Prinzessin Goldhaar - Julius Stinde - E-Book

Prinzessin Goldhaar E-Book

Julius Stinde

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Beschreibung

Die Eltern der hübschen und zarten Ännchen Leinhard sterben und ihre Tochter ist mit erst 17 Jahren auf sich gestellt. Ihr Onkel ist Förster beim Grafen von der Zeche und bewohnt das Seitengebäude auf des Grafen Schloss Freiburg. Er nimmt das hübsche Mädchen, das er aufgrund der blonden Haarpracht "Prinzessin Goldhaar" nennt, bei sich auf. Ihre Anmut und Muße zum Klavierspiel verzaubert den unglücklich verheirateten Grafen. Die aufkeimenden Gefühle der beiden können nicht aufeinandertreffen. Eine Cousine des Grafen, die Baronin und deren Tochter Baronesse Melanie, versuchen durch Intrigen die Gunst des Grafen zu erschwindeln. Dabei kommt auch ein Verehrer der Baronesse, Leo von Rabenau zwischen die Fronten und wird Teil des perfiden Spiels. Der Tod der Gräfin und des Försters bringen die beiden für längere Zeit auseinander. Leo von Rabenau hält um die Hand von Ännchen an, aber sie kann keine Liebe für ihn empfinden.

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Table of Contents

Impressum

Vorwort

1. Kapitel: Das alte Schloss

2. Kapitel: Das schöne Bild

3. Kapitel: Die Begegnung im Walde

4. Kapitel: Erste Kämpfe

5. Kapitel: Die Intrige beginnt

6. Kapitel: Auf dem Schauplatz des Elends

7. Kapitel: In Todesgefahr

8. Kapitel: Der Brandstifter

9. Kapitel: Die geheime Handschrift

10. Kapitel: Enthüllungen einer Sterbenden

11. Kapitel: Mignon

12. Kapitel: Traurige Heimkehr

13. Kapitel: Das verborgene Wandfach

14. Kapitel: Herzenskämpfe

15. Kapitel: Eröffnungen

16. Kapitel: Gebunden

17. Kapitel: Die entscheidende Frage

18. Kapitel: Einsam

19. Kapitel: Frei!

20. Kapitel: Des Zaubers Lösung

Prinzessin Goldhaar

Roman

 

 

 

 

1. Auflage 2020

ISBN:

978-3-949122-21-7

Autor:

Julius Stinde (1841–1905)

Herausgeber:

Norbert Lüttin

Gestaltung Cover:

sensdesign GmbH, sensdesign.com

Lektorat:

Selina Lüttin

Druck:

E-Book

Verlag:

Salpeterer-Verlag, Rüßwihl 3, D-79733 Görwihl

© 2020 Norbert Lüttin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Haben Sie Anregungen oder Kritikpunkte zu diesem Buch? Dann senden Sie bitte eine Mail an: [email protected]

 

 

Vorwort

 

 

 

 

 

 

JuliusStinde (1841–1905) war ein norddeutscher Journalist und Schriftsteller (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Stinde). Er schrieb Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte, Satiren, Parodien, Übersetzungen und eine Vielzahl von Zeitschriftenaufsätzen, von denen nur ein kleiner Teil zu Büchern verarbeitet worden ist. Stinde verwendete dabei zwölf verschiedene Pseudonyme. Bedeutende und bekannte Werke waren u.a. die Oper „Ännchen von Tharau“, das Lustspiel „Tante Lotte“, die Romane „Buchholzens in Italien“ und „Familie Buchholz“, welcher auch verfilmt wurde.

Im Jahr 1883 hat er den Roman „Prinzessin Goldhaar“ geschrieben und unter dem Namen „J. Steinmann“ diesen an die Tageszeitungen „Der Alb-Bote“ und „Linzer Tages-Post“ zum etappenweisen Abdruck geschickt. Dieser Roman ist bisher nicht bekannt. In Stindes Biografie wird er lediglich als Vorankündigung genannt. Tatsächlich ist er noch nie als Buch erschienen, nun konnte er jedoch im „Waldshuter Erzähler“, einer Beilage des „Alb-Bote“, in Ausgaben des Jahres 1883 gefunden und hier veröffentlicht werden.

Unter dem Namen „Prinzessin Goldhaar“ ist auch ein tschechisches, genauer gesagt böhmisches Märchen von Karel Jaromír Erben bekannt, das ebenso im 19. Jahrhundert geschrieben wurde und nichts mit dem vorliegenden Roman verbindet und lediglich den gleichen Titel hat.

Ein herzlicher Dank gilt meiner Tochter Selina Lüttin, die sich spontan für das Lektorat bereit erklärte. Sollte der Druck- oder Fehlerteufel irgendwo zugeschlagen haben, bin ich für Korrekturhinweise dankbar. Senden Sie dazu eine Mail an: [email protected].

 

Rüßwihl, im Dezember 2020

 

Norbert Lüttin

 

1. Kapitel: Das alte Schloss

Der Abend dämmerte herein. Den Tag über hatten schwer niederhängende Wolkenmassen den Himmel bedeckt, nun trieb sie ein starker Nordostwind auseinander und die funkelnden Sterne kamen hier und da zum Vorschein. Aber es war bitterkalt, fast zu kalt nach den sonnigen Märztagen. Durch alle Fugen und Ritzen pfiff es schneidend in das kleine, mäßig erhellte Gemach, in welchem Ännchen Meinhard saß. Sie hatte Tisch und Stuhl in die Nähe des Ofens gerückt, welcher eine behagliche Wärme ausströmte, und nun konnten die bereits erstarrten Fingerchen in ihrer mühsamen Arbeit, Gold- und Silberblumen auf blauem Atlas zu sticken, fortfahren.

Aber mancher tiefe Seufzer entschlüpfte dabei ihren Lippen, wiederholt drückte sie ihr Sacktuch an die leicht geröteten Augen, welche sich, trotz ihres energischen Willens, immer wieder mit Tränen füllten. Ach, fast war es auch zu viel des Leidens, was ihre junge Seele bedrückte.

Noch waren nicht vier Wochen verflossen, als sie ihren geliebten Vater begraben hatten, und vor drei Tagen trugen die schwarz gekleideten Männer auch die Mutter fort, dorthin, von wo es keine Wiederkehr gibt. Welcher furchtbare Wechsel des Schicksals! Bis dahin der verzärtelte, mit Liebe und Aufmerksamkeiten überhäufte Liebling, der Lichtpunkt zweier Menschen, die über den Anblick ihres holden Kindes alles Leid und alles Weh vergessen, welches das erbarmungslose Schicksal ihnen reichlich zugemessen, und nun allein — ganz allein!

Und wieder sanken die fleißigen Hände mit der Arbeit in den Schoß und wieder standen ihre großen, blauen Augen voll Tränen. Es ist nicht leicht für ein junges Mädchen von 17 Jahren, in einer großen Stadt allein dazustehen und auch Ännchens Herz zog bitteres Weh zusammen. Zwar lebte noch der einzige Bruder der Mutter, aber zu ihm konnte sie nicht gehen. Sie musste von dem Erwerbe leben, welches sie sich durch das Erteilen von Klavier-Unterricht verdiente; ihr Onkel aber wohnte weit von der Stadt und auf dem Lande würde sie keine Schülerinnen finden.

Ännchen nahm wieder die Arbeit auf; aber die musste dieselbe bald aufs Neue zur Seite legen. In demselben Augenblick hörte sie draußen ein Geräusch, als ob jemand geräuschvoll die Treppe herauf kam. Sie nahm das Licht und trat aus der Tür, obwohl sie nicht erwarten durfte, dass man zu ihr wollte; sie war immer bereit, hilfreich zu sein, wo sie das nur konnte.

Da tauchte über dem Treppengeländer ein wettergebräuntes Mannesantlitz auf und eine Minute später stand eine große, breitschulterige Gestalt vor der freudig überraschten Anne.

„Onkel“, kam es jubelnd über ihre Lippen.

„Blitzmädel, kennst Du mich noch?“, lautete die Entgegnung und in demselben Augenblick hatte er das zarte Geschöpf mit seinen Armen umschlungen und drückte es innig an die breite Brust. Vergebens war er bemüht, seine Tränen zu verbergen; sie rollten unaufhaltsam in den schneeweißen Bart und vermischten sich mit denen des erschütterten, jungen Mädchens.

Doch nicht lange dauerte es, dass er seine verlorene Fassung zurückgewann. Er zog Anna in das Gemach und drückte die Tür hinter sich in das Schloss. Noch einmal wollte ihn die Rührung übermannen, als er sich in dem bescheiden eingerichteten Raume umsah.

„Ja, ja — zu stolz, um zu klagen“, murmelte er vor sich hin und sich dann zu Anna wendend, fügte er hinzu: „Und du denkst nun, dass dir hier so fortleben sollst? Nicht da! Ich bin jetzt dein Vormund und Vater und als solcher werde ich nun und nimmer zugeben, dass du hier in der großen Stadt allein bleibst. So ein junges Blut!“

Dabei schob er Anna ein paar Schritte von sich und sah sie von unten bis oben an.

„Nein, nein, du wirst mir jetzt in den Wald hinaus folgen, damit die blassen Wangen sich verlieren und frische Rosen darauf blühen.“

„Aber Onkel Wilhelm — ich werde bei dir keine Stunden geben können.“

„Stunden geben können? Nein, freilich wirst du das nicht, aber es ist auch nicht von Nöten.“

„Mama hat mir aber gesagt, dass ich dir nicht zur Last fallen dürfe.“

Onkel Wilhelms Stirn verdunkelte sich einen Augenblick, aber dann lächelte er wieder spöttisch gutmütig.

„Du eine Last! Siehst mir gerade danach aus! Nein eine Freude sollst du mir werden auf meine alten Tage. Elsbeth bedarf einer Stütze im Hausstand und da bist du gerade die Rechte. Und singen und musizieren kannst du ja auch. Hei! Wird das ein lustiges Leben in dem alten Schloss werden!“

Tränen in Annas Augen dämpften des alten Mannes erzwungene Lebhaftigkeit. Ihm war gewiss nicht fröhlich zu Mute, sondern der Tod seiner Schwester hatte hart an ihn gerüttelt. Aber er hatte sich über die erste Verlegenheit hinweghelfen wollen und das war ihm nun wenigstens teilweise gelungen. Annas Bedenken zu beschwichtigen wurde ihm indessen nicht mehr schwer. Sie war ja wenig mehr als ein Kind und es hatte sie doch mit Furcht und Unruhe erfüllt, wenn sie ihrer gänzlichen Verlassenheit gedachte. Der Gedanke, mit dem Onkel zu ziehen, hatte etwas unendlich Tröstliches für sie und nachdem es demselben gelungen war, sie davon zu überzeugen, das sie ihm in der Tat eine große Freude machen würde, wenn sie mit ihrer Jugend seine alten Tage erhellen wollte, so gab sie schließlich freudig ihre Zustimmung.

Anna musste noch einige Wochen in der Stadt bleiben, um alle Verbindlichkeiten zu lösen und inzwischen blieb Onkel Wilhelm ihr zur Seite. Nur ein paar Mal war er auf zwei Tage abwesend. Alles das, was Anna aus dem Nachlass ihrer Eltern lieb und wert war, und es gab kaum ein Stück Möbel, an dem nicht ihr Herz hing, wurde nach der Freiburg gebracht, um dort in derselben Weise wie bisher Aufstellung zu finden.

So war es April geworden, und an einem schönen, sonnigen Frühlingsmorgen verließ Ännchen an der Seite ihres Onkels in einem leichten Korbwägelchen die Stadt.

Sie hatte zwar mit heißen Tränen Abschied von den Gräbern ihrer Eitern und der Stätte ihrer Kindheit genommen, aber die Sonne küsste die Tauperlen von ihren Wangen und sie konnte ihr Herz der Schönheit der Natur nicht verschließen.

