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Die Gräfin Smoltopska, die eine geborene Siebenklietsch aus der Berliner Ackerstraße ist, muss auf der Suche nach ihrem Gatten, dem Grafen Smoltopski, in allen Erdteilen die gefährlichsten Abenteuer bestehen, in denen die tückische Frau Roldemolde die Tugend der edlen Emma bedroht, während der edle Herr Nordhäuser diese Bedrohungen zu neutralisieren bestrebt ist. Stinde häuft Unwahrscheinlichkeiten und Monstrositäten, grässliche Mordgeschichten und gröbliche Verführungssituationen an, um die engelsgleich unversehrt aus allen Fährnissen hervorgehende Emma, deren geheimnisvolle Herkunftshintergründe lange unaufgedeckt bleiben, als eine allen nur denkbaren Gefährdungen ausgesetzte Lichtgestalt erscheinen zu lassen. Alle Mätzchen und stilistischen Übertreibungen der Hintertreppenromane und Kolportageliteratur kommen hier in abermaliger Übertreibung verschwenderisch zur Anwendung. Das Buch endet für den Leser mit vielen offenen Fragen und ungelösten Rätseln. Es fehlt auch der gute und versöhnliche Ausgang, in dem die Bösen bestraft und die Guten ihren verdienten Lohn erhalten, vielmehr ist abzusehen, dass Emma und den anderen Figuren des Romans weitere bizarre Abenteuer bevorstehen.
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Seitenzahl: 291
Veröffentlichungsjahr: 2022
Emma das geheimnisvolle Hausmädchen
Julius Stinde
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(c) mehrbuch
Der Kolportage- oder Hintertreppen-Roman wendet sich an die Unverständigen, seine Parodie, wie sie in »Emma« vorliegt, wendet sich an die Verständigen.
Diese wissen, daß das Wesen der Parodie darin besteht, einer erhabenen Dichtung, bei möglichster Wahrung der Form und des Tones, einen niedrigen Gegenstand unterzuschieben; sie wissen ferner, daß Kolportage-Romane unfreiwillige Parodien sind, die jedoch von ihren Erzeugern sowohl, wie von ihren Lesern sehr ernst genommen werden. Mit Spannung wird jede neue Lieferung erwartet, mit Andacht gelesen und mit hingebender Einfalt findet das Unglaubwürdigste unerschütterlichen Glauben.
Sehr Verständige werden beweisen, daß die Parodie einer Parodie ein Widerspruch in sich selber und daher unmöglich sei; Verständige aber sehen ein, daß, wenn umgekehrt ein erhabener Gegenstand in niederer Form zum Ausdruck gelangt, ebenfalls die Komik des Mißverhältnisses in Wirksamkeit tritt. Aus der Parodie entsteht dann durch sachgemäße Uebertreibung des Charakteristischen die litterarische Karikatur.
Die Karikatur läßt ihren Witz an lächerlichen Erscheinungen aus, die Satire macht Thorheiten, Verkehrtheiten und Irrungen lächerlich, die Ironie, die Mutter des lobenden Tadels und des tadelnden Lobes, sagt spottend das Gegentheil von dem, was sie eigentlich meint. Alle drei zusammen, die so schwer Trennbaren, bilden die Satura lanx der Römer, die bunte Schüssel, von deren Mannigfaltigkeit der Begriff der Satire abgeleitet wurde.
Verstände können nun »Emma« als Parodie, Karikatur, Satire u. s. w. auffassen, je nach dem Kapitel, das sie gerade lesen, oder wie sie mögen; am besten thun sie, sich an lustigen Stellen zu ergötzen, Alles zu glauben, was der Abonnent eines echten Kolportage-Romans glauben würde und wo Sinn verborgen scheint, ihn herauszuholen. Das macht mehr Vergnügen, als sich über die Einreihung in die litterarische Rangliste den Kopf zu zermartern.
Auf die Frage, ob Emma lebt oder gelebt hat, wird, selbst bei verstärktem Zeugnißzwang, jede Auskunft verweigert.
Mitzutheilen ist jedoch, daß die ersten Lieferungen von »Emma« anläßlich der glänzenden, als Demonstration gegen die Einführung des sogenannten Gesindeparagraphen in die Theatergesetze von den Bühnenangehörigen Berlins arrangirten Gesindebälle erschienen. Man erkennt, wie der damals vorgeschobene Verfasser, Herr Jeremias Steinkopf, besser in der Theaterwelt und Leihbibliotheken Bescheid weiß, als in der Welt, und mit seinem Halbwissen und der Biederkeit eines Engbegrenzten selber für wahr und wirklich hält, was seine unkritische Erinnerung und mißgeleitete Phantasie ihm diktirten.
Sehr Verständige merken das Maskenspiel sofort und streichen die Seiten an, wo der Autor aus der Rolle fällt. Ich bitte sie jedoch eindringlich, ihm solches zu entschuldigen, denn es zeichnet nicht mehr der J. Steinkopf, sondern
ihr ganz ergebenster
Julius Stinde.
Die Henker des Urwaldes. Probeabdruck des Prämienbildes zu »Emma, das geheimnißvolle Hausmädchen«.
Erstes Kapitel.
Die vier andalusischen Rapphengste in blitzendem Silbergeschirr und Sielen aus echt japanischem Lackleder flogen wie weiße Möven durch die Straßen Berlins, jenes großen modernen Babels, wo die Tugend neben dem Laster wohnt und die Konzerthalle neben dem Kriminalgebäude klingt, wo die Lokomotive der Stadtbahn in die Sonntagsruhe pfeift und das Auge des Gesetzes wacht.
