Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik - Immanuel Kant - E-Book

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik E-Book

Immanuel Kant

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Beschreibung

Edition Philosophie Magazin: Eine exklusive Auswahl zentraler philosophischer Texte durch das »Philosophie Magazin«. Mit dem ungekürzten Originaltext sowie - einer sachkundigen Einleitung von Volker Gerhard - einer Zeitleiste zu Leben und historischem Kontext - Erläuterungen der Grundbegriffe Kants - mit Beiträgen von Frank M. Wuketits, Marcus Willaschek sowie Otfried Höffe zur bleibenden Bedeutung des Werks Kants ›Prolegommena‹ ist die Kurzfassung seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹, eines der wichtigsten Bücher in der Philosophiegeschichte überhaupt. Hier legt er seine Vernunftkritik und seine Kritik an der Metaphysik in zugänglicher Weise dar – die ideale Einführung in seine Gedankenwelt.

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Immanuel Kant

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik

Mit einer Einführung und begleitenden Texten

Herausgegeben von Edition philosophie Magazin

FISCHER E-Books

Inhalt

EinführungDaten zu Kants LebenDaten zum geschichtlichen KontextKants GrundbegriffeVernunftkritikDie kopernikanische WendeAutonomieDer kategorische ImperativPflichtDas SchöneWerke Kants SchriftenWeiterführende LiteraturStimmen zu Kants Bedeutung»Tiefer Menschenkenner« Von Franz M. Wuketits»Radikale Freiheit« Von Marcus Willaschek»Es lebe die Republik!« Von Otfried HöffeVernunftkritik bei KantImmanuel Kant Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können| Prolegomena Vorerinnerung von dem Eigentümlichen aller metaphysischen Erkenntnis§ 1. Von den Quellen der Metaphysik§ 2. Von der Erkenntnisart, die allein metaphysisch heißen kann§ 3. Anmerkung zur allgemeinen Einteilung der Urteile in analytische und synthetische 31, 32Der Prolegomenen allgemeine Frage, Ist überall Metaphysik möglich? § 4 33Prolegomena Allgemeine Frage, Wie ist Erkenntnis aus reiner Vernunft möglich? § 5Der transzendentalen Hauptfrage Erster Teil. Wie ist reine Mathematik möglich?§ 6§ 7 49, 50§ 8 51§ 9 52§ 10§ 11 54, 55§ 12 56§ 13Anmerkung I 60Anmerkung II 63Anmerkung IIIDer transzendentalen Hauptfrage Zweiter Teil. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?§ 14| § 15§ 16 73, 74§ 17 75§ 18§ 19§ 20 82§ 21| § 21§ 22§ 23| § 24 91, 92§ 25§ 26§ 27§ 28| § 29 100, 101§ 30§ 31 103, 104§ 32§ 33§ 34 107, 108§ 35Wie ist Natur selbst möglich? § 36§ 37§ 38 114, 115§ 39. Anhang zur reinen Naturwissenschaft von dem System der Kategorien 117, 118Der transzendentalen Hauptfrage Dritter Teil. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?§ 40§ 41§ 42 128§ 43§ 44 130, 131| § 45. Vorläufige Bemerkung zur Dialektik der reinen VernunftI. Psychologische Ideen. (Kritik, S. 341 u. f.) § 46 135§ 47§ 48| § 49 139, 140 Anm. 139II. Kosmologische Ideen. (Krit., S. 405 u. f.) § 50§ 51§ 52§ 52b§ 52c| § 53§ 54 158| III. Theologische Idee. (Kritik, S. 571 u. f.) § 55 159§ 56. Allgemeine Anmerkung zu den transzendentalen Ideen 160, 161| Beschluß von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft. § 57| § 58§ 59 181§ 60Auflösung der allgemeinen Frage der Prolegomenen Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?Anhang von dem, was geschehen kann, um Metaphysik als Wissenschaft wirklich zu machen 201, 202Probe eines Urteils über die Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht| Vorschlag zu einer Untersuchung der Kritik, auf welche das Urteil folgen kannEditorische Notiz