Prächtig lachte die Sonne vom mattblauen wolkenlosen Himmel auf die wiedererwachte Erde hernieder. Üppig grünende Saatfelder, saftige Wiesen, vom silbernen Band des wilden Flusses durchschlungen, dehnten sich weit aus bis zu den waldbekränzten Höhen. An den blühenden und knospenden Bäumen regte sich geschäftig die gefiederte Sängerschar, der Fink ließ sein lustiges Lied ertönen, in der Ferne hörte man den Ruf des Pirols und Bachstelzen eilten graziös auf und nieder, irgendetwas Brauchbares für sich zu finden.

Da wurde Ännchens Brust weit. Sie sog begierig den belebenden Odem ein und ein leiser Hauch von Röte machte sich auf ihren zarten Wangen bemerkbar, während ihre Augen mit leuchtendem Glanz über Tal und Höhen schweiften.

Vor langen Jahren hatte sie einmal denselben Weg gemacht, damals, als Krankheit und Elend der Eltern noch nicht so weit zurückgebracht, dass sie sich schämten, dem Onkel unter die Augen zu treten, weil sie so energisch jeden Beistand von seiner Seite abgelehnt. Ännchen hatte es damals wunderbar schön bei dem Onkel im grünen, frischen Walde gefunden, aber so bewusst wie heute stand sie doch nicht den Schönheiten der Natur gegenüber und so weit war ihr das Herz noch nie geworden.

Munter trabte der wackere Braune seines Weges und gegen Mittag war ein hübsch gelegenes Wirtshaus erreicht, wo Rast gemacht wurde. Onkel Wilhelm saß mit seiner Nichte in einer blühenden Hollunderlaube und die Frau Wirtin hatte tüchtig aufgetischt. Anna langte wacker zu; sie aß mit besserem Appetit als seit Wochen und Monden und es wollte dem Onkel scheinen, als ob der melancholische Zug um ihren Mund, der ihm so gar nicht hatte gefallen wollen, schon nicht mehr so deutlich hervorträte.

Nun, das Ding sollte sich schon machen.

Gegen Abend sah Anna Schloss Freiburg herüberblinken und ihr kleines Herz begann unwillkürlich schneller zu pochen. Die Abendsonnenstrahlen spiegelten sich in den zahllosen Fenstern und ließen das Schloss wie in rote Feuersglut getaucht erscheinen. Es lag auf stolzer Höhe, auf einem Bergplateau, von reizenden Parkanlagen, die sich zu beiden Seiten weit ausdehnten, umgeben. Im Hintergrund erstreckte sich ein ungeheurer Eichen- und Buchenwald und die Wipfel der riesigen Bäume ragten weit, weit ins Land hinaus.

Das Schloss war der Stammsitz eines uralten Geschlechts, der Grafen von der Jede. Es war aber längst nicht mehr von denselben bewohnt, wenigstens der jüngste und letzte Sprosse seines Stammes zog es seit Jahren vor, seine Zeit auf Reisen zu verbringen. So bewohnten die Seitengebäude der Förster und der Gutsverwalter und das Schloss lag, bis auf einige Tage im Hochsommer, wo der Besitzer desselben einmal Umschau zu halten pflegte, oder auch nur alle Fenster öffnen ließ um der frischen Luft freien Durchzug zu gestatten, im tiefsten Schweigen.

Das Schloss war im Renaissance-Stil erbaut, aber üppig wuchernder Efeu, welcher sich von allen Seiten emporrankte, ließ sonst wenig von dem äußeren Zustand erkennen. Innen war alles in musterhafter Ordnung und mit verschwenderischem Luxus ausgestattet. Es ließ sich kaum etwas Schöneres denken, als diese weite, geräumige Vorhalle mit den breiten Treppen und dem künstlerisch schönen Säulengang.

Auch die Seitengebäude und besonders die Wohnung des Försters waren geschmackvoll eingerichtet, für Ännchen, die in engen Räumen einer Großstadt gelebt, geradezu ein Feenpalast. Große, geräumige, hohe Zimmer, weite Gänge und Korridore, warm und sonnig gelegen, mit prächtiger Aussicht über das weite Tal bis zu der fernen Stadt und oben noch ferneren Höhen, wie hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen derartige Herrlichkeiten denken können!

Die alte Elsbeth empfing das kleine, blasse Stadtkind, das so viel Schmerzliches in der letzten Zeit erlebt hatte, mit großer Freundlichkeit, und Anna war bis zu Tränen gerührt, als sie sah, wie die gute Alte so sorglich alles verwahrt und aufgestellt hatte, was von der elterlichen Wohnung hierher gebracht worden war. Sie reichte der braven Haushälterin die Hand.

„Wie sollte ich Euch danken, Elsbeth?“

Damit war ein Freundschaftsbündnis fürs Leben zwischen beiden geschlossen und der alte Förster sah mit Freude, wie gut sich seine Nichte in die Sonderbarkeiten der Haushälterin fügte. Er rieb sich schmunzelnd die Hände. Weiß der Himmel, er hatte seine einzige Schwester, die Mutter Annas gern gehabt, aber in dieser Zeit konnte er es ihr weniger als je zuvor verzeihen, dass sie seinen Beistand abgelehnt und lieber dieses Mädchen in Armut verkümmern hatte lassen wollen.

Anna lebte in der Tat wieder von neuem auf. Die frische Waldluft färbte ihre Wangen höher und alle Ihre Bewegungen waren von einer Leichtigkeit und Anmut, dass ihr ganzes Wesen selbst das unbefangenste Auge entzücken musste.

Wie reizend das junge Mädchen eigentlich war, sah man erst jetzt.

Das Gesicht war tadellos schön, von dem hübschen Munde und der feinen Nase bis zu dem lieblichen Oval der Form. Reiches, lichtblondes Haar, zu dem die dunklen Augenbrauen und Wimpern einen auffälligen, aber besonders ausdrucksvollen Kontrast bildeten, umrahmte in zahllosen Wellenlinien die leicht gewölbte Stirn, und die Trauergewänder ließen die Zartheit des Teints umso starker hervortreten.

Eins hatte Anna bereits in wenigen Tagen eingesehen, besonders nützlich konnte sie sich hier nicht machen. Elsbeth war der Meinung, dass sie es schmerzlich empfinden werde, ob solch ein kleines Ding mehr im Hause sei, und verhätschelte sie gleichsam, und der Onkel hatte ihr tausenderlei Dinge zu zeigen, die er bei weitem für notwendiger erachtete, als häusliche Angelegen­heiten.