Diese Rosse von edelstem Wuchse und herrlichster kastanienbrauner Farbe zogen eine Kutsche, deren Inneres mit echtem Goldplüsch ausgepolstert war, auf dem ein Frauengeschöpf von überirdischer Schönheit sich wiegte. Der feingeschwungene Mund, diese lächelnden Brauen, die feine Rundung der Wangen, das zarte Rosa des Halses vereinigten sich mit dem Wohllaut des sprechenden Auges zu einer bezaubernden Mosaik menschlicher Reize. Und doch . . .
Und doch war die Besitzerin solcher Schätze, die einen Sultan mit sechs bis sieben Roßschweifen zu ihrem Sklaven gemacht hätte, wäre einer dagewesen, nicht glücklich. In ihrem Auge perlte eine Thräne, tausendmal schöner als die nußgroßen Perlen, die ihren mondscheinweißen Nacken umschlangen, strahlender als die echten Riesenbrillanten, die in Gestalt eines Diadems das üppige aschblonde Haar krönten, das, nach der neuesten Mode gemacht, noch geschmackvoller war als das Reichstagsgebäude.
Warum diese Thräne? Warum?
Das Gefährt hielt. Dampfend gehorchten die feurigen Trakehner dem festen Zügelgriffe des Kutschers. Sie spürten seine Gewalt und standen. Aber sie sahen nicht den tückischen Blick ihres Bändigers, den er auf die aussteigende Schönheit warf. Sie vernahmen nicht, wie er leise höhnisch murmelte: »Nun ist sie auf ewig verloren.«
Nein, sie sahen und hörten diese Schändlichkeit nicht. Sonst wären die edlen Geschöpfe, übermannt von gerechtem Zorne, durchgegangen, über die Straße weg in den Delikatessenladen hinein, Alles zermalmend: das Schaufenster, die Artischocken, die Mandarinen, die Kieler Sprotten, die Konserven, sich, den Wagen, den Kommis, den Besitzer, zumal jedoch den heimtückischen Kutscher!
So aber standen sie lammfromm, das Bild eines gut bevormundeten Staates.
Die schöne Dame schritt in das Haus hinein. Ihre seidene Schleppe rauschte – das Meter unbezahlt 32 Mark 50 Pfennige – ihr Busen hob sich wie in Angst.
Sie machte Halt, als wollte sie umkehren.
War kein guter Genius vorhanden, der ihr zurief: »Kehre um, Du bist auf falscher Bahn«?
Nein. Kein Genius thut heute etwas ohne Honorar.
Sie hatte kein Geld. Woher auch sollte sie welches haben?
Freilich war sie die Zweite in der ersten Reihe des Operettenchors mit einer glänzenden Gage von vierzig Mark monatlich, aber nur, indem sie außerordentlich rechnete, konnte sie hiermit auskommen. Für gute Geniusse hatte sie nichts übrig, und wenn sie noch so sehr darbte.
Aber sie kam aus.
Auf dem Sterbebette hatte ihre Mutter gesagt: »Emma, die Tugend ist der größte Schatz. Wahre ihn wohl.« – Dies versprach sie. Und sie hielt Wort. Denn sie hatte einen felsenfesten Charakter.
Der Leser wird wohl schon ahnen, daß die schöne reiche Dame keine andere ist als Emma.
Woher aber das seidene Kleid, die Edelsteine, die Equipage, die vier Grauschimmel?
Die Tugend hatte sie so weit gebracht.Nach dem Berichte eines Augenzeugen.
Der Graf Szmoltopski sah sie in ihrer entzückenden Reinheit, erste Reihe, die Zweite im Operettenchor. Der Graf war ein Operettenkenner, er war zwanzig Mal im »Obersteiger« gewesen und immer noch ziemlich geistig so, wie er stets zu sein pflegte.
Er bot ihr sämmtliche Einkünfte seiner unter dem schönsten Sequester stehenden Güter, allein sie lehnte ab.
»Ich will nicht Deinen Reichthum,« sprach sie, »ich will Dein Herz.« Er sank zu ihren Füßen. Thränend rief er aus: »Nimm mich hin.«
Sie nahm ihn.
Er gab ihr seinen Namen in aller Stille und Niemand ahnte, als sie am nächsten Abend wieder auftrat, daß die einfache Emma Siebenklietsch aus der Ackerstraße eine wirkliche, echt angetraute Gräfin Szmoltopska sei.
Sie aber war glücklich und erduldete alle Verleumdung.
Nie nahm sie ein Geschenk vom Grafen, nicht das geringste. Sie blieb sich treu, indem sie nur seine Liebe begehrte und erwiderte.
Alles, was sie sonst gebrauchte, die Brillanten, die Equipage, die vier Isabellen, das bestritt sie von ihrer Gage. Denn sie war ökonomisch; sie konnte rechnen. Ja, sie nahm den Grafen Szmoltopski hauptsächlich, weil auch ihr Name mit einem S. anfing und deshalb die Kosten erspart wurden, die das Umzeichnen der Wäsche und ihrer vier Dutzend seidener Strümpfe verursacht hätte.
Dies hatte sie von ihrer braven Mutter erlernt, deren Segen sich wunderbar an ihr bewährte. Der Eltern Segen baut den Kindern nicht immer Häuser, er verhilft ihnen aber oft zu schönen Miethswohnungen. Der Graf und die Gräfin Szmoltopski wohnten glanzvoll in der Alten Jakobstraße, erstes Quergebäude, erste Etage.
Natürlich bezahlte Emma die Miethe und zwar pünktlich.Aus den Polizeiakten.
Sie nahm prinzipienhaft vom Grafen nichts als seine Liebe.
Und doch sollte dieser Friede heimtückisch gestört werden.
Gerade in der Zeit, als die Leute vom Theater unter die Gesindeordnung gestellt wurden, erschien über Emma's künstlerische Leistung eine vernichtende Kritik, worin stand: bei dem Auftreten des Chors der Blumenmädchen wäre ihr Röckchen mindestens zwei Centimeter länger gewesen als die ihrer Kolleginnen, wodurch das ästhetische Gefühl der Parkettgreise auf das Empfindlichste verletzt worden sei.
