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Die Reihe ›Professors Zwillinge‹, von Else Ury, Autorin der bekannten Nesthäkchen-Reihe. Ein zeitloser Klassiker für alt und jung. Band 5: Von der Schulbank ins Leben Die Zwillinge sind erwachsen geworden. Nun heißt es, neue Herausforderungen zu meistern. Suse und Herbert müssen ihren eigenen Weg finden. Werden sie weiterhin gemeinsam durchs Leben gehen?
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Seitenzahl: 266
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Professors Zwillinge
Von der Schulbank ins Leben
Band 5
© 1929 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Über die Autorin
Hurra – versetzt!« schallte eine laute Jungenstimme durch das stille Haus. Die Tür zum Wohnzimmer, in dem Frau Professor Winter schreibend saß, wurde ungestüm aufgerissen und blieb sperrangelweit hinter dem Hereinstürmenden offen.
»Hurra – versetzt!« kam das Echo eine Sekunde später von einer hellen Mädchenstimme. Ein schlankes, vierzehnjähriges Mädel eilte freudestrahlend hinter dem Bruder her.
»Hier stelle ich dir zwei frischgebackene, nagelneue Untersekundaner vor, Mutti«, trompetete die Jungenstimme wieder. Sie klang drollig, diese Knabenstimme. Manchmal hatte sie tiefe Basstöne und dann wieder hell quiekende. Der Besitzer derselben befand sich in dem Alter des Stimmwechsels.
»Wirklich – alle beide in die Untersekunda versetzt?« Erfreut schüttelte die Mutter dem Sohne die Hand, klopfte anerkennend die von der freudigen Erregung glühende Wange ihres Mädels. »Hab's eigentlich auch nicht anders von meinen Zwillingen erwartet. Wer an seinem Vater ein solches leuchtendes Beispiel der Pflichterfüllung und des ständigen Weiterstrebens hat, der kann ja eigentlich gar nicht aus der Art schlagen.«
»Sage das nicht, Mutti«, meinte der Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen, was seinem noch kindlichen Knabengesicht etwas Altkluges gab. »Der Junge von Professor Bart ist in der Obertertia klebengeblieben. Sechs Stück, gerade ein halbes Dutzend, haben sie nicht mit hinübergelassen.«
»Bei uns sind alle versetzt – Mädchen sind eben fleißiger als Jungs!« frohlockte die Schwester.
»Das wollen wir mal erst durch die Zensur feststellen, mein liebes Kind.« Trotzdem Herbert und Suse an demselben Tage das Licht der Welt erblickt hatten, spielte sich der Zwillingsbruder doch immer als der Klügere und Überlegenere auf. Das war von klein auf so gewesen. Herbert tat sich stets vor der bescheideneren Suse hervor.
»Die Hauptsache ist, daß man versetzt ist, nicht wahr, Mutti?« Suse holte ein wenig umständlich ihr Zeugnis hervor.
»Aha, da stimmt was nicht«, meinte der Bruder und setzte sich die Brille, die die Mutter beim Schreiben trug und die sie neben sich gelegt hatte, auf die Nasenspitze.
»Dummer Junge, gib her!« Ungestüm riß die Suse dem Bruder, der das Zeugnis mit der Miene eines strengen Kritikers zu studieren begann, den Bogen aus der Hand.
Ritsch – ratsch – jeder der Zwillinge hielt eine Hälfte des wichtigen Dokumentes, auf dem bekundet wurde, daß Suse Winter in die Untersekunda versetzt sei, zwischen den Fingern.
»Mutti – Mutti – der Herbert hat mir meine Zensur zerrissen – was mache ich denn nun bloß?« Suse brach trotz ihrer Sekundanerwürde in Tränen aus.
»Mußte in der Obertertia bleiben«, stellte Herbert mit Gemütsruhe fest. »Natürlich, ein Mangelhaft auf der Zensur und hier im Mündlichen noch nicht völlig genügend. Wahrscheinlich in Mathematik, was?« Herbert hielt die Prädikate, Suse die Lehrfächer in der Hand.
»Geht dich nichts an!« schluchzte Suse in ihrem Schmerz über die zerrissene Zensur.
Der Mutter freundliche Züge waren ernst geworden. »Ja, Kinder, müßt ihr mir denn durchaus die Freude an eurem Erfolg zerstören?« sagte sie vorwurfsvoll.
»Ich kann nichts dafür, Muttichen, der Herbert – – –«
»Backfische sind die unausstehlichsten Geschöpfe in der Zoologie«, bemerkte der Junge sachlich. »Wenn man sie nur schief anguckt, heulen sie schon.«
»Und Jungs in den Flegeljahren sind frech und rücksichtslos. Vater hat das neulich erst gesagt«, verteidigte sich Suse, immer noch weinend.
»Hach – ein Untersekundaner heult wie ein Schlosshund!« Herbert ging wieder zum Angriff über, da ihm die Erinnerung an den Ausspruch des Vaters nicht gerade angenehm war.
»So, Kinder, jetzt verlaßt ihr beide mein Zimmer. Wenn ihr zur Einsicht gekommen seid, wie wenig nett ihr euch benommen habt, könnt ihr euch wieder bei mir melden.« Das klang sehr ernst und bestimmt. Frau Professor Winter wandte sich wieder ihren Schreibereien zu.
»Und – und unsere Zeugnisse?« schluchzte Suse.
»Du hast ja noch gar nicht unsere Zensuren angesehen, Mutti«, begehrte der Junge auf.
»Mir ist die Lust dazu vergangen – später.« Die Mutter war jetzt nicht mehr für ihre Zwillinge zu sprechen.
Suse schlich sich schuldbewußt aus dem Zimmer. Herbert schmetterte vor Ärger, daß sein gutes Zeugnis gar keine Beachtung gefunden hatte, rücksichtslos die Tür ins Schloß.
»Schließe die Tür leise und anständig, wie sich's gehört«, klang die Stimme der Mutter hinter ihm her.
Brummend kam der Sohn der Aufforderung nach. Offensichtliche Widersetzlichkeit wagte Herbert doch nicht.
Im Hausflur sprang Bubi, Herberts Hund, an seinem jungen Herrn, der heute so finster dreinblickte, mit lebhaftem Schwanzwedeln empor. Dann bezeugte er Suse in gleicher Weise seine Liebe und Freude, daß sie nun endlich wieder aus der Schule daheim waren. Von einem Zwilling zum andern sprang Bubi, als müsse er das Bindeglied zwischen den beiden bilden. Das kluge Tier merkte sofort, daß mal wieder nicht alles in Ordnung war.
»Kusch dich, Bubi!« befahl Herbert. Jedesmal, wenn es mit Suse Streit gesetzt hatte, empfand er vor seinem Bubi, der schon die kleinen Zwillinge wie eine treue Kinderfrau bewacht hatte, ein peinliches Gefühl. Aus diesen Empfindungen heraus gab er der bekümmerten Schwester einen Aufmunterungspuff mit dem Ellenbogen.
»Au!« schrie Suse auf.
»Biste aus Zucker? Immer noch das Marzipanpüppchen von früher trotz allem Spott?« höhnte der Bruder.
Suse barg gekränkt das Gesicht wieder in ihr Taschentuch. Sie merkte daher nicht, daß die Tür zum Zimmer der Großmutter sich öffnete, daß die alte Dame, von dem lauten Wortwechsel draußen in ihrer Ruhe aufgestört, auf der Schwelle erschien.
»Ei, Tränen, Suschen?« fragte sie erschreckt. »Was hat denn mein Goldkind?«
Suse schluchzte jetzt herzbrechend. Denn wenn man sie bedauerte, kam sie sich selbst am bedauernswertesten vor.
»Ist ja nur halb so schlimm, Omama. Suses Zensur ist – – –,« begann Herbert die Erklärung. Denn vor den lieben alten Augen der Großmutter hielt die Ruppigkeit seiner Flegeljahre nicht stand.
»Aber Suschen«, unterbrach ihn die Großmama, »das macht doch nichts, wenn du auch nicht versetzt worden bist. Latein und Mathematik ist nun mal nichts für ein Mädchen. Dann gehst du eben wieder aufs Lyzeum zurück. Ich würde das freudig begrüßen.« Die alte Dame war mit dem modernen Bildungsgang der Mädchen ganz und gar nicht einverstanden.
»Aber ich bin ja versetzt, Omama – in Latein habe ich sogar gut. Ich bin ja Untersekundanerin!« Da brach doch der Stolz wieder durch bei Suse trotz der Tränen.
»Ihre Zensur ist ja bloß entzweigerissen, darum heult sie«, setzte Herbert seine Erklärung fort.
»Na, wenn's weiter nichts ist. Suschen, das läßt sich doch kleben.« Die alten, runzligen Hände streichelten liebevoll das junge, verweinte Gesicht der Enkelin. Es ging eine merkwürdige Beruhigung von diesen gütigen Händen aus. Selten versagten sie ihre Kraft.
Suse ließ das Taschentuch sinken. »Ja, das läßt sich kleben«, wiederholte sie und wußte eigentlich nicht mehr, warum sie geweint hatte.
»Es läßt sich alles wieder kleben«, bekräftigte auch Herbert. »Bloß Suse ist immer gleich hops.« Seine Stimme schnappte bei dem Worte »hops« über. Das hörte sich so komisch an, daß die Großmama und Suse trotz der nicht mißzuverstehenden Bewegung Herberts gegen die Stirn lachen mußten.
Die Gegenwart ihrer »kleinen Omama«, die der in die Höhe geschossene Herbert um Haupteslänge überragte, und auf die auch Suse jetzt schon herabblickte, schien noch anderes zu kleben als nur auseinandergerissenes Papier. Auch der Riß, der das gute Einvernehmen der Zwillinge gestört hatte, war plötzlich wieder zugeklebt. Suse mußte noch immer über das Wort »hops« lachen, ohne es in sonstiger Backfischempfindlichkeit übelzunehmen. Herbert klopfte ihr wohlwollend auf die Schulter: »Na, wieder normal, Mensch?«
Und die Großmama meinte lächelnd: »Ihr seid doch wie der erste April draußen, Kinder, weinen und lachen, Regen und Sonnenschein, alles in einem Sack.«
Bubi aber blaffte so stolz, als ob die Versöhnung sein Werk sei.