Acht Tage waren es, dass Anna jetzt auf Schloss Freiburg ver­weilte.

Am Nachmittag hatte sie einen Spaziergang gemacht und der Onkel führte sie im Mittelgebäude umher, wo sie hier und da einen Blick durch die Türen werfen konnte, wenigstens da, wo sich die seidenen Vorhänge ein wenig zur Seite geschoben hatten. Das junge Mädchen war ganz überwältigt von all der Pracht und Herrlichkeit, die ihr überall entgegenblickte. Ähnliches hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen, und sie fand des Erzählens kein Ende, als sie am Abend bei Elsbeth saß und bei deren Arbeit für den nächsten Mittagstisch zusah. Anne hatte ihr freilich Hilfe angeboten, die alte Haushälterin verschmähte dieselbe aber mit einem gutmütig spöttischen Blick auf die feinen Finger des jungen Mädchens.

„Ach, Elsbeth, nie im Leben würde ich von dem Schloss fortgehen, wenn ich an des Herrn von der Zeche Stelle wäre“, sagte Anna. „Es ist hier doch so wunderbar schön, wie es nirgends in der weiten Welt sein kann.“

„Hm, hm!“, murmelte die Alte und ein Schatten huschte über ihr Gesicht, indem sie sich gleichzeitig nach allen Seiten umsah. „Der Graf hat wohl seine Gründe, wenn ihm das Hierbleiben unheimlich wird.“

Anna blickte die Sprecherin mit ihren großen Augen neugierig fragend an.

„Der Onkel hört es nicht gern, wenn ich davon rede“, fuhr die Alte mit leiser Stimme fort, „aber wahr ist es und wahr bleibt es, der junge Herr verdient es nicht, dass ihn die Sonne bescheint. Ach Gott! Wenn ich noch an die Zeit denke! Es sind nun gerade acht Jahre her, als die junge, engelschöne Gräfin im Schloss ihren Einzug hielt. Wir hatten einen schönen April, wie dieses Jahr, und die Sonne lachte vom Himmel herab, als freue sie sich ihres Kommens. Und auch er — der Herr, strahlte vor Freude. Früher war er ein schöner Mann und ich habe nie im Leben ein Paar gesehen, das besser füreinander zu passen schien. Aber seitdem, was später geschah, sieht man ihm das böse Gewissen auf zehn Schritte an und er kann keinem Menschen mehr ordentlich ins Gesicht sehen.“

Annas Neugierde war auf das Höchste erregt. Das ganze Schloss gab ihrer lebhaften Phantasie, der bis dahin sehr enge Grenzen gezogen waren, reiche Nahrung. Der Onkel hatte ihr überhaupt mancherlei Dinge von dem Herrn von der Zeche erzählt, freilich nichts Unrechtes, sondern er sprach vielmehr immer mit großer Hochachtung von demselben.

„Was hat er denn getan, Elsbeth? Vielleicht im Zorn einen Menschen erschossen?“

„O, wenn es weiter nichts wäre!“, entgegnete die alte Haushälterin mit einem gewissen Ingrimm.

„Um des Himmels willen, Elsbeth!“, rief Anna entsetzt aus.

„Nun, ich will weiter nichts sagen, aber Tatsachen sind einmal Tatsachen. Also die junge Gräfin ist hier eingezogen und ich kann es beschwören, dass sie ein Engel an Güte und Mildherzigkeit war, während der junge Graf schon seinem seligen Vater viel zu schaffen gemacht hatte. Im der ersten Zeit ist alles gut gegangen, sie lebten miteinander wie ein paar Turteltauben. Man sah sie miteinander spazieren gehen und Blumen pflücken. Leider hat das aber ein schnelles Ende gehabt. Nicht lange Zeit verging, so hieß es, die arme, junge Gräfin gehe mit verweinten Augen umher und ihr Gemahl mache ein sehr finsteres Gesicht. Das ging bald weiter. Die Tändeleien hörten auf, sogar die Spaziergänge, bisweilen wollte man einen heftigen Wortwechsel zwischen beiden gehört haben und die Folge waren Krämpfe der unglücklichen, beklagenswerten Frau. So ist es bis zum Herbst gegangen, dann eines Morgens — o, Kindchen, einen Stein hätte es erbarmen sollen! — Es ist um fünf Uhr in der Früh gewesen und ein recht nasskalter Morgen, ich weiß es noch wie heute und noch heute ergreift mich ein Grausen, wenn ich daran denke. Ich höre unten einen gellenden Schrei und springe aus dem Bette. Aus dem Fenster blickend, sehe ich den Reisewagen vor dem Portale halten und neben demselben die Gräfin im Reisekleide, ihr zur Seite steht der Herr mit verschränkten Armen, sie finster anblickend — der Diener öffnete soeben den Wagenschlag. Da fällt die Gräfin plötzlich vor ihrem Gemahl auf die Knie nieder und streckt verzweiflungsvoll die Arme zu ihm empor. „O, verstoße mich nicht, Ernst, um aller Heiligen willen, lass mich bei dir bleiben und gut zu machen suchen!“, flehte sie.

Was er ihr geantwortet hat — ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er sich in demselben Augenblick zu ihr niederbeugte, sie aufhob und in den Wagen trug. Der Schlag fiel zu und wenige Minuten später rollte das Gefährt den Berg hinab.“

Anna war totenbleich geworden.

„Und hast du nichts wieder von der Gräfin gehört?“, fragte sie zitternd.

„Kein Wort! Einige sagen, sie lebe in Italien. Andere behaupten, sie sei jetzt tot. Gewiss wäre letzteres das Beste für das arme Weib. Dem Grafen aber lässt seitdem das böse Gewissen keine Ruhe. Alle Sommer kommt er nach Freiburg, um ein paar Tage alle Zimmer zu öffnen und in Stand setzen zu lassen; diejenigen der Gräfin bleiben verschlossen und werden mit keinem Fuß betreten.“

Der Eintritt des Onkels machte der eifrigen Unterhaltung ein Ende.