Am nächsten Morgen sagte der Herr Direktor: »Siebenklietschen, Sie sind hiermit gekündigt. Nehmen Sie ihr Dienstbuch und meiden Sie mein Kunstinstitut.«
Die Gräfin lächelte. Sie glaubte an einen Scherz. Als sie aber das Dienstbuch aufschlug und las: »Entlassen wegen Ueberschreitung des theatralischen Anstandes«, stürzte sie besinnungslos dermaßen nieder, daß die Brillanten aus ihrem echten Schildpattkamm flogen.
Als sie wieder zu sich kam, murmelte sie nur das eine Wort:
»Brotlos!«
Am nächsten Morgen ließ sie die Schecken anspannen und fuhr nach dem Miethskontor. Sie wollte, sie mußte einen Dienst haben. Durfte sie Szmoltopski ruiniren?
Nein. – Wahre Liebe ruinirt nicht.
Würde es ihr gelingen, einen Dienst zu erlangen?
Sie zitterte, als sie die Treppe hinaufstieg.
Sie betete zu dem Andenken ihres verstorbenen Mütterleins.
Dann trat sie ein.
Die Inhaberin des Miethskontors empfing sie mit ausgesuchter Grobheit.
Die Gräfin wollte empört erwidern, aber sie besann sich, daß sie unter dem Gesindegesetz stand und bezwang ihren nur zu gerechtfertigten Unmuth.
Sie war ja so edel.
Eine Bürgerfrau trat auf sie zu, um sie zu miethen. Ihr Herz klopfte erfreut. »Mein Gebet ist erhört,« dachte sie.
»Wir wohnen drei Treppen,« sagte die Frau, »wird Ihre Schleppe Sie nicht scheniren?«
»O nein,« erwiderte die Gräfin,»ich lasse einen Lift einbauen.«
»Und wie ist es mit dem Stiefelputzen?«
»Ich trage nur Patentleder.«
»Und das Kleiderbürsten? Besorgen Sie das ordentlich? Dem Herrn seine Hosen sind bei schlechtem Wetter ziemlich klaterig.«
Die Gräfin entfaltete ihren Fächer, so daß die Ponceau-Atlasseite ihr zugewandt war und einen rosigen Schein auf ihr alabasterweißes Antlitz warf. Aber diesmal verfehlte der Erröthungsfächer seine Wirkung.
Die Frau war farbenblind!
»Schön, daß Sie sich nicht zieren,« sagte sie, »hier ist der Miethsthaler.«
Die Gräfin streckte zitternd die Hand aus, das Geld zu empfangen, das sie in so unwürdigen Dienst brachte, und flüsterte: »Für Dich, Szmoltopski, für Dich!«
Sie, die sich niemals auf der Bühne küssen ließ als höchstens von einem Schauspieler in Väterrollen, that Alles für »ihn«.
In demselben Augenblicke aber geschah etwas Schreckliches.
Der Fußboden öffnete sich.
Die Gräfin versank mit einem Angstschrei in einen Abgrund.
Dann schloß die Klappe sich wieder. Kein menschliches Auge vermochte die Fugen zu entdecken. – –
Der Kutscher stieß ein teuflisches Gelächter aus, als er den Schrei vernahm. Triumphirend schlug er auf die vier Füchse ein und jagte nach Hause.
»Wo ist die Gräfin?« fragte der Graf Szmoltopski, als der Wagen schaumbedeckt in der Alten Jakobstraße hielt.
Statt aller Antwort zog der Kutscher seinen linken Stiefel aus und schlug dem Grafen den ganzen Unterkiefer weg.
»Haltet den Dieb!« schrie der Graf mit letzter Anstrengung.
Der Kutscher aber war verschwunden.
Zwei Schutzleute kamen und brachten den Grafen wegen Verleumdung auf die Wache. Denn gestohlen hatte der Kutscher nicht.
»Wie können Sie hier ohne Unterkiefer antreten?« fragte der Wachtmeister strenge.
Szmoltopski schüttelte das Haupt. Er konnte ja nicht sprechen.
Und nie wieder küssen. – Nie, wenn es nicht gelang, den Unterkiefer wieder anzuheilen.
Wo aber war der Kiefer?
Zweites Kapitel.
Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht.
Der Doktor Viktor Habicht saß auf seinem Zimmer an dem Schreibtische, bis an die Knie in Blut watend.
Dreie hatte er bereits abgeschlachtet und, da dieses ihm erhöhtes Vergnügen bereitete, mit einem stumpfen Messer.
Er suchte bei jedem seiner Opfer nach einem Rückgrat und wenn er es nicht fand, zerfleischte er es vollständig.
Die Fetzen flogen nur so.
An der Decke saß Blut, an den Wänden zuckendes Mark, auf dem Lehnstuhl ein krampfhaft athmendes Herz. In der Ecke neben dem Ofen thürmten sich die Leichen. Ihm war es Wollust, seine Blicke daran zu weiden. An dem Kronleuchter des Zimmers hing als Fliegenquast eine Kindermumie, von ihm eigenhändig erdrosselt.
Alle fürchteten ihn.
Man nannte ihn nur Viktor den Würger!
Ohne ihn wäre die Gräfin SzmoltopskanéeSiebenklietsch nicht von dem grausigen Schicksal ereilt worden, dessen Zeuge der Leser im ersten Kapitel gewesen ist. Er war es, der die vernichtenden Zeilen geschrieben hatte – mit bluteingetauchter Feder – die das unglückliche, schöne, edle Geschöpf zwangen, sich einen anderen Dienst zu suchen und das dabei in die heimtückisch gestellte Falle gerieth.
Er war wieder beim Schlachten.
Wohl hatte ihm die berühmte Kartenlegerin Friederike Boomhammel in der Koblankstraße prophezeit, daß einst ein Gespenst seine Schand- und Greuelthaten rächen werde, allein er lachte spöttisch.
