Project Eden - Darien Blum - E-Book

Project Eden E-Book

Darien Blum

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Beschreibung

Hier bestimmt Geld deine Gesundheit. Wer nicht viel davon besitzt, zahlt den Preis mit seinem Leben. Aiden glaubt, alles über seine Verlobte Leyla zu wissen – bis sie eines Tages verschwindet und er durch einen unbekannten Anrufer erfährt, dass sie nicht in seine Welt gehört. Eine rätselhafte Begegnung führt ihn in die Unterwelt, in der jeder Bewohner einzigartige Besonderheiten besitzt. Doch wütet dort ein tödlicher Virus, welcher ihre Fähigkeiten hemmt und sie langsam dahinsiechen lässt. Nur der teure Impfstoff des Pharmakonzerns Nexagene Cooperation macht es möglich, sich zu schützen. Allerdings wird der Konzern von einem Mann geführt, der seine Fähigkeiten nutzt, um über Leben und Tod zu entscheiden. Aiden erfährt, dass auch seine Verlobte betroffen ist und isoliert wird. Ihm wird eine unmögliche Aufgabe gestellt: Um Leyla zu retten, muss er den Bewohnern helfen. Aber wie soll ein einfacher Mensch, der dort unten ein Fremdkörper ist, eine ganze fremdartige Zivilisation retten? Gemeinsam mit Gwen, der Frau in seinem Kopf, setzt er alles daran, seine wahre Identität zu verbergen und sein altes Leben zurückzugewinnen. Ohne eigene Kräfte, in einer fremden Welt, in der Geld über Leben und Tod entscheidet, muss Aiden alles riskieren, um seine Verlobte lebend wiederzusehen.

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Seitenzahl: 356

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Project Eden

© 2024 Darien Blum

Lektorat von: Isabel Dinies,

https://phantastismus.de/phantastorat/

Coverdesign von: Neslihan Yardimli

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen postalisch unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland und per E-Mail unter [email protected].

Dieses Buch behandelt Themen, die für manche Leser:innen belastend sein könnten. Eine Liste mit detaillierten Triggerwarnungen findest du am Ende des Buches.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Project Eden

Cover

Titelblatt

Prolog

Epilog

Project Eden

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Prolog

Ein donnernder Schlag gegen die Tür ließ den jungen Vaclav aufschrecken. Er sprang hastig aus seinem Bett, und der durchdringende Blick seines Vaters jagte ihm einen Schauder über den Körper.

Im fahlen Licht der Straßenlaternen, das durch das kleine Fenster fiel, konnte er die bösen, funkelnden Augen seines Vaters erkennen. Ein älterer Herr mit bereits ergrautem Haar und in einen schlichten schwarzen Anzug gekleidet.

„Vaclav!“ Seine Stimme klang kühl und streng. „Es wird Zeit!“

Vaclav schluckte und nickte hastig, während er eilig seine Schuhe anzog. Seine Hände zitterten, weshalb er versuchte, sie vor seinem Vater zu verstecken. Er duldete keine Schwäche. Das hatte er in der Vergangenheit schon auf die harte Tour gelernt. Die Erwartungen seines Vaters lasteten schwer auf ihm, doch zeigte er nichts von alldem. Er hatte gelernt, seine Gefühle tief in sich zu verschließen. Dort, wo niemand sie sehen konnte.

Gemeinsam gingen sie durch das stille Haus, in dem Vaclav sich schon seit Jahren nicht mehr wie zu Hause fühlte.

„Nun hör doch auf, so vor dir herzuschleichen!“, raunte der ältere Herr, packte ihn mit festem Griff am Arm und zog ihn durch den langen Flur. Dieser war mit mattem Metall verkleidet und die Neonröhren an den Wänden flackerten unregelmäßig, warfen gespenstische Schatten, die durch den langen Flur tanzten. Es war nicht so, dass seine Eltern kein Geld für eine Reparatur hatten, allerdings war sein Vater der Überzeugung, dass die Dunkelheit seinen Sohn abhärten würde.

Vaclav ließ sich zügig durch den Flur ziehen, doch verzog er trotz den Schmerzen im Arm keine Miene. Es interessierte seinen Vater sowieso nicht, wie es ihm dabei ging und was er dazu zu sagen hatte. Früher, als er ihm durch Weinen oder ein einfaches Aua zu verstehen gegeben hatte, dass sein Griff zu fest war, wurde er mit einer Ohrfeige bestraft.

Als sie die schmale Wendeltreppe hinuntergingen, spürte Vaclav den kalten Luftzug im Flur, der durch die geöffnete Haustür, die sich direkt neben der Treppe befand, kam.

Sein Vater führte ihn hinaus in den Innenhof, wo nichts außer einem großen Metallblock stand.

Der Platz war von einem hohen Gitterzaun umgeben, und über ihm zogen sämtliche Drohnen, die sein Vater zur Überwachung seines Anwesens gebaut hatte, ihre Kreise.

Die kalte Nachtluft schnitt Vaclav ins Gesicht, und er spürte den erwartungsvollen Blick seines Vaters an sich haften.

„Heute wirst du mir ein weiteres Mal beweisen, dass du mein Sohn bist!“, sagte sein Vater mit Verachtung in der Stimme. „Zeig mir, dass du deine Fähigkeiten endlich ohne zu schnelle Anzeichen von Erschöpfung kontrollieren kannst!“

Vaclav straffte seine Schultern und trat in die Mitte des Platzes. Wie auch bei den Malen zuvor überkam ihn die Angst, seinen Vater zu enttäuschen. Perfektion war die einzige akzeptable Leistung. Womit wird er mich dieses Mal bestrafen, wenn ich nicht besser geworden bin? Wird er mich wieder schlagen, tagelang ignorieren oder doch nur das Mittag- und Abendessen ausfallen lassen? Vaclav kaute auf seiner Unterlippe herum und versuchte, die Sorgen aus seinen Gedanken zu verbannen. Doch das gelang ihm nicht. Stattdessen versuchte er, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bereits den Tränen nahe war.

„Beginne mit der Barriere“, befahl sein Vater.

Vaclav schloss die Augen und konzentrierte sich. Er spürte, wie die Energie in ihm wuchs und formte sie zu einer neonblauen Wand, die seinen Körper schützte. Er hielt die Barriere aufrecht, als sein Vater Metallkugeln aus seinen bloßen Händen auf ihn schoss.

Jeder Aufprall hallte in Vaclavs Kopf wider, aber er ließ die Barriere nicht fallen. Wenn er das tun würde, könnte er durch die Kugeln seines Vaters tödlich verletzt werden. Ob es ihn nahegehen würde, wenn ich tatsächlich getroffen werden würde?. Er war nicht sein einziger Sohn und er hatte die Befürchtung, dass er durch einen seiner Brüder ersetzt werden könnte. Ich muss alles geben, um weiterhin besser als meine Geschwister zu sein.

„Du musst stärker sein! Ich sehe doch, dass es dir langsam schwerfällt!“

Mit pochendem Kopf und zitternden Gliedern verstärkte Vaclav die Barriere, bis auch die größte Kugel an ihr abprallte. Doch das war nur der Anfang.

Sein Vater trat näher und Vaclav glaubte, einen Hauch von Anerkennung in seinen Augen gesehen zu haben.

„Jetzt testen wir deine Teleportationsfähigkeiten.“

Vaclav stellte sich den Ort vor, an den er sich hinbewegen wollte. Mit einem Mal verschwand er und tauchte einige Meter weiter wieder auf. Am Blick seines Vaters erkannte er, dass er nicht zufrieden war.

„Du musst schneller und präziser sein!“ Sein Vater stürmte auf ihn zu, packte ihn am Kragen seines Pullovers und zog ihn so weit zu sich hoch, dass Vaclav gerade so auf den Zehenspitzen stehen konnte. „Was war das denn?“, brüllte er. „Das waren ja keine zehn Meter!“

Vaclav starrte ihn mit großen Augen an. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, doch würde er für solch eine Reaktion nichts als Ohrfeigen erhalten. Und obwohl er ihn weiterhin mit geschocktem Blick ansah, nahm er seine Worte nur noch gedämpft wahr, bis sie zu einem Rauschen wurden. Er starrte ihn an, an ihm vorbei, driftete ab und bewegte sich in einer Welt zwischen Realität und Gedanken.

„Wir sind hier noch nicht fertig, junger Mann!“ Sein Vater stieß ihn mit beiden Händen von sich weg und Vaclav fiel.

Zwei Stunden vergingen, in denen Vaclav seine Kräfte bis an die Grenze des Möglichen trieb. Sein Körper schmerzte und sein Geist war völlig erschöpft. Doch so kurz vor der letzten Übung durfte er keine Schwäche zeigen.

„Heb den Metallblock zu deiner Rechten an.“

Vaclav konzentrierte sich und spürte das Gewicht des Blocks in seinem Geist. Langsam hob er ihn in die Luft, und der Block schwebte einen kurzen Augenblick, ehe er ins Schwanken geriet.

„Streng dich mehr an!“

Vaclav versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Ich kann nicht mehr! Aber ich muss meine Grenzen überschreiten, wenn ich nicht wieder von ihm erniedrigt werden will … Mit letzter Kraft schaffte er es, den Block zu stabilisieren und ließ ihn sanft zu Boden sinken.

„Das reicht für heute“, sagte sein Vater. „Du bist besser geworden, aber noch lange nicht gut genug, dass ich mich nicht für dein Können schämen müsste.“

Das war das höchste Lob, das Vaclav seit langem von ihm gehört hatte. Er nickte bloß, während er versuchte, die schwarzen Punkte in seinem Sichtfeld zu vertreiben und nicht auf der Stelle zusammenzubrechen.

Vaclav schleppte sich zurück ins Haus. Während er die Wendeltreppe zu seinem Zimmer hinaufging, spürte er, wie die Anspannung langsam von ihm abfiel. Doch die Gedanken, nicht gut genug zu sein, ließen ihn nicht los. Die Lektionen seines Vaters, dass nur Perfektion zählte und Schwäche und Gefühle zu zeigen inakzeptabel war, hatte er bereits verinnerlicht.

Kapitel 1

Endlich Feierabend. Aiden zückte den schweren Schlüsselbund aus seiner Ledertasche, schloss die Tür der Hausarztpraxis ab und ging über den Parkplatz, auf dem er schließlich vor seinem viel zu teuren Auto Halt machte.

„Auf Wiedersehen, Herr Sharp“, rief ihm eine der medizinischen Fachangestellten seiner Praxis zu.

„Bis morgen“, antwortete er mit einem Lächeln. Die Lichter seines Fahrzeugs leuchteten auf und er stieg auf der Fahrerseite ein.

Während der gesamten Fahrt von seiner Arbeitsstelle bis zu seinem Zuhause, die eine Strecke von etwa zwanzig Kilometern betrug, dachte er ausschließlich an die bevorstehende Hochzeit mit seiner Verlobten Leyla. Nur noch zehn Wochen, dann war es endlich so weit. Aiden grinste und fühlte sich beinahe wie ein frisch verliebter Teenager in der Honeymoon-Phase. Sein Leben war einfach perfekt. Er hatte vor ziemlich genau einem Jahr seine eigene Arztpraxis eröffnet und kürzlich das frisch renovierte Haus für ihn und Leyla fertig möbliert, sodass einer Hochzeit und einer baldigen Familienplanung nichts mehr im Wege stand. Aiden entsprach dem Idealbild eines Mannes der Gesellschaft: heterosexuell, durchschnittlich attraktiv, vergeben und mit beiden Beinen fest im Leben stehend. Er wuchs bei seiner liebevollen Tante auf, der er vieles zu verdanken hatte. Seine Mutter war alleinerziehend, verstarb jedoch, als er drei Jahre alt gewesen war, an einem Gehirntumor. Da auch die Großeltern bereits alt und dem Ableben nahe waren, nahm ihn die Schwester seiner Mutter bei sich auf und zog ihn groß, als wäre er ihr eigener Sohn. Aiden war privilegiert. Noch nie in seinem Leben hatte er mit irgendwelchen Vorurteilen zu kämpfen, ganz im Gegensatz zu seiner zukünftigen Frau Leyla. Doch das war ihm egal. Für ihn war sie ein Engel auf Erden, der nur das Beste verdiente. Er wünschte, er könnte ihr das Leid des Lebens nehmen.

Als Aiden die Tür zu seinem neuen Haus aufschloss, stellte er fest, dass im unteren Geschoss das Licht aus war. Leyla schien noch nicht zu Hause zu sein. Macht sie etwa Überstunden? Er warf einen Blick auf sein Smartphone. Bisher hatte er keine Nachricht von ihr erhalten, die ihn über ihr Zuspätkommen informierte. Das passte nicht zu ihr, und dennoch dachte Aiden sich nichts dabei. Also legte er die Schlüssel in die Glasschale auf dem Schuhregal, stellte seine Tasche im Eingangsbereich ab und verschwand in die Küche, um sich ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Anschließend ließ er sich in den grauen Wildledersessel im Wohnzimmer fallen und legte die Füße hoch. Aiden schaltete den Fernseher ein und zappte mit der Fernbedienung durch die Kanäle, bis er auf eine Krimiserie stieß, die Leyla gern ansah. Er hatte sich nie für Crime und solchen Kram interessiert, jedoch lief gerade nichts Besseres, und wenn Leyla sich so sehr dafür begeistern konnte, dann könnte er das vielleicht auch.

Während Aiden die Krimiserie verfolgte, tauchte er in eine ihm bislang fremde Welt des Verbrechens ein. Die spannende Erzählweise des Sprechers fesselte ihn. Beinahe jede Szene war ein wichtiges Puzzleteil für die Ermittler, um dem Täter auf die Spur zu kommen.

Nach einiger Zeit endete die Folge. Nun verstand Aiden, weshalb Leyla immer so vertieft in diese Krimiserie war. So vertieft, dass sie sogar jedes Mal ihr Essen kalt werden ließ. Er hatte es nicht einmal geschafft, sein Bier in den zwei Stunden zu leeren. Die Erkundung der menschlichen Psyche und deren Abgründe hatten ihn alles um ihn herum vergessen lassen.

Aiden blickte zur Uhr über dem Kamin. 23:10 Uhr. Leicht besorgt griff er in seine Hosentasche und sah erneut auf sein Smartphone. Keine verpassten Anrufe und auch keine Nachrichten. Aiden tippte auf dem Gerät herum und wählte ihre Nummer, doch anstatt des gewohnten Freizeichens, ging sofort die Mailbox an. Ihr Telefon war ausgeschaltet. Er atmete tief ein und wieder aus, rief ein zweites Mal an, aber dieses Mal hinterließ er ihr eine Nachricht:

„Hallo, Leyla. Ich mache mir langsam Sorgen um dich. Bitte ruf mich zurück, sobald du das hörst, okay? Ich liebe dich. Aiden.“

Entspann‘ dich. Aiden ging die Wendeltreppe zum Schlafzimmer hoch. Während er versuchte, sich nicht den Kopf zu zerbrechen, machte er sich bettfertig und legte sich hin. Doch egal, wie sehr er es auch versuchte, es war ihm einfach nicht möglich, einzuschlafen. Erst kürzlich wurde in den Medien über mehrere junge Frauen berichtet, die hier im Ort spurlos verschwunden waren. Bis heute wird nach ihnen gesucht – ohne Erfolg. Was, wenn Leyla dem Verantwortlichen ebenso zum Opfer gefallen war? Auch wenn noch niemand wusste, was den Frauen passiert war und ob sie überhaupt noch lebten, stellte Aiden sich vor, wie die Frauen irgendwo eingesperrt oder zu Handlungen gezwungen wurden, die sie nicht tun wollten. Gänsehaut überkam ihn, als er daran dachte, dass Leyla achtlos im Wald entsorgt werden könnte.

Er stand wieder auf, schlüpfte in die Hausschuhe und nahm sein Smartphone vom Ladekabel. Ein Blick auf das Gerät verriet, dass er nach wie vor keine Nachricht oder einen Anruf von Leyla erhalten hatte. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Leyla, was ist nur los? Wo bist du? Jede weitere Stunde, die sie nicht erreichbar war, verstärkte die beunruhigenden Spekulationen, die seinen Verstand quälten. Um sich von den grausamen Gedanken abzulenken, räumte er die letzten Umzugskartons aus und die Dekorationen in die Regale ein. Doch egal, wie er sie platzierte, es gefiel ihm nicht. Leyla konnte das einfach besser. Aiden ließ alles an Ort und Stelle stehen und ging den schmalen Flur auf und ab. Was ist, wenn sie bereits tot war? Sofort stieg die Anspannung und ein drückendes Gefühl machte sich in seiner Brust breit.

Aiden trottete ins Badezimmer und blickte in den Spiegel. In das Gesicht, das zehn Jahre jünger aussah. Doch die Müdigkeit konnte es nicht verbergen. Er spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und griff nach dem Handtuch neben dem Waschbecken. Er warf einen letzten Blick in sein müdes Gesicht, dann drehte er sich um und setzte seinen Gang Richtung Wohnzimmer fort.

Dort schaltete er erneut den Fernseher ein. Er wählte ihre Nummer von neuem. Doch wie auch bei den ersten beiden Malen ging sofort die Mailbox an und er legte auf. In früheren Beziehungen hätte er jetzt sämtliche Freunde seiner Partnerin angerufen. Aber Leyla hatte keine Freunde. Ebenso hatte sie keine Familie, die er nach ihrem Verbleib fragen konnte. Laut Leyla werde sie aufgrund ihrer psychischen Schwierigkeiten von ihrer Familie gemieden, und da es ihr schon immer schwerfiel, auf Menschen zuzugehen, fand sie keinen Anschluss. Manchmal fragte sich Aiden, ob es ihr wirklich nichts ausmachte oder sich doch insgeheim eine beste Freundin wünschte. Zwar sagte sie ihm immer, dass er ihr Partner und zugleich ihr bester Freund sei, aber mehr als eine wichtige Person im Leben zu haben, konnte doch nicht verkehrt sein. Er hatte vier richtig gute Kumpels, wovon er einen als seinen besten Freund bezeichnete. Seine restlichen Kontakte waren gute Bekannte oder enge Familienmitglieder, mit denen man sich ab und zu auf einen Plausch in der Stadt traf. Er selbst könnte sich ein Leben ohne seine Freunde nicht vorstellen. Aber er akzeptierte ihre Entscheidung und glaubte ihr, dass sie zufrieden war. Umso mehr wunderte es ihn, dass sie nicht erreichbar war. Leyla würde niemals so spät nach Hause kommen. Zu keinem Zeitpunkt während ihrer vierjährigen Beziehung war sie jemals unpünktlich erschienen. Um Punkt 17 Uhr ging immer die Tür auf, dann ging sie im örtlichen Park joggen, aß zu Abend und schaute um 21 Uhr ihre geliebte Krimiserie. Aber mittlerweile war es 1:52 Uhr in der Nacht und nichts von alldem hatte vergangenen Abend stattgefunden.

Aiden hielt es nicht mehr aus. Er griff nach dem Festnetztelefon und wählte hektisch die Nummer seines besten Freundes, als er einen Anruf von einer ihm unbekannten Nummer erhielt. Es vergingen mindestens fünf Sekunden, ehe er den Anruf entgegennahm und ein vorsichtiges „Hallo?“ in den Hörer säuselte.

„Hallo, Aiden. Du fragst dich vermutlich, wo Leyla steckt –“

„Wer ist da?“, unterbrach Aiden ihn hysterisch.

„Lass es mich dir erklären –“

„Erklären? Du Schwein! Wo ist sie?!“

„Ruhe“, sagte der Unbekannte mit tiefer, rauchiger Stimme ruhig, aber bestimmt. „Ich bin der Letzte, der ihr etwas antun würde.“

Aiden antwortete nicht. Stattdessen tippte er mit den Fingern nervös auf dem Hörer herum.

„Leyla ist nichts zugestoßen und bei mir in besten Händen –“

„Bist du etwa ein Verehrer?“

„Um Gottes willen, nein!“, sagte der Unbekannte.

„Was macht sie dann bei dir?“ Aidens Herz raste. Betrog sie ihn etwa? Wurde sie entführt? Aiden fiel es schwer, ihn nicht dazu zu drängen, seine Frage sofort zu beantworten. Vielleicht hatte er eine Folge dieser Krimiserie zu viel gesehen.

Der Mann am anderen Ende der Leitung seufzte. „Um ihr Überleben kämpfen.“

Aiden riss die Augen auf. „Bitte was? Was tust du ihr an?!“

„Ich merke, dass es keinen Sinn macht, dir die Lage sachlich zu erklären. Aiden, ich habe eine Bitte an dich: Komm um 3:00 Uhr diese Nacht zur alten Brücke. Du weißt schon, in der Nähe deiner Arztpraxis.“

Aiden wusste ganz genau, welchen Ort der Fremde meinte. Er ballte seine Hand zur Faust, während sein ganzer Körper zitterte. Um ihr Überleben kämpfen? Er atmete schwer in den Hörer, während dieser in seiner Hand merklich feucht wurde.

„Wirst du da sein?“, fragte der Unbekannte.

„J–ja … Ja! Ich werde da sein“, erwiderte Aiden verunsichert.

„Gut.“ Dann legte der Unbekannte auf.

Aiden ließ den Hörer langsam sinken und starrte für einen Moment lang die Wand an. Was passierte hier gerade?

Aiden ließ den Hörer fallen, sodass er am Kabel über dem Holzboden baumelte und diesen ab und an berührte.

„Verdammte Scheiße!“, brüllte Aiden und fasste sich gleichzeitig mit beiden Händen an den Kopf. Was, wenn das eine Falle war und ihm oder Leyla, sollte er hingehen, etwas zustoßen würde? Vielleicht sollte ich die Polizei verständigen? Doch diesen Gedanken verwarf er gleich wieder. Wobei … Der fremde Mann hatte ihm nie verboten, die Polizei ins Boot zu holen.

Aiden beobachtete den noch immer vor sich hin- und herschwingenden Hörer, welcher eine fast schon hypnotische Wirkung hatte. Er verengte seine Augen, dann griff er noch einmal zum Telefon und schaute auf die Liste der vergangenen Gespräche, um die Nummer abzuschreiben, damit er ihn, sollten sie sich am vereinbarten Ort nicht finden, mit seinem Smartphone anrufen könnte. Doch als er auf die vermeintliche Nummer des letzten Anrufers sah, rieb er sich die Augen und trat ein paar Schritte zurück. Was zur Hölle? Statt einer normalen Handy- oder Telefonnummer wurden lediglich komische Symbole, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, angezeigt. War das etwa irgendeine neumodische Strategie, mit der vermeintliche Straftäter nicht mehr zurückzuverfolgen waren?

Er zog seinen grauen Mantel an, schlüpfte in bequeme Sportschuhe, steckte seinen Schlüssel ein, einschließlich der Schusswaffe, die er illegalerweise besaß, und zog die Haustür hinter sich ins Schloss.

Aiden beeilte sich, den Frost von den Scheiben seines Wagens zu kratzen. Als dies erledigt war, rieb er sich die Hände und stieg ein. Er drückte aufs Gaspedal und fuhr in die Richtung, in die der Fremde ihn bestellt hatte.

Wie ein Irrer raste Aiden durch die dunklen Straßen, bis er an einer roten Ampel, so fest er konnte, auf die Bremse trat.

„Na komm schon! Werd' grün!“, rief er.

Als ihm endlich das gelbe Licht entgegen leuchtete, fuhr er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit los und durch die Innenstadt. Ob er dabei jemanden verletzen könnte, kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Alles was jetzt zählte, war, herauszufinden, was mit Leyla passiert war.

Vor seiner Praxis legte Aiden eine Vollbremsung hin, stieg aus, schlug die Autotür zu und joggte zur alten Brücke, unter der die Barrow floss. Er sah auf sein Smartphone. 2:57 Uhr. Der kühle Winterwind peitschte durch die Straßen, als Aiden hastig auf die Mitte der Brücke zuging. Die eisige Luft schnitt wie kleine Messer in sein Gesicht, während seine Finger bereits taub vor Kälte waren. Aiden biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Was war, wenn er sie in seinem Keller gefangen hielt oder vorhatte, sie zu missbrauchen? Was, wenn er nicht der Einzige war, der für Leylas Verschwinden verantwortlich war? Aiden wurde übel. Wenn er Lösegeld haben wollte, sollte er es bekommen. Hauptsache, Leyla würde nichts geschehen. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, aber die Angst um seine Verlobte trieb ihn voran.

In der Ferne, unter der Brücke, beobachtete er eine Gruppe junger Leute, die sich betrunken nach Hause schleppten, während gegenüber von ihnen Drogen gedealt wurden. Monnenburg. So dreckig und hässlich wie kein anderer Ort auf dieser Insel. Dieser Stadtteil war nicht der Beste zum Wohnen, dafür aber umso besser, wenn es darum ging, so viele Patienten wie möglich in die Praxis zu locken. Denn bisher hatte sich kein anderer Mediziner dazu entschlossen, in dieser Gegend eine Praxis zu eröffnen.

„Aiden?“

Diese Stimme erkannte er sofort, weshalb er sich augenblicklich umdrehte. „Ja, der bin ich!“ Er schaute nach rechts und links, hinter sich und geradeaus. Es war niemand hier. „Hallo?“ Doch plötzlich huschte ein großer Schatten über den einzig beleuchteten Fleck auf der Brücke. Aiden ging auf den unsagbar großen Mann zu, welcher sich nun auch ihm näherte.

„Ach du Scheiße!“, rief Aiden und blieb stehen.

Die Augen des fremden Mannes leuchteten in einem unnatürlichen Cyan. Sein Körper war übersät mit Tattoos, die an einigen Stellen hin und wieder Funken sprühten. Seine Kleidung war mit geometrischen, bunten Mustern verziert, die im Dunkeln leuchteten. An einem Ärmel war ein kleiner Touchscreen eingenäht. Aus den Schuhen traten kleine Rauchschwaden hervor, von denen er nicht wusste, ob sie nur der Optik dienten oder tatsächlich durch eine nützliche Funktion hervorgerufen wurden. Alles an diesem Kerl wirkte bizarr.

Das unheilvolle Summen der einzigen Straßenlaterne hinter ihm spiegelte die Unruhe in Aidens Herzen wider. Sein Blick wanderte von einem einzigartigen Merkmal zum nächsten. Doch noch bevor Aiden sich an diesem eigenartigen Menschen, wenn es denn einer war, sattsehen konnte, spürte er zwei kräftige Hände, die ihn von hinten packten. Eine dumpfe Benommenheit überkam ihn, bevor er etwas tun konnte. Alles verschwamm vor seinen Augen, und er fiel in Ohnmacht.

Kapitel 2

„Hat es geklappt? Gwen, kannst du mich hören?“

Die Dunkelheit umhüllte Aiden. Sein Kopf pochte. Vor seinen geschlossenen Lidern sah er Schatten und Lichter tanzen. Was ist passiert? Das Treffen bei der Brücke. Der merkwürdige Hüne. Hatte er ihn ausgeknockt und nun ebenfalls verschleppt, genauso wie Leyla? Er versuchte zu blinzeln, öffnete langsam seine Augen. Er befand sich in einem kalten, dunklen Raum, in dem das Surren von Technologie in der Luft zu hören war. Plötzlich wurde er von einem kühlen Licht, das an seiner Liege befestigt war, geblendet, und es dauerte einige Sekunden, bis seine Augen sich an die prompte Helligkeit gewöhnt hatten. Der Mann, welchen er an der alten Brücke getroffen hatte, trat näher an Aiden heran.

„Wo bin ich?“, brachte Aiden leise hervor.

„Du bist fernab jeder Gegend, die dir bekannt ist.“ Er räusperte sich. „Mein Name lautet Richard und ich habe dich in meine Welt entführt, weil ich deine Hilfe brauche.“ Er sagte es, als wäre dies etwas Alltägliches.

„Meine Hilfe? Deine Welt?“ Hat er irgendwelche Drogen genommen? Aiden versuchte in den fast schon leuchtenden Augen ein Indiz für den Drogenkonsum zu finden. Überraschenderweise wirkten sie erstaunlich klar. „Bist du nicht der, der meine Frau entführt hat?“ Aiden stützte sich auf seine Arme und richtete sich langsam auf.

Richard seufzte genervt. „Ich habe sie nicht entführt, und ich versichere dir, dass Leyla am Leben ist.“

„Aber wer und was bist du?“, fragte er und zog die Brauen zusammen.

„Meine Güte! Richard ist Leylas Familie.“

Aiden sah sich hektisch um. Aber keine weitere Person außer ihm und Richard schien anwesend zu sein. Er sah zu den schwebenden Monitoren vor der Wand, die vermutlich mit dem auf dem Tisch stehenden, ausgeschalteten Computer verbunden waren. Auch das flache Radio, welches wenige Zentimeter über dem durchsichtigen Schreibtisch schwebte, war still. Aiden sah an sich hinab und überprüfte die gepolsterte Liege, auf der er lag, nach möglichen eingebauten Lautsprechern oder Displays. Doch wie erwartet besaß die Liege keine solche Ausstattung. „Wer hat das gesagt?“

„Ich. Gwen.“

Aiden fasste sich panisch an den Kopf. „Warum hört es sich so nah an, als würde ich selbst sprechen?“ Er schüttelte den Kopf, zog sich an den Haaren und sprang auf. „Was passiert hier mit mir?!“

„Aua! Hör sofort auf!“, rief Gwen.

„Beruhige dich, Aiden“, sagte Richard und bat ihn darum, sich auf die Liege zu setzen.

Aber Aiden ignorierte seine Bitte. Stattdessen lief er in dem kleinen Computerzimmer auf und ab. „Was geschieht hier?“, fragte er panisch.

„Jetzt mach mal halblang, Alter“, meinte Gwen.

„Was ist das?! Warum spricht da eine Frauenstimme in meinem Kopf? Mach, dass es aufhört!“

„Ruhe!“, sagte Richard so laut, dass sowohl Aiden als auch Gwen verstummten. „Gwen hat recht. Ich bin Leylas Familie.“

„Aber sie hat doch gar keine Familie!“

„Nun, doch. Aber sie lebt hier in Spectropolis. Oder um es für einen Menschen verständlich zu erklären: Sie lebt hier in der Unterwelt.“

„Unterwelt? Wie bitte?“

„Exakt.“

„So, wie er es gesagt hat“, bestätigte Gwen.

Aiden schüttelte heftig den Kopf und fasste sich an die Haare. „Bitte erklär mir endlich, wie es sein kann, dass ich eine fremde Stimme in meinem Kopf höre!“

Richard ignorierte das von Gwen Gesagte, richtete die grelle Lampe, die an der Liege befestigt war, auf eine andere Ecke des Raumes und riss eine große schwarze Decke in die Höhe. Es kam eine Pritsche zum Vorschein, auf der eine junge Frau lag. Ihr Brustkorb bewegte sich langsam auf und ab. Verletzungen konnte Aiden nicht erkennen. Sie sah so aus, als würde sie bloß friedlich schlafen. Das Einzige, was seltsam wirkte, waren die Schnallen, die sie an die Pritsche fixierten.

„Wieso liegt sie da? Wieso wurde sie fixiert?“, fragte Aiden entsetzt.

„Nun“, Richard räusperte sich, „das ist Gwen, die Stimme in deinem Kopf.“

Aiden zeigte mit dem Finger auf sich selbst und riss die Augen auf. „Wie ist das möglich?“

Richard schmunzelte und deutete auf die Terrassentür neben dem Schreibtisch. „Geh raus und sieh dich um!“

Aiden blickte ihn skeptisch an, ging jedoch in die Richtung, in welche Richard mit seiner Hand gezeigt hatte. Die Scheiben waren schwarz gefärbt, weshalb sie einen Blick nach draußen nicht zuließen. Doch als er vor der Scheibe stehen blieb, geschah etwas, mit dem Aiden nicht gerechnet hatte: Die Scheiben wurden innerhalb von Sekunden glasklar, und noch bevor Aiden etwas dazu sagen konnte, öffnete sich die Tür von ganz allein.

„Nun geh schon“, sagte Richard fast schon freundlich.

Aiden setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Irgendwas in ihm hatte Angst vor dem Unbekannten, doch die Neugier trieb ihn, wenn auch langsam, vorwärts. Als Aiden endlich draußen stand, konnte er nicht fassen, was er sah.

Vor ihm lag eine Welt, welche sich unter der Oberfläche seiner bekannten Realität verbarg. Er stand inmitten einer Stadt, die in einem neonfarbenen Lichtermeer erstrahlte. Anders als in seiner Welt, gab es hier einen schwebenden Verkehr mit holographischen Ampeln, Schildern und pulsierenden Trennungslinien. Unter den Verkehrsstraßen liefen die Fußgänger. Als die Fluggeräte an der Ampel Halt machten, beobachtete er, wie sich jemand in einem spitzzulaufenden Fluggerät mit den bloßen Händen eine Zigarette anzündete. Ein anderer flog ganz ohne Transportmittel oder andere Hilfsmittel durch den Verkehr. Dies war ein Ort, an dem Mensch und Technologie verschmolzen waren. Genau hier, zwischen futuristischen Gebäuden, auf deren verspiegelten Fassaden Neonlichter tanzten, fliegenden Autos und bizarr aussehenden Menschen mit grellen Haarfarben und Implantaten, existierte wirklich eine Parallelwelt, von der die Menschheit nichts wusste.

Richard stand nun, mit den Händen in die Hüften gestemmt, neben Aiden. „Willkommen in Spectropolis, Aiden. Der Ort, an dem die Leute ihren eigenen Regeln und Gesetzen folgen.“

Elektronische Musik erfüllte die Luft, und Aiden fehlten die Worte. Seine Augen wurden größer, während sich sein Mund zu einem großen O formte. Hier sah es eins zu eins so aus, wie Aiden sich die Welt als kleiner Junge in zwanzig Jahren immer vorgestellt hatte. Aber während sich nach über zwanzig Jahren nur schleichend etwas verändert hatte, entwickelte sich die Unterwelt so weit, dass er glaubte, in die Zukunft gereist zu sein. Eine Zukunft weit entfernt von seinen Lebzeiten.

„Wie machen die das?“

„Was?“, fragte Richard und legte den Kopf schief.

„Feuer mit den bloßen Händen oder durch die Lüfte fliegen?“

„Jeder Bewohner der Unterwelt besitzt eine oder mehrere übermenschliche Fähigkeiten.“

„Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.“ Aiden stockte. „Ich habe so viele Fragen –“

„Deine Fragen werden sich alle während deines Aufenthalts von allein beantworten. Aber jetzt gibt es Wichtigeres, über das wir dich aufklären sollten.“

„Stimmt!“ Aiden starrte nach draußen, während er weitersprach: „Wo ist Leyla, und was meintest du, als du sagtest, dass sie um ihr Überleben kämpfe?“

Richard atmete tief ein und wieder aus und steckte die Hände in die Hosentaschen, ehe er zum Sprechen ansetzen wollte.

„Ich muss es jetzt wissen!“ Obwohl Aiden seine Augen von dem, was vor ihm lag, nur schwer abwenden konnte, drehte er sich zu Richard um, der in der Türschwelle stand. „Was hat sie mit alldem hier zu tun? Ich will doch nur wissen, wo sie steckt …“

„Du wirst es vermutlich nicht wissen, aber Leyla ist nicht von dort oben“, erklärte er und zeigte mit dem Finger auf die Decke, wobei er die Welt über ihnen meinte. „Sie kommt aus der Unterwelt, so wie Gwen und ich.“

„Aber …“

„Leyla hegt großes Interesse an der Welt dort oben und lebt neben ihrem Leben in Spectropolis ein zweites in der Welt der Menschen. Der Hauptgrund dafür bist du. Begeistert war ich nicht, als sie mir davon erzählte. Gerade, weil wir fürchteten, sie könnte auffallen. Aber sie ist schlau und weiß ihr wahres Aussehen vor den Augen eines Menschen zu verbergen.“

Aiden schüttelte den Kopf. „Also hat sie mich belogen?“ In dem Moment glaubte Aiden, sein Herz stünde still. Er hatte sich schon ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt. Zudem waren sie nicht mehr weit davon entfernt, all das, was sie sich schon immer gewünscht hatten, zu erreichen. Sie wollten heiraten, eine Familie gründen; wenn sie irgendwann alt wären, die Welt erkunden. Sie hatte ihm doch immer gesagt, dass sie bei ihm endlich Frieden finden konnte. War das etwa auch gelogen?

„Sagen wir es so …“ Richard kratzte sich am Hinterkopf und sah Aiden an. „Sie hat dir einen großen Teil über sich verheimlicht. Aber wenn du die ganze Wahrheit über Leyla erfahren willst, musst du sie selbst fragen.“

„Bitte lass mich zu ihr!“ Aiden schluckte und senkte den Blick. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, ehe er sie bewusst wieder öffnete. Wut wechselte sich mit Sorge ab, mit Erkenntnis und Betroffenheit. Leylas engelsgleiches Gesicht erschien vor ihm und die Sorge überwiegte. Entschlossen sah er wieder zu Richard. Er musste zu Leyla, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging, ganz gleich, was nun zwischen ihnen stand.

„Mir ist Leyla mindestens genauso wichtig wie dir, Aiden, weshalb ich sie vorerst isoliert habe.“

„Isoliert?!“

„Und da kommen wir auch schon zu dem Grund, weshalb du hier bist: Leyla ist krank. Schwerkrank. So wie viele andere hier unten auch. Wir wissen nicht, wie das passieren konnte. Zumindest bisher nicht. Aber es ist ein Virus ausgebrochen.“ Richard sah zu Boden und seufzte, ehe er Aiden, welcher gerade den Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen, wieder ansah. Doch ließ er Aiden nicht zu Wort kommen und sprach weiter: „Zuerst haben wir es für eine harmlose Erkältung gehalten, doch schnell stellte sich heraus, dass der Virus schwerwiegendere Folgen hat, als wir vermuteten.“ Richard griff sich in die Hosentasche und zückte sein Smartphone. Er drückte auf dem Display herum, dann erschien zwischen ihnen eine holographische Karte. „Das ist Spectropolis. Die rot markierten Stellen sind die Orte, welche besonders befallen sind.“

Aiden starrte auf die Karte. Mehr als die Hälfte aller Bezirke waren rot!

„Nun liegt es an dir, mithilfe von Gwen, dem Virus den Kampf anzusagen.“

„Was? Wenn das Virus, so wie es sich anhört, tödlich für euch ist, werde ich, ein einfacher Mann ohne besondere Fähigkeiten, schneller daran sterben, als mir lieb ist! In der Oberwelt haben wir ja schon kaum antivirale Medikamente. Dann wird so ein Virus aus der Unterwelt weitaus fortgeschrittener oder gar mutiert sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann euch nicht helfen.“

„Genau das ist der Knackpunkt, Aiden. Das Virus befällt erst langsam die Synapsen des Gehirns, die für die Funktionen der Fähigkeiten verantwortlich sind. Nach und nach fällt es den Bewohnern schwer, ihre Fähigkeiten einzusetzen, und wenn das Virus sich so tief eingenistet hat, dass die Fähigkeiten nicht mehr existent scheinen, dann sterben sie langsam vor sich hin. Für jemanden, der diese Synapsen aber nicht besitzt, für einen Bewohner der Oberwelt beispielsweise, ist das Virus vollkommen ungefährlich.“

Aiden legte Daumen und Zeigefinger ans Kinn. „Aber wie ist das überhaupt möglich? Wieso entwickeln die Leute hier unten Fähigkeiten, die es in meiner Welt gar nicht gibt?“

Richard zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt wissen wir es selbst nicht genau“, antwortete er. „Es gibt viele Theorien, aber keine definitiven Antworten auf die Frage. Einige glauben, dass es an den einzigartigen Umweltbedingungen hier unten liegt. An der ständigen Dunkelheit, die in der Unterwelt herrschen würde, wenn wir keine künstliche Sonne hätten. Einige Wissenschaftler vermuten aber auch, dass unsere Vorfahren Genexperimente durchgeführt haben.“ Er machte eine kurze Pause. „Was wir jedoch wissen, ist, dass sich diese Fähigkeiten erst mit der dritten oder vierten Generation entwickelt haben.“

Aiden schaute ihn fasziniert an und nickte. „Ich verstehe. Verrückt, dass dieses Virus genau das angreift, was euch besonders macht.“

Richard lachte sarkastisch. „Es ist eine grausame Ironie, dass unsere größte Stärke nun auch unsere größte Schwäche ist.“

Aiden schaute nachdenklich an ihm vorbei. „Aber was ist mit einem Impfstoff? Die Technologie hier unten scheint so weit vorangeschritten zu sein, dass es mir unmöglich scheint, kein Heilmittel zu finden.“ Seine Stirn war in Falten gelegt, während ein Mundwinkel nach oben gezogen war.

„Es gibt einen Impfstoff“, erwiderte Richard.

„Und wo liegt dann das Problem?“ Er sah wieder zu ihm auf.

„Na ja“, antwortete Richard, eine Hand in die Hüfte gestemmt und mit der anderen vor seiner Brust gestikulierend, „Wir können es uns nicht leisten.“

Aiden stockte der Atem. Lag es denn nicht im Interesse aller, das Virus schnellstmöglich auszubremsen?

„Der Pharmakonzern Nexagene Coorporation hat schon vor längerer Zeit einen Impfstoff dagegen entwickelt. Der wird nur gegen eine saftige Summe Geld verabreicht. Eine so große Summe, dass nur die Reichen sich ihn leisten können.“

Aiden ballte seine Hand zur Faust. Wie konnte man die Gesundheit der Leute von ihren finanziellen Mitteln abhängig machen? Ausreichende Gesundheitsversorgung sollte ein Grundrecht sein. Und genau hier lag das Problem: Es gab keine Rechte und auch kein Gesetz, und somit durfte der Hersteller mit dem Impfstoff verfahren, wie es ihm beliebte. Wenn ich die Mittel hätte, würde ich jedem medizinisch helfen, dachte Aiden. Doch wie könnte hier unten jedem geholfen werden? „Was ist mit einer Ratenzahlung?“

Richard lachte auf. „Kein schlechter Gedanke, und tatsächlich ließ sich der Kopf des Pharmakonzerns anfangs darauf ein. Doch als die fälligen Zahlungen von den meisten hier in nur sehr unregelmäßigen Abständen überwiesen wurden, da selbst das einfach zu viel Geld war, stellte er die Möglichkeit aufgrund von Unzuverlässigkeit der Bewohner ein. Viele leben durch die Schulden am Existenzminimum und mussten abwägen: Rate oder Miete zahlen? Und, nun ja, wie soll ich sagen? Seit der Einstellung dieser Möglichkeit, sind viele Leute, welche ihre Schulden nicht begleichen konnten, von der Bildfläche verschwunden. Spurlos.“

Aiden konnte nicht fassen, was er da hörte. Obwohl viele in der Oberwelt, je nachdem, in welchem Land sie lebten, es sich nicht mal leisten konnten, überhaupt zum Arzt zu gehen, fand er es fatal, dass die Unterwelt diesbezüglich nicht fortgeschrittener als die Oberwelt zu sein schien.

„Wieso hat man denn keinen Lockdown veranlasst, sodass es gar nicht erst zu so einem großen Ausbruch kommt?“ Aiden stemmte die Hände in die Hüften.

Richard zuckte mit den Schultern. „Hier lebt nun mal jeder nach seinen eigenen Gesetzen.“

„Gibt es keine Polizei oder ein Gericht?“

Er lachte. „Nein, Aiden. Ich meine es genau so, wie ich es gesagt habe.“

Aiden fuhr mit den Händen über sein Gesicht. „Und was soll ich da jetzt machen?“

„Du willst doch, dass Leyla wieder gesund wird, oder?“ Richard senkte seinen Blick und sah Aiden mit erhobenen Brauen an.

„Klar!“, rief Aiden und legte seine Finger ineinander, begann sie zu kneten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. „Um Gottes willen, mehr will ich gar nicht! Aber wie glaubst du, dass ich euch helfen könnte? Kein einziger Mann, erst recht keiner aus der Oberwelt, könnte diese Welt, und wie sie funktioniert, verändern!“

„Das verlangt ja auch keiner. Es reicht schon, wenn du es schaffst, eine Lösung zu finden, um diese Krankheit in den Griff zu bekommen.“

„Ich bin Arzt! Kein Wissenschaftler oder Virologe.“

„Weißt du, Aiden …“ Richard verengte seine Augen. „Ich halte nicht viel von Menschen. Aber du bist nun mal der Geliebte der Tochter meines verstorbenen besten Freundes. Der Mann, den ich seit Kindheitstagen kannte. Welcher selbst diesem Virus erlegen ist. Er würde nicht wollen, dass seine Tochter mit einem stinknormalen Menschen wie dir zusammen ist, aber wenn du dir unseren Segen und Respekt verdienen willst, beweise uns, dass du würdig bist, um um die Hand einer Bewohnerin der Unterwelt anhalten zu dürfen. In dieser Welt hat eure Verlobung keine Geltung. Und wenn du schon keine besonderen Fähigkeiten hast, zeige uns, was dich von dem Rest der Menschheit abhebt. Sonst hätte sich Leyla nicht in dich verliebt. Deine Aufgabe ist nicht nur, die Unterwelt zu retten, sondern auch deine Verlobte.“

Aiden fühlte sich überwältigt. Die immense Verantwortung, welche ihm zuteilwurde, beunruhigte ihn. „Es ist ein Unterschied, ob ich meine Verlobte retten muss oder die ganze Unterwelt, die offensichtlich nichts von Menschen hält.“

„Du hast keine Wahl, Aiden!“