„Prinzess Goldhaar“, sagte er neckend, indem er seine raue Hand über ihr seidenweiches Haar gleiten ließ, „ich möchte dir etwas zeigen, was dir vielleicht Freude machen wird.“

Anna war eiligst aufgesprungen und der Onkel zog ihren Arm durch den seinen. So führte er sie ins Haus und direkt in das geräumige, freundliche Zimmer, welches das junge Mädchen zu ihrem beständigen Aufenthalt hatte. Ein Blick in dasselbe belehrte sie, warum sie den ganzen Tag weder den Fahrweg, noch den inneren Hofraum hatte betreten dürfen. Mitten auf dem getäfelten Fußboden stand ein neuer, prachtvoller Flügel, ein Instrument, wie es Anne wohl schon, wenn auch ohne Neid, von weitem bewundert hatte. Sie warf einen verwunderten, fragenden Blick auf den Onkel.

„Nun“, schmunzelte dieser, „wie gefällt dir das? Ich verstehe mich freilich nicht auf dergleichen Dinge, aber ein guter Freund, auf den ich mich verlassen kann, hat es für mich ausgesucht und nun, hoffe ich, wird es hier innerhalb der alten Mauern auch einmal Musik geben.“

Noch einen Augenblick stand Anna regungslos, die Freude war zu groß. Auch daheim hatte sie ein Instrument gehabt, ein Spinett mit einer klanglosen Stimme, und sie musste es zurücklassen, weil es den Transport nicht würde ausgehalten haben. Das war für sie ein großer Schmerz gewesen, der Gedanke, nicht mehr spielen zu können, hatte schwer auf ihrer Seele gelastet, war doch die Musik für sie allezeit die Quelle einzig reiner Freuden.

Und nun? Nun sollte dieser herrliche Flügel ihr gehören?

„Onkel — ist es wahr? Du — du wolltest — ?“

„Ja, Prinzesschen, ich wollte Musik haben, und da du dein tüchtiges Stück gelernt hast, so dachte ich dir und mir auf meine alten Tage die Freude gönnen zu dürfen.“ Dabei hatte er sie ohne Umstände auf den Klaviersessel niedergedrückt und den Flügel geöffnet. „Mit dem Notenzeug mag es wohl hapern. Davon verstehe ich nichts! Aber dafür ist ja die Stadt nicht weit. Wir werden morgen hinüber fahren und da magst du dir in der Musikalienhandlung aussuchen, was dir gefällt.“

Aber Ännchen brauchte keine Noten. Nachdem sich der erste Sturm ihrer Gefühle gelegt, rauschten mächtige Akkorde durch die Räume, welche wohl noch nie derartige Klänge gehört hatten. Die ganze Seele des jungen Mädchens lag in dem gewaltigen Spiel und der alte Oheim1 stand mit gefalteten Händen daneben, während die alte Elsbeth unter den Eingang getreten war und mit offenem Munde dem seltsamen Treiben hier zusah und zuhörte. Spät erst begab sich Ännchen in ihr Schlafgemach; sie hatte sich noch lange nicht losreißen können von dem lieben, schönen, neuen Instrument, und auch jetzt dachte sie nicht daran, sich zur Ruhe zu legen, obgleich sie sich von den Eindrücken des heutigen Tages beinahe niedergebeugt fühlte.

2. Kapitel: Das schöne Bild

Juni war es geworden. Es hatte den Anschein, als wolle der Himmel Anna die neue Heimat im vollen Glanze zeigen. Tage, an denen sie das Schloss nicht hatte verlassen können, waren nicht gewesen, nur Gewitter kühlten ab und zu die Atmosphäre ab und ließen die Welt in verjüngter Pracht erscheinen.

Ännchens Schmerz um den Tod der geliebten Eltern hatte einer sanften Trauer Platz gemacht. Sie waren beide leidend gewesen und besonders die Mutter hatte während der letzten Jahre ihres Lebens sehr, sehr gelitten. Sie hatte sich viel um ihr Kind gehärmt und der Gedanke, dass diese Sorge eine ganz nutzlose gewesen, hatte für Anna etwas ganz besonders Beruhigendes.

Der Wechsel, welcher in ihrer Lebensweise stattgefunden hatte, übte einen wohltätigen Einfluss auf das junge Mädchen aus und sie lebte wie neu auf. Gleichwie die blassen Wangen sich rosiger färbten und die prächtigen, blauen Augen ausdrucksvoller in die Welt schauten, so kam auch allmählich der ursprüngliche Frohsinn, den Sorge und Not verscheucht, wieder zum Durchbruch. Unten im Tal hörte man oft eine frische Stimme liebliche Lieder singen; es war die Stimme Ännchens, die das Herz des Onkels damit erfreute. Ihre anfängliche Vermutung, dass sie nicht sonderliche Gelegenheit haben würde, sich nützlich zu machen, erwies sich als richtig.

Die alte Elsbeth schien zu befürchten, durch irgendwelche Arbeit die Schönheit ihres Lieblings zu zerstören. Sie fand immer einen Ausweg und selbst das Staubwischen schien ihr für das Prinzesschen keine würdige Beschäftigung. Sie hatte sich nur darin ergeben müssen, dass Anna die Honneurs1 bei allen Mahlzeiten machte und besonders den Onkel versorgte. Der alte Oheim aber fand es außerordentlich behaglich, dass er, wenn er heimkam von einer anstrengenden Tour, Hausschuhe, Stiefelknecht und Hausrock stets in größter Ordnung bereitfand. Daneben die gestopfte Pfeife und was er sonst gebrauchte. Und wenn sich dann noch seine kleine Nichte an den Flügel setzte, während er am Fenster saß und die blauen Dampfwolken aus seiner Pfeife in die Abendluft hinausblies, dann sagte er sich, dass er viel entbehrt habe sein Leben hindurch und dass er jetzt mit keinem Könige tauschen möchte.