Er glaubte nicht an Gespenster.
Die Uhr schlug dumpf und klagend Zwölf.
»Ha! Ha!« lachte er gellend. »Jetzt ist es Mitternacht. Wo seid Ihr, Gespenster? Ihr seid Märchen beschäftigungsloser Ammen. Kommt heraus, wenn Ihr Muth habt. Ihr Feiglinge fürchtet mein kritisches Messer. Ha – ha – ha!«
Leise und schauerlich antwortete das Echo: Ha – ha!
Jedes zartempfindende Gemüth hätte dieser Warnung Gehör gegeben, jedoch Habicht, der grausame, nicht. Er ergriff die Papierscheere, schlitzte sein Opfer auf und wählte mit tastenden Händen nach dem Rückgrat.
»Wieder keins!« schrie er und fletschte die Zähne. »Dir will ich es besorgen!!«
»Hu – hu!« hallte es unheimlich.
Doktor Habicht wandte sich um. Seine Augen traten aus den Höhlen, seine Kniee schlotterten, wie gebannt haftete er auf seinem Schreibtischsessel.
Die Thür des Kleiderspindes öffnete sich geräuschlos und heraus kam langsam ein Gespenst in weißen flatternden Laken mit einem Drillbohrer in der linken Geisterhand.
Kalter Angstschweiß rieselte aus Doktor Habicht's Poren. Ihm ward klar, daß die Geisterstunde jetzt erst angebrochen war. Die Gespenster richteten sich nicht nach der mitteleuropäischen Zeit.
Sie folgten den Stunden der Weltenuhr.
Das Gespenst schritt langsam näher.
Es streckte die rechte Hand aus und bewegte sie in magnetischen Strichen auf und nieder.
Doktor Habicht rührte sich nicht. Das Gespenst hatte ihn hypnotisirt.
Rasch nahm das Gespenst nun den Drillbohrer und setzte ihn in des Doktors Ohr und bohrte so lange, bis das Gehirn auslief. Zuletzt kam grünlichgelbe Galle.
Da hielt das Gespenst inne.
Dann stopfte es ihm ein leeres Portemonnaie in den hohlen Schädel und verschloß die Oeffnung, die unter dem Einfluß des Lebensmagnetismus sofort wieder ganz wurde.
Hierauf murmelte es ihm zu: »Von nun an hast Du nur ein einziges Bestreben, nämlich Theaterdirektor zu werden. So sollst Du Alles erdulden, was Du jemals Anderen zugefügt hast, Dich winden, ohne Dich wehren zu können. Durst nach Geld soll Dich erfüllen und wenn Du glaubst, ein Geschäft zu machen, sollen die es Dir abmorden, denen Du mit bösem Beispiel vorangegangen bist. Denke an die Blutthaten, du Mörder. Denke an Emma!«
Das Gespenst hauchte den Doktor dreimal an und verschwand mit bläulichem Lichte.
Der Leser wird längst errathen haben, daß das Gespenst kein Anderer war, als Gottfried Nordhäuser, der Jugendgespiele der eben so bildschönen wie engelsreinen Emma Siebenklietsch, der jetzigen Gräfin Szmoltopska.
Er liebte sie mit dem ganzen Edelmuth eines deutschen Jünglings vom Koppenplatze, wo seine Eltern eine sittenreine Destille hatten. Wohl blutete sein Herz, als Emma dem Grafen folgte, aber seine Liebe erlosch nicht. Treu bewachte er alle ihre Wege, wie ein ungesehener Schutzgeist.Nach einer Momentphotographie.
Er war es, der die schmählich Hintergangene so furchtbar an dem Doktor Habicht rächte, denn unseren Lesern zuzumuthen, an Gespenster und andere Unwahrscheinlichkeiten zu glauben, das wagen wir nicht.
Wir leben in dem leuchtenden Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaft.
Drittes Kapitel.
Es ist Zeit, daß wir uns nach der Gräfin umsehen.
Als der Boden unter ihren Füßen wankte, verlor sie jeden Halt.
Sie griff mit beiden Händen nach einem Geländer.
Sie griff in die Luft.
Sie rief nach Hülfe.
Keine Antwort. – Stockdunkle Nacht umgab sie.
Sie sank immer tiefer und tiefer.
Viertes Kapitel.
Gottfried Nordhäuser, der brave Jüngling vom Koppenplatze, war Portier bei der Baronin von Allwil, die in einer Villa am Plötzensee wohnte.
Hier in der Einsamkeit sollte ihr Sohn genesen, der vom Vater her unheilbaren Blödsinn geerbt hatte.
»O,« stöhnte die Baronin, »wäre die Vererbungstheorie doch niemals Mode geworden, wie gesund und fröhlich könnte mein lieber Oswald dann sein.«
Oswald war ein Maler, theils aus Muße, theils aus Talentlosigkeit. Sein großes Gemälde »Kühe auf der Weide« war von der Jury einstimmig als die beste Leistung für gemalte Schafe mit der großen goldenen Medaille belohnt worden.
Das war ein Zeichen möglicher Besserung, wenn auch nur ein schwaches.
Denn wen die Jury sich geirrt hätte, war die Sache noch dieselbe.
»Gottfried, wie denkst Du darüber?« fragte die Baronin in ihrem entsetzlichen Schmerze.
»Es kann so sein,« antwortete Gottfried, oder auch so.«
Der brave Junge vermochte der Mutter die Wahrheit nicht so klar einzuschenken, wie ehemals sein Vater, der rechtliche, den reinen unverfälschten Korn.
Die biederen Eltern fälschten nie. Lieber verdienten sie weniger. Das war noch die gute alte Zeit!
Gottfried konnte nicht sagen, was er empfand. Er hielt die von Oswald gemalten Kühe nicht wie die Jury für Schafe, sondern für Meerschweine. Es konnten aber auch Schellfische sein.