Einträchtig zogen die Zwillinge die Treppe zum obern Stockwerk, in dem ihre Zimmer nebeneinander lagen, empor. Einträchtig beugte sich der goldbraune, kurzgelockte Mädchenkopf und der dunkelbraune Jungenschädel über die Zeugnisse. Sie waren beide gut ausgefallen. Herberts Zensur wies in Naturgeschichte, Physik und Mathematik sogar ein »Sehr gut« auf. Während Suses Kenntnisse gerade in Mathematik nicht ganz befriedigt hatten. Das sonst gute Zeugnis verunstaltete ein »Mangelhaft« in Turnen.
»Menschenskind, wozu box' ich denn mit dir, wenn du noch immer keine anständigen Muskeln kriegst!« Herbert nahm Boxerstellung ein.
»Ach nee, Herbert, heute haben wir uns schon genug verkracht.« Suse wußte aus Erfahrung, daß die Boxerrunden meistens mit einer ganz unsportgemäßen Keilerei endeten. »Ich habe ja auch bloß mangelhaft in Turnen, weil ich Angst habe vor dem Bockspringen und mich bei der Kniewelle nicht traue, loszulassen.«
»Warum biste denn bloß so feige, Mensch? Noch dazu, wo du keinen Blinddarm mehr hast?« ereiferte sich der Bruder.
»Das Genick kann man sich auch ohne Blinddarm brechen.«
Gegen diese sachliche Feststellung war nichts mehr einzuwenden.
Herbert begann Suses Zeugnis kunstgerecht zusammenzukleistern, während Suse sich den Pfleglingen in ihrem Reich zuwandte.
Es war eine stattliche Schar in dem hübschen Stübchen, Stumme und Stimmbegabte. Da waren die Goldfische, die in einem Glasbehälter ihr munteres Spiel trieben. Sie schienen ihre junge Pflegerin zu kennen. Denn sie schossen alle auf ihre Seite zu und hoben erwartungsvoll die Köpfchen, als ob sie sagen wollten: »Achtung – jetzt gibt es Futter!« Auch die umfangreiche Kakteenzucht, die in verschiedenen Stockwerken an den Fenstern emporkletterte, bedurfte Suses sorgender Hand. Waren sie auch noch nicht zu trocken? Zwischen den Fenstern standen niedliche, kleine Porzellantöpfe mit farbigen Primeln, blauen und gelben Krokussen. Sie blühten den Eisschloßen, von denen der erste April gerade wieder eine Handvoll wie ein ungezogener Schlingel gegen die Fensterscheiben prasseln ließ, zum Trotz. Wie pflegte Suse aber auch ihre Blumen. Sie waren ihr lebende Wesen, deren Wohl und Wehe ihr anvertraut war. Ein Myrtenstock, der prächtig grünte, war ihr besonderer Liebling. Von einer alten, armen Frau hatte sie ihn vor Jahren geschenkt bekommen, aus Dankbarkeit, weil sie ihr Gutes getan hatte. Die Erinnerung daran erfreute unbewußt noch immer Suses Herz, wenn sie ein welkes Blättchen ablöste oder eine junge Ranke festband.
Im Bauer in der Fensternische plusterte sich wie ein gelber Federball Mätzchen auf seiner Stange. Suse klopfte mit zärtlichem Finger dagegen. Aber das »Piep«, das Mätzchen als Gegengruß hören ließ, klang trübselig, als ob einer Zahnschmerzen habe.
»Du, Herbert, du verstehst dich doch auf Tiere. Ich weiß nicht, Mätzchen wird diesmal gar nicht fertig mit dem Mausern. Sonst hat er doch so herrlich gesungen.«
»Der hat am Ende auch Stimmwechsel wie ich.« Der im tiefen Bass begonnene Satz klang im höchsten Diskant aus. Suse wollte sich jedesmal darüber ausschütten vor Lachen. Aber das nahm ihr Zwillingsbruder nicht übel. Er war ja kein empfindlicher Backfisch.
»Laß es nur erst Frühling werden, dann wird dein Piepmatz schon wieder schlagen.«
»Wir haben doch schon seit elf Tagen Frühling. Aber es sieht freilich noch nicht danach aus.« Suse schaute durch die Fensterscheiben über den Balkon hinweg in den noch winterlichen Garten. Die kahlen Bäume bogen sich unter der harten Faust des Sturmes. Nackt und frierend standen die Pappeln, die die Straße, die aus dem Saaletal zu den Anhöhen emporführte, besäumten. »Es will dies Jahr nicht Frühling werden«, setzte sie seufzend hinzu.
Aus dicken, schwarzen Aprilwolken brach plötzlich die Sonne, in goldenem Strahlenglanze Licht, Wärme und Leben spendend. Kaum eine Minute später, und düstere Wolkenungeheuer hatten sie wieder verschluckt.
Als ob Mätzchen nur auf dieses Frühlingssignal gewartet habe, ließ es plötzlich einen hellen Trillerton hören. Dann versank es ebenso schnell wieder in seine winterliche Teilnahmslosigkeit.
»Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden,
Und streut er Schnee und Eis umher.
Es muß doch Frühling werden.«
begann Suse vor sich hinzuträllern, während sie die Decke zu dem Katzenkorb in der Ecke lüftete.
Da lag Piccola, Suses weiße Katze, eine geborene Neapolitanerin, die sie sich aus Italien mitgebracht hatte, und blinzelte ihre junge Herrin aus grasgrünen Augen verschlafen an.
»Piccola, du wartest auch sehnsüchtig auf den Frühling, nicht wahr, meine Alte?« fragte Suse, liebevoll Piccola über den Buckel streichend. Ein zustimmendes Miau ertönte.
»Was hast du denn bloß an der altersschwachen Mies?« Kopfschüttelnd betrachtete der Zwillingsbruder, der sich besonders für Tiere interessierte, die stumpfsinnig vor sich hinschnurrende Katze. »Könntest längst Urgroßmutter sein, Suse, wenn du die Jungen von Piccola nicht immer verschenkt hättest. Setze doch die Alte aus, wenn es Sommer ist, und behalte lieber eine von den Kleinen.«
»Meine Piccola aussetzen? Ebenso kannst du mir raten, dich auszusetzen, Herbert. Du wirst noch leichter ohne mich fertig, als meine Piccola.«
»Koch sie dir sauer«, brummte der Bruder. Trotzdem er sich häufig mit Suse zankte, wünschte er doch, die erste Geige bei seinem Zwilling zu spielen. Er ging in sein nebenan gelegenes Zimmer, nach seinen Laubfröschen zu sehen. Vielleicht prophezeiten die besseres Wetter.
Plötzlich schrie er in den höchsten Fisteltönen: »Suse – Suse – eine Überraschung – komm' schnell!«
Die Schwester, die sofort voll Neugier eiligst der Aufforderung nachkommen wollte, blieb mit einem Male stehen. »Nee, ich komme nicht – du schickst mich bloß in den April.«
Das laute Lachen, das aus dem andern Zimmer zu ihr herüberklang, zeigte, daß sie ihren Zwilling richtig eingeschätzt hatte.
Auf ihrem niedlichen Rosenknospensofa nahm Suse Platz und starrte nachdenklich auf das geklebte Zeugnis vor sich auf dem Tisch. Eigentlich konnten die Eltern mit der Versetzungszensur ganz zufrieden sein. Daß sie in Mathematik keine Leuchte war, wußten sie ja. Ob Mutti noch böse war? Es war Suses liebevollem Herzen ein unbehagliches Gefühl, wenn sie jemanden erzürnt hatte, und nun gar ihre Mutti! Ach was, sie ging einfach mit ihrer Zensur zu Mutti hinunter. Mutti würde schon wieder gut sein oder es zum mindesten wieder werden.
Da – am Fenster hemmte das junge Mädchen plötzlich den eiligen Schritt. Suse traute ihren Augen nicht. In bogenartigem Fluge kam es von der Saale herauf. Silberne Bogenflüge über den Weinbergen, über den die bergigen Höhen sich hinaufziehenden Landhäusern. »Die Schwalben – Herbert, die ersten Schwalben sind wieder da!« rief sie aufgeregt ins Nebenzimmer.
»Jawoll, erster April – für Retourkutschen bin ich nicht zu haben«, kam von dort die Antwort.
»E..., Herbert!« Man kürzte jetzt ja alles ab, auch das »Ehrenwort« war von den Gymnasiasten der Stadt Jena in »E...« verwandelt worden.
»Großes oder kleines?« erkundigte sich Herbert noch vorsichtig.
»Das große Ehrenwort, Herbert, rasch – sonst sind sie heidi!«
Nun war der Herbert doch zur Stelle.
»Ob sie wieder bei uns am Sternenhaus nisten werden, Herbert?« Suse war ganz aufgeregt.
»Schwalben kehren immer wieder zu ihrem Nest zurück. Nur wenn dem Hause ein Unglück zustößt, Feuer oder Blitz, ziehen sie davon.«
Suses Braunaugen blickten bei den Worten des Bruders ängstlich drein. Eine Heldin war sie nun mal nicht, die Suse Winter.
Die Zwillinge waren auf den Balkon hinausgetreten, der galerieartig um das Landhaus lief. Wirklich, ein Schwalbenpaar schoß aus der Schar der geflügelten Heimkehrer blitzschnell hinab zum Sternenhaus.
»Fabelhaft, was die Tiere für ein Gedächtnis haben, daß sie in den fernen, warmen Ländern ihr Nest nicht vergessen und sogar das Haus nach so langer Zeit wiederfinden«, meinte der Junge anerkennend.
»Quiwitt – quiwitt«, zwitscherten die Schwälbchen am Dachfirst zu Professors Zwillingen hinab. Es klang wie Wiedersehensfreude.
»Nun wird es Frühling!« sagte Suse, vor Kälte zusammenschauernd. Sie dachte nicht mehr daran, ob Mutti wohl noch ärgerlich auf sie wäre; spornstreichs eilte sie hinab, die Frühlingsbotschaft zu melden.
»Mutti – Omama – unsere Schwalben sind wieder da!« Jubelnd klang es durch das Haus.
Die Osterzeugnisse waren zur Zufriedenheit der Eltern ausgefallen. Der Professor, aus dem Institut für Erdbebenforschung heimkehrend, drohte zwar seinem Töchterchen: »Ei, Suse, ein Professorenkind, dessen Vater den Gang der Gestirne auf viele Jahre hinaus berechnet, kommt gerade in Mathematik nicht mit? Unser Ferienkind Paul kann dir Nachhilfestunden darin geben. Es ist fabelhaft, wie begabt der Junge für Mathematik und Physik ist.«
»Bitte sehr, ich habe auch sehr gut in Mathematik, Physik und Naturkunde«, meldete sich der Sohn, der es nicht vertragen konnte, wenn ein anderer mehr gelobt wurde als er. »Ich könnte der Suse mindestens so gut Nachhilfestunden geben wie Paul. Denn ich bin Gymnasiast, Untersekundaner sogar« – Herbert warf sich gewaltig in die Brust – »und Paul hat in seinem Waisenhaus sicherlich keine Mathematik gelernt.«
»Um so anerkennenswerter ist es, mein Junge, daß Paul in einem Jahre das alles hier nachgeholt hat. Besonders wo er nur abends nach Schluß der Zeiß-Werke die Fachschule besuchen kann«, meinte die Mutter, die Suppe austeilend.
»Für deine Nachhilfestunden danke ich, Herbert«, lehnte Suse ab. »Sobald ich was nicht begreife, fängst du an zu boxen.«
»Wenn du in Mathematik begabt bist wie ein neugeborenes Rhinozeros, kannst du dich nicht wundern, wenn ich dir die mathematischen Formeln einbläue«, quiekte Herbert.
»Ich werde mir meine Tochter selbst vornehmen. Soviel Zeit muß mir mein wissenschaftliches Werk lassen. Was, Suschen, wir beide werden die Mathematik schon zwingen?« Der Professor fuhr zärtlich über das goldbraune Gelock seines Lieblings.
»Das Beste wäre, Suschen läßt Mathematik Mathematik sein und geht wieder zurück aufs Lyzeum«, mischte sich die Großmama in die Auseinandersetzung. »Da braucht sie nicht soviel Mathematik zu lernen. Es ist unnötig, daß sie ihren armen Kopf mit dem Zeug anfüllt, für das sie nun mal nicht begabt ist. Es müssen doch nicht alle Mädchen studieren. Wir Frauen aus dem vorigen Jahrhundert hatten auch ohne Abiturium eine Vollbildung. Ich glaube nicht, daß die heutige Generation soviel von Goethe und Schiller weiß wie wir.«
»Oho, Omama, die Jugend von Jena weiß bestimmt mehr von Goethe und Schiller, wo die beiden doch hier gelebt haben«, rief der junge Enkel mit blitzenden Augen. »Und nächstens machen wir eine Schülerfahrt nach Weimar ins Goethe- und Schillerhaus.«
»Wir auch, Professor Martin fährt mit uns hin. Der kann alles so fein erklären«, berichtete Suse.
»Na, du wirst wohl mehr Interesse für seine Töchter Inge und Helga, die beiden Martinsgänse, haben, als fürs Goethehaus«, zog der Bruder sie auf. Suse war beleidigt. Immer nannte Herbert ihre Freundinnen die »Martinsgänse«. Unerhört!
Die Mutter schüttelte den Kopf: »Kinder, müßt ihr euch denn immer und ewig herumzerren! Was war das früher eine Liebe zwischen euch, als ihr noch klein wart. Da wart ihr ein Herz und eine Seele, wie es bei Zwillingen auch sein soll.«
»Ja, die Flegeljahre!« Suse stieß einen drolligen Seufzer aus.
»Das ist alles nur äußerlich«, erwiderte die Großmama begütigend. »Im Grunde ihres Herzens haben sie sich noch genau so lieb, unsere Kinder, nicht wahr?«
»Nee!« sagte Herbert, denn er hielt es eines Untersekundaners für unwürdig, weiche Gefühle zu haben. »Wenn die Suse ausnahmsweise mal nicht ihren Backfischfimmel hat, ist sie ja ganz verdaulich. Aber meist ist sie jetzt total hops.«
Die glänzenden Braunaugen des Backfisches wurden feucht. Die Lippen, die sich gerade dem Löffel Suppe öffneten, zitterten. Suse kämpfte gegen aufsteigende Tränen. Wenn sie sich bloß ihre Empfindlichkeit abgewöhnen könnte! Die gab immer wieder neuen Neckstoff für ihren Zwilling.
Zum Glück brachte Minna das Gemüse und Fleisch herein. Herbert hatte genug damit zu tun, den Hals zu recken und wie sein Bubi zu schnuppern, was es Gutes gäbe.
»Also das ist heute die Henkersmahlzeit, Minna«, scherzte der Professor.
»Henkersmahlzeit, Vater, was bedeutet das?« erkundigte sich Herbert, der allen Dingen auf den Grund ging.
»Es ist die letzte Mahlzeit, die uns die Minna serviert. Sie verläßt uns doch heute am ersten April«, erklärte die Mutter.
»Aber sie wird ja nicht hingerichtet, sie heiratet doch bloß«, meinte Herbert mit Bedauern in der Stimme.
Entschieden hätte er eine Hinrichtung interessanter gefunden.
»Na, hoffentlich geht's mir nicht an den Gragen«, lachte Minna, die Küchenfee, die schon mehrere Jahre bei Professors im Hause war. Sie sprach als Thüringerin zum Gaudium der Zwillinge das harte K wie ein weiches G.
»Die Neue muß aber ›Sie‹ und ›Fräulein Suse‹ zu mir sagen«, überlegte das Töchterchen bei den grünen Bohnen. »Nicht wahr, Mutti? In der Schule wird auch jetzt zu uns ›Sie‹ gesagt. Wir sind doch schon Untersekundaner.«
»Dann habt ihr auch die Verpflichtung, euch danach zu benehmen«, meinte die Mutter, mit dem Finger drohend. »Wenn ihr euch allenthalben wie kleine Kinder herumbalgt, könnt ihr unmöglich die Rechte der Großen beanspruchen.«
»Ist ja Wurscht wie Schinken«, meinte der Sohn achselzuckend. »Aber, Mutti, wie kannst du kunstgerechtes Boxen nur als Balgerei bezeichnen! Wenn ich erst mal einen Boxerpreis gewinne, wirst du schon anders sprechen.«
»Vorläufig bestehen deine Boxerpreise in zerrissenen Anzügen, mein Junge«, meinte die Mutter belustigt.
Nach der »Gesegneten Mahlzeit« begleitete Suse die Omama in ihr gemütliches Parterrezimmer. Hier war sie zu gern in Großmamas Reich mit den alten Mahagonimöbeln. Das war eine Welt für sich, die längst versunken war, aus der die Großmama hin und wieder Geschichten auferstehen ließ.
Liebevoll bettete Suse ihre Omama in den großen Lehnsessel am Fenster und hüllte sie sorgsam in die gestrickte Wolldecke ein. Wie zart und gebrechlich die alte Dame in letzter Zeit geworden war. Frau Annchen, Großmamas altes Faktotum, pflegte zu sagen: »Unsere Frau Omama wird jeden Tag weniger.« Das war Suse immer komisch vorgekommen. Jetzt, wo Frau Annchen bei ihrem Sohn in Ostpreußen lebte, mußte Suse unwillkürlich an ihre Worte denken.
Die Großmama hatte mit zärtlichem »danke, mein Liebling« die Augen geschlossen. Auf den Zehenspitzen schlich sich Suse hinaus.
Was nun beginnen? Draußen war es heute wenig verlockend. Es hagelte schon wieder. Die Mutter war dem Vater in sein Arbeitszimmer gefolgt. Er diktierte ihr nach Tisch sein neuestes Werk über Erdbebenforschung in die Schreibmaschine. Minna, zu der Suse sich in das Souterrain zu einem Plauderstündchen begeben wollte, fuhrwerkte mit hochroten Backen in ihrer Küche herum, um ihrer Nachfolgerin alles blitzblank zu übergeben. Die hatte heute keine Zeit zu plaudern. Solch ein erster Ferientag war wirklich langweilig. Man wußte nichts mit sich anzufangen. Aber wozu hatte Suse denn ihren Zwilling? Herbert würde schon wie immer Rat wissen gegen Langeweile. Und er wußte Rat.
»Wir machen es uns auf meinem Ledersofa bequem und rauchen eine Friedenspfeife miteinander«, schlug er vor.
»Wir sind doch schon längst wieder gut«, wandte Suse ein, der der Vorschlag unbehaglich war. »Und du hast ja überhaupt keine Pfeife«, setzte sie erleichtert hinzu.
»Mensch, bist du doof! Wenn ich Pfeife sage, meine ich doch natürlich 'ne Zigarette. Übrigens hängt auch Vaters Studentenpfeife noch unten in seinem Arbeitszimmer. Herbert zog wie ein richtiger Kavalier ein Zigarettenetui aus der Tasche. »Zigarette gefällig?« Er bot der Schwester galant an.
»Woher hast du denn Zigaretten?« erkundigte sich Suse erstaunt.
»Nicht von Vaters Vorrat gemaust, sondern richtig gekauft. Wenn man Untersekundaner ist, muß man vor allen Dingen ein Etui mit Zigaretten haben. Sonst unterscheidet man sich doch überhaupt nicht von den kleinen Pennälern.« Herbert entzündete ein Streichholz und brachte geschickt seine Zigarette in Brand.
Suse sah voller Bewunderung auf ihren Zwilling. Wie ein richtiger Herr, der im Klubsessel seine Zigaretten raucht, saß er mit übergeschlagenen Beinen in der Ecke seines kleinen Ledersofas und stieß Dampfwolken in die Luft.
»Bitte, bediene dich«, er schob ihr die Zigaretten zu.
Zögernd nahm Suse eins von den weißen Dingern. »Vati hat neulich gesagt, wir sollen nicht zu früh mit Zigarettenrauchen anfangen, es sei ungesund für die Lunge.« Unschlüssig drehte sie die Zigarette zwischen den Fingern.
»Damals waren wir noch Tertianer, als er das gesagt hat. In der Untersekunda hat man die Verpflichtung, zu rauchen. Und überhaupt, wenn die Neue ›Sie‹ und ›Fräulein‹ zu dir sagen soll. Nun stecke doch schon endlich das Ding an. Schmeckt knorke.« Schon hielt ihr der Bruder ein brennendes Streichholz hin. »Kamel, du mußt doch nicht in die Zigarette reinblasen wie in eine Trompete, sondern die Luft einziehen – so – na, jetzt brennt sie endlich.« Mit Überwindung hatte Suse den Rauch eingezogen. Wenn Herbert meinte, daß sie als Untersekundaner die Verpflichtung hätten zu rauchen, durfte sie sich wohl nicht länger sträuben. Er wußte immer alles besser als sie. Aber der Zigarettendampf, den sie noch nicht richtig auszustoßen verstand, reizte abscheulich im Halse. Ein starker Hustenanfall unterbrach Suses erste Rauchkünste.
»Siehst du, meine Lunge ist bereits angegriffen«, stieß sie hustend heraus. Sie warf die brennende Zigarette, die schuldige Ursache, auf den Tisch.
»Dreimal gehörntes Nashorn – du brennst ja ein Loch in das Wachstuch!« Ein gelblichbrauner Sengfleck machte sich bereits auf dem weißen Wachstuch, das die Tischdecke ersetzte, bemerkbar.
Erschreckt schielte Suse auf das verdorbene Wachstuch, das den Tisch bedeckte. Denn eine Tischdecke hielt Herbert für unmännlich, außerdem störte sie ihn bei seinen verschiedenen zoologischen Liebhabereien.
»Jetzt knöpfe aber die Ohren auf, Mensch. Ich werde dir Unterricht im Rauchen geben. Sonst blamierst du mich auf der nächsten Jugendwanderung. Hier, nimm die Zigarette, lutsch nicht dran wie ein Säugling am Gummipfropfen. So – ziehen mußt du. Dampf ausstoßen – Volldampf – nicht husten – na, nun wird's ja!« Der Lehrer holte ein altes Tintenfass als Aschbecher herbei und rauchte selbst kunstgerecht seiner Schülerin die Zigarette vor.
Hochrot im Gesicht vom Husten und von der Aufregung versuchte Suse, es dem Bruder gleichzutun. Wenn sie nun alle beide davon lungenkrank wurden! Aber es rauchten doch so viele Leute – ja Große, aber Kinder? Schließlich war man doch mit vierzehn und ein halbes Jahr noch nicht groß, wenn man es auch gern sein wollte. Mit Todesverachtung hielt Suse die Zigarette zwischen den Lippen. Abscheulich schmeckte sie, gar nicht knorke. Wenn sie sich nicht vor ihrem Zwilling geschämt hätte, würde sie das ekelhafte, brennende Ding bestimmt in den Aschbecher oder vielmehr in das Tintenfass werfen. Und dann waren auch da noch andere Augen, vor denen es Suse peinlich war, als Untersekundanerin hinter Herbert zurückzustehen. Feuchtschwarze Hundeaugen sahen mit ungeheurem Interesse den ersten Rauchversuchen von Professors Zwillingen zu. Bubi, der Köter, saß aufrecht auf den Hinterbeinen und verwandte voller Hochachtung keinen Blick von seinem jungen Herrn. Suse schielte zu den Laubfröschen, zu den Bewohnern des Aquariums und Terrariums, zu den weißen Mäusen hinüber, die alle Herberts Stubengenossen und Freunde waren. Ob die am Ende auch das Publikum für ihre erste Zigarette bildeten?
Gottlob, das glimmende, weiße Röllchen wurde kleiner, auch wenn man nicht daran zog. Es verbrannte von selbst.
Herbert hatte bereits seinen Zigarettenstummel kunstgerecht im Tintenfass ausgedrückt. Jetzt griff er nach der zweiten Zigarette.
»Mensch, du rauchst ja mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit. Halte dich dran, wenn du mit mir Schritt halten willst, Suse.« Ritsch – da brannte Zigarette Nummer zwei.
»Herbert, um's Himmels willen, du bekommst bestimmt eine Lungenentzündung, wenn du so viel rauchst. Bitte, bitte, tu das olle Ding fort«, beschwor ihn Suse.
»Quatsche bloß keine Opern. Ich muß Ringe durch die Nase rauchen lernen. Das muß man in der Untersekunda können.«
Ach, du Himmel – was verlangte man nicht alles in der Untersekunda. Soweit verstieg sich Suses Ehrgeiz nicht. »Ob Paul wohl Ringe rauchen kann?« überlegte sie.
»Unser Ferienkind Paul? Na, der ist der Richtige. Neulich hat Vater ihm mal, als er Sonntags bei uns war, eine Zigarette nach Tisch angeboten. Sicher aus Spaß. Da hat er einen roten Kopf bekommen und gedankt. Er rauche nicht.«
»Und Vater fand das sehr verständig von ihm. Dabei ist der Paul doch schon sechzehn Jahre alt. Wenn Paul nicht raucht, brauche ich es auch nicht zu können.« Entschlossen warf Suse ihre Zigarette in den Tintenfass-Aschenbecher.
Vier Augen sahen sie mißbilligend an: zwei schwarze Hundeaugen und zwei blaue Jungenaugen. »Wie kannst du verlangen, daß das neue Mädchen ›Sie‹ und ›Fräulein Suse‹ zu dir sagt, wenn du noch solch ein Baby bist und nicht rauchen kannst«, brummte Herbert.
»Sie wird sich doch nicht gleich was von mir vorrauchen lassen – und, und – ach Gott, mir ist mit einem Male so eklig zumute – ganz Übel.«
»Mensch, kannste nicht mal 'ne halbe Zigarette vertragen?« Geringschätzig blickte der unentwegt paffende Herbert auf seinen Zwilling. »Grün und gelb kariert siehste aus, Suse. Geh auf den Balkon in die frische Luft«, lachte er sie aus.
Aber Suse kam nicht mehr so weit. Das Mittagessen, von dem ungewohnten Zigarettengenuss gehoben, ließ sich nicht länger im Magen zurückhalten. Suse erbrach es.
»Da haben wir die Bescherung und noch dazu in meinem Zimmer. Du bist wirklich noch nicht reif für die Untersekunda«, begann der Bruder zu räsonieren.
Suse hörte ihn gar nicht. Ihr war jämmerlich schlecht zumute. Sie wankte in ihr Zimmer, wusch sich, und legte sich auf ihr Bett. Nur nichts sehen, nichts hören.
Ihr Zwilling kam mit seiner Zigarette Nummer zwei auch nicht bis ans Ende. Gerade als er sich anschicken wollte, Minna zu bitten, sein Zimmer zu säubern, wurde ihm mit einem Male schwarz vor den Augen. Und dann erging es ihm ähnlich wie seinem Zwilling. Bubi begleitete sein Würgen mit Gejaule.
Als die Zwillinge nicht zum Kaffee erschienen, schüttelte die Mutter verwundert den Kopf. Unpünktlichkeit zu den Mahlzeiten war sie nicht von ihren beiden eßlustigen Sprösslingen gewöhnt. Noch dazu heute, wo der Vater der Versetzung zu Ehren Pfannkuchen zum Kaffee mitgebracht hatte.
Ach, Professors Zwillinge konnten die Versetzungspfannkuchen heute nicht genießen. Als die Mutter hinaufkam, zu sehen, wo sie geblieben, lag eins hüben und eins drüben als halbe Leiche. In der Verbindungstür aber saß miefend der Wache haltende Bubi.
Der Zigarettenrauch in dem Zimmer, die Bescherung auf dem Fußboden – da wußte die erfahrene Frau Bescheid. Ihre Zwillinge hatten heimlich geraucht, sie hatten ihren Tribut zollen müssen. Schadete ihnen gar nichts, den beiden, daß sie einen Denkzettel erhalten hatten.
»Ausbruch des Vesuvs«, erklärte Herbert mit Galgenhumor, trotzdem ihm noch hundsmiserabel zumute war.
Daß Minna mit ihrem Korb abzog, daß die neue Emma ihren Einzug hielt, machte kaum Eindruck auf die zwei. Was fragte Suse augenblicklich danach, ob man »Sie« und »Fräulein« zu ihr sagte. Gegen die Wand gerollt, lag sie da und wollte nichts sehen und nichts hören in ihrem Elend. Auch Herberts Großmannssucht hatte einen kleinen Dämpfer erhalten. Fürs erste hatten Professors Zwillinge genug vom Rauchen.
Am Sonntag war Paul Liedtke ein für allemal Gast bei Professors. Die ganze Woche freute er sich auf das Sternenhaus, so hieß das hübsche Landhaus des Professors der Sternenkunde allgemein in Jena. Zeigte es doch rings um das Gesims in blauem Grunde die bekanntesten Sternenbilder.
Paul war eine Waise. Vor Jahren, als Professors Zwillinge noch in Berlin wohnten, war er mit Herbert und Suse, obgleich er älter war als sie, in der Waldschule befreundet gewesen. Später, als er nach dem Tode seiner Mutter in ein Waisenhaus kam, vergoldeten die Ferien, die der arme Junge bei Professor Winter verleben durfte, das graue Einerlei seiner schweren Kindheit.
»Unser Ferienkind« hieß Paul im Sternenhause. Dort kehrte er regelmäßig zu Weihnachten und für die Sommerferien ein. Der Professor und seine Frau hatten den strebsamen wohlerzogenen Knaben menschenfreundlich in ihr Haus geladen, damit dem blassen Jungen, der in den engen Mauern des großstädtischen Waisenhauses aufwuchs, die notwendige Erholung zuteil wurde. Für Professors Zwillinge war das längere Zusammensein mit Paul immer ein Fest. Von Ferien zu Ferien machte man Pläne, was man alles unternehmen wollte, wenn »Paulchen« wieder kam. Die Eltern hielten das Zusammensein ihrer Kinder mit dem armen Waisenknaben für sehr wünschenswert. Es war ganz ersprießlich, daß die beiden mal sahen, wie gut sie es in treuer Elternobhut hatten, wenn ihnen auch nicht immer jeder Wunsch erfüllt wurde. Erst beim Vergleichen erkennt man, was man besitzt. Außerdem wirkte auf Herbert, der öfter etwas vorlaut war, Pauls bescheidenes, höfliches Wesen jedesmal günstig.