortlichkeiten und Kommunikationswege klären und diese transparent machen oder indem die Rechte der Mädchen* und Jungen* gestärkt werden und nach Möglichkeiten gesucht wird, wie diese in der Einrichtung zuverlässig ermöglicht und geschützt werden können. Auch die Erarbeitung von überprüfbaren eindeutigen Handlungsver- und -geboten für standardisierbare Risikofaktoren („Schutzvereinbarungen“) oder die Gestaltung einer (positiven und bestärkenden sowie geschlechterrollenöffnenden) sexualpädagogischen Arbeit in den Einrichtungen können tatbegünstigende Faktoren reduzieren und so den Schutz der Mädchen* und Jungen* erhöhen. Darum sind alle genannten Maßnahmen wichtige Bausteine von institutionellen Schutzkonzepten (siehe unten).

Wie gehen Täter*innen in Einrichtungen und Institutionen vor?

Neben dem Wissen um strukturelle Rahmenbedingungen, die sich tatbegünstigend auswirken können, ist auch das Wissen um mögliche Vorgehensweisen von Täter*innen wichtig, um Prävention in Einrichtungen und Institutionen wirksam gestalten zu können.

Kindler und Schmidt-Ndasi berichten, dass zwischen zehn und 40 Prozent der befragten Täter*innen angeben, ihre sexuellen Übergriffe nicht allmählich angebahnt zu haben, sondern dass sie versuchten, das betroffene Kind zu überrumpeln und dass sie hierfür auch von Anfang an körperliche Gewalt ausübten (vgl. 2011, S. 26).

Bei einer Mehrzahl der Täter*innen zeigt sich jedoch, dass diese ihre Tat strategisch planen, gezielt vorbereiten und allmählich anbahnen (vgl. ebd., S. 25). Tschan (2012, S. 69) spricht in diesem Kontext davon, dass Täter*innen sich ihre Tatorte schaffen – also den geplanten sexuellen Missbrauch sowohl innerhalb der Einrichtung als auch im Kontakt zu dem betroffenen Kind oder dem/der Jugendlichen vorbereiten.

Hierfür nehmen sie einerseits häufig eine Position in ihrem Umfeld ein (z. B. Autoritäts- oder Vertrauensperson, unentbehrliche*r Mitarbeiter*in, Spaßmacher*in), in der es ihnen die Kolleg*innen nicht zutrauen, dass „ausgerechnet“ er oder sie „so etwas“ macht. Hat das Umfeld eine solch hohe, respektvolle oder harmlose Meinung von der missbrauchenden Person, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass grenzverletzendes Verhalten wahrgenommen oder als solches bewertet wird, oder dass Mädchen* und Jungen* gehört und/oder ernst genommen werden, die Andeutungen auf das machen, was ihnen durch genau diese Person widerfahren ist. Dies wiederum senkt zwar für die Täterin oder den Täter die Gefahr, dass der sexuelle Missbrauch aufgedeckt wird – aber gleichzeitig heißt es aus der Sicht des betroffenen Kindes, dass die nichtmissbrauchenden Erwachsenen es mit geringerer Wahrscheinlichkeit vor weiteren Übergriffen schützen.

Wie gehen Täter*innen gegenüber den Mädchen* und Jungen* vor?

Auch gegenüber dem betroffenen Kind oder dem/der Jugendlichen wird sexueller Missbrauch in vielen Fällen allmählich angebahnt. In der Fachsprache nennt man diesen Prozess „Grooming“ (von engl. to groom: etwas vorbereiten). In diesem Prozess wird durch Aufmerksamkeit, emotionale Zuwendung, gemeinsame Spiele oder persönliche Geschenke versucht, eine vertraute spezielle Beziehung zu dem ausgewählten Mädchen* oder Jungen* aufzubauen (vgl. Kindler & Schmidt-Ndasi 2011, S. 25). Bei einer Befragung von Betroffenen gaben zwei Drittel an, dass die missbrauchende Person vorab versucht habe, eine emotional enge Bindung zu ihnen aufzubauen (vgl. ebd.). Rooch (2015, S. 37) schreibt hierzu: „Die Betroffenen selbst fühlen sich nicht selten geschmeichelt, schätzen die Aufmerksamkeit und freuen sich über Komplimente und Geschenke. Viele Frauen*, die zu uns in die Beratung kommen, mochten (und mögen häufig noch!) den Täter gern und kommen durch diesen Zwiespalt in große innere Nöte.“

Diese „besonderen“ Beziehungen sind häufig ein Grund dafür, dass Mädchen* und Jungen* durch das Geschehene verwirrt sind und nicht einordnen können, was los ist, wenn diese vertraute, gemochte Person plötzlich beginnt, unter das T-Shirt oder in die Hose zu greifen, anzügliche Kommentare zu machen oder auf andere Weise persönliche und intime Grenzen zu überschreiten. Diese Verwunderung und Irritation nutzt die missbrauchende Person nicht nur, um die Reaktion des Kindes, sondern auch um die Reaktion des Umfeldes zu testen: Wehrt sich das Kind? Wird das Umfeld auf diese ersten Grenzverletzungen aufmerksam? Wie reagieren die anderen Erwachsenen darauf? Sagen sie etwas oder schauen sie weg? Gibt es eine aus Täter*innen-Sicht bedrohliche Reaktion des Kindes oder des Umfeldes, so kann das aufgedeckte grenzverletzende Verhalten als „zufällig“, „unbeabsichtigt“ oder als „nicht so wild“ abgetan werden – in den meisten Fällen, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

Betroffene Kinder berichten außerdem, dass in diesem Anbahnungsprozess versucht wurde, sie von ihrer sozialen Umgebung zu isolieren, z. B. durch den Wunsch der missbrauchenden Person nach exklusiv zu zweit verbrachter Zeit (Kindler & Schmidt-Ndasi 2011, S. 26). Zu dieser Isolierung kommen dann oftmals auferlegte Schweigegebote: „Mehr als zwei Drittel der Täter schienen demnach ein Schweigen des Kindes ausdrücklich einzufordern“ (vgl. ebd.).