Mit Oswald wurde es täglich trauriger. Alles wollte er haben, was ihm verboten war. Er that immer nur das Verrückteste. Er verlangte stets, daß etwas Wunderbares kommen sollte.
Die Mutter briet ihm einen Storch. Das war ihm noch nicht wunderbar genug.
Er verlangte die Gräfin Szmoltopska; seine Mutter sollte sie als Hausmädchen miethen.
»Neunhundert Millionen für die Szmoltopska!« rief die Baronin, denn sie war unermeßlich reich. Sie besaß zwei Zuckerbergwerke auf der Insel Kuba und eine Petroleumfabrik am Hardanger-Fjord. Außerdem hatte sie ihr Vermögen in Bonds der Northern-Pacificbahn angelegt.
Erschüttert wandte Gottfried Nordhäuser sich ab.
Das Glück der Geliebten hätte gemacht werden können – neunhundert Millionen waren ein anständiges Trinkgeld – und vielleicht auch das Glück Oswalds.
Niemand aber kannte den Aufenthalt der Gräfin.
Selbst die Polizei stand vor einem Räthsel.Wurde von Menzel gezeichnet!!
Oswald nahm sichtlich ab. Mit irrsinnigem Lächeln bat er: »Mutter, gieb mir die Sonne.«
Die Baronin wollte vor Kummer vergehen. »Gottfried,« jammerte sie, »was soll ich beginnen? Was fange ich an? Oswald will die Sonne haben.«
»Geben Sie sie ihm doch,« sagte Gottfried treuherzig.
Die Baronin stieß einen Freudenschrei aus. Sie gab Oswald die Sonne, der sich von Stund an besserte. Er gab das Malen auf, wurde ein erfolgreich inkompetenter Kritiker und Herausgeber des »Blasewitzer Kunstbartels«, wobei ihm das väterliche Erbtheil ebensosehr zu statten kam, wie das unerschöpfliche Vermögen der Mutter.
In ihrer übermäßigen Freude ließ die Baronin Gottfrieds alte Livree wenden und gab ihm einen Bond der Northern-Pacific-Bahn vierter Emission mit dem Bemerken, damit könne er noch einmal sein Glück machen, wenn er Glück hätte.
Wir werden sehen, wie sich ihr inniger Wunsch erfüllt und Gottfried als treuer Diener schließlich doch noch zu Wohlstand gelangt.
Denn nichts belohnt sich besser als Tugend.
Fünftes Kapitel.
Die Gräfin sank immer tiefer und tiefer.
Sechstes Kapitel.
Der Kommerzienrath Heimstein war mit seiner gesammten Dienerschaft unzufrieden.
Nur der Kammerdiener Leopoldo Kravalli erfreute sich seiner Gunst. Der hatte ihm einen italienischen Salat angerührt, wie der Rath noch nie gegessen zu haben vermeinte, zumal die Trüffeln darin schienen ihm von besonderer Güte.
Anfangs wurde viel von dem Salat des Italieners geredet, der als Insalata alla Medici sehr oft auf die Tafel kam, allein bald fanden die Gäste des Kommerzienraths, daß das Oel zu der Sauce ranzig sei und die ganze Mischung der feinen Kochkunst nicht entspräche. »Wer einmal davon genossen, der hätte genug für immer,« sagte sie.
»Aber die Trüffeln darin züchtet Kravalli eigens für mich in Italien,« lobte der Rath den Salat.
»Die hat er anderswo her,« sagte Gottfried Nordhäuser, der wahrheitsliebende, »die hat er bei dem Vorkosthändler Wagner in der Bayreuther Straße auf Pump genommen.«
Darüber ergrimmt der Rath und verklagte Gottfried wegen Lästerung.
Gottfried kam in den Kerker.
»Ich bin verloren,« seufzte er, »es sei denn, der Richter ist nicht zu schneidig. Und was wird aus Emma, wenn ich sie nicht mehr beschützen kann?«
»Warum hielt ich auch nicht meine Zunge im Zaume?«
Nun war es zu spät.
Die Reue nützt nie etwas, wenn sie zu spät kommt.
Der Kommerzienrath hielt immer größere Stücke auf Leopoldo Kravalli. Er jagte seinen Küchenchef davon und machte Leopoldo zu seinem Leibkoch. »Bereite mir Pökelfleisch, Erbsen und Sauerkraut für das nächste große Diner,« befahl er.
Die Gesellschaft war glänzend. Man sprach in den Kreisen der Vornehmen nur noch von Kravalli und seiner Kochkunst und war gespannt darauf, wie wohl der Italiener das echt deutsche Gericht verarbeiten würde. Die Zuthaten waren ihm geliefert worden, da er zu wenig Deutsch verstand, um sich in der Markthalle zurechtzufinden.
Der Kommerzienrath schlug an sein Glas. »Meine Herrschaften,« sprach er, »Sie werden jetzt sehen, was wir können. Wenn Sie wollen, haben Sie eine Kunst. Olla potrida alla Rolando – bitte, kosten Sie.«
Man kostete.
Es waren Eisbeine mit Schlagsahne, Sauerkraut mit Parmesankäse, Erbsenbrei mit Pommeranzenschalen.
Man fand die Gerichte dem Gastgeber zu Gefallen sehr ausländisch, dankte aber für mehr.
Dies verdroß den Rath. Er ließ seinen neugebackenen Leibkoch kommen.
»Italiener, bleibe bei Deinem Salat,« rief er ihm zu; »von unserer deutschen Kost hast Du keine Ahnung. Wärest Du ein wahrer Künstler, hättest Du Dich nicht einer Aufgabe unterzogen, der Du nie gewachsen bist. Fleuch, Dilettant!«
Und lächelnd wandte er sich zu den Gästen:
»Sie sehen, was wir nicht können. Wenn wir so weiter machten, hätten wir bald gar keine deutsche Küche mehr.«
Gottfried Nordhäuser aber wurde zu zehn Jahren schweren Kerkers verurtheilt, denn er hatte gelästert.
