Princess of Night and Shadows. Götterglut - Linda Winter - E-Book
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Linda Winter

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Beschreibung

**Fünf Elemente, fünf Königreiche, fünf halbgöttliche Herrscher …**  Bereits seit vielen Jahren kennt Sayeh nur noch die ewige Finsternis ihres Gefängnisses. Die Hoffnung auf Freiheit scheint inzwischen nichts weiter als ein verblasster Traum zu sein. Doch dann geschieht das Unerwartete: Die Prinzessin wird befreit. Aber zu einem hohen Preis. Sechzig Tage hat sie, um die Taten ihrer verstorbenen Mutter, der Königin des Schattenreichs, wiedergutzumachen. Sechzig Tage, um ihre göttlichen Kräfte wiederzuerlangen und Schatten und Nacht in die Welt der Elemente zurückzubringen. Denn nur, wenn sie den Herrschern der anderen Königreiche – denen des Wassers, der Erde, der Winde und des Feuers – behilflich ist, darf sie als Herrscherin zurück in ihr Reich. Ein unmögliches Unterfangen. Wäre da nicht ein Prinz mit wasserblauen Augen …  Erwecke die Dunkelheit in dir … Eine Prinzessin, die die Schatten in sich trägt, und ein Halbgott, der das Wasser beherrscht. Zusammen können sie die Welt der fünf Elemente in ihren Grundfesten erschüttern. Eine atemberaubende Fantasy-Geschichte, die mit ihrer düster-romantischen Spannung alle Leseherzen höherschlagen lässt!   Textauszug: »Die Einheit der fünf Elemente bildet die Essenz dieser Welt. Zerbricht sie, wird auch die Welt untergehen.«  //Dies ist der erste Band der magisch-fantastischen Dilogie »Night and Shadows«. Alle Bände der Fantasy-Liebesgeschichte bei Impress: -- Princess of Night and Shadows. Götterglut -- Queen of Night and Shadows. Götterfluch// Diese Reihe ist abgeschlossen.

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Linda Winter

Princess of Night and Shadows. Götterglut

**Fünf Elemente, fünf Königreiche, fünf halbgöttliche Herrscher …**Bereits seit vielen Jahren kennt Sayeh nur noch die ewige Finsternis ihres Gefängnisses. Die Hoffnung auf Freiheit scheint inzwischen nichts weiter als ein verblasster Traum zu sein. Doch dann geschieht das Unerwartete: Die Prinzessin wird befreit. Aber zu einem hohen Preis. Sechzig Tage hat sie, um die Taten ihrer verstorbenen Mutter, der Königin des Schattenreichs, wiedergutzumachen. Sechzig Tage, um ihre göttlichen Kräfte wiederzuerlangen und Schatten und Nacht in die Welt der Elemente zurückzubringen. Denn nur, wenn sie den Herrschern der anderen Königreiche – denen des Wassers, der Erde, der Winde und des Feuers – behilflich ist, darf sie als Herrscherin zurück in ihr Reich. Ein unmögliches Unterfangen. Wäre da nicht ein Prinz mit wasserblauen Augen …

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Vita

© privat

Linda Winter, 1985 in Deutschland geboren, zog es früh in die Ferne. Nach einem Auslandsjahr in Australien studierte sie Archäologie und Interkulturelle Kommunikation und arbeitete bei den Vereinten Nationen, ehe sie ihre Liebe für das Schreiben wiederentdeckte. Heute lebt sie in ihrer Wahlheimat Wien, reist am liebsten durch die Welt und schreibt fantastische Geschichten für Jugendliche.

Die elementare Einheit ist ein Bund wie kein anderer, alt wie die Götter, kostbarer als das nächste Blut, loyaler als der engste Freund und ewig wie die Liebe. Die Einheit der fünf Elemente bildet die Essenz dieser Welt. Zerbricht sie, wird auch die Welt untergehen.

BEFREIUNG

Eine halbe Ewigkeit hatte sie in der Dunkelheit verbracht. Diese Reaktion war zu erwarten gewesen, obgleich sie gehofft hatte, fünf Jahre Gefangenschaft und Folter hätten ihre Sinne abgestumpft und sie gegen alles abgehärtet, was kommen möge. Doch die vergangenen Qualen waren nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der hinter ihrer Stirn explodierte, als die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht trafen.

Sie zuckte vor dem gleißenden Licht zurück wie eine Spinne vor saurem Essig, kniff krampfhaft die Augen zusammen. In purer Verzweiflung krallte sie sich in die dicken Vorhänge des Gefährts.

Wo war sie? War sie tot? War das ihr ganz persönliches Jenseits?

Panik erfasste sie. Sie wollte umkehren, zurück in den Fels. Zurück in die Dunkelheit. Alles war besser als das hier.

Doch die Götter zeigten kein Erbarmen. Unsanft stieß man sie vorwärts und der vermeintlich rettende Stoff entglitt ihren Fingern.

Nun denn. Sie musste sich wohl oder übel ihrem Schicksal ergeben. Wieder einmal. Man sollte meinen, sie hätte sich mittlerweile daran gewöhnt, keine Kontrolle über ihr Leben zu haben. Doch mit Fremdbestimmung war das so eine Sache. Man war nicht mit dem Herzen dabei. Sie verstand, warum man ihr die Freiheit nahm, und sie wollte gehorchen. Leider war sie kein gewöhnliches Geschöpf. Gehorsam lief ihrer Natur zuwider.

Glücklicherweise war sie geübt darin, ihre Natur zu verleugnen. Denn es war besser so. Für sie, für diese Welt und für die Götter.

Also biss sie die Zähne zusammen und tastete mit ihren Zehen nach den Wagenstufen. Doch sie fand keinen Halt auf der wackeligen Holztreppe. Die schweren Metallringe um ihre Knöchel behinderten sie und ihre nackten Füße waren schwitzig und noch blutig von dem langen Marsch über die Brücke der ewigen Finsternis. Es kam, wie es kommen musste und ihre Ferse rutschte an der Stufenkante ab. Kurz wog sie ab, ob es schmerzhafter wäre, auf dem knochigen Hintern, statt auf dem Gesicht zu landen, da hatte die Anziehungskraft bereits für sie entschieden. Sie kippte nach vorn und riss im letzten Moment die Arme über den Kopf. Handballen und Knie trafen auf harten Stein. Die Bodenplatten waren heiß wie die gusseisernen Klappen eines Steinofens. Doch der Schmerz blieb aus, die folternde Sonne blockierte alle anderen Empfindungen.

War dies ihr Ende? Wollte man sie bei lebendigem Leib verbrennen?

Eine grauenhafte Vorstellung. Dennoch zerrte sie nur halbherzig an den Fesseln, die ihre Handgelenke in einem ebenso eisernen Gefängnis hielten wie ihre Fußknöchel. Schließlich gab sie auch ihre letzte schwache Gegenwehr auf und legte ihre Stirn erschöpft auf dem heißen Boden ab, durchforstete ihre Bewusstseinsebenen nach einer, in der es dunkel und kalt war. Es war erträglicher, den Schmerz anzunehmen, als ihn zu bekämpfen. Das wusste sie aus langjähriger Erfahrung.

»So lass mich ihr doch Wasser geben, Vater! Siehst du nicht, dass sie Wasser braucht?«

Sie hob ihren Kopf, vergaß für einen Moment zu atmen. Die Stimme drang mühelos durch Schichten aus Schmerz, Erinnerungen und ewig kreisenden Gedanken. Es waren die ersten Worte, die sie nach einhundertdreizehn Tagen vernahm. Und trotz der Dringlichkeit, die ihnen nachhallte, wurden sie von einer sanften Melodie getragen, die eine ähnlich beruhigende Wirkung auf ihre Nerven hatte wie plätscherndes Wasser.

Es waren Worte in der Sprache des Wassers.

»Wir alle brauchen Wasser«, ertönte eine zweite Stimme, die weder sanft noch plätschernd war, sondern monoton, durchdringend und dabei irgendwie leidend. Eine unangenehme Kombination. »Aus diesem Grund haben wir sie befreit. Soll sie die Folgen des Krieges ihrer Mutter am eigenen Leib zu spüren bekommen.«

Aus reinem Instinkt wollte sie ihre Ohren mit den Händen schützen. Warum ließ man sie mit ihren Qualen nicht wenigstens allein? Ihre Arme jedoch gehorchten ihrem Befehl nicht. Die Muskeln waren müde und die schweren Ringe aus Iridium um ihre Handgelenke gruben tiefe Wunden in ihr Fleisch. Ein Stöhnen entkam ihrer rauen Kehle und sie krallte ihre abgekauten Fingernägel in eine Bodenfuge. Bringt mich zurück. Bitte.

Sie nahm lieber die Dunkelheit als das Licht.

»Wenn sie verdurstet, wird sie uns nicht mehr helfen können, Vater«, erklang wieder die erste Stimme. »Ich bitte dich.«

Sie wünschte, sie könnte mit ihm um Wasser flehen. Aber ihre Lippen waren ausgetrocknet und klebten aufeinander und ihre Stimmbänder hatte sie so lange nicht mehr benutzt, dass sie an ihrer Funktionstüchtigkeit zweifelte.

»Chaotal, bringe meinen Sohn auf seine Gemächer«, befahl die unangenehme Stimme.

Vater und Sohn. Sprache des Wassers. Dieser Hinweis war bedeutsam, doch ihr träges Gehirn kam mit der Erklärung nicht hinterher.

»Aber Vater, diese Angelegenheit betrifft mich ebenso, wie sie dich betrifft. Lass mich ihr …«

»Ruhe!«, schnitt sein Vater ihm das Wort ab. »Gehe auf deine Gemächer, Avan. Ich werde dich rufen, sobald ich dich brauche.«

Avan. Sie kannte diesen Namen.

Sie vernahm noch ein gedämpftes, leicht verärgertes Murmeln, gefolgt von leisen Schritten, die sich entfernten. Es beschlich sie das beklemmende Gefühl, dass auch jegliche Aussicht auf Wasser mit ihnen verschwand. Ehe sie eine durstige Verzweiflungstat begehen konnte, griffen Hände unter ihre Achseln und zerrten sie auf die Füße. Die glühende Feuerkugel am Himmel brannte sich weiter erbarmungslos durch die Lider in ihre Netzhaut. Sie hätte Meerwasser getrunken, hätte man es ihr angeboten. Tränen rollten über ihre Wangen, obwohl sie aufs Äußerste dehydriert war.

Sie wünschte, sie besäße kein Augenlicht. Im Fels hatte sie es nicht gebraucht. Und sie hatte ihren Frieden mit der ewigen Dunkelheit geschlossen. Hatte sich im Geiste von ihren Sternen verabschiedet. Warum entzog man sie dieser friedlichen Finsternis?

»Vorwärts!«, befahl eine raue Männerstimme an ihrem Ohr. Eine üble Alkoholfahne erreichte sie. Der Arme musste sich ordentlich einen angetrunken haben, bevor er dazu verdonnert worden war, sie abzuholen. Sie empfand Mitleid. Und Schuldgefühle.

Also bemühte sie sich, ihm zu gehorchen. Bedauerlicherweise war sie des Laufens nicht mehr mächtig – zudem watete sie wie durch dichten Nebel, seitdem man ihr im Fels einen bitteren Trank eingeflößt hatte, der sie von einer Bewusstlosigkeit an die nächste übergeben hatte, ehe sie am Boden eines ratternden Gefährts wiedererwacht war. Noch jetzt vibrierten ihre Knochen.

Kurzerhand zogen die Männer sie wie einen Sack Kartoffeln mit sich, zerrten sie rücksichtslos eine Treppe hinauf. Ihre Fußrücken schleiften über scharfe Kanten. Es stank nach Staub und Blut. Sie hörte Fliegen um ihren Kopf surren.

Als ihre Füße über eine buckelige Erhebung gezogen wurden, verschwand die Sonnenscheibe hinter ihren Lidern. Innerlich seufzte sie vor Erleichterung. Die Helligkeit jedoch blieb, wurde gelegentlich durchbrochen von schemenhaften Schatten, die keine Schatten waren. Sie kannte echte Schatten. Sie war der Schatten.

»Auf die Knie!«, befahl der Vater. Schwere Hände legten sich auf ihre Schultern und sie wurde niedergedrückt. Ihre Beine klappten zusammen und sie landete mit einem dumpfen Aufprall auf ihren knochigen Knien.

»Gebt ihr den Trank.«

Ja, bitte. Gebt mir den Trank. Schickt mich zurück in die Finsternis. Bitte.

Finger vergruben sich in ihren Haaren, rissen ihren Kopf so brutal zurück, dass ihr Nacken ungesund knackte. Etwas wurde an ihre rissigen Lippen gesetzt, Feuchtigkeit benetzte sie. Ein unterdrückter Schmerzensschrei entkam ihrer Kehle, als sie ihre Lippen öffnete, um der rettenden Flüssigkeit Einlass zu gewähren. Gierig schluckte sie. Doch es war kein Wasser, das ihren Mund füllte. Es war alles andere als das. Der Trank schmeckte bitter und war kaum mehr als ein Tropfen.

Nicht schon wieder.

Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen und eine heftige Woge der Übelkeit übermannte sie. Der Griff um ihre Haare lockerte sich. Sie fiel vornüber, würgte und würgte – doch ihr Magen war leer und heraus kam nur bitterer Schleim.

»Schluss damit!«

Ihr Brechreiz versiegte nur langsam. Tränen und bittere Galle tropften von ihrem Kinn in die offenen Wunden an ihren Handgelenken, brannten wie Feuer. Die Bitterkeit breitete sich in ihrem Körper aus und ein stechender Kopfschmerz raubte ihr kurzzeitig die Sinne. Sie fühlte sich am Rand einer Ohnmacht. Wie gern würde sie sich über diesen Rand fallen lassen. Sie vermisste die Dunkelheit.

»Wie heißt du?«

War da was? Die Worte verflüchtigten sich in dem Nebel, der ihren Geist gefangen hielt, ehe ihre Bedeutung sie erreichte. Möglicherweise waren es ihre eigenen Stimmen. Die, mit denen sie fünf Jahre eine düstere Felshöhle am Rande der Welt geteilt hatte. Sie schüttelte verwirrt den Kopf, leckte sich mit bitterer Zunge über die aufgeplatzten Lippen.

»Ich fragte, wie dein Name lautet!« Die Worte waren nun so laut und durchdringend wie Donnerschläge. Sie stöhnte gequält.

Nein, das waren nicht ihre Stimmen. Nie und nimmer. Die waren zwar manchmal beunruhigend, aber immer friedlich.

Denk nach. Wo war sie? Nicht mehr im Fels, so viel war sicher. Und im Reich der Schatten war sie auch nicht. In ihrer Heimat gab es kein Sonnenlicht. Dort gab es nur die Nacht und die singenden Sterne und den Mond, der über allem wachte.

Sie vernahm das leise Schaben einer Klinge, die aus ihrem Behältnis gezogen wurde, dann legte sich kühles Metall an ihre Kehle und ihr Kopf wurde abermals in den Nacken gezwungen. Ein Wimmern entwich ihren Lippen.

»Sage mir, wie du heißt!«, sprach der Vater nun weniger aufbrausend, aber nicht minder bedrohlich. Er zog die Worte in die Länge, betonte jedes einzelne, als wäre sie geistig nicht bei sich.

Nun, sie war geistig nicht bei sich. Doch das lag an dem bitteren Gebräu, das in ihrer Kehle brannte, nicht an fünf Jahren durchlittener Isolation und Folter. Ihr Geist war dennoch wach genug, um zu erkennen, dass sie sterben würde, sollte sie weiter schweigen. Und es schien, als wolle etwas in ihr am Leben bleiben. Was genau es war und warum es noch existierte, blieb ihr verborgen.

Also sammelte sie ihre letzten Kräfte.

»Sayeh«, krächzte sie, gefolgt von einem schmerzhaften Hustenanfall.

Das letzte Mal hatten vor einhundertdreiundsiebzig Tagen Worte ihren Mund verlassen. Einem ihrer Wächter war die Einsamkeit des Felses nicht bekommen und er hatte ihre Höhle auserkoren, um seinem Frust Luft zu machen. Das Gejammer hatte sie an den Rand des Wahnsinns gebracht – sie hatte ihn recht derb beleidigt. Er war ausgerastet. Mit dem Hinterkopf war sie so heftig auf das Gestein geschlagen, dass der Schwindel und die Übelkeit sie noch Tage später ihr trockenes Brot hochwürgen ließen. Seitdem hatte sie nicht mehr gesprochen. Und Besuch hatte sie auch keinen mehr bekommen.

»Und wer bist du, Sayeh?«

Wer sie war? Ja, wer war sie? Du bist der Schatten, Sayeh.

»Prinzessin … Prinzessin Sayeh«, sagte sie mit rauer Stimme.

»Und was bist du noch, Prinzessin Sayeh?«

Ich bin der Schatten.

»Öffne deine Augen«, kommandierte der Vater. »Sieh mich an und sage mir, wer du bist.«

Die Augen öffnen? Bei Nyssa. Die Qualen wollten einfach kein Ende nehmen. Energisch schüttelte sie ihren Kopf.

»Lasst sie los.«

Der eiserne Griff um ihre Haare lockerte sich erneut und die Klinge verschwand von ihrem Hals. Sie fiel keuchend auf die Hände, versteckte das Gesicht in ihrer Achselhöhle.

»Prinzessin Sayeh, habe keine Angst«, sagte der Vater. Der Ton in seiner Stimme hatte sich schlagartig gewandelt, war von einer verstörenden und trügerischen Sanftheit. »Wir wollen dir keinen Schaden zufügen.«

Sayeh wusste, wie sich Heuchelei anhörte. Sie war in einem Palast aufgewachsen. Wann immer Abgesandte aus den anderen Reichen sie besucht hatten, hatte sie sich in ihren Schatten versteckt und die Gespräche belauscht. Bei politischen Verhandlungen hatte ihre Mutter geheuchelt, dass sich die Lavasteinsäulen bogen.

»Wo ist meine Mutter?«, krächzte sie. »Wo bin ich?«

»Du bist in Sicherheit, Prinzessin Sayeh. Sage uns, wer du bist. Wir müssen wissen, ob du dich erinnerst. Woran du dich erinnerst.«

Woran sie sich erinnerte? An alles und an nichts. Als wäre seit ihrer Entführung ein Tag vergangen. Oder aber Äonen.

Doch dieser Mann interessierte sich nicht dafür, was ihre Lieblingsspeise war oder wie viele Narben ihren linken Fußrücken zierten. Für ihn und für alle anderen war sie nur eines.

»Ich bin der Schatten«, presste sie mühsam hervor. »Eine Halbgöttin der Schatten.«

»Schön«, der Vater klang äußerst zufrieden. »Bringt sie in ihre Räumlichkeiten.«

O ja, bitte. Ein stilles, düsteres Verlies.

Man zog sie wieder auf die Beine, heftiger Schwindel erfasste sie. Sie hatte sich nicht mehr so schwach gefühlt, seit die Wächter des Felses für einige schreckliche Wochen vergessen hatten, ihr Essen zu bringen.

Bei Nyssa, sie hatte solch einen Durst.

»Wasser?«, bat sie heiser. Ihre Kehle war so trocken, dass ihre Zunge bei jeder Silbe am Gaumen kleben blieb. »Bitte, nur einen Schluck.«

Schritte näherten sich, verharrten vor ihr. Ein süßlicher Duft drang in ihre Nase, ließ sie noch durstiger werden.

»Bitte«, flehte sie abermals. »Ich brauche Wasser.«

»Das brauchen wir alle, Prinzessin Sayeh«, sagte der Vater mit eisiger Monotonie. »Das brauchen wir alle.«

HOFFNUNGSSCHIMMER

Ein scharrendes Geräusch zog sie aus einem Albtraum empor in die unschöne Wirklichkeit. Hätte man ihr die Wahl gelassen, wäre sie lieber in ihrer beunruhigenden Traumwelt verblieben. Dort war es wenigstens düster. Die Möglichkeit jedoch, zwischen Lava und Iridium zu wählen, setzte zwangsläufig eine gewisse Freiheit voraus, die ihr nicht gegeben war.

Stöhnend gab sie sich geschlagen, nahm ihr Schicksal an und dankte Nyssa, dass sie ihr einen weiteren Tag in dieser irren Welt schenkte. Dann öffnete sie zaghaft ihre Augen. Blendendes Licht umfing sie. Eilig schlug sie ihre Lider nieder.

Bei Nyssa! Wo war sie?

Ihre Zunge pappte am Gaumen, als wäre sie einmal quer durch das Feuerreich marschiert. Ihre Lippen waren spröde und schmeckten nach Blut. Und Bitterkeit.

Ruhe bewahren. Den Verstand einschalten. Sie benötigte ihre Augen, um zu wissen, wo sie war. Also hob sie ein weiteres Mal tapfer ihre Lider. Tränen verschleierten ihren Blick. Sie blinzelte, schielte durch ihre dichten, schwarzen Wimpern, die ihr wenigstens ein wenig Schutz boten. Sie brauchte einhundert Herzschläge, um sich einigermaßen an die Helligkeit zu gewöhnen. Erst dann wagte sie, nach der Quelle zu suchen. Ihr Blick tastete sich über die kargen, weißen Wände, bis er ein Fenster fand. Hinter den Gitterstäben aus silberweiß schimmerndem Iridium strahlte ein blauer Himmel auf sie hinab.

Der Himmel, den sie kannte, war von tiefem Schwarz und mit glitzernden Sternen geschmückt. Das letzte Mal hatte sie ihn vor fünf Jahren bewundert. Genauer gesagt, vor 1825 Tagen. Oder 1825 Strichen aus Blut. Striche, welche sie täglich an die rauen Felswände ihrer Höhle gezogen hatte … Damals hatte sie auf dem Balkon ihres Turmzimmers gestanden und abwartend in die Ferne geschaut. Schatten hatten sie umgeben, in die ihre Mutter sie gehüllt hatte, um sie vor jenen zu beschützen, die sie bedrohten. Um sich von ihrer inneren Unruhe abzulenken, hatte sie leise mit den Sternen gesungen. Es war Neumond gewesen an ihrem letzten Tag in Freiheit und ein Meer von Kerzen, das im Schutz der Schatten ihren Balkon beleuchtete, hatte mit den Sternen um die Wette gestrahlt.

Dann waren sie gekommen. Und mit ihnen die Angst. Ein eisiger Wind war über das Meer herangeweht, hatte die Schatten verwirbelt und die Flammen gelöscht. Nie würde sie Mutters Schrei vergessen, der durch den Palast hallte, oder ihre letzten Worte, die sie ihr ins Ohr hauchte, ehe man sie den mütterlichen Armen entriss und an einen fernen Ort brachte. In ein Gefängnis tief im Fels am Rande der Welt, wo sie bis zum gestrigen Tag ihr Leben in Isolation verbracht hatte.

Verstecke dich in den Schatten, Sayeh. Meide den Wind. Vergiss nicht, das Feuer ist dein.

Eben diese letzten Worte hatten sie jahrelang nicht losgelassen. Sie hatte versucht, die ganze Botschaft in ihnen zu entschlüsseln, um freizukommen – doch erfolglos. Sie war der Schatten und der Schatten schützte sie. So viel wusste sie, auch wenn sie erst zwölf Jahre alt gewesen war, als man sie ihrer Heimat entrissen hatte und sie die Lehren der Elemente hatte abbrechen müssen. Der Wind verwirbelte die Schatten. Somit war er das Element, welches für sie die größte Gefahr darstellte. Aus dem letzten Satz jedoch hatte sie nicht richtig schlau werden können. Hatte ihre Mutter ihr sagen wollen, dass der Schatten das Feuer verschlang? Als wenn sie das nicht selbst wüsste. Schon am ersten Unterrichtstag bei ihrer Magielehrerin Senka hatte sie gelernt, dass der Schatten das einzige Element war, welches alle übrigen vernichten konnte. Sollte sie das Feuer verschlingen? War es eine Aufforderung gewesen, die zerstörerische Mission ihrer Mutter – die Alleinherrschaft der Schatten – zu ihrem grausamen Ende zu führen?

Mit der flachen Hand schlug sie sich gegen die Stirn, um diese wirren Gedanken loszuwerden. Fünf Jahre hatte sie sich die letzten Worte ihrer Mutter wieder und wieder vorgesprochen, sie tausendfach umgewälzt, um in ihnen einen Weg zu finden, der sie in die Freiheit führen könnte. Und nun? Man hatte sie aus dem Fels geholt, doch frei war sie noch immer nicht.

Wo war sie?

Trotz des unangenehmen Stechens in ihren Augen, das ihr das Sonnenlicht bereitete, rappelte sie sich auf, um das Gitterfenster genauer in Augenschein zu nehmen. Doch sie kam nicht weit. Schwere Ketten scharrten über den Boden, stoppten ihre Vorwärtsbewegung und brachten sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel hintenüber und landete mit ihrem dürren Hintern auf der Kante einer Schüssel, die scheppernd davonsprang. Ein brennender Schmerz schoss durch ihre Wirbelsäule und sie rollte sich stöhnend auf den Bauch. Der Inhalt der Schüssel hatte sich über den Boden ergossen – ein bräunlicher Brei, bei dessen Anblick ihr Magen freudig grummelte. Im Fels hatte sie nur trockenes Brot bekommen.

Sie begab sich auf alle viere, um das kostbare Essen vom Steinboden zu lecken, als ein Geräusch sie mitten in der Bewegung verharren ließ. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, dann wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen. Hastig krabbelte sie ein Stück rückwärts, um einen Zusammenstoß mit ihrem Kopf zu vermeiden. Blasse Männerzehen tauchten auf der Türschwelle auf, umrahmt von seidigem Stoff, der über den Boden schleifte.

»Was ist denn hier passiert?«

Der Vater. In seiner Stimme schwang falsche Freundlichkeit und Drohung gleichermaßen mit. Ängstlich, aber auch neugierig und einen Hauch gereizt sah Sayeh zu dem Mann auf, der es gewagt hatte, das größte Übel, das diese Welt je hervorgebracht hatte, aus dem Untergrund zu befreien.

Ihr Blick kletterte an einem Mantel mit langer Schleppe empor, dessen edler Stoff schimmerte wie flüssiges Mondlicht. Darunter trug er eine tintenblaue Seidenweste, die sich eng an seinen Oberkörper schmiegte. Kleine, geschliffene Aquamarine waren mit den zarten Fäden verwoben, bildeten ein eigentümliches Muster, das ihr entfernt bekannt vorkam. Zwei schäumende Wellen trafen aufeinander, winzige Edelsteinchen ahmten die emporwirbelnde Gischt nach.

Ihr träges Gehirn arbeitete, doch etwas fehlte, um das Puzzle zu vervollständigen.

Sie hob ihr Kinn noch ein Stück weiter an. Ein kaltes Augenpaar in der blassblauen Farbe des Himmels blickte streng auf sie hinab. Das Gesicht des Mannes war ausgemergelt, aschfahl und von tiefen Falten durchzogen, wie ein ausgetrockneter Flusslauf. Ausgedünntes, graues Haar umrahmte es. Die verkniffenen Lippen und die steinerne Mine gaben nicht preis, ob er sie fürchtete oder hasste. Sie tippte auf beides.

Um die Stirn und das ergraute Haupthaar wand sich ein filigranes Diadem aus zarten, silbernen Ranken, das ebenfalls mit Aquamarinen in den schillerndsten Blautönen besetzt war. In seiner Mitte aber saß ein tiefblauer Saphir in Form eines Wassertropfens.

Sayeh hatte das Reich der Schatten bis zu ihrer Befreiung nie verlassen, sodass die übrigen Elemente und ihre Halbgötter für sie nur in Lehrbüchern existierten. Dennoch war es nicht schwer zu erraten, wen sie vor sich hatte.

Rayan. Halbgott des Wassers. Kind der Göttin Anat. König des Wasserreiches.