3. Kapitel: Die Begegnung im Walde

In nicht ganz vier Wochen war der Ausbau völlig beendet und auch die neue Einrichtung hergestellt. Die letzte Spur des ungemütlichen Bauens war verwischt. Die Fenster waren nur noch am Tage geöffnet und hinter denselben hingen wieder schwere seidene Vorhänge nieder, aber von anderer Farbe und Anna sah auch neue Möbel, die sie noch schöner dünkten, als alles, was sie zuvor gesehen.

Sie selbst hatte noch keinen Blick in die neu restaurierten Gemächer geworfen, obwohl sie immer offen standen und außer ihr niemand im Schloss war, der nicht von dem Glanz und der Pracht erzählen konnte.

Das alte Mobiliar hatte in der Tat auf dem Boden in der Rumpelkammer Aufstellung gefunden, einschließlich des Bildes der schönen Gräfin. Anna hatte es nicht unterlassen können, dort oben einmal Umschau zu halten, umso weniger, da sie von dem Seitengebäude aus, welches der Onkel bewohnte, hinaufgelangen konnte. Was sie hinaufgetrieben, darüber konnte sie sich selbst keine Rechenschaft geben, und doch — sie hatte sehen wollen, ob er auch das Bild der schönen Gräfin aus seinem Gesichtskreise verbannt habe. Ja, da stand es, der weißgetünchten Mauer zugekehrt, dem Verfall preisgegeben. Die Gaze war herabgeglitten; man hatte wohl jede Schonung überflüssig gehalten, da es doch einmal für die Rumpelkammer bestimmt war.

Mit Anna war allgemach eine große Veränderung vorgegangen, die weder ihrem Onkel, noch der alten Elsbeth entging. In der ersten Zeit, als sie nach Freiburg kam, zeigte sie sich, trotz des kaum überstandenen Schmerzens um den Verlust der Eltern, heiterer als jetzt. An ihrem Wesen lag etwas Gedrücktes, über welches sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Die Freiheit war dahin. Seitdem Herr von der Zeche im Schloss weilte, und es hatte den Anschein, als ob er nicht im mindesten daran denke, wieder fortzugehen, war sie nicht mehr frei. Ohne dass sie es sich selbst eingestehen wollte, fürchtete sie ihn und wich ihm überall aus. Sie streifte nicht mehr im Park und durch den schattigen Eichwald, sie ließ auch nicht mehr ihre frohe Stimme erschallen und nun vollends öffnete sie den Flügel nicht mehr, seitdem sie wusste, dass ihr Spiel ihm wehe getan. Zu einer Überzeugung war sie indessen jetzt, trotz aller Gegenreden Elsbeths , gekommen. Sie konnte den Grafen für hartherzig, erbarmungslos halten, aber es war ihr unmöglich, nur zu denken, dass er wissentlich ein Unrecht tun könne. Verrat und Betrug mochten bei der Trennung von seiner Gemahlin eine Rolle gespielt haben, aber ohne Grund hatte er das schöne, junge Weib nicht von sich gestoßen.

Nun brachte Onkel Wilhelm eines Tages die Nachricht, dass endlich die Baronin mit ihrer Nichte ihren Einzug halten werde und zwar in den allernächsten Tagen. Obgleich war das Eintreffen der Damen schon seit Wochen vorhergesehen, so rief doch ihre so nahe bevorstehende Ankunft große Aufregung hervor. Der Onkel brummte und auch Elsbeth ließ ihrer üblen Laune die Zügel schießen. Anna fühlte sich auch ein wenig beklommener, als seit Jahren. In der letzten Zeit war sie sehr häuslich gewesen und die alte Haushälterin hatte es sich gefallen lassen müssen, dass Prinzesschen Goldhaar überall Hand mit anlegte. Und wie tat sie das. Die Arbeit war für Anna eine Leichtigkeit, wie alles, was man mit frohem Mut beginnt. Der Onkel hatte seine herzinnige Freude an dem Mädchen, das immer ein Lächeln um den Mund, ein Scherzwort auf den Lippen hatte, sobald sie ihn sah. Sie wusste auch, dass er ein frohes Gesicht liebte.

Heute war indessen Anna bald nach Tisch fortgegangen, einen weiten Spaziergang zu machen. Sie hatte sich ein Buch mitgenommen, wie sie es allzeit gern tat. In der letzten Zeit nahm sie von allen derartigen Ausflügen Abstand, aber sie hatte Herrn von der Zeche mit dem Onkel fortgehen sehen und zwar in gerade entgegengesetzter Richtung, der Onkel hatte auch gesagt, dass man ihn vor neun Uhr nicht zurückerwarten solle, da er einem Holzverkauf beiwohnen müsse.

Anna wollte den Nachmittag noch recht genießen. Wenn erst die Fremden im Schloss waren, würde es mit den Streifereien ins Freie vollends ein Ende haben, denn sie hatte allen Grund, einer Begegnung mit der Baronin, die allseitig als sehr hochmütig geschildert wurde, auszuweichen. Besser war es gewiss, sie kam den Damen gar nicht in den Weg.

Ännchen ging zuerst durch den Hochwald. Die Sonne warf ihre Strahlen in den dunklen Wald und sie tanzten wie neckische Kobolde auf Blättern und Zweigen umher. Sie hatte den mit Kies bestreuten Fußweg verlassen und enge Seitenpfade eingeschlagen, wohin sich nur selten ein menschlicher Fuß verirrte.

Das Gras wucherte hier üppig und abgehauene Baumstämme, mit Gestrüpp überwachsen, versperrten teilweise den Weg. In Gedanken versunken und des Weges unkundig, hatte Anna endlich die Richtung verloren und wenn nicht heller Tag gewesen wäre, wäre sie vielleicht beunruhigt gewesen sein. Nun lächelte sie. Die Sonne stand noch hoch am Himmel und wenn sie sich ihrer Leitung anvertraute, musste sie binnen kurzer Zeit im westlichen Teile des Parks sein.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Nach Verlauf einer Viertelstunde hatte sie den Saumpfad, welcher zum Pavillon führte, erreicht und sie kam gerade an der Stelle heraus, wo sie sich vorzugsweise gern auszuruhen pflegte. Eine schattige Zwerglinde breitete hier ihr schützendes, dichtes Blätterdach aus und die gelben Blüten strömten einen berauschenden Duft aus. Sie war doch ein rechtes Glückskind! Der Weg durch den Wald hatte sie in der Tat recht, recht müde gemacht und das Verlangen nach Ruhe stellte sich bei ihr ein. Nun konnte sie sich auf den Rasen ausstrecken und träumen bis in den späten Sommerabend hinein.