Wird er befreit werden? Und auf welche Weise?
Die Wege der Vorsehung sind unerforschlich.
Siebentes Kapitel.
Die Gräfin SzmoltopskanéeSiebenklietsch konnte nicht tiefer sinken: der gähnende Abgrund war zu Ende.
Schreckliches Zischen von Schlangen, Molchen, Eidechsen, Ringelnattern empfing sie. Blutgierige Vampyre umflatterten sie. Wasserratten schmatzten sie fleischlüstern an. Alles Gethier war hungrig, durstig auf das warme pulsirende Blut der schönen Emma, noch gieriger als der Doktor Habicht auf das Blut und Rückgrat seiner Opfer.
Emma schauderte. – Aber nicht lange.
Das Otterngezücht wagte nicht, sie zu berühren.
Sie war zu schön.
»Ha!« rief sie, »das giftige Gewürm beugt sich vor der siegreichen Schönheit eines tugendhaften Mädchens; Kröten und Salamander, Unken und Basilisken bemitleiden mich. Nur der Mensch ist schlecht, der hat Intriguen und Fallklappen.Thatsächlich von Virchow nachgewiesen.
»Durch eine solche bin ich gefallen.
»Und wie lange. Ich, wie lange. Eine Ewigkeit.«
Und qualvoll rief sie:
»Nun bin ich gefallen.«
Das Gewürm wimmerte mit ihr. Es empfand die an Emma verübte Schlechtigkeit in ihrer ganzen Erbärmlichkeit.
Eine alte dicke Blindschleiche kroch an Emma in die Höhe und drückte ihr einen kalten Kuß auf die warmen rosigen Lippen.
»Ich kann Eure Liebe nicht vergelten,« rief Emma. »Aber hier nehmt, es sind Pralin és von Kranzler. Esset sie und laßt mich Hungers sterben. Habe ich auch nichts weiter gerettet, so habe ich doch meine Tugend und mein Dienstbuch.«
Dies hatte sie Gottlob nicht verloren, während sie in den stockfinsteren Abgrund fiel.
Und kein Künstler und keine Künstlerin ist in Zukunft etwas ohne Dienstbuch. Dienst ist eben Alles.
Das Gewürm aß die Pralin és; Emma zu Liebe. Es mochte die Todgeweihte durch Verschmähen der Gabe nicht kränken.
Aber der Bissen ward ihnen groß im Munde. Eine alte Wasserratte, Großmutter zahllosen Geschlechtes, erstickte daran.
»Wohlan,« sagte Emma, »die Stunde ist gekommen. Ich hoffte einen guten Dienst zu erlangen . . . schändliche Ränke verwehren mir diesen Wunsch. Mein Dienstherr ist der Tod.«
Das Gewürm brach in klagendes Geheul aus, das schaudervoll von dem bluttriefenden Gewölbe wiederhallte.
»Ich singe mein Sterbelied,« flüsterte sie, und leise begann sie den ergreifenden Sang aus der »Fledermaus«:
»O je, o je, wie rührt mich das . . .«
Das Gewürm fiel mit Brummstimmen ein in diesen Abschied vom Leben.
Plötzlich drang ein Lichtstrahl durch eine Spalte des Gemäuers. Der Spalt erweiterte sich.
Emma blickte in ein erleuchtetes Gemach. Darin lag auf einem orientalischen Ruhebett, mit eisernen Ketten an den Händen und einem himmlischen Lächeln auf den Lippen, ein Jüngling.
»Emma,« lispelte er im Traume.
»Nordhäuser,« rief sie und wollte auf den Gespielen der Jugend vom Koppenplatz zustürzen, denn er war es.
In diesem Augenblick trat ein Eremit zwischen sie und den Schlummernden.
»Halt,« rief der Eremit, »keine Uebereilung! Jeder unbesonnene Laut macht die Rettung unmöglich. Wir befinden uns unmittelbar unter dem Kriminalgebäude auf dem Alexanderplatz und die Polizei hat wachsame Ohren!«
»Wer sind Sie?« sagte Emma.
»Eremit und Leutnant der Reserve,« sprach der Mann in dem härenen Gewande. »Haben Sie Furcht?«
»Nie in Gegenwart von Militär,« antwortete Emma mit muthigem Lächeln. »Aber sagen Sie, warum leben Sie unterirdisch?«
»Das Jesuitengesetz ist noch nicht durch,« entgegnete der Eremit mit tiefer Beziehung.
»Ich verstehe,« sprach sie und warf ihm einen vielsagenden Blick politischer Erkenntniß zu.
Der Eremit fuhr mit gewinnender Schlauheit fort:
»Sie suchen einen Dienst. Wir sind von jeder Thatsache unterrichtet, die sich in den fünf Welttheilen vollzieht. Würde Ihnen ein Platz als Mädchen für Alles im Auswärtigen Amt zusagen?«
»Unter einer Bedingung . . .«
»Erlauben Sie,« fiel ihr der Eremit mit feiner Ueberlegenheit in das Wort, »wir stellen die Bedingungen. Schwören Sie mir und dem Orden . . .«
»Nie!« rief Emma.
Der Eremit riß seinen Degen von der Seite und zückte ihn auf die nackte Brust des Schlafenden. Die Schlangen und Molche züngelten lüstern nach ihrem Opfer.