»Säubert die Zelle«, befahl er einem der Ritter in seinem Gefolge, der augenblicklich kehrtmachte, um Putzzeug zu holen. Zwei weitere lösten die Ketten ihrer Fußfesseln vom Boden, die Ringe jedoch verblieben um ihre Knöchel und auch ihre Handgelenke wurden nicht von dem schweren Metall befreit. Iridium. Ein Metall, das in der Wüste der Winde abgebaut wurde und eine einzigartige Eigenschaft besaß. Es behinderte die Wirkung von Magie. Ein Halbgott, dessen Haut Iridium berührte, war nicht in der Lage, sein Element zu rufen.

Sie fürchteten sich vor den Schatten. Das war nur verständlich.

Die Ritter übergaben sie an Rayan, der sie unterhakte, als wäre sie seine Tochter und nicht seine Gefangene. Unschlüssig verschränkte sie ihre Finger und ließ ihre Arme hängen. Das Gewicht des Iridiums zog an ihren Schultern. Im Fels hatte sie täglich ihre körperlichen Übungen gemacht – für den unwahrscheinlichen Fall, dass Nyssa sich zeigen und sie retten würde. Doch die Strapazen der Reise, das Sonnenlicht und der bittere Trank hatten sie dermaßen geschwächt, dass es ihr schwerfiel, auf den Beinen zu bleiben.

»Wir werden uns ein wenig unterhalten, Sayeh«, sagte der König und wandte ihr sein Gesicht zu. Er lächelte, doch es war ein falsches Lächeln. So falsch wie seine samtene Stimme. Rayan war wie die stille Oberfläche eines trügerischen Gewässers. Wie der See der Geheimnisse im Schattenreich, in dem der Legende nach ein schwarzes Ungeheuer mit flammenroten Augen hauste. Zumindest hatte ihr Yasmina, ihre Zimmerzofe, davon erzählt. Bei ihren unerlaubten Tauchgängen war sie ihm jedoch nie begegnet.

»Mein Name ist Rayan«, fuhr er mit monotoner Stimme fort. »Ich bin der König des Wasserreiches und du befindest dich in meinem Palast.«

Glaubte er etwa, fünf Jahre im Fels hätten ihr jegliche Gehirnzellen geraubt?

»König Rayan«, krächzte sie heiser. Hocherfreut.

Die Luft war so staubtrocken, wie sie sich innerlich fühlte. Wieso gab ihr niemand Wasser? Selbst im Fels hatte sie Wasser bekommen.

Unsicheren Schrittes ließ sie sich von Rayan durch einen Säulengang führen, der trotz der geschlossenen Mauern zu beiden Seiten und der steinernen Decke über ihren Köpfen aus unerfindlichem Grund lichtdurchflutet war. Weder entdeckte sie Fenster noch spendeten Fackeln Licht. Dennoch herrschte eine unerträgliche Helligkeit. Wo waren die Schatten?

Ein schmaler, leerer Wasserlauf schlängelte sich elegant und schwungvoll durch die marmornen Bodenplatten unter ihren Füßen. Alles wirkte glatt und steril, ohne Zeichen pflanzlichen oder menschlichen Lebens, keine Katze kreuzte ihren Weg, keine Gemälde schmückten die kahlen Wände. Als würde etwas fehlen. Etwas, das all dem hier Leben verlieh.

Die Schritte des Königs hallten laut durch den Korridor. Er trug Sandalen, die jedes Mal einen Knall abgaben, wenn sie auf den Boden trafen. Sie selbst tapste auf Zehenspitzen neben ihm her, hielt den Kopf gesenkt und verfolgte jeden ihrer unbeholfenen Schritte höchstkonzentriert. Ein mittlerweile viel zu kurzes schwarzes Gewand umhüllte sie seit dem Tag, an dem man ihr alles genommen hatte. Es war seither weder gewaschen worden noch hatte sie es je ausgezogen. Ihre Befürchtung, man könne es ihr wegnehmen, war zu groß gewesen.

Sie musste übel riechen, aber der König ließ sich nichts anmerken. Ihre nackten Füße hinterließen Dreck und Blutkrumen auf den blankpolierten Bodenplatten, die ihr verzerrtes Spiegelbild zurückwarfen. Augen – tiefschwarz und unergründlich wie Obsidian – sahen aus einem blassen Gesicht zu ihr auf. Mattschwarze Haare, trocken und spröde, reichten bis zum Kinn. Sie waren zerzaust, als hätte ein Vogel ihren Kopf zum Nistplatz auserkoren, seine Idee jedoch wieder verworfen.

Sie schloss die Augen, ihren Anblick konnte sie kaum ertragen. Einst war sie das hübscheste Mädchen im Schattenreich gewesen. Doch von ihrer halbgöttlichen Schönheit war nichts mehr übrig.

»Warum bin ich hier?«, fragte sie.

»Du bist unser Gast, Sayeh«, sagte Rayan.

Sie sah zu ihm auf. Gast? »Ich bin eine Gefangene«, korrigierte sie ihn.

Er ignorierte ihren Einwand und bog mit ihr um eine Ecke. Zwei Ritter lehnten rechts und links eines Torbogens, Sonnenstrahlen fluteten den Korridor. Die Männer standen augenblicklich stramm und neigten pflichtbewusst ihr Haupt. Ihre blauen Menschenaugen musterten sie argwöhnisch, bis sie realisierten, wer sie war. Misstrauen wandelte sich in Angst und sie griffen alarmiert nach ihren Waffen. Als Rayan mit ihr durch den Torbogen trat, pressten sie ihre Rücken gegen die Wand, jegliche Farbe wich aus ihren Gesichtern.

»Sayeh, dir ist hoffentlich bewusst, dass du für uns alle eine Gefahr darstellst«, sagte Rayan. »Ich werde meine Behandlung dir gegenüber anpassen, entsprechend dem Vertrauen, das ich dir entgegenbringen kann.«

Wieso sollte der König des Wasserreiches der Prinzessin der Schatten vertrauen? Ihre Mutter hatte diese Welt an den Rand des Abgrunds gebracht.

»Wo ist meine Mutter?«, fragte sie noch einmal.

Rayan antwortete ihr nicht. Sie traten ins Freie und fanden sich unter der sengenden Sonne wieder. Neugier siegte über Schmerz und sie hielt sich die Hand wie einen Schirm über die Augen, blinzelte in die Welt. Vor ihnen breitete sich ein Garten aus, der einst sicherlich prachtvoll gewesen war. Und beim Anblick der ausgedörrten Pflanzen, des bräunlich verfärbten Grases, der ausgetrockneten Steinbrunnen, die diese trostlose Gartenlandschaft schmückten, und der fischförmigen Wasserspeier, deren Münder nur gähnende Leere ausspien, erkannte sie, was diesem Palast fehlte. Wasser. Dies war das Königreich des Wassers. Und es war ausgetrocknet.

»Es tut mir leid, dass ich dir mein Königreich nicht in seiner blühenden Schönheit zeigen kann, Sayeh«, sagte Rayan, dessen teilnahmslose Stimme sein angebliches Bedauern nicht unterstreichen konnte. »Wirklich, es tut mir im Herzen weh.«

Ein verbrannter, staubiger Geruch ging von dem welken Gestrüpp und der von Rissen zerfurchten Erde aus. Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihre Köpfe, wurde von den weißen Mauern des Palastes zurückgeworfen und verwandelte den Palastgarten in einen glühenden Kessel. Runde Türme ragten in den blauen Himmel, ihre Kuppeldächer reflektierten die Sonnenstrahlen wie gigantische Spiegel.

Sie wollte sich diesen Ort bewässert vorstellen, mit sprühenden Fontänen und fröhlich plätschernden Brunnen, sattgrünen Wiesen und Frühlingsblumen in allen erdenklichen Farben, emsigen Bienen und Singvögeln, die ausdauernd ihre Lieder trällerten. Im Reich des Wassers herrschte ewiger Frühling. So wie im Reich der Winde ewiger Winter, im Reich der Erde ewiger Herbst und im Reich des Feuers ewiger Sommer. In ihrem Reich, in dem der Schatten, herrschte hingegen ewige Nacht.

Jedes Reich für sich war faszinierend und einzigartig. Das Wasserreich war ein Ort reißender Wasserfälle, grüner Flusslandschaften, dunkelblauer Meerestiefen, traumhafter Sandstrände und dichter Regenwälder. Doch das Bild, welches sich ihr bot, passte zum Reich des Feuers.

Hatte ihre Mutter das getan?

Eine heftige Woge an Schuldgefühlen überrollte sie. Sie war nicht verantwortlich für die Taten ihrer Mutter – doch in diesem Moment verspürte sie den Drang, alles zu tun, um die Schulden ihrer Mutter zu begleichen und das wiederherzustellen, was sie zerstörte.

»Es tut mir leid«, sagte sie und ließ beschämt den Kopf hängen, während sie neben Rayan einem schmalen Kiesweg folgte, der leise unter ihren nackten Füßen knirschte.

Wieso befreite man sie? Ein Geschöpf wie sie sollte auf ewig eingesperrt bleiben.

»Du kannst die Fehler deiner Mutter wiedergutmachen«, sagte Rayan und steuerte eine verschnörkelte Bank an, die unter der kahlen Krone eines verkümmerten Baumes stand. Sein breiter Stamm zeugte von einem hohen Alter, die Äste ragten wie knochige Finger in den blauen Himmel. Die Stille war beängstigend. Kein Vogelgesang, kein Flügelschlag, kein Zirpen durchbrach die unheimliche Ruhe. Ihre Gärten daheim im Schattenpalast sprühten vor Leben. Das hatten sie zumindest, bevor …

Sie verdrängte die grauenhaften Erinnerungen.

»Deswegen bin ich hier?«, fragte sie und ließ sich erschöpft neben Rayan auf der Bank nieder. »Um die Taten meiner Mutter zu sühnen?«

Der König schlug die Beine übereinander, wobei der fließende Mondstoff des Mantels von seinen Knien rutschte und den Blick auf eine weite Seidenhose freigab, in der zwei dürre Beine steckten. In der silbernen Kordel um seine Hüfte steckte sein Zauberstab. Gänzlich aus Silber, war er leicht wellenförmig gefertigt. An seinem oberen Ende saß ein faustgroßer Saphir, eingefasst in ein kunstvolles Geflecht aus Silberfäden. Der Saphir war nicht mit Magie angereichert, ebenso wenig wie der an seinem Diadem, was sie irritierte.

Normalerweise könnte der Halbgott des Wassers diesen Garten mit einem Befehl seines Zauberstabs wieder erblühen lassen. Und dafür brauchte er ihn nicht einmal. Es reichte ein wenig emotionale Kontrolle und pure Willenskraft – schon schoss das Element aus den Fingerspitzen eines jeden Halbgottes. Der Zauberstab diente lediglich dazu, die Magie zu speichern – für Momente, in denen die passenden Emotionen nicht ausreichten oder der Wirkende anderweitig blockiert war. Auch in der Öffentlichkeit wurden die Elemente vornehmlich mit dem Zauberstab herbeigerufen. Es war kontrollierter und abschätzbarer, denn die Magie war auf die Menge begrenzt, die in dem Edelstein Platz fand.

Sie fragte sich, warum Rayan sein Element nicht rief, wo doch alles nach Wasser lechzte. Waren das die Nachwirkungen von Mutters Zerstörungswut? Ihre Schatten hatten einen Großteil der Welt verschlungen. Hatten die Elemente sich seither nicht erholt?

»Deine Mutter ist tot«, sagte Rayan, fixierte sie von der Seite.

Sayeh verspürte einen Schmerz wie von einem dumpfen Schlag in ihrer Brust, gefolgt von einem eigentümlichen Gefühl, das sich langsam, aber unaufhaltsam in ihr ausbreitete – war das Trauer? Es fühlte sich kalt an und betäubte ihre Sinne, griff nach ihrem Herzen wie eine eisige Klaue und schnürte ihr die Kehle zu.

Deine Mutter ist tot.

Dieser Satz sollte sie erleichtern. In Angst versetzen. Ja, vielleicht sogar mit Freude erfüllen. Doch diese vier Worte bedeuteten für sie vor allem eines: Die Macht der Schatten war nun allein ihre. Denn wenn ihre Mutter tot war, war sie ihre Nachfolgerin. Sie war die einzig lebende Halbgöttin der Schatten. Die Halbgöttin der nachfolgenden Generation. Das Kind Nyssas. Die Herrscherin über das fünfte Element.

»Wie ist sie gestorben?«, fragte sie.

»Es war Selbstmord.«

Sie hatte fünf Jahre gebraucht, um ihre Taten zu bereuen? Ob sie darum gebeten hatte, ihre Tochter noch ein letztes Mal zu sehen, bevor sie sich für immer verabschiedet hatte? Hätte sie sie in ihre Höhle eingelassen? Ja, das hätte sie. Denn sie wollte es wissen. Musste es wissen. Musste wissen, warum ihre Mutter sich gegen die vier übrigen Elemente gewandt hatte – und das auf solch zerstörerische Weise. Wieso sie die Welt in ihren Schatten hatte verschlingen wollen.

»Was wird von mir erwartet?«, fragte sie und krallte ihre Finger so krampfhaft ineinander, dass sie ihre Knöchel knacken hörte. Die Kette aus Iridium lag schwer auf ihren mageren Oberschenkeln.

Sie musste das Ganze rational betrachten. Ihre Mutter war tot – und ihr Schicksal wurde neu entschieden. Was sie wollte, war die Freiheit. Freiheit und Dunkelheit. Und … Wasser. Als wollten ihre Lungen dieses dringende Bedürfnis unterstreichen, überfiel sie ein trockener Husten.

»Könnte ich … etwas Wasser bekommen?«

»Es gibt kein Wasser mehr«, erklärte Rayan ohne Anflug von Mitgefühl.

Sie schielte zu seinem inaktiven Zauberstab. Auch sie hatte einst einen besessen. Einen eleganten Stab aus Lavastein, an dessen Ende ein Obsidian eingelassen war, festgehalten von steinernen und mit kleinen Mondsteinen besetzten Dornen. Der glänzend-schwarze Stein hatte mit seiner Schattenmagie stets pulsiert und dunkle Schwaden verströmt. Der Stab war ihr genommen worden, wie alles andere.

»Kein Wasser? Wieso?«, fragte sie unsicher nach.

»Weil der Schatten fehlt«, antwortete Rayan. »Der Tod deiner Mutter hat das Gleichgewicht gestört. Ohne eine Herrscherin der Schatten kein Reich der Schatten und ohne ein Reich der Schatten, welches Nyssa huldigt – keinen Schatten, keine Dunkelheit und keine Nacht.«

Sie brauchten sie. Ihr Herz pochte schnell und hart gegen die Brust, pumpte die letzten Reste Flüssigkeit durch ihre Adern. Sie brauchten sie.

»Ihr wollt mich freilassen«, stieß sie aus, Hoffnung keimte in ihr auf. »Ich werde zurück in mein Reich entsendet. Ich werde Königin über das Reich der Schatten.«

Rayan lachte. Es klang höflich, doch eine Kälte schwang darin mit, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte.

»Wir können dich nicht freilassen«, sagte er. »Du bist eine Gefahr für mich, für mein Königreich und die anderen Elemente. Für diesen Moment bist du unser Gast, Prinzessin Sayeh. Solange, wie es nötig ist. Wir werden dich unterrichten und du wirst unter unserer Aufsicht dein Element herbeiordern, bis wir davon überzeugt sind, dass du es kontrolliert und gewissenhaft beherrschst und verantwortungsvoll damit umgehst. Du wirst von unserem ins nächste Reich reisen und wieder ins nächste, bis du unser Vertrauen erlangt hast. Im Anschluss wirst du das Gleichgewicht wiederherstellen und den Schatten zurückbringen.«

Den Schatten zurückbringen. Das war es, was hier vor sich ging. Mutter war gestorben und der Schatten mit ihr. Das Wasser, welches durch dieses Königreich floss und es blühen und gedeihen ließ, war verdunstet ohne schützende Schatten und die tiefe Nacht.

Sie brauchten sie.

»Nyssa wird niemals zulassen, dass ihr Reich verfällt«, sagte sie hastig. Ihr träges Gehirn ratterte und ratterte. Bitterer Nebel umhüllte es und sie versuchte, dagegen anzukommen. »Dass ihr Kind sich in der Gewalt der anderen Elemente befindet.«

Dies war eine einmalige Gelegenheit – die erste und wohl auch letzte, um jemals wieder in Freiheit zu leben. Sie musste sie ergreifen. Musste verhandeln. Kämpfen. Zur Not fliehen. Für die Schatten. Für ihre Göttin und ihr Königreich. Für ihre Freiheit. Im Fels hatte sie jede Hoffnung aufgegeben, hatte mit ihrem baldigen Ableben Frieden geschlossen, doch nun …

Sayeh sah auf ihre gefesselten Hände hinab und hinauf in den verstörend blauen Himmel, suchte die glatten Wände der Palastmauern nach einem Fluchtweg ab. Aber wie sollte sie in ihrem Zustand fliehen? Und wohin sollte sie gehen? Sie war in ihrem Leben nie über das Schattenreich hinausgekommen. Könnte sie sich in den Schatten verstecken? Ihre Magie musste noch da sein. Verschüttet zwar, jedoch immer noch da. Immerhin war sie eine Halbgöttin.

Sie fühlte sich der Freiheit so nah …

»Ich muss in mein Reich zurückkehren, Nyssa huldigen und den Schatten pflegen«, sprach sie. Ihre Stimme überschlug sich in dem Bestreben, die Argumente für ihre Befreiung zu präsentieren. »Wenn meine Mutter tot ist, muss ich an ihre Stelle treten. Ich kann nicht hierbleiben, das Gleichgewicht …«

»Deine Mutter zerstörte das Gleichgewicht«, unterbrach Rayan sie streng. »Sie wollte uns vernichten, uns verschlingen in ewiger Dunkelheit – Erde, Wasser, Feuer und Wind. Wollte, dass der Schatten alleinig über diese Welt herrscht. Nie wieder darf es so weit kommen. Niemals. Wir müssen verhindern, dass das Reich der Schatten sich wieder erheben und gegen die anderen Elemente wenden könnte. Verstehst du, Sayeh? Begreifst du, warum du in Gefangenschaft lebst?«

Nachdem die herrschenden Halbgötter der vier Elemente in das Reich der Schatten eingedrungen waren, ihre Mutter bezwungen und den Krieg für beendet erklärt hatten, hatte man sie in den Fels weit draußen im Schattenmeer verbannt. Der einzige Eingang und somit auch Ausgang aus diesem steinernen Gefängnis war mit einem undurchdringbaren Gitter aus Iridium versperrt, das nur geöffnet wurde, wenn ein neuer Gefangener Einlass fand – was selten geschah. Denn es war ein Gefängnis für Verurteilte schwerster Straftaten, ob Mensch oder Halbgott. Der Aufenthalt im Fels war lebenslänglich. Die Wächter lebten und starben in seinen düsteren Tunneln.

Nach ihrer Gefangennahme hatten die siegreichen Herrscher ihre Mutter erpresst. Der Preis für das Leben ihrer Tochter war ihre sofortige Kapitulation und lebenslange Unterordnung unter die übrigen vier Elemente gewesen. Und tatsächlich war ihre Entführung die Rettung gewesen – der Schatten hatte sich zurückgezogen. Ihrer Mutter war ihr Leben mehr wert gewesen als endlose Macht.

»Wir werden für dich sorgen, Sayeh«, durchbrach Rayan ihre Erinnerungen. »Du wirst in unserem Königreich ein neues Heim finden, so, wie du es auch im Reich der Erde und im Reich der Winde finden wirst. Im Gegenzug für unsere Großzügigkeit erwarten wir von dir Gehorsam und Pflichtbewusstsein. Du wurdest zwölf Jahre auf deine Zukunft vorbereitet – nicht annähernd genug Zeit, um dich mit deinen Aufgaben vertraut zu machen. Dies müssen wir in nur wenigen Tagen nachholen, weil die Zeit drängt. Der Schatten verschwindet und mit ihm die Einheit der Elemente.«

»Ich war fünf Jahre in Gefangenschaft«, sagte sie. »Es wird Zeit brauchen, mich mit meinem Element wieder vertraut zu machen.«

Vor dreihundertsiebenundachtzig blutigen Strichen hatte sie das letzte Mal Magie angewendet. Sie hatte eine Ratte in Schatten gehüllt, weil sie das kratzende Geräusch ihrer Krallen auf dem Stein nicht mehr ertragen hatte. Nachdem die Schattenschwaden sich verflüchtigt hatten, war das Tier verschwunden gewesen. Es war das erste und auch das letzte Mal gewesen, dass sie ein Lebewesen in den Schatten verschlungen hatte. Tagelang hatte sie geweint, Wasser und Essen verweigert, bis sich das schimmelige Brot bei ihr gestapelt hatte. Danach hatte sie ihr Element nie wieder gerufen. Nie wieder.

»Wir wissen alle, dass du nicht deine Mutter bist, Sayeh«, fuhr Rayan fort. »Doch du musst für die vernichtenden Folgen ihres Machthungers die Verantwortung übernehmen. Du bist nun das einzige noch lebende Kind Nyssas. In sechzig Tagen werden wir dich in der Zeremonie vereidigen – vorausgesetzt, du handelst vernünftig, legst Fleiß und Disziplin an den Tag und folgst den Anweisungen der Herrscher der Elemente. Nach der Zeremonie steht es dir frei, ins Reich der Schatten zurückzukehren und deiner Göttin zu huldigen. Dies ist mein Angebot, Sayeh. Dies ist das Angebot der Einheit der Elemente. Wir haben darüber beschlossen.«

Sechzig Tage? Sie war eine Halbgöttin. In sechzig Tagen würde sie ihre Pflichten erlernen können und ihre Fähigkeiten wiedererlangen. Wenn das Geschenk die Freiheit war, dann sollte es für sie nur eine Antwort geben.

»Und wenn ich mich weigere?«, hörte sie sich fragen.

»Dann werden wir uns die Schatten gewaltsam aneignen«, entgegnete Rayan ohne Umschweife.

»Gewaltsam?« Wie sollte das möglich sein?

»Wir entziehen dir dein Element. Durch Folter. Durch Schmerz. Wäre dir das lieber?«

War das möglich? Würde Nyssa das zulassen? Sie wollte es nicht herausfinden müssen. Nicht, nachdem sie endlich wieder Hoffnung geschöpft hatte. Hoffnung auf Freiheit. Hoffnung auf ein Leben.

»Ich werde die Schatten zurückbringen«, sagte sie. Die schwarzen Strähnen ihres überlangen Ponys verdeckten ihre Augen, schützten sie ein wenig vor der sengenden Sonne. »Ich werde das Gleichgewicht wiederherstellen. Ich werde für die Taten meiner Mutter die Verantwortung tragen.«

»Das freut mich zu hören, Sayeh«, sagte Rayan und legte seine knochige Hand auf ihr Knie. Sie war dürr und vertrocknet wie die Äste des Baumes in ihrem Rücken. »Meine Ritter werden dich zurück in dein Zimmer begleiten. Ruhe dich aus. Morgen früh wird man dich reinigen, anschließend beginnen wir mit dem magischen Unterricht. Am Abend werde ich dich auf dem Frühlingsfest den übrigen Herrschern vorstellen. Eigne dir bis dahin die nötigsten Höflichkeitsgepflogenheiten an. Wir befinden uns nicht im Reich der Schatten.«

Seine letzten Worte klangen herablassend und ließen sie wütend werden. Denn im Palast der Schatten waren Höflichkeit und ein respektvolles Miteinander eine Selbstverständlichkeit. Der Schatten war friedfertig und so waren seine Geschöpfe. Es war ihre Mutter gewesen, die diesen Frieden in ihrem sinnlosen Machtstreben begraben hatte.

»Merke dir, Sayeh«, sagte Rayan und senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. Es war ihr unangenehmer als die falsche Freundlichkeit, die Monotonie und gar der schneidende Befehlston. »Das Reich des Wassers heißt dich willkommen. Es hat mich Tage an Überzeugungsarbeit gekostet, bis ich die Erlaubnis bekam, dich aus dem Fels zu befreien. Tage, in denen mein Königreich mehr und mehr verdurstete. Keines der übrigen Reiche benötigt die Schatten so dringend wie meines. Die Sonne hat seit dem Tod deiner Mutter den Himmel nicht verlassen. Es gibt keine kühlende Nacht mehr. Alles Wasser verdunstet. Mein Königreich stirbt. Bedenke aber, dass die anderen drei Königshäuser nicht so leicht davon zu überzeugen waren, dir die Freiheit zu schenken. Allen voran das Königreich des Feuers, das dir bis jetzt nicht erlaubt, über seine Grenzen zu treten. Sie alle haben für Gefangenschaft und Folter plädiert. Auch ich hätte es beinahe getan – lass mich meine Fürsprache nicht bereuen.«

ERFRISCHENDE BEGEGNUNG

Sie hatte gehofft, dass man ihr am Abend Wasser bringen würde. Doch ebenso wenig, wie die Sonne hinter dem Horizont versank, erhielt sie zu ihrem abendlichen Brei einen Schluck des kostbarsten aller Elemente.

Rayan behauptete, dass es kein Wasser mehr gäbe. Niemand jedoch – nicht einmal der Halbgott des Wassers – konnte ohne Wasser überleben. Und als ihr nach einer schlaflosen Nacht unter der Sonne, die unerbittlich durch die Gitterstäbe brannte, lediglich trockenes Brot gereicht wurde, kam sie zu dem Schluss, dass man nur ihr kein Wasser zugestand. Nahm Rayan vielleicht an, eine Halbgöttin der Schatten bräuchte kein Wasser? Sie mochten mit halbgöttlicher Unsterblichkeit gesegnet sein, die es ihnen erlaubte, schlimmste Verletzungen zu überstehen und unter ärgsten Widrigkeiten zu überleben, aber sie waren doch zur Hälfte Mensch: Sie hatten einen kurzen Lebenszyklus und starben, wenn sie über lange Zeit kein Wasser zu sich nahmen.

Nachdem sie ihren Brotkanten hinuntergewürgt hatte, wurde sie zur Reinigung abgeholt. Mit Scheren schnitten zwei Palastdienerinnen ihr das verdreckte, zerschlissene Gewand vom Körper und warfen es mit angeekelten Gesichtern in einen Eimer. Der Verlust erfüllte Sayeh mit Wehmut, denn der Fetzen hatte sie fünf Jahre lang durch Schmerz und Einsamkeit begleitet, vor Kälte bewahrt und ihren nackten Körper vor der Außenwelt abgeschirmt. Sie wollte um den ausgedienten Stoff weinen, doch sie hatte eine neue Stufe der Austrocknung erreicht. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, zu pinkeln.

Anstatt sie in ein heißes Bad zu stecken, um den Dreck von fünf Jahren abzuwaschen, zückten die beiden Dienerinnen, die verständlicherweise vor Angst schlotterten, harte Bürsten. Mit Übereifer begannen die Menschenmädchen, sie trocken abzuschrubben. Sayeh biss ihre Zähne zusammen und ließ die schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Die dicken Ringe aus Iridium um ihre Handgelenke zogen sie unablässig in die Tiefe.

»Könnte ich Wasser bekommen?«, fragte sie die Dienerin, die ihre Haare gerade mit einem groben Zinkenkamm bearbeitete und sie dabei beinahe skalpierte. Sie bekam keine Antwort. Stattdessen wischte ihr die andere mit einem staubtrockenen Leinentuch über das Gesicht, rubbelte es von Dreck und Blut frei. Es fühlte sich an, als würde sie ihre Haut gleich mit entfernen.

Das Bad war klein, aber hübsch. Die Marmorsäulen mit den wellenförmigen Vertiefungen, die den Boden mit einem ebensolchen Muster durchzogen, waren so ausgetrocknet wie die zauberhaften Wasserspiele an den Wänden. Ein weit geöffnetes Fenster, um dessen Rahmen sich verdorrte Blumen rankten, zeugte ebenfalls von dem katastrophalen Zustand des Königreiches.

Eine süßliche Parfümwolke hüllte sie ein und Sayeh verfiel in einen trockenen Husten. Das Mädchen ging verschwenderisch mit dem Duftwasser um, vermutlich, weil sie wie jemand roch, der fünf Jahre keine Seife gesehen hatte. Währenddessen klatschte ihr die andere eine dickliche Salbe aufs Gesicht und rieb sie damit ein. Sayeh zuckte vor den ungewohnt intimen Berührungen zurück. Spitze Finger umfassten ihr Kinn, schmierten eine fettige Paste auf die eingerissenen Lippen. Mit vereinten Kräften hoben sie ihre schweren Arme in die Höhe, dann glitt ein samtiger Stoff über sie, legte sich um ihren unkontrolliert zitternden Körper. Anschließend fingerten sie ihr mehr schlecht als recht filigrane Silbersandalen an die Füße.

Die Sinneseindrücke überwältigten sie und Sayeh suchte Halt am Rand des muschelförmigen Waschbeckens. Um sich abzulenken, hob sie ihren Kopf und sah in den Spiegel. Das Mädchen, welches ihr entgegenblickte, war ihr fremd.

Die schmerzhafte Tortur, durch die ihre Kopfhaut gegangen war, hatte sich ausgezahlt. Das zerzauste Vogelnest war dicken, nachtschwarzen Haaren gewichen. Sie fragte sich, welche Wunderpaste die Dienerinnen hineingeknetet hatten. Gesund glänzten sie im gleißenden Licht der Sonne, als würden ihnen nicht essenzielle Nährstoffe fehlen. Früher hatten sie ihr bis zur Hüfte gereicht. Der jetzige, kurze Fransenschnitt, der ihre Haare leicht kraus erscheinen ließ, war das Ergebnis ihrer Frisierversuche im Fels mit einem rostigen Brotmesser. Er gab ihrem ausgemergelten Gesicht die fehlende Fülle zurück. Der Pony war zurückgekämmt worden. Eine tiefe Narbe zog sich über ihre rechte Augenbraue, dort, wo das Iridiumschwert eines Wächters sie getroffen hatte, als sie vor vier Jahren so töricht gewesen war, einen Fluchtversuch zu wagen.

Unter dichten, geschwungenen Wimpern blickten ihre Augen ihr entgegen. Schwarz und schillernd wie Obsidian, unergründlich wie der See der Geheimnisse und göttlich wie Nyssa. Da waren sie, die Schatten. Die Finsternis, die sie so sehr vermisste. Sie warteten nur auf ihren Ruf.

Die Dienerinnen flüsterten sich etwas zu, das sie nicht verstand, obwohl sie wie jeder Halbgott alle fünf Sprachen der Elemente ab dem Tag erlernt hatte, an dem sie die Dunkelheit der Welt erblickte. Furcht und Abscheu standen in ihren Gesichtern geschrieben. Sayeh hatte Mitleid mit ihnen. Für die Mädchen kam dies einer Strafarbeit gleich. Vom Schatten verschlungen zu werden war sicherlich grausamer, als den Schatten zu missen.

Um den angsterfüllten Blicken der beiden zu entgehen, sah Sayeh an sich hinab. Sie trug ein bodenlanges, schwarzes Gewand aus dickem Samt. Die Ärmel waren weit und luftig geschnitten, sie endeten über ihren Handgelenken und den Iridiumringen in hautengen Bündchen. Um ihre Taille wurde in diesem Moment ein breiter Gürtel gezurrt, so eng, dass sie kaum noch atmen konnte.

Bei Nyssa, sie hatte solch einen Durst!

»Wasser?«, keuchte sie in der Sprache des Wassers, rang nach Luft.

Ihr Rachen fühlte sich an, als habe sie Sand geschluckt. Die Mädchen reagierten nicht, schoben sie energisch Richtung Ausgang. In einem Anflug von Verzweiflung – wo würde sie dem Wasser näherkommen als in einem Bad? – schnappte sie nach einem Handgelenk. Die Dienerin wirbelte zu ihr herum, nackte Angst in ihren menschlichen Augen. Sie stolperte vor ihr zurück, prallte gegen die Tür und riss sie auf. Dann schrie sie um Hilfe.

»Ich möchte euch nichts tun«, sagte Sayeh hastig, drehte sich zu dem anderen Mädchen um, das ebenfalls von ihr zurücktrat und mit einer Hand nach einem Puderpinsel in seinem Rücken tastete.

»Bitte, ich brauche Wasser. Nur einen Schluck!« Sie deutete flehentlich zu dem ausgetrockneten Waschbecken.

Polternde Schritte näherten sich aus dem Korridor. Sie wurde grob von einem Ritter gepackt und gegen den Türrahmen gedrückt, eine Schwertklinge legte sich an ihre Kehle. Zitternd quetschten die Mädchen sich an ihr vorbei, akribisch darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Dann flüchteten sie Hals über Kopf.

»Bitte, Wasser«, bat sie nun auch den Ritter, der ihren Arm schmerzhaft nach hinten verbog. Doch der ignorierte ihre Bitte und schob sie unsanft auf den Flur hinaus, zerrte sie mit sich. Jedes Mal, wenn ihre Beine wegknickten, hob er sie in die Höhe und setzte sie wieder auf dem Boden ab, wie ein Kind, das sich weigerte, selbst zu laufen. Die steifen Sohlen der Sandalen fühlten sich unnatürlich unter ihren Füßen an. Sie hatte fünf Jahre barfuß verbracht. Sie brauchte keine Schuhe, sondern ihre Freiheit. Und Wasser.

Sie gab sich alle Mühe, mit dem forschen Schritt des Ritters mitzuhalten. Denn sie wollte eigenständig laufen. Wenn sie nicht einmal das zustande brachte – wie sollte sie dann die Schatten kontrollieren?

Sechzig Tage. Sechzig Tage, um all das zu erlernen, was sie als Halbgöttin des Schattenreichs wissen musste, andernfalls würde man sie bis in alle Ewigkeit einsperren. Man würde sie foltern. Foltern unter der Glut der Sonne.

Von diesen grauenerregenden Zukunftsaussichten vorangetrieben, zwang sie ihre Füße, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Aber der Ritter legte ein strammes Tempo vor und sie stolperte über ihre eigenen Zehen. Sie warf ihnen einen bitterbösen Blick zu. Selbst ihre Zehen ließen sie im Stich.

Was, wenn Nyssa sie längst aufgegeben hatte?

Bevor sie den beängstigenden Gedanken weiterspinnen konnte, wurde sie jäh unterbrochen, als sie schwungvoll um eine Ecke bogen und unvermittelt abbremsten. Der abrupte Halt brachte sie vollends aus dem Gleichgewicht und hilflos schlitterte sie über die spiegelglatten Marmorplatten. Der Ritter riss sie zurück, seine Finger gruben sich tief in ihren Oberarm. Keuchend hob Sayeh ihren Blick – und verlor sich in zwei Augen von dem schönsten Blau, das sie je gesehen hatte.

Die Befürchtung, sie könnten Rayan gehören, verwarf sie augenblicklich. Nie und nimmer. Diese Augen waren von einem tiefen Saphirblau und voller Leben. Das unverkennbare Leuchten der Iriden verriet ihre Göttlichkeit, die schillernden Wirbel darin nahmen Sayeh gefangen und gaben sie nicht wieder her. Weder herrschte in ihnen trügerische Ruhe noch blasse Leblosigkeit, nein, diese Augen beheimateten sowohl die faszinierenden als auch widersprüchlichen Facetten des zweiten Elements – friedliche Milde und reißerische Kraft.

Ein reißender Schmerz in ihrer Schulter holte sie zurück in die vertrocknete Wirklichkeit. Der Ritter zerrte sie beiseite und drängte sie an die Mauer. Ihr Hinterkopf schlug hart gegen den Stein und sie sah für einen kurzen Moment Sterne. Eine Dolchklinge blitzte vor ihr auf, dann drückte sich kühles Iridium gegen ihre Kehle. Zwei weitere Ritter tauchten aus dem Nichts auf, schoben sich zwischen sie und den Halbgott, redeten auf ihn ein.

Sie versuchte zu lauschen, doch ein penetrantes Rauschen in ihren Ohren behinderte ihr Gehör. Es war ihr zähflüssiges Blut, das sich mühevoll durch den Kreislauf kämpfte. Benommen wankte sie gegen den Ritter, der darauf unfreundlich grummelte und sie grob zurückstieß. Um bei sich zu bleiben und nicht in eine Ohnmacht abzudriften, linste sie an dem Ritter vorbei, der sich schützend vor den Halbgott gestellt hatte.

Vor ihr stand Rayans Sohn. Halbgott des Wassers ihrer Generation. Avan.

Avan besaß eine anmutige Erscheinung. Wie sein Vater umhüllte ihn ein Mantel aus schimmerndem Mondstoff, eine violettfarbene Seidenweste schmiegte sich an den schlanken Oberkörper, eingewebte Aquamarine zeichneten das Wappen des Wasserreichs. Ein verräterisches bläuliches Licht schimmerte unter seinem Mantel hervor. Sein seidiges Haar war wie ihres kinnlang und besaß die gleiche silberweiße Farbe wie der Stoff des Mantels – als hätte er seinen Kopf in den Mond getunkt. Der tropfenförmige Saphir an seinem Diadem, dessen Ranken sich wie Silberschlangen durch sein Haar wanden, leuchtete mit der Magie des Wassers, winzige Tröpfchen und Bläschen umschwirrten ihn.

Er hatte ein schönes Gesicht. Schmal und von edlen Zügen, ein wenig feminin. Die Lippen waren elegant geschwungen, besaßen die Farbe von hellem Rosenholz und wirkten kein bisschen ausgetrocknet. Seine cremeweiße Haut war so makellos und glatt, dass sie am liebsten ihre Hand ausgestreckt und ihre Finger hineingetunkt hätte wie in ein Glas frischer Milch.

»Ich werde Prinzessin Sayeh in ihr Zimmer begleiten«, sagte er in diesem Moment. Da war sie wieder. Die Stimme, die sie schon bei ihrer Ankunft vernommen hatte. Wie ein leise plätschernder Bach. Beruhigend und doch anregend. So wie alles an ihm.

»Ihr Vater gab mir den Befehl, die Prinzessin unverzüglich zu ihm zu bringen«, ließ der Ritter verlauten, der ihre gefesselten Arme gegen ihren Unterleib presste.

»Und ich gebe dir den Befehl, die Bittsteller am Osttor abzuweisen«, entgegnete Avan ruhig, aber bestimmt.

Überraschenderweise gab der Ritter sie auf diesen Befehl hin frei und auch die Klinge löste sich von ihrem Hals. Ein Blutstropfen perlte hinab und sickerte unter das neue Gewand. Die drei Männer verneigten sich vor dem Prinzen und entfernten sich.

Die Folgsamkeit der Ritter irritierte sie. Das Wort des herrschenden Halbgottes wog weitaus mehr als das seines unvereidigten Nachfolgers. Ihr fehlte jedoch die Kraft, weiter über diese ungewöhnliche Befehlsverweigerung nachzugrübeln. Avan streckte ihr seine Hand entgegen, die sie entschieden ignorierte. Stattdessen stieß sie sich in einem Moment der Selbstüberschätzung von der Wand ab, war ohne den Ritter jedoch in etwa so standhaft wie ein Pferd mit nur einem Bein. Sie schwankte bedenklich. Bei Nyssa, sie hatte sich noch nie so kraftlos gefühlt.

Avan ergriff ihren Ellbogen und rettete sie vor einer entwürdigenden Landung auf dem harten Marmor. Der Duft nach salzigem Meerwasser hüllte sie ein, so intensiv und allumfassend, dass sie mit der Zungenspitze durstig über ihre Lippen fuhr. Doch anstelle von Wasser schmeckte sie Bitterkeit. Ihr Blick verschwamm und sie krallte ihre Finger in den edlen Mondstoff. Ein bläuliches Licht holte sie aus der nahenden Ohnmacht zurück. Etwas wurde in ihre Hand gedrückt, das sich kühl und glatt anfühlte und zugleich seltsam schwerelos war. Wasser. Sie blinzelte und starrte auf eine kleine Wasserkugel, die über ihre Handfläche kullerte. Winzige Wasserblasen blubberten darin.

»Trink das.«

Sie hätte keine Aufforderung gebraucht. Gierig führte sie ihre Hand an den Mund. Die Ketten aus Iridium hingen tonnenschwer an ihren Armen, sodass sie sich vorbeugen musste. Avans schlanke Finger legten sich um ihre Handgelenke und nahmen ihr etwas von dem Gewicht ab. Mit einem Seufzer der Erleichterung berührten ihre Lippen die wässrige Kugel. Sie ließ sie auf ihre Zunge rollen, lehnte den Kopf zurück und schloss erschöpft die Augen. An ihrem Gaumen explodierte ein nasskaltes Feuerwerk. Eine erfrischende Welle schwappte durch ihren Körper, drang in jede Faser, durchströmte ihre Adern und befreite ihren Kopf von dem verstörenden Nebel.

»Danke«, flüsterte sie.

»Avan«, hörte sie ihn sagen. Er legte ihre Hände sachte auf dem Samtkleid ab.

»Ich weiß«, murmelte sie.

Für einen winzigen Augenblick erlaubte sie sich, in dem unverhofften Hochgefühl zu verweilen, ehe sie ihre Lider wieder hob. Avan war ihr so nah, dass sie die tanzenden blauen Wirbel in seinen Augen hätte zählen können, wäre sie des Zählens nicht vor langer Zeit in einer fernen Gesteinshöhle müde geworden. Avan schien die unpassende Nähe zu bemerken und trat einen Schritt von ihr zurück, nahm seinen wunderbaren Duft nach Wasser, Salz und den Tiefen des Meeres mit sich.

»Ich werde mit meinem Vater reden«, sagte er und ließ in einer flinken Bewegung seinen Zauberstab verschwinden. Schwebende Wasserperlen folgten dem leuchtenden Saphir unter den silberweißen Stoff wie Motten dem Licht. »Du bist ein Gast, keine Gefangene.«

Ein Gast? Sie hätte gelacht, wenn sie sich daran erinnert hätte, wie man lachte.

»Dein Vater sagte, es gäbe kein Wasser«, erklärte sie. Überrascht stellte sie fest, dass ihre Stimme an Heiserkeit verloren hatte und sich ihr Rachen nicht mehr anfühlte, als habe sie flüssiges Feuer getrunken.

»Das war eine Lüge«, sagte Avan unverblümt.

Verwundert suchte sie in den zahlreichen Facetten seiner Augen nach Hinweisen auf geistige Beeinträchtigung. Erst gab er den Rittern seines Vaters eigenmächtig Befehle und nun bezichtigte er ihn der Lüge?

»Wäre das der Fall, gäbe es kein Leben mehr«, fuhr Avan fort, strich sich eine silberweiße Strähne aus der Stirn und blickte den Säulengang hinunter. »Niemand kann ohne Wasser überleben. Auch wenn mein Vater offenbar die Probe aufs Exempel an dir statuieren möchte.«

»Und wieso verweigert er mir das Wasser?«, fragte sie.

Wollte er sie loswerden, könnte er das viel leichter haben.

Avan betrachtete sie aufmerksam. Seine aufrechte Körperhaltung ließ ihn größer wirken, als er war. Im Gegensatz zu seinem Vater war er zwar schlank, aber nicht dürr. Nicht ausgetrocknet.

»Damit du erkennst, wie die Zeit drängt. Und damit du schwach bleibst. Er hat mir verboten, dir Wasser zu geben.«

Nett. Was hatte Rayan noch mal von Gastfreundschaft gefaselt? Das Reich des Wassers heißt dich willkommen.

»Wenn es noch Wasser gibt, warum ist dann alles hier ausgetrocknet?«, fragte sie.

Er zögerte, seine Augen wanderten suchend über ihr Gesicht. Was immer sie dort fanden, schien ihn dazu zu veranlassen, die Wahrheit zu sagen.

»Mein Vater kann das Wasser nicht mehr rufen. Ohne einen herrschenden Halbgott, der das Element kontrolliert, stirbt unser Reich.«

Rayan konnte sein Element nicht mehr kontrollieren? Hing auch das mit dem fehlenden Schatten zusammen?

»Wieso kannst du es?«, fragte sie, war überfordert von diesen unerwarteten Informationen. Der Herrscher des Wasserreichs konnte das Wasser nicht mehr rufen? Wie war das möglich? Es sei denn …

Wieder machte Avan eine Pause, schien mit sich zu hadern, was er ihr sagen durfte. Und was nicht.

»Die elementare Einheit der herrschenden Generation ist zerbrochen. Nicht jedoch die unserer Generation.«

Fünf Elemente. Fünf Götter. Fünf Halbgötter. Starb einer, war das Gleichgewicht gestört, die Einheit der Elemente zerbrochen. Solange, bis die nächste Generation vereidigt wurde. Normalerweise geschah dies, wenn die ältere Generation bereit war, ihre Macht abzugeben und die jüngere, diese zu übernehmen. Im Notfall – dem Tod eines Halbgottes – konnte der Zeitpunkt der Vereidigung auf das achtzehnte Lebensjahr des jüngsten Halbgottes der nächsten Generation herabgesetzt werden. Bis dahin mussten die Elemente von den noch unvereidigten Halbgöttern gepflegt werden. Da Halbgötter jedoch selten aus einem anderen Grund als gewöhnlicher Altersschwäche starben, kam solch ein Fall selten vor.

Doch genau dies war mit dem Selbstmord ihrer Mutter eingetreten.

Es brauchte eine Weile, bis diese Information sich in ihrem Kopf eingenistet und sie ihre volle Tragweite begriffen hatte. Wieso war sie nicht von allein darauf gekommen? Mit dem Tod ihrer Mutter war die elementare Einheit zerbrochen. Die Herrscher waren magielos.

»Mein Vater fürchtet dich«, sagte Avan. Er sprach mit einer schnörkellosen Ehrlichkeit, die sie schwer einschätzen konnte. Wieso redete er so offen mit ihr? »Daher behandelt er dich wie eine Gefangene. Wenn du es schaffst, sein Vertrauen zu gewinnen, wird sich das ändern.«

»Und du fürchtest mich nicht?«, fragte sie.

Er musterte sie, ein Schatten legte sich über seine zarten Gesichtszüge und seine Augen wurden merklich dunkler.

»Ich fürchtete deine Mutter«, erklärte er dann. »Sie zerstörte meine Heimat und verschlang Menschen und andere Geschöpfe in ihren Schatten. Dich kenne ich nicht. Ich will nicht fürchten, was ich nicht kenne. Wieso sollte ich auch?«

»Weil der Apfel nicht weit vom Stamm fällt?«, schlug sie vor.