Es war ein harter Kampf gewesen, im Walde zwischen den Brombeerstauden und sonstigem Gestrüpp hindurch zu gelangen. Ihr leichtes Kleid zeigte verschiedene Risse und eine kleine Hand war nicht allein ganz dick angeschwollen, sondern an einer Stelle rieselte sogar das Blut herab. Sie lief nach der nahen Quelle, welche nicht weit von der Linde in einem breiten Strahl von oben hernieder rieselte, wusch dort Gesicht und Hände mit dem kalten Wasser und legte um die eine Hand, welche in der Tat pflegebedürftig erschien, eine Binde von ihrem Taschentuch. So kehrte sie zurück, um sich nun in dem hohen Grase, den Rücken durch den Stamm der Linde gedeckt, niederzulassen. Sie öffnete auch ihr Buch, aber zum Lesen kam sie nicht, denn die Gedanken, welche sie seither beschäftigten, wollten sie auch jetzt nicht freigeben und sie hing ihnen gerne nach. Herr von der Zeche spielte dabei eine große Rolle und seine Persönlichkeit, im Verein mit seinem tragischen Geschick — Anna glaubte nur noch an ein solches — mochte wohl die lebhafte Phantasie eines jungen Mädchens beschäftigen. Wenn sie des Zusammentreffens in den Gemächern der Gräfin gedachte, so fühlte sie noch jetzt eine gewisse Herzensangst, aber seine Freundlichkeit, mit welcher er dann ihre Verzeihung erbeten, brachten den Sturm in ihr auch wieder zum Schweigen. Gemieden hatte sie ihn dennoch. Seine kurze, herrische Art, welche er allen Menschen gegenüber annahm, bis auf den Onkel, der den gnädigen Herrn zu nehmen wusste, scheuchte sie zurück. Aber er konnte anders sein, sie wusste es.

Die Bäume warfen verlängerte Schatten und die Sonne musste bald hinter den jenseitigen Höhen versinken. Anna musste heimkehren. Sie schob ihr Buch in die Tasche ihres Gewandes und nahm den Hut aus dem Grase. Gedankenvoll stützte die den Kopf in die rechte Hand und ließ ihre Augen noch einmal über die weite Landschaft gleiten, die im vollen Schmuck des Hochsommers prangte.

Da hörte sie eine Stimme an ihr Ohr schlagen, eine andere antwortete und es knackte in den Zweigen. Anna hatte die Stimme des Onkels und des Grafen erkannt, sie wagte es nicht, eine Bewegung zu machen. Wenn sie den Saumpfad entlang schritten, würde man sie nicht einmal bemerken. Unwillkürlich zog sie ihr Kleid an sich, aber ihr war es, als müsse das ungestüme Pochen ihres Herzens sie verraten.

„Warten wir mit dem Manne“, vernahm das junge Mädchen die tiefe Stimme des Grafen. „Sie mögen Recht haben, dass er keine Nachsicht verdient, aber —“

Mit einem Male stockte die Stimme des Grafen — er musste in Ännchens unmittelbarer Nähe angelangt sein — doch fuhr er gleich darauf fort:

„Sie müssen mir Recht geben, lieber Freund, der Mann hat Unglück gehabt und ihm muss Zeit gelassen werden, das Versäumte nachzuholen. Sein Weib ist krank, die Kinder sind verkommen, halb nackt, hungernd — es ist ein entsetzliches Elend!“

Die letzten Worte hatte Ännchen nicht mehr verstanden. Dem Himmel sei Dank, die Männer waren vorbei. Sie wandte das Köpfchen zur Seite, um die Sprechenden eben jenseits der Biegung des Weges verschwinden zu sehen. Eilig erhob sie sich, um ihnen von fern zu folgen.

Sie schritt weiter und indem sie es tat, wiederholte sie sich die Worte, die soeben zwischen dem Grafen und ihrem Onkel gewechselt worden waren. Was hatten sie bedeutet? Herr von der Zeche ermahnte zur Nachsicht, es handelte sich gewiss um den liederlichen Schmied im Dorfe, der Weib und Kind darben ließ, während er die Nächte hindurch in der Schenke herumlungerte. Der Onkel hatte gestern zu der alten Elsbeth gesagt, dass es eine Sünde und Schande sei, den Mann länger wirtschaften zu lassen, und dass er je eher, desto besser von der kleinen Besitzung fortgetrieben werden müsse, die er völlig verwirtschafte, oder vielmehr brach liegen lasse und lieber seinen Lebensunterhalt von den fleißigen Nachbarn stehle. Und nun der Graf? Seltsam! Hier so weich und nachsichtig, und dort — wo es sich um eine schwache, hilflose Frau handelt, so hart und erbarmungslos! Welche Widersprüche waren in dieses Mannes Brust!?

„Guten Abend, Fräulein Leinhard!“, tönte plötzlich eine etwas spöttische Stimme an ihr Ohr.

Sie fuhr heftig zusammen, so sehr war sie erschrocken, als denjenigen, mit welchem sich noch soeben ihre Gedanken so lebhaft beschäftigt hatten, plötzlich neben sich sah. Er bemerkte ihre Aufregung.

„Ist Ihnen meine Gegenwart lästig, so kann ich gehen“, sprach er kurz.

Sie fasste sich gewaltsam.

„Verzeihen Sie! Ich war in Gedanken —“

„An was dachten Sie?“

Sie wurde dunkelrot.

„Ich möchte diese Frage nicht beantworten.“

„Auch nicht, wenn ich Sie darum bitte?“

Es lag ein seltsam weicher, bittender Ausdruck in seinen Augen, der Ännchen verwirrte.

„Ich dachte an Sie!“, gab sie nun fest zur Antwort.

„An mich?“

„Ja. Sie sprachen mit dem Onkel über jemanden, den Sie zu schonen wünschten. Ich dachte, Sie könnten recht nachsichtig und auch recht — hartherzig sein!“

Sie hatte doch gestockt, ehe sie die beiden letzten Worte aussprach. Über sein Antlitz glitt ein Schatten, seine Lippen zuckten, aber er bezwang sich.

„Sie saßen unter dem Lindenbaum, als ich mit Ihrem Onkel vorüberging. Sie wollten nicht gesehen werden, aber ich war nicht gesonnen, Ihren Willen zu respektieren, und habe mir daher die Freiheit genommen, Sie hier zu erwarten. Ich dachte, dass Sie an dieser Stelle vorbeikommen würden.“

Es lag noch immer ein Ausdruck von Hohn in seiner Stimme, und dieser, mehr als die Worte selbst, verletzten sie. Was gab ihm das Recht, sich ihr in den Weg zu drängen? In ihrem hübschen, rosigen Antlitze machte sich ein fremder, kühler Zug bemerkbar.

„Haben Sie mir etwas zu sagen, Herr Graf?“, fragte sie ruhig.

„Legen Sie meine Worte nicht auf die Goldwaage“, entgegnete er ungeduldig. „Ja, ich habe mit Ihnen zu reden, ich wollte Ihnen sagen, dass ich mich sehr in Ihnen getäuscht habe, dass Sie sehr unversöhnlich sind.“

Sie sah ihn betroffen an, aber ihre Gestalt richtete sich stolz auf, schien um einige Zoll gewachsen zu sein.

„Wie soll ich das verstehen?“

„Warum musizieren Sie nicht mehr?“

Ännchen zitterte am ganzen Körper, ihre Augen glitten wie hilfesuchend umher, ihr trotziger Sinn bäumte sich gegen seine Anmaßung auf.

„Weil ich nicht mehr musizieren will“, gab sie mit der Ungezogenheit eines verwöhnten Kindes zur Antwort.

Was kümmerte ihn ihr Spiel? Erst hatte er es ihr verboten und nun—?

„Nein, weil ich Sie verletzt habe, und Sie sich an mir rächen wollen. Warum sonst weichen Sie mir überall aus? Nun, auch diese Täuschung noch muss ich ertragen!“

Es lag eine endlose Bitterkeit in seinen Worten und mit einem Male war Ännchens Zorn verflogen. Er war zurückgetreten, um sie an sich vorbeigehen zu lassen.

„Sie irren sich, Herr Graf. Ich glaubte nicht, von Ihrem Großmut Gebrauch machen zu sollen“, sagte sie mit ihrer weichen, melodischen Stimme. „Mein Spiel muss Ihnen an jenem Abend sehr, sehr wehe getan haben, und ich wünschte, Ihnen nicht noch einmal Schmerz zu verursachen. Ich liebe die Musik leidenschaftlich, aber wie sollte sie mir Freude zu bereiten vermögen, wenn ich wüsste, dass einem Menschen daraus eine trübe Stunde erwachsen könnte?“

Blitzartig leuchtete es minutenlang bei ihren Worten in seinen Augen und es war ihm, als müsse er die Arme ausbreiten und die zarte Mädchengestalt fest und innig an sein Herz schließen. Aber schnell, wie sie gekommen, war auch diese Regung wieder verflogen. Im nächsten Moment nahm sein Antlitz wieder jene unfassbare Traurigkeit an, die seinen Zügen eigen war und deren wehmutsvoller Ausdruck, ohne dass sie selbst es wusste, Ännchen so mächtig zu diesem Manne hinzog.

Der Graf blickte still und ernst Ännchen in die Augen.

„Und wenn ich nun sage, dass ich Ihr Spiel gern höre, dass es mir mehr Freude als Schmerz bereitet — werden Sie auch dann nicht wieder spielen?“, fragte er endlich.

„O doch, gewiss! Nur fürchte ich, dass ich mich der kranken Dame wegen, die morgen nach Freiburg kommt, werde genieren müssen.“

Herr von der Zeche lächelte.

„O, mein Fräulein, nach dieser Seite hin werden Sie schwerlich sich zu ängstigen nötig haben. Ohne ihre Mutter würde meine schöne Cousine vollkommen gesund sein. Sie werden sich wundern, wenn sie die „Kranke“ auf ihrem Pferde den Berg hinabjagen sehen. Da gibt es keine Schmerzen und keine Beschwerden.“

Sie schritten beide den Saumpfad entlang. Ännchens Befangenheit hatte sich vollständig verloren und sie plauderte munter mit ihrem Begleiter, dem ihre Gesellschaft ersichtlich wohl tat. Bisweilen war der Pfad ein wenig eng und dann nahm der Graf sorgsam die kleine Hand, um Anne von dem stellenweise jäh abfallenden Abgrund zurückzuziehen. All ihre Furcht war plötzlich verschwunden und nicht mehr durch sie gefesselt, entfaltete Ännchen eine entzückende Anmut und Liebenswürdigkeit.

„He, Prinzess Goldhaar!“, rief am Ende des Pfades plötzlich die Stimme des Onkels. „Ich wollte gerade auf die Suche nach dir, Elsbeth sagte mir, dass du schon um die Mittagszeit fortgegangen seiest.“

„Ich bin Ihrer Nichte im Park begegnet und habe mir die Freiheit genommen, sie zu Ihnen zurückzuführen“, sagte Graf von der Zeche. „Übrigens müsste der Park, vom Walde her, durch eine tüchtige Dornenhecke abgesperrt werden. Alles Gesindel hat von da oben her freien Zutritt und wenn junge Damen weite Spaziergänge machen, so könnte es ihnen leicht einmal passieren, auf eine wirklich unangenehme Weise überrascht zu werden.“

„Sie meinen doch nicht dieses Prinzesschens wegen, Herr Graf?“, rief der Onkel lachend aus. „Mag sie hübsch in der Nähe des Schlosses bleiben, da hat es keine Gefahr.“

Dabei nahm er ohne weiteres Ännchen bei der Hand, schob ihren Arm durch den seinen und verabschiedete sich von dem Grafen.