Mit furchtbarer Stimme rief er: »Emma Siebenklietsch, falsche Gräfin Szmoltopska, bei dem Leben dieses Jünglings, schwöre mir und dem Orden unweigerlichen Gehorsam« und senkte die scharfe Spitze des blitzenden Degens tiefer und tiefer. Schon berührte die funkelnde Schneide die Stelle der entblößten Brust, die durch regelmäßiges Heben und Senken die Lage des linken Lungenflügels verrieth, unter dem das, ach, so treue Herz Nordhäusers selbst im Traume für die Heißgeliebte schlug, schon ritzte der scharfe Stahl die jugendfrische Haut des Schlummernden, schon drangen Blutstropfen hervor und rieselten in rubinrothen Streifen an den atlasglänzenden Rippenfurchen des Jünglings herab . . .
»Ich schwöre!« stieß Emma mit letzter Anstrengung hervor.
Die Sinne verließen sie und bewußtlos sank sie nieder.
»Wehe, Wehe!« heulte das Gewürm.
Der Eremit schlug eine gellende Lache auf. Er schleuderte seinen Degen und den immer noch schlummernden Nordhäuser in eine Ecke des unterirdischen Gemaches und berührte eine verborgene Feder. Das Licht erlosch, der Spalt in der Mauer schloß sich.
Der Eremit riß seinen falschen Bart ab und entledigte sich des grauen, mit einem Stricke zusammengehaltenen Einsiedlergewandes.
Mit teuflischem Grinsen blickte er auf die besinnungslos am Boden liegende Gräfin.
Welch ein Glück für Emma, daß ihre Augen von den mitleidigen Händen einer tiefen Ohnmacht unauflösbar zugedrückt wurden, denn wer weiß, welchen entsetzlichen Schaden ihr Nervensystem erlitten hätte, wenn sie den in dämonischer Freude sich die Hände reibenden Mann erkannt hätte?
Es war der Kutscher des Grafen Szmoltopski.
Achtes Kapitel.
Zu derselben Zeit als die in dem letzten Kapitel geschilderten und wie wir sehen werden, folgenschweren Ereignisse sich abspielten, saß Gottfried Nordhäuser, der treffliche Jüngling vom Koppenplatze, bei Dressel unter den Linden im Kreise älterer und jüngerer Herren in dem oberen kleinen hellerleuchteten Saale.
Die fürstlich gedeckte Tafel bog sich unter der Last der auserlesensten Genüsse. Da gab es Kaviar mit frischer Rennthierbutter und geröstetem Brot, von jeder Semmel nur die oberste Schnitte; da gab es Masthasen aus dem Teutoburger Walde mit Schmorbananen – Goldfische grün – Biberschwanz mit Kibitzrührei – Trüffeln mit seidenen Tüchern. Dann kamen noch Gänsegrieben mit PalmenkohlGottfried Nordhäuser aß schon als Kind, wie seine Mutter bestätigte, Gänsegrieben für sein Leben gern. Dieser Charakterzug darf in der Schilderung dieses edlen Menschen nicht fehlen. – Leipziger Schnepfen – Mohrenköpfe mit Schlagsahne und andere Nouveaut é's der Saison.
Die Weine waren nicht minder erlesen, wie die Schüsseln aus dem feinsten, von G. Hasch é in der Krausenstraße bezogenen, reich dekorirten Porzellan. Der Tischwein kostete 12 Mark die Flasche, bei den höchsten Sorten machte Rudolf Dressel Rasch den Preis, um allen Anforderungen auf das Beste zu entsprechen. Deshalb waren auch sämmtliche Theilnehmer des mehr als lukullischen Mahles in jeder Beziehung zufrieden und nicht nur des köstlichen Rebensaftes, sondern auch des Lobes voll.
Wer war diese Gesellschaft? wird der geneigte Leser fragen und er ist durch das Abonnement auf dieses Werk auch dazu berechtigt. Woher kamen die Summen, die hier zur Beköstigung der Herren dienten? Hatte die Gesellschaft eingebrochen?
Spielte sie in einer verbotenen Lotterie und war zufällig herausgekommen?
Besaß sie ein Grundstück, worauf später eine Markthalle erbaut werden mußte?
Nein . . . . Nichts von allem diesen . . . . wie wäre sonst wohl Gottfried Nordhäuser unter ihnen? – Gottfried beschritt nur den Pfad der strengen Rechtlichkeit. Schon als Knabe that er nie Sträfliches.Sein Abgangszeugniß der XXXIX. Gemeindeschule lautete: »Geographie und Rechnen schwach, Betragen und Singen gut.«
Um die Neugierde des geschätzten Lesers und der noch höher geschätzten Leserin nicht auf die Folter zu spannen, theilen wir die bei der Fasanenleberpastete gehaltene Rede des Vorsitzenden mit, wozu sie moussirenden Portwein tranken, der in Bechern aus Vanilleeis gereicht wurde.
»Meine Herren!
Wir sind hier versammelt, um einen Freudentag der westöstlichen Afrikagesellschaft zu begehen. (Bravo!) Sie alle kennen unsere Bestreben als Mitglieder dieser Gesellschaft, deren Zweck ist (Hört! Hört!) unfruchtbare Gegenden jenes Kulturlandes der Zukunft mit deutschem Gelde, deutscher Arbeit, deutschem Menschenmaterial einträglich zu machen, dem Handel zu gewinnen, der Civilisation zu erschließen (Bravo! Bravo!!) und dann zu sehen, welche Nation den Nutzen daraus zieht. (Sehr richtig!) Denn, meine Herren, die Mittel, die nöthig sind, unseren Besitz zu erhalten und zu vertheidigen, die kommen uns zu theuer. Unsere Parole ist die Sparsamkeit. Wir wollen von Afrika ja auch nur das, was die Großmuth Anderer nicht gebrauchen kann. (Bravo!) Unsere zweite Parole ist: Bescheidenheit (Tobendes Bravo!) und ihr entsprechend haben wir den passendsten Direktor unseres Westostafrikanischen Besitzes in dem bescheidensten Manne des 19. Jahrhunderts, in Herrn Gottfried Nordhäuser gewonnen. (Großer Jubel. Herr Beiulf von Brägenlos, fünfter Vorsitzender der Gesellschaft, trinkt mit Nordhäuser Brüderschaft.) Meine Herren, Herr Nordhäuser versteht nichts, gar nichts von Kolonieen und Kolonialpolitik, und deshalb ist er unser Mann. (Jubel.) Und seine Militärpapiere sind tadellos. (Größter Jubel.) Er wird den Wilden schon die Griffe beibringen und das Durchdrücken der Kniee. Dies sind die ersten Stufen auf der Leiter der Zivilisation. Und immer Hurrah! Hurrah!«
Das Bravorufen übertönt die schwungvolle Rede und wird so tumultuarisch, daß Dressel erscheint und fragt, ob die Herren nicht lieber trinken wollten. Deshalb kommt der Präsident nicht dazu, zu sagen, daß Nordhäuser der Gesellschaft einen Bond der Northern-Pacific-Bahn vierter Emission zu freier Verfügung gestellt habe, der noch nicht alle sei.
Er beschloß jedoch den Rest zum Besten der Kolonie zu verwenden und machte den Vorschlag, den Wintergarten zu besuchen, wo eine Minstrel-Truppe aufträte, durch deren Studium Herr Direktor Nordhäuser sich mit den Sitten und Gebräuchen seiner zukünftigen Unterthanen vertraut machen könne.
Alle stimmten begeistert ein, selbst Nordhäuser, der sich stets gern belehrte, wie und wo er nur konnte.
Als sie aus dem Dressel'schen Restaurant hinaus auf die Linden traten, kam ein Fahrrad-Dienstmann in fliegender Eile, so daß er kaum sein Stahlroß zu zügeln vermochte.
»Einen Brief an Herrn Nordhäuser,« rief er heiser.
Nordhäuser nahm das Schreiben, erbrach das Siegel, las und erbleichte.
»Morgen um 11 Uhr in der Poliklinik des Dr. E. Miller oder wir sind alle verloren
Emma«
stand darin.
Der Brief war von Emma, aber es war nicht ihre Handschrift.
Mit schwerem Herzen folgte Gottfried der Westöstlichen Afrikagesellschaft in den Wintergarten.
Wer hatte den Brief geschrieben? Welche Gefahren drohten?
Furchtbar verschlungen sind selbst die einfachsten Pfade des Erdenwallens.
Neuntes Kapitel.
Um die bürgerliche Mittagszeit konnte man seit einigen Wochen in der Wilhelmstraße ein selten anziehendes Bild des Berliner Lebens beobachten.
Mit dem Schlage zwölf öffnete sich eine Seitenthür des auswärtigen Amtes und heraus trat, einen Kinderwagen vor sich herschiebend, in der kleidsamen Tracht einer Spreewälderin eine Amme von solcher Schönheit, daß selbst bejahrtere Geheimräthe stehen blieben und ihr nachsahen, wie sie die zierlichen Füße in den schwarzen Schuhen und die von weißesten Strümpfen prall umschlossenen Formen in anmuthigste Bewegung setzte.
Sie aber blickte schüchtern, wie in sittsamster Trauer hinab auf den Kinderwagen, auf den Weg, den sie zu schreiten hatte.
Doch die Schönheit hat zu viele Feinde und in der Welt erhebt die Niedertracht ungestraft ihr verleumderisches Haupt; sie ging sogar so weit, zu fragen, wem die Amme im auswärtigen Amte gehöre?
Als ob das auswärtige Amt nöthig hätte, Fragen zu beantworten!?!
Unsere Leser werden längst errathen haben, daß die schöne Spreewälderin keine Andere ist als Emma.
Und nur sie allein wußte, daß sie furchtbaren Plänen diente, was der Kriminalpolizei verborgen blieb. Sie hatte Kenntniß von den heimtückischen Umtrieben, die sie in dem unschuldigen Kinderwagen unter den Augen des Gesetzes vermitteln mußte, weil sie geschworen hatte. Es war ein Meisterstreich der Jesuiten, Emma als Amme in das auswärtige Amt zu schmuggeln, denn wer konnte etwas Verdächtiges darin finden, wenn die schöne Spreewälderin, anstatt auf dem Wilhelmplatz zu halten, den Kinderwagen nach der irländischen Gesandtschaft lenkte, von da zum Botschafter von Bornholm oder zum Genuesischen Gesandten und schließlich wieder zum Konsul von Manchester?
Und doch klopfte Emma das Herz, so oft sie die in Windeln gewickelten Dokumente durch die Straßen fuhr.
»O,« rief sie voll Schmerz. »Hätte mein liebes Mütterlein mich doch nicht lesen gelehrt, dann wäre ich jetzt nicht in die schrecklichen Geheimnisse eingeweiht, die als schaudervolles Verbrechen enden werden. Dann spänne ich die Fäden der politischen Intriguen unwissend und mich träfe später nicht der Fluch der Verzweifelten.«
Unwissenheit ist so gut wie Unschuld; oft noch besser!
Deshalb war Emma so gramvoll, wenn sie zum abessynischen Minister fuhr oder zum Botschafter von Südamerika, deren jüngere Legationsräthe ihr oft, aber vergebens in die Wange zu kneifen versuchten. Sie sprach dann mit der Unnahbarkeit einer Dame von Stande nur das eine Wort: »Meine Herren, werden Sie nicht aggressiv,« worauf die Attach é's vor diesem Lichtblitz unerwarteter Bildung aus dem Munde einer Magd beschämt den Kürzeren zogen. So bestätigte sich hier die alte Wahrheit unseres Jahrhunderts:
Bildung ist der höchste Trumpf im Spiele des Lebens!
Und doch zitterte Emma. Wenn einer der schäkernden Employ é's statt in ihre Wangen in den Kinderwagen griff, war das Geheimniß entdeckt. Deshalb sann sie Tag und Nacht, selbst während des Essens, darauf, sich aus den