Einführung

Von Martin Duru

Königsberg, der politische und kulturelle Mittelpunkt Ostpreußens im 18. Jahrhundert. Ein kleines Haus im Stadtzentrum. Es ist fünf vor fünf in der Früh. Lampe, der Hausdiener, dem man noch immer den früheren Soldaten anmerkt, betritt das Schlafzimmer und sagt in unerbittlichem Tonfall: »Es ist Zeit.« Ohne das geringste Murren schlägt der Herr die Laken zurück. Er ist klein, gerade 1,59 Meter, mager, mit eingefallener Brust, die linke Schulter sitzt ein wenig höher als die rechte, die Augen sind auffallend blau. Sein Name ist Immanuel Kant. Der Tag beginnt mit dem immer gleichen Ritual und folgt dann dem immer gleichen, minuziös eingehaltenen Stundenplan. Was seine Moralphilosophie angeht, wurde Kant Rigorismus vorgehalten – zumindest in puncto Selbstdisziplin trifft dieser Vorwurf ins Schwarze.

Punkt fünf Uhr sitzt der Philosoph am Schreibtisch, um zu frühstücken: zwei Tassen Tee und eine Pfeife – die erste und einzige des Tages. Danach kleidet er sich sorgfältig an, setzt seine weiß gepuderte Perücke auf, darüber den Dreispitz und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Um sieben Uhr beginnen Kants Vorlesungen an der Albertus-Universität, später hält er sie im Untergeschoss seines Hauses in der Prinzessinnenstraße ab. Kant starb hier am 12. Februar 1804; 80 Jahre zuvor, am 22. April 1724, war er als viertes von neun Kindern eines Königsberger Sattlermeisters geboren worden. Abgesehen von seiner Zeit als Hauslehrer bei Adelsfamilien in der ostpreußischen Provinz, hat Kant seine Heimatstadt nie für längere Zeit verlassen. Niemals ist er ins Ausland gereist, nie hat er sich in eines der intellektuellen Zentren der Umgebung wie Riga begeben. Selbst den Ruf an die Universität Erlangen verschmähte er unter Verweis auf seine enge Verbundenheit mit Königsberg.

Bevor Kant 1770 endlich den lang ersehnten Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der heimischen Universität erhielt, verdingte er sich als Privatdozent. Neben Philosophie unterrichtete er auch Theologie, Pädagogik, Mathematik, Physik, Mechanik, und als einer der Ersten führte er in Deutschland Geographie als akademische Disziplin ein, das Fach war ihm Privatpassion. Die Berichte von Missionaren und Forschungsreisenden regten ihn zu eigenen Betrachtungen über die Völker entlegener Kontinente an. Einige seiner Ausführungen sind deutlich dem Zeitgeist verhaftet und rufen heute Befremden hervor. Dennoch sah der sesshafte Kant sich selbst als Kosmopolit, als »Weltbürger«.

Bis zum späten Vormittag dauern die Vorlesungen. Unmittelbar danach macht sich Kant ans eigentliche philosophische Geschäft. Die Einrichtung seines Arbeitszimmers ist einfach, aber komfortabel. Das Porträt Rousseaus hängt an der Wand. Die Zimmertemperatur muss konstant auf 75 Grad Fahrenheit (23 °C) gehalten werden. Kant war von derart zarter Konstitution, dass schon »ein frisch gedrucktes, noch feuchtes Zeitungsblatt« genügte, um ihm einen Schnupfen zu bescheren. Nicht ohne Stolz blickt er am Ende seines Lebens auf sein Werk zurück, das er seiner »schwächlichen Leibesbeschaffenheit« durch eine der Vernunft untergeordnete Lebensführung abgetrotzt hat. Begonnen hat er dieses Werk im Jahr 1746 mit den »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« – einer Schrift von nahezu schwärmerischer Vernunftgläubigkeit, noch weit entfernt von der philosophischen Sprengkraft seiner drei Kritiken: Die erste schrieb Kant 1781 nach einer fast zehnjährigen Phase des Nachdenkens und Verwerfens innerhalb von fünf Monaten »gleichsam wie im Flug« nieder. Allerdings floppte die erste Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft«.

Mit der zweiten, überarbeiteten Fassung von 1787 gelang ihm der Durchbruch in der gelehrten Welt. Als moralphilosophische Hauptschrift folgte im Jahr 1788 die »Kritik der praktischen Vernunft«, und mit der »Kritik der Urteilskraft« von 1790 setzt Kant den »Schlußstein« seiner kritischen Systemarchitektur. Als Kind der Aufklärung wendet Kant die aufklärerische Frage nach Legitimationsansprüchen auf die Philosophie selbst an. Der Perspektivwandel, den wir ihm verdanken, betrifft unser Wissen ebenso wie unser Handeln.

