Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe -  - E-Book

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Beschreibung

Welchen Hilfebedarf haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD)? Wo bekommen (Pflege-)Familien von Kindern mit FASD Unterstützung? Welche Kenntnisse sollten Fachkräfte in Einrichtungen mitbringen, um Menschen mit FASD gut betreuen zu können? Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen, da das Spektrum der Beeinträchtigung sehr heterogen und häufig mit Komorbiditäten verbunden ist. Dieses Buch gibt Fachkräften in der Jugendhilfe Orientierung, wie man Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit FASD sowie ihre Familien gut begleitet. Anhand von Best-Practice-Beispielen wird gezeigt, welche konzeptionellen, pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen besonders hilfreich sind. Dabei werden auch sozialrechtliche Potenziale beleuchtet.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Reinhold Feldmann • Erwin Graf (Hg.)

Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe

Mit 3 Abbildungen und 1 Tabelle

Mit Beiträgen von Peter Anders, Monika Biener, Gisela Bolbecher, Reinhold Feldmann, Melissa Franke, Erwin Graf, Jana Hubelitz, Martina Kampe, Christoph Lutter, Sigrid Mosé, Jasmin Rüffer, Dagmar Sudhoff, Klaus ter Horst, Anneke Yamini

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. rer. med. Dipl.-Psych. Reinhold Feldmann ist Psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in der FASD-Ambulanz in Walstedde.

Dipl.-Psych. Erwin Graf, Kinder und Jugendlichenpsychotherapeut, ist an der Erziehungs- und Lebensberatungsstelle in Neustadt an der Aisch tätig.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Feldmann, R., Kampe, M., Graf, E.: Kinder mit FASD ein Zuhause geben. Ein Ratgeber (ISBN: 978-3-497-02935-8)

Feldmann, R., Noppenberger, A.: FAS(D) perfekt durch die Pubertät (ISBN: 978-3-497-03070-5); Ein FAS(D) perfektes Schulkind (ISBN: 978-3-497-02989-1); FAS(D) perfekt! (ISBN: 978-3-497-02873-3)

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03105-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61593-3 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61594-0 (EPUB)

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S. v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von ©istock.com/Delpixart

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.deE-Mail: [email protected]

Inhalt

Einführung

von Reinhold Feldmann und Erwin Graf

Geschichte und Diagnostik

1 Historische Entwicklung und aktueller Stand

von Reinhold Feldmann

1.1 Frühe Betrachtungen zur vorgeburtlichen Alkoholschädigung von Kindern

1.2 Neuere Studien

1.3 Zum aktuellen Stand der Forschung

Literatur

2 Diagnostik der vorgeburtlichen Alkoholschädigung bei Kindern und Jugendlichen

von Reinhold Feldmann

2.1 Überblick

2.2 Störungen der Entwicklung

2.3 Verhaltensstörungen

2.4 Unzureichende Diagnosen

2.5 Zur Bedeutung der Diagnosestellung

Literatur

Praxiserfahrungen und Konzepte für die Begleitung von Pflegefamilien

3 Aufbau einer regionalen FASD-Beratung

von Gisela Bolbecher und Jasmin Rüffer

3.1 Elemente des Netzwerks

3.2 Beratungsthemen

3.3 Zielgruppen

3.4 Ziele der Fachberatung

3.5 Förderangebote des Netzwerks für Kinder und Jugendliche mit FASD

3.6 Aus der Arbeit der Beratungsstelle – ein Interview

4 Konzeption für eine FASD-qualifizierte Arbeit im Pflegekinderfachdienst

von Sigrid Mosé

4.1 Chancen und Grenzen in der Betreuung von Pflegefamilien

4.2 Strukturelle Erfordernisse für eine FASD-gerechte Arbeit des Fachdienstes

4.3 Grundlagen einer kompetenten Begleitung der Pflegefamilien mit FASD-Kindern

4.4 Vermittlung einer FASD-spezifischen Pädagogik

4.5 Einsatz von alltagsstrukturellen Hilfen für Kinder mit FASD

4.6 Chancen und Grenzen von Therapien

4.7 Ermöglichung von Psychoedukation

4.8 Resümee

Literatur

5 Coaching-Projekt für Pflegefamilien

von Erwin Graf, Martina Kampe

5.1 Institution Erziehungsberatungsstelle

5.2 Erziehungsberatung für Pflegeeltern zum Thema FASD

5.3 Was bewegt Familien mit FASD-betroffenen Kindern? Tipps für den Alltag

5.4 Was hilft?

5.5 Was bleibt?

Literatur

FASD in der stationären Jugendhilfe

6 Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) in der stationären Kinder- und Jugendhilfe

von Klaus ter Horst

6.1 Einleitung

6.2 Jugendhilfe und FAS

6.3 Die Aufnahme von Kindern mit FAS in der stationären Jugendhilfe

6.4 Wie unterscheiden sich Kinder mit FAS von anderen Kindern in der stationären Jugendhilfe?

6.5 Qualifizierungsmaßnahmen für stationäre Jugendhilfeeinrichtungen

6.6 Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

7 Intensivgruppen – stationäre Wohn- und Betreuungskonzepte für FASD-Betroffene

von Melissa Franke

7.1 Einführung

7.2 Die Konzepte

7.3 Aufnahmekoordination und Einzug

7.4 Der Alltag

7.5 Resümee

Eingliederungshilfe und Sozialrecht

8 Fetale Alkoholspektrumstörung im Erwachsenenalter

von Dagmar Sudhoff

8.1 Hintergrund

8.2 Eingliederungshilfe für erwachsene Personen

8.3 Erklärungsmodelle für die alltäglichen Probleme der betroffenen Erwachsenen

8.4 Unterstützungsbedarf der erwachsenen Menschen mit FASD

8.5 Methoden für die Lebensbegleitung der Betroffenen

8.6 Begleitete Selbsthilfegruppe und Psychoedukation

8.7 Abschließend

Literatur

9 Hilfen aus dem Sozialsystem

von Peter Anders, Christoph Lutter, Reinhold Feldmann

9.1 Einordnung

9.2 Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch XI: Beantragung eines Pflegegrades

9.3 Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch V: Gesetzliche Krankenversicherung

9.4 Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch IX: Der Schwerbehindertenausweis

9.5 Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII

9.6 Opferentschädigung

9.7 Gesetzliche Betreuung (Bürgerliches Gesetzbuch §§ 1896 ff.)

Literatur

Therapieformen

10 Psychoedukation bei Kindern und Jugendlichen mit FASD im Rahmen der stationären Jugendhilfe

von Jana Hubelitz

10.1 Interventionen bei FASD – Ein Blick über die Landesgrenzen lohnt sich

10.2 Psychoedukation – Definition und Wirkungsmechanismen

10.3 Möglichkeiten und Grenzen der Psychoedukation

10.4 FASD-Psychoedukation in Deutschland – Ein aktueller Stand

10.5 Psychoedukation im FASD-Kontext – Implikationen für die Zukunft

Literatur

11 „Sattelfest durchs Leben“: Therapieansätze für FASD-Betroffene

von Monika Biener

11.1 Sinn und Zweck von therapeutischen Angeboten bei FASD

11.2 Welche therapeutischen Angebote gibt es?

11.3 Ein besonderes Angebot: Reittherapie

11.4 Was genau bewirkt Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mit FASD?

11.5 Zusammenfassung: Möglichkeiten und Grenzen der Reittherapie

Literatur

12 Medikamentöse Behandlung

von Reinhold Feldmann, Anneke Yamini

12.1 Stimulanzien

12.2 Sedativa

12.3 Neuroleptika

12.4 Antidepressiva

12.5 Medikamente bei Schlafstörungen

12.6 Medikamente zur Empfängnisverhütung

12.7 Schlusswort

Literatur

Die Autorinnen und Autoren

Sachregister

Einführung

von Reinhold Feldmann und Erwin Graf

Die Auswirkungen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und damit das Thema Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD – aus dem Englischen Fetal Alcohol Spectrum Disorder) rücken immer stärker in den Fokus fachlichen, aber auch gesamtgesellschaftlichen Interesses: Worum handelt es sich bei der Störung – und welche Folgen ergeben sich für die Betroffenen?

In den letzten Jahren entstanden etliche diagnostische Zentren, Leitlinien zur Diagnostik wurden erarbeitet, und die Anzahl an Publikationen stieg, um nur ein paar Entwicklungen aus Medizin und Forschung zu nennen.

Dieses Buch soll einen Überblick über das geben, was von institutioneller Seite – der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe für Erwachsene – therapeutisch, pädagogisch und konzeptionell angeboten werden kann. Es richtet sich an Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Jugendamtsmitarbeitende und an alle, die für Betroffene und ihre Familien oder Betreuungspersonen geeignete Formen der Unterstützung oder auch Therapie suchen.

Zu Beginn der Lektüre wird geschichtliches und diagnostisches Basiswissen über das Störungsbild FASD vermittelt. Der erste Schwerpunkt des Handbuchs zu geeigneten Praxis-Konzepten ist der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe gewidmet. Eine neu gegründete, altersübergreifend arbeitende FASD-Beratungsstelle erläutert ihre Aufgabenfelder. Sie zeigt, wie sie das Thema Prävention im Blick hat und umsetzt – gilt doch FASD als die eine Behinderung, die zu 100 % vermeidbar ist.

Der Pflegekinderfachdienst eines Jugendamts zeigt auf, wie es möglich ist, sich konzeptionell und handlungsorientiert auf FASD bei Pflegekindern einzustellen. Am Beispiel eines Coaching-Projektes einer Erziehungsberatungsstelle wird dargestellt, wie durch den Einsatz spezifisch qualifizierter Coaches Familien, in denen FASD-betroffene Kinder und Jugendliche leben, gut und entlastend unterstützt werden können.

Ein weiterer Schwerpunkt gilt der stationären Jugendhilfe, in der seit vielen Jahren Einrichtungen mit hoher Kompetenz und gutem Know-how Hilfe für Kinder und Jugendliche anbieten. Was setzt eine solche Hilfe voraus? Wie kann ein Wohn- und Betreuungskonzept gestaltet werden?

Die Kinder- und Jugendhilfe bietet ein unterstützendes Netz, das bis zum Alter von mindestens 18 Jahren aufgespannt ist. Danach findet die hoheitliche Zuständigkeit der Jugendämter ihre Grenzen. Durch den Übergang in die Volljährigkeit findet grundsätzlich auch ein Systemwechsel statt. In einem vierten Schwerpunkt wird thematisiert, mit welchen Schwierigkeiten Erwachsene mit FASD konfrontiert werden, wie und vor allem mit welchen Maßnahmen Betroffene nun im Erwachsenenalter unterstützt werden können. Zudem werden sozialrechtliche Handlungsfelder erläutert. So werden die oft notwendige Beantragung eines Pflegegrades, die Feststellung der Schwerbehinderung, die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und die gesetzliche Betreuung der Volljährigen thematisiert.

Zum Abschluss werden unterschiedliche Therapiekonzepte – pädagogisch-psychologische Verfahren, das therapeutische Reiten und medikamentöse Behandlungsformen – vorgestellt, von denen Menschen mit FASD profitieren können.

Wir hoffen, dass die LeserInnen v.a. durch die Beispiele, die in langjähriger Arbeit wohl Best-Practice-Charakter gewannen, für die Beeinträchtigungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit FASD sensibilisiert werden und gute Anregungen für die Umsetzung geeigneter Hilfen gewinnen können.

Geschichte und Diagnostik

1 Historische Entwicklung und aktueller Stand

von Reinhold Feldmann

Die Folgen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft wurden in der medizingeschichtlichen Forschung bislang nicht eingehend thematisiert. Die nachfolgende, lockere Reihe von Textfunden mag aber doch zeigen, dass eine mögliche generationenübergreifende, schädigende Wirkung des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft Autoren zu allen Zeiten beschäftigte. Präzise Beobachtungen und Beschreibungen der bei den Kindern aufgetretenen Schäden liegen seit der Barockzeit vor. Einzelne Ärzte benannten die Folgen teils sehr detailliert. Sie konnten ihr Wissen aber nur mit wenigen Fachkollegen teilen und es so weitergeben, dadurch ging die Kenntnis von der embryofetalen Schädigung durch Alkoholkonsum immer wieder verloren. Andere Autoren, darunter nicht nur Mediziner, haben die typischen kindlichen Schäden beobachtet, ohne einen Zusammenhang zum mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft herzustellen. Wilhelm Busch etwa beschrieb in seiner Lausbubengeschichte „Max und Moritz“, wie man heute weiß, mit „Moritz“ ein alkoholgeschädigtes Kind. Busch hielt Moritz aber wie den delinquenten Max, bei dessen Streichen Moritz mitläuft, für frech und schlecht erzogen. Ein Arzt wiederum, der in einer Weinregion Deutschlands viele Kinder mit auffälligen Gesichtszügen vorfand, die nach heutigem Kenntnisstand auf eine deutliche Alkoholschädigung hinweisen, verstand sie als Nachkommen von Einwanderern aus Zentralasien.

So musste die Gefahr, die der Alkoholkonsum der werdenden Mütter während der Schwangerschaft für die ungeborenen Kinder bedeutet, immer wieder neu entdeckt werden. Zuletzt geschah das im Jahr 1968. Für eine bleibende Wissenstradition waren die Umstände nun erstmals günstig: Themen kindlicher Gesundheit bekamen mehr Gewicht in der Medizin. Fachzeitschriften, aber auch Massenmedien verbreiteten die Informationen über die „Alkoholembryopathie“, wie es damals meist hieß, so intensiv und weithin, dass das Wissen um die Gefahren des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft nicht wieder verloren gehen und sich bis heute weiter festigen konnte. Schauen wir zunächst auf die Geschichte der oft klugen, manchmal amüsanten oder verwunderlichen Gedanken zu dem, was wir heute als Folgen des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft erkennen.

1.1 Frühe Betrachtungen zur vorgeburtlichen Alkoholschädigung von Kindern

In der griechischen Antike wurde von Ärzten empfohlen, dass primär die Männer während des Zeugungsaktes nicht im Alkoholrausch sein sollten. Plutarch (45 n. Chr. bis 125 n. Chr.) etwa warnte vor der Zeugung von Kindern durch Trinker:

„Denn die Kinder werden gern zu Freunden des Weines und zu Trunkenbolden, wenn ihre Väter sie im Rausch und in der Trunkenheit gezeugt haben“ (zit. n. Abel 1984, 8).

Dem Alkoholkonsum durch Frauen wurde meist noch keine Bedeutung zugeschrieben. Immerhin vertrat aber bereits Platon (~ 428 v. Chr. bis 348 v. Chr.) die Ansicht, dass Männer und Frauen zum Zeugungszeitpunkt nüchtern sein sollten. Er begründete das mit der Überzeugung, dass sich die Befindlichkeiten von Mann und Frau beim Fortpflanzungsakt auf das Kind übertragen (Abel 1984, 5).

Empfehlungen zur Nüchternheit auch während der nachfolgenden Schwangerschaft sind selten. Allerdings wird im Alten Testament, im Buch der Richter, Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft gefordert:

„Und der Engel des Herrn erschien der Frau und sprach zu ihr: Siehe, du bist unfruchtbar und hast keine Kinder, aber du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So hüte dich nun, Wein oder starkes Getränk zu trinken und Unreines zu essen“ (Richter 13: 3 – 4).

Allerdings war die Abstinenz in der Schwangerschaft nach dem Buch der Richter eine Vorbedingung nur bei der Geburt eines Helden – hier Simson – und hatte wohl zuerst eher einen kultischen Hintergrund anstatt eines gesundheitlichen.

Alkoholmissbrauch dürfte im Verlauf des Mittelalters deutlich verbreiteter gewesen sein als heute. Denn das im Hochmittelalter aufkommende „Brennen“ von hochprozentigem Alkohol traf auf eine Gewohnheit des rauschhaft-exzessiven Trinkens, sowohl bei gesellschaftlich-geselligem Beisammensein als auch zur Verdrängung sozialer Nöte (Löser 1995). Im Mittelalter entstanden auch die ersten Wirtshäuser, in denen saisonbedingt Alkohol ausgeschenkt und verkauft wurde. Damit wurde Alkohol zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Gut (Lindenmeyer 2005). Steuern auf alkoholische Getränke gewannen für den Fiskus an Bedeutung, sie wurden versuchsweise erhöht oder gesenkt in der Hoffnung, so ein optimales Konsumverhalten der Bevölkerung zu fördern. Mit der Erhöhung der Biersteuer in England im Jahr 1694 brach im Königreich eine „Gin-Epidemie“ aus (Spode 1999). Die verprellten Biertrinker stiegen auf Genever (kurz Gin) um – und der Konsum von Gin stieg bis zum Jahr 1750 um mehr als das Zwanzigfache an (Watzl/Singer 2005). Zeitlich parallel dazu wurde während der deutschen „Branntweinperiode“ auch hierzulande vermehrt destillierter Alkohol konsumiert. Branntwein war durch eine Senkung der Branntweinsteuer günstig geworden, dadurch versprach man sich in der berechtigten Erwartung eines stärkeren Branntweinkonsums wiederum eine Erhöhung der Steuereinnahmen.

Die Folgen des epidemisch gewordenen Konsums alkoholischer Getränke blieben nicht lange unbemerkt. Im Jahre 1736 warnte ein ärztliches Komitee in England vor dem Konsum von „Gin“ durch Frauen:

„… die Kinder werden schwach (‚weak‘), und kränklich (‚sickly‘) geboren und sehen oft so eingefallen und alt aus (‚shrivel’d and old‘), als ob ihr Alter schon viele Jahre zählte“ (zit. n. Löser et al. 1999a, 494).

Im Jahre 1737 promovierte Johann Christian Göhrs in Halle mit dem Thema „Von versoffenen Weibes-Personen“. In der Dissertation beschreibt Göhrs die gesundheitlichen Gefahren des mütterlichen Alkoholkonsums:

„Wenn die Schwangeren sich der Trunksucht zuwenden, setzen sie sich selbst und ihren Foetus bedenklichen und gefährlichen Einflüssen aus. […] Zudem wird der gesamte schwierige Vorgang der Ausbildung (des Embryo und Foetus) sowohl hinsichtlich des regulären Zeitablaufs wie auch in der Organbildung stark gestört. So wird der Geburtstermin entweder beschleunigt oder verzögert. Es gerät der Embryo in mehrfacher Weise in eine Fehlentwicklung, so dass völlig missgebildete Nachkommen entstehen oder äußerst zarte, fehlgebildete, kraftlose und medizinisch versorgungsbedürftige Kinder geboren werden. Eine weitere Folge davon ist, dass die Embryonen anfällig für Krankheiten sind, sogar sterben oder dass denselben bleibende charakteristische Schäden des Geistes oder des Körpers zugefügt werden, die bei Geburt ein kurzes Leben in Aussicht stellen.“ (Göhrs 1737, 35)

Diesen Gefahren steht, so Göhrs, auch nicht die Beobachtung entgegen, dass manche trinkende Frauen recht viele Kinder gebären, und ebenso wenig, dass nicht alle Kinder trinkender Frauen von Schäden betroffen sind (Löser et al. 1999a, 495).

Bereits diese kluge, frühe medizinische Arbeit erklärt, dass Embryo, Fötus und Neugeborenes durch den Alkoholkonsum der Mutter vielfältigen Belastungen ausgesetzt werden, die Körper und Geist betreffen. Die Folgen umfassen ein Spektrum von der manifesten Fehlbildung über Minderwuchs bis hin zur primär nicht körperlich sichtbaren Bedürftigkeit. Göhrs (1737, 35) beschreibt die Folgen zudem als „singularia animi atque corporis vitia“, wobei „singularia“ im Sprachgebrauch der Zeit nicht „selten“ oder „vereinzelt“ meint, sondern „unverwechselbar“. Die Folgen des Alkoholkonsums sind also nicht mit anderen Störungen der kindlichen Entwicklung zu verwechseln. Über die Betrachtung der perinatalen Umstände (Frühgeburtlichkeit, schwaches und/oder fehlgebildetes Neugeborenes) hinaus schaut Göhrs auf die Lebenserwartung der Kinder, die er bedingt durch körperliche und geistige (!) Einschränkungen als vergleichsweise geringer beschreibt. Bereits Göhrs beobachtete, dass Kinder trinkender Frauen nicht durchweg geschädigt werden. Tatsächlich werden heute genetische Ursachen dafür vermutet, dass etwa 60 % aller vorgeburtlich alkoholexponierten Kinder keine deutlichen Schäden davontragen (Kopera-Frye/Streissguth 1995). Göhrs benennt ausschließlich den mütterlichen Alkoholkonsum als Ursache der kindlichen Schäden. Er war damit seiner Zeit weit voraus. Denn es galt vor ihm und noch lange nach seiner Publikation als sicher, dass der Alkoholkonsum des Vaters die primäre Ursache für die Kränklichkeit der Nachkommen sei.

Wilhelm Busch (1832–1908) beschrieb in seiner im Jahr 1865 veröffentlichten Bildergeschichte „Max und Moritz“ erstmals einen Knaben mit den typischen Eigenschaften eines vorgeburtlich alkoholgeschädigten Kindes (Feldmann 2011), jedoch ohne sich dieses Zusammenhangs bewusst zu sein. Buschs Werke entstanden in der Epoche des Realismus (1850 – 1890), er gab also wieder, was er in der Wirklichkeit, im Alltag und in der Natur seinerzeit vorfand, abgekehrt von übernatürlichen, heroischen und idealisierenden Darstellungen. Da in Deutschland um 1830 mit der Einführung der Gewerbefreiheit, den folglich aufgehobenen Schank- und Zunftgrenzen und der preisgünstigeren Kartoffelbrennerei erneut eine „Branntweinpest“ ausbrach, ist es nicht überraschend, dass Busch vielfach alkoholgeschädigten Kindern begegnete und diese in seinen karikaturistischen Darstellungen aufgriff. So beschrieb Busch in seiner Bildergeschichte die Streiche des adipösen Max, der vom alkoholgeschädigten Moritz begleitet wird. Busch zeichnete Moritz mit all den kraniofazialen Kennzeichen eines Kindes nach vorgeburtlicher Alkoholschädigung: schmale Lidspalten, verlängertes Philtrum, schmale Oberlippe ohne Lippenwulst, verkürzter Nasenrücken, fliehendes Kinn und schütteres Haar. Der delinquente Max plant die Streiche und führt sie durch, Moritz dagegen wird als Mitläufer dargestellt, der bei Maxens Streichen zwar – stets nur zuschauend oder assistierend – dabei ist, aber arglos erscheint. Er kann nicht abschätzen, welche Konsequenzen die Missetaten auch für ihn selbst haben; am Ende wird er genauso bestraft wie der eigentliche Täter Max.

Busch dürfte ein Zusammenhang zwischen dem Trinkverhalten der Frauen im Dorf, die (wie die Männer) täglich Schnaps tranken, und dem Aussehen und dem naiven Verhalten eines Kindes wie Moritz nicht in den Sinn gekommen sein.

Deutlich später, im Jahr 1899, berichtete ein Gefängnisarzt aus Liverpool, William C. Sullivan, in seiner Veröffentlichung „A note on the influence of maternal inebriety on the offspring“ über Beobachtungen zum Alkoholkonsum schwangerer Inhaftierter. Er fand bei chronisch alkoholkranken Frauen eine erhöhte Rate an Fehlgeburten und ein vermehrtes Auftreten von Epilepsien bei den überlebenden Kindern. Dagegen stellte er fest, dass alkoholkranke Schwangere, die in Haft gezwungenermaßen abstinent waren, gesunde Kinder zur Welt brachten (Sullivan 2011). Sullivan verglich auch die Mortalität bei Kindern, bei denen beide Elternteile Alkohol konsumierten, mit der Sterblichkeitsrate von Kindern, bei denen nur die Mutter Alkohol konsumierte. Es stellte sich kein Unterschied heraus. Daraus folgerte Sullivan:

„[…] the influence of maternal drunkenness is so predominant a force that the paternal factor is almost negligible […] Maternal inebriety is a condition peculiarly unfavourable to the vitality and the normal development of the offspring“ (Sullivan 2011, 280).

Sullivan erkannte also wie Göhrs 150 Jahre zuvor, dass mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft für die kindliche Entwicklung abträglich ist.

Im Jahr 1908 wurde von Arnold Holitscher erstmals auf die Risiken kleiner Alkoholmengen in der Schwangerschaft hingewiesen:

„Von anderer Art, aber nicht minder bedenklich, ist die Wirkung des von der Mutter während der Schwangerschaft getrunkenen Alkohols auf das Kind. Freilich wird auch da das Übermaß deutlich und offenkundig nachweisbare Erscheinungen zeitigen, während der Schaden, den kleine Mengen anrichten, sich unseren mit gar groben Hilfsmitteln arbeitenden Beobachtungsmethoden zur Zeit noch entzieht. […] es (läßt) begreiflich erscheinen, daß gewohnheitsmäßiger, täglich wiederholter Genuss mäßiger Mengen geistiger Getränke, die noch lange nicht genügen, um bei der Mutter eine Berauschung herbeizuführen, sehr wohl im Stande sein können, recht schwere Erscheinungen bei dem in so zarter Entwicklung und reissend schnellem Wachstum befindlichen Embryo zu erzeugen. Wir haben einen Grund, anzunehmen, daß die Kinder körperlich und geistig schwach zur Welt kommen, daß besonders ihr Verstand und ihr Charakter die unheilvollsten Veränderungen befürchten läßt, wenn die Mutter während der Schwangerschaft stark trinkt“ (zit. n. Löser 1995, 99).

Holitscher vermutete also bereits vor über 100 Jahren, dass sich schon mäßiger Alkoholkonsum in der Schwangerschaft negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirkt.

1.2 Neuere Studien

Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Hinweise auf die schwerwiegenden Folgen mütterlichen Alkoholkonsums nicht richtig verstanden. Damals wurden erstmals wissenschaftlich fundierte Kohortenstudien an Kindern durchgeführt. Ein deutscher Arzt namens Erich Fischer untersuchte um 1930 die Kinder von Winzerfamilien im Kaiserstuhl (Feldmann 2020). Die Kinder tranken im Alltag regelmäßig Wein, und Fischer fragte sich, ob und inwiefern ihr Weinkonsum die kindliche Entwicklung beeinträchtigte. Er beschrieb die große Armut der Familien, die Arbeitslast der Kinder in den Weinbergen sowie den täglichen Alkoholkonsum der Winzer und Winzerinnen und ihrer Kinder, für die der selbst produzierte „Haustrunk“ das kostengünstigste Getränk war. Die Erwachsenen tranken etliche Liter Wein am Tag, den schulpflichtigen Kindern wurde morgens neben dem Pausenbrot stets „auch ein Fläschchen Wein“ mitgegeben (Fischer 1950, 200). Fischer fand keine Einschränkungen bei den Kindern, die zum Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit 60 Meter rennen sollten. Obwohl die armen Winzerkinder alle barfuß liefen, waren sie doch schneller als eine Kohorte zum Vergleich herangezogener norwegischer Kinder, die damals bereits alle Sportschuhe trugen. Einschränkungen bringe der Alkoholkonsum der Kinder also nicht mit sich, war das Ergebnis der Studie an den fast 2000 Kaiserstuhler Winzerkindern. Ganz beiläufig bemerkte Fischer, dass ihm eines doch aufgefallen sei: 10 % der Winzerkinder hatten ganz eigentümliche Gesichter mit schmalen Lidspalten, einer Lidfalte und einer breiten Nasenwurzel. Morbus Down in dieser Häufigkeit schloss der Arzt aus, er vermutete, dass in der Zeit der Völkerwanderung Menschen aus Asien in den Kaiserstuhl eingewandert seien, die ihr Aussehen an diese Kinder vererbt hätten. In Wirklichkeit hatte Fischer ahnungslos die typischen Gesichtsveränderungen beschrieben, die Kinder nach vorgeburtlicher Alkoholschädigung zeigen. Die von ihm berichtete Häufigkeit der Schädigung unter den Kindern der Kaiserstuhler Winzer entspricht recht genau der im Jahr 2000 bestätigten Häufigkeit der Schädigung von Kindern in anderen Weinbauregionen, in denen der „Haustrunk“ noch üblich ist (May et al. 2000).

Fischer, der seine Studienergebnisse aus den Dreißigerjahren im Jahr 1950 publizierte, musste den alkoholgeschädigten Kindern, um ihre Gesichtsveränderungen erklären zu können, noch eine zentralasiatische Herkunft zusprechen, weil ihm die Folgen des mütterlichen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft schlicht unbekannt waren. Das heutige Wissen um die Folgen mütterlichen Alkoholkonsums für das Kind geht also nicht auf alte medizinische Kenntnis zurück, es ist vielmehr vergleichsweise jung.

Folgenreiche Publikation zur Alkoholschädigung: Im Jahr 1957 erschien die nach heutigem Stand erste „folgenreiche“ Publikation zur Alkoholschädigung bei Kindern durch mütterlichen Alkoholkonsum: Jaqueline Rouquette untersuchte für ihre Doktorarbeit 100 Kinder von trinkenden Eltern und fand, dass die Schädigungen dann besonders stark ausgeprägt sind, wenn die Mütter getrunken hatten.

Die Dissertation von Jaqueline Rouquette (1957) wurde etwa zehn Jahre später vom Arzt Paul Lemoine (Nantes) aufgegriffen. Lemoine und seine Mitarbeitenden beobachteten an 127 Kindern ähnliche körperliche und neurologische Beeinträchtigungen: Die untersuchten Kinder waren kleiner und leichter als ihre Altersgenossen, hatten kleinere Lidspalten, eine schmale Oberlippe und ein verstrichenes Philtrum. Die Nasenwurzel war ungewöhnlich flach. Die Kinder wirkten kognitiv und motorisch entwicklungsverzögert (Lemoine et al. 1968). Ebenso wie Jacqueline Rouquette zehn Jahr zuvor blieb der Forschergruppe um Lemoine bei der Suche nach den Ursachen für die kindlichen Auffälligkeiten – im Vergleich mit gesunden Kindern – nur ein einziger biografischer Hinweis: Die Mütter der betroffenen Kinder hatten während der Schwangerschaft alkoholische Getränke konsumiert.

Lemoine publizierte die Studienergebnisse seines Teams in französischen Fachzeitschriften, in denen sie – fast – unbeachtet blieben. Er verfasste jedoch 1968 auch eine Zusammenfassung der Ergebnisse in englischer Sprache. Zwei Ärzte aus den USA lasen die Zusammenfassung, replizierten die französische Studie an acht Kindern, erklärten sich zu den Erstentdeckern des Krankheitsbildes und gaben ihm den Namen „Fetales Alkoholsyndrom (FAS)“ (Jones/Smith 1973). Dem amerikanischen Plagiat war unmittelbar Erfolg beschieden. Bald wurde das FAS auch in Deutschland – meist unter der Bezeichnung „Alkoholembryopathie“ – zum Thema von Forschungsarbeiten. Zu nennen ist der erste Fallbericht, der durch H. Saule (Augsburg) bereits 1974 erstellt worden war. Es folgten ab 1976 Studien von Bierich, Majewski, Spohr, Löser und anderen (Spohr 2016).

Anfangs gehörte es zur Stärke der Diagnose „Fetales Alkoholsyndrom (FAS)“, dass sie sich an körperlichen Kennzeichen wie die schmale Oberlippe, das verstrichene Philtrum und die kurzen Lidspalten dingfest machen ließ. Durch den Verweis auf körperliche Anzeichen konnten Mediziner bewogen werden, diese neue Diagnose anzuerkennen. Zugleich aber bedeutete diese medizinische Engfassung auch eine Schwäche der Diagnose „FAS“. Bald nämlich zeigte sich, dass bei vielen betroffenen Kindern zwar die Verhaltensauffälligkeiten zu bestätigen waren, wie sie Kindern mit FAS eigen sind, nicht aber alle körperlichen Anzeichen des FAS. Man behalf sich anfangs, indem man der Diagnose „FAS“ ein „partielles FAS“ (pFAS) als Auffangdiagnose für betroffene Kinder ohne körperliches Vollbild an die Seite stellte.

Wenig später wurde dann auch klar, dass es zudem noch Kinder gibt, die sehr wohl all die Verhaltensauffälligkeiten zeigen, wie sie Kindern mit FAS oder pFAS eigen sind, denen aber die körperlichen Anzeichen nicht nur partiell, sondern gänzlich fehlten. Auch hier musste ein Name gefunden werden („Alcohol related neurodevelopmental disorder, ARND“).

!

Zuletzt und ein wenig aus der Not geboren wurden FAS, pFAS und ARND zu FASD („Fetal Alcohol Spectrum Disorder“, deutsch „Fetale Alkoholspektrumstörung“) zusammengefasst.

Diese Entwicklung ist etwas unglücklich, weil bei allen Ergänzungen stets die körperlichen Anzeichen des FAS die Ausgangsgröße waren und sind: pFAS ist eben eine Art FAS – nur mit weniger körperlichen Anzeichen, und auch ARND ist eigentlich eine Art FAS, nur eben ganz ohne diagnostisch brauchbare körperliche Anzeichen. Da die körperliche Symptomatik als entscheidend gilt, muss bei betroffenen Menschen, denen die körperliche Symptomatik teils oder ganz fehlt, hilfsweise die Alkoholanamnese zur Schwangerschaft die Diagnose absichern. Die Diagnosestellung hat demnach heute zwei Schwächen:

■Die körperlichen Anzeichen sind nicht bei allen betroffenen Menschen vorhanden.

■Die Frage, ob die leibliche Mutter in der Schwangerschaft Alkohol trank, ist häufig nicht zu beantworten.

Auf diesem Stand befinden sich die deutschen Leitlinien zur Diagnostik von FAS, pFAS und ARND, die in den Jahren 2010 bis 2016 entstanden (Landgraf/Heinen 2017).

1.3 Zum aktuellen Stand der Forschung

Wesentliche Forschungsfelder der letzten Jahrzehnte seien nun kurz vorgestellt. Die Fragen, zu denen vielfältige Antworten gefunden wurden und werden, lauten etwa: Welche Schäden verursacht der Alkohol beim Kind? Wie oft kommen die Schäden vor? Welche gesellschaftlichen Kosten sind mit diesen vermeidbaren Schädigungen verbunden? Welche Folgen haben sie für die Betroffenen – in sozialer Hinsicht (soziale Bindungen, Freundschaften), in strafrechtlicher Hinsicht als Täter und Opfer, in beruflicher Hinsicht? Wie ist die Versorgungssituation hinsichtlich Diagnostik und Therapie? Welche Unterstützung benötigen (Pflege-)Eltern und Lehrkräfte?

1.3.1 Schäden durch Alkohol

Vor allem die Wirkung des Alkohols auf die Entwicklung des Kindes wurde in vielen Studien untersucht (im Überblick Feldmann et al. 2012). Alkohol und seine Metaboliten wirken direkt toxisch auf alle Zellen des Körpers. Als Mitosegift hemmt Alkohol jegliche Form von Wachstum. Die betroffenen Kinder sind folglich zu leicht und zu klein für ihr Alter. Auch das Hirnwachstum wird durch Alkohol behindert. Für die Proteinsynthese ist es erforderlich, dass Aminosäuren plazentar aktiv zum Fötus transportiert werden, da die Aminosäurenkonzentration bei Kind und Mutter unterschiedlich ist. Durch den Alkohol wird dieser Transport über die Plazenta behindert. Neben dem Transport ist auch die Bildung von Proteinen gestört. Durch die vielfältig gestörte Eiweißproduktion kommt es zu einem verminderten Aufbaustoffwechsel. Dies ist der Grund, warum die geschädigten Kinder trotz adäquater Ernährung und guter Förderung nicht gut wachsen.

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Durch die Beeinträchtigung der physiologischen Entwicklung von Körperteilen und Organen führt Alkohol als teratogene Substanz zu Hemmungsmissbildungen, wobei alle Organe betroffen sein können (z. B. Gesichtsveränderungen, Herzfehler, skelettale Veränderungen).

Viele Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass Alkohol neurotoxisch wirkt. Daraus resultiert ein Untergang der Nervenzellen (Zelltod, Apoptose). Beobachtet wurden bis zu 30 % apoptotischer neuronaler Zellen beim fetalen Alkoholsyndrom. Beim ungestört wachsenden Fötus gehen nur 1,5 % der Nervenzellen unter, was in dieser Menge ein ganz normaler Prozess ist. Die Neurodegeneration kann also ergänzend als Ursache für eine geringere Hirnmasse, die Mikrozephalie (Kleinköpfigkeit) und die neurologischen Verhaltensauffälligkeiten bei betroffenen Kindern angeführt werden. Auch eine Verminderung von Myelinisierung und Synapsenanzahl sowie eine Verzögerung der Synapsenreifung und biochemische Veränderungen von Neurotransmittern sind bekannt. Entsprechend kommt es zu einer geringeren Vernetzung der Hirnareale und zu einer Verlangsamung der Reizleitung (Burke et al. 2009; Ikonomidou et al. 2000; Roebuck et al. 2002). Das kann sich im Alltag eines Kindes mit Alkoholschädigung beispielsweise folgendermaßen auswirken: Das Kind sieht ein hohes Klettergerüst, das Sehzentrum informiert aber nur die Hirnareale für die Motivation („Ich will hoch klettern“), nicht die Areale für Angst und Selbstregulation („Aber vielleicht ist das gefährlich, ich lasse es lieber“). Und schon ist das Kind auf dem höchsten Gerüst. Oder: Das Kind wird bei einer ungehörigen Tat erwischt. Es sagt: „Ich will das nicht wieder tun.“ Aber das Sprachzentrum hat wenig neuronalen Kontakt etwa zum (bei FASD ohnehin oft zu kleinen) Areal für das Kurzzeitgedächtnis. Also dreht sich das Kind um und macht den Fehler gleich noch einmal. Wird das Kind mit FASD befragt, warum es etwas gemacht hat, sagt es meist: „Weiß ich nicht.“ Das ist keine Ausrede, denn das Kind selbst kann von den Hirnschäden, denen es ausgeliefert ist, ja nichts wissen. Einige Kinder bemerken allerdings sehr wohl, dass etwas nicht stimmt. Ihre Aussagen variieren von Ratlosigkeit („In meinem Kopf ist ein Clown“) bis hin zur Verzweiflung („Ich will nicht, was ich mache“, „Ich bekomme so niemals Freunde“).

1.3.2 Epidemiologie

Die Frage, wie häufig vorgeburtliche Alkoholschäden bei Kindern sind, ist nicht leicht zu beantworten. Eine Möglichkeit der Einschätzung geht von der Untersuchung möglicher Risikogruppen aus. Studien aus den USA und aus Deutschland kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass etwa 80 % aller Kinder mit bekanntem FAS im Laufe ihrer Kindheit in Obhut genommen wurden, also später in Heimeinrichtungen oder in Adoptiv- und Pflegefamilien lebten. In diesen Studien wurde nachverfolgt, wo Kinder, bei denen bereits im Geburtskrankenhaus FAS diagnostiziert wurde, später aufwuchsen (Astley et al. 2000; Löser et al. 1999; Steinhausen/Spohr 1998). Da die Zahl der in Obhut genommenen Kinder bekannt ist und wir auch wissen, wie viele davon, nämlich 23 %, ein FAS haben, lässt sich gut berechnen, wie viele Kinder in Deutschland mit FAS geboren werden. Das waren laut einer Studie für das Jahr 2009 gut 2000 Babys (Nordhues et al. 2013). Hinzu kommen ca. 4000 Kinder pro Jahr mit pFAS und ARND. Diese Zahl wird aus dem Verhältnis der Häufigkeit der drei Diagnosestellungen zueinander abgeleitet, ist aber weniger gut erforscht, weil Kinder, die bei ihrer Geburt nicht die typischen körperlichen Auffälligkeiten zeigen, nicht immer als von FASD Betroffene erkannt werden. Man kann die Häufigkeit auch so beschreiben:

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Etwa drei von 1000 Kindern haben ein FAS (Inzidenz für FAS ca. 1:330). Die Anzahl der Kinder mit FASD dürfte bei etwa zehn von 1000 Kindern liegen (Inzidenz für FASD ca. 1:100).

Volkswirtschaftliche Kosten von FASD: Mit FASD gehen hohe volkswirtschaftliche Kosten einher. Eine Analyse von Biografien junger Erwachsener mit FAS zu den Kosten des Vollbilds der Erkrankung in Deutschland kommt zu einer Schätzung von über € 260.000,- pro FASD-Patient bis zum Alter von 24 Jahren. Berücksichtigt wurden Kosten für die Heimunterbringung, die Unterbringung in Pflegefamilien, die Mehrkosten durch Förderschulbesuch und vielfältige Therapiemaßnahmen, aber auch betreutes Wohnen und Arbeiten im frühen Erwachsenenalter. Die Kosten seien für ein Bundesland exemplarisch dargestellt: In Nordrhein-Westfalen (NRW) leben etwa 3,1 Mio. Kinder, davon haben ca. 9500 ein FAS. Demnach entstehen in NRW durch das Vollbild von FASD jährliche Mehrkosten in Höhe von € 134.120.000,- pro Jahr, also ca. 134 Millionen Euro. Über die gesamte Kindheit (Alter 1–18 Jahre) ergeben sich für NRW Kosten in Höhe von ca. 2,5 Milliarden Euro (Koch 2019).

1.3.3 Soziale Folgen

In einer Studie (Freunscht/Feldmann 2011) zu jungen Erwachsenen mit FAS zeigte sich, dass nur ein Drittel von ihnen Freundschaften zu Gleichaltrigen bestätigen konnte. Diese Freundschaften wurden meist als sehr konflikthaft beschrieben, weil die betroffenen jungen Erwachsenen oft unwahre Geschichten erzählten, die sie selbst aber für wahr hielten, Regeln und Absprachen nicht einhielten, schnell in Streit gerieten und leicht beeinflussbar waren. Leider waren die vermeintlichen Freundschaften auch oft dysfunktional, das heißt: Sie waren eher nachteilig oder schädlich für den jungen Menschen mit FAS, da er z. B. ausgenutzt wurde. Ein Viertel der jungen Erwachsenen mit FAS hatte engere Partnerschaften, auch diese verliefen selten harmonisch und konfliktfrei, meist aber im „Auf und Ab“ mit Streitigkeiten und Krisen, mit starker Abhängigkeit oder Anklammerung. Etwa 15 % der jungen Erwachsenen suchten eher Kontakt zu jüngeren Menschen, 12 % hatten keine Kontakte und wünschten sie auch nicht (Freunscht/Feldmann 2011). Ein junger Erwachsener formulierte den sozialen Rückzug so:

„Sobald ich rausgehe, passiert irgendwas, ich werde geschlagen, oder jemand legt mich rein. Das habe ich inzwischen kapiert: ich werde Opfer. Deshalb bleibe ich lieber zuhause.“

Jugendliche mit FASD sind häufig Opfer. In der Studie zu den jungen Erwachsenen waren 34 % schon einmal Täter (z. B. Diebstahl, Schwarzfahren), aber 76 % wurden selbst zum Ziel der Taten anderer (Freunscht/Feldmann 2011). Diese Rate der sog. „Viktimisierung“ ist hoch. Von Straftaten waren 33 % der jungen Menschen mit FASD betroffen, sie wurden Opfer von Körperverletzung, Erpressung und sexuellem Missbrauch. Weitere 43 % der jungen Erwachsenen wurden Opfer von nicht strafbaren Handlungen, bei denen sie jedoch ausgenutzt oder zu ihrem Nachteil behandelt wurden. Sie wurden beispielsweise dazu verleitet, Verträge abzuschließen, die sie nicht verstanden hatten. Auch wurden sie immer wieder zu kriminellen Handlungen überredet, insbesondere Frauen wurden zu sexuellen Handlungen verführt. Diese Formen des Missbrauchs gingen bei vier von fünf jungen Opfern mit FASD von ihnen nahestehenden Personen (Freunde, Bekannte, Partner) aus.

Zu kriminellen Handlungen von Jugendlichen mit FASD kommt es in der Regel aufgrund der Verleitbarkeit der Betroffenen und ihrer Unfähigkeit, Risiken und Konsequenzen ihres Handelns angemessen einschätzen zu können. Aus den auftretenden Konsequenzen können sie weit überwiegend auch nicht lernen. Entsprechend häufig befinden sich Jugendliche mit FASD in Haft (Fast et al. 1999; McLachlan et al. 2019; Bower et al. 2018). Bislang fehlen hierzulande verlässliche Zahlen zum Anteil der jungen Erwachsenen mit FASD in Haft. In einer JVA in Westfalen konnte jungen Inhaftierten ein Fragebogen vorgelegt werden, der als Screeninginstrument typisches Verhalten von Menschen mit FASD erfasst. Gefragt wird etwa nach Lernfähigkeit, Verleitbarkeit und Risikoverhalten. Ab einem bestimmten Skalenwert ist von FASD bei der befragten Person auszugehen. In einer Pilotuntersuchung wurden zunächst die inhaftierten jungen Frauen der JVA befragt. Von insgesamt 60 inhaftierten Frauen waren 28 deutschsprachig. Alle 28 waren bereit, den Fragebogen auszufüllen. Sechs dieser 28 befragten Frauen erreichten einen Skalenwert, der das Vorliegen einer FASD sehr wahrscheinlich macht, dies entspricht 21 % der Befragten. Die Anlasstaten der Befragten reichten überwiegend von Diebstahl bis zur Körperverletzung, es waren in der Regel Wiederholungstaten. Eine junge Frau gab an, bei Raubüberfällen beteiligt gewesen zu sein. Tatsächlich aber hatte sie ihren damaligen Freund begleitet und die eigentlichen Taten gar nicht verstanden. Eine weitere Inhaftierte gab Totschlag als Haftgrund an. Tatsächlich hatte sie ihrem Baby ein Sedativum verabreicht, das eigentlich ihr selbst verschrieben war. Die junge Mutter wollte erreichen, dass das Baby in der Zeit schläft, in der sie feiern gehen wollte (Kaiser/Feldmann 2019).

Die vorgeburtliche Alkoholschädigung schränkt die betroffenen Menschen mit FASD in ihrer Lebens- und Berufsplanung