Selbst der Geistmensch lebt nicht vom Denken allein. Kant speiste nur ein einziges Mal am Tag, dafür ausgiebig und stets in Gesellschaft – um Punkt 12.45 Uhr. Als junger Mann suchte er mittags Gaststätten auf, in seinen letzten zwei Lebensjahrzehnten empfing er Freunde bei sich. Zu den Regeln dieser Zusammenkünfte gehörte, dass die Anzahl der Tischgenossen »nicht unter der Zahl der Grazien, und nicht über der der Musen sein« durfte, zwischen drei und neun Personen also hatten an einer idealen Tafel zu sitzen. Zu den Geladenen gehörten Professoren, Kirchenmänner, Ärzte, Offiziere, Händler. Ein Philosoph hatte für Kant »konversabel mit allen Ständen zu sein«. Denn wenn der Philosoph sich »verhocke«, koste es ihn Weltkenntnis. In Gesellschaft wandelte sich Kants melancholisches Temperament zur schalkhaften Ironie. Als Gastgeber achtete er darauf, dass jeder zu Wort kam. Peinliche Gesprächspausen galt es zu vermeiden. Kant war regelrecht versessen auf Fleischgerichte, dazu gab es meist Rotwein. Strengstens tabu waren philosophische Themen und Bier. Der Hopfensaft stand bei Kant im Verdacht, sämtliche Leiden zu begünstigen.

Bis mindestens 16 Uhr dauert ein Mittagessen im Hause Kant. Danach steht ein weiteres unerlässliches Ritual an: der tägliche Spaziergang. Die Regelmäßigkeit dieser Promenaden ist legendär. Heinrich Heine kolportierte, dass die Königsberger ihre Uhren nicht nach den Schlägen des Kirchturms, sondern nach dem vorbeiflanierenden Philosophen gestellt haben sollen. Zweimal allerdings hat Kant seine Mitbürger verwirrt: 1762 blieb er mehrere Nachmittage im Haus, vertieft in die Lektüre von Rousseaus »Emile«. Ein anderes Mal hielt er seine gewohnte Marschroute nicht ein, weil er sich Zeitungen besorgen wollte, um sich über den Stand der Französischen Revolution zu informieren. Kant begrüßte dieses Ereignis als epochalen Fortschritt der Menschheit. In dem revolutionären Ruf nach »liberté, égalité, fraternité« erkannte er seine eigenen Ideale Freiheit und Mündigkeit wieder. Selbst als die Revolution mit Beginn des blutigen Terrorregimes dazu überging, ihre eigenen Kinder zu fressen, bekundete Kant zum Entsetzen seiner Freunde weiterhin Begeisterung. In erstaunlichem Kontrast hierzu stehen Kants theoretische Ansichten über Aufstände gegen die staatliche Obrigkeit: In seinen rechtsphilosophischen Schriften lehnt er derlei strikt ab.

Gegen sechs Uhr sitzt er wieder am Schreibtisch. Bei aufkommender Dämmerung schaut er aus dem Fenster, direkt auf die Löbenichter Kirche. Kant liebte den Anblick dieses – später im Zweiten Weltkrieg zerstörten – sakralen Ziegelbaus, vor allem die anmutig geschwungene Turmspitze. Wahrscheinlich geriet er bei diesen abendlichen Betrachtungen in jenen Zustand des »uninteressierten Wohlgefallens«, den er im Zusammenhang mit seiner Theorie des Schönen in der »Kritik der Urteilskraft« beschreibt.

Punkt zehn löscht Lampe die Lichter. Kant hat sich nach einer komplizierten Methode in seine Decken eingewickelt (»emballiert wie ein Kokon«), es herrscht nun strengste Bettruhe. Sieben Stunden sind für den gesundheitsfanatischen Philosophen das optimale Schlafpensum, werde es überschritten, wandle sich das Bett in einen Hort der Krankheiten, so seine Befürchtung. Kant schläft stets allein. Er bleibt zeitlebens ein kompromissloser Junggeselle, keineswegs aus Mangel an Gelegenheiten. Sein Biograph Borowski spricht von »zwei seiner würdigen Frauenzimmer, die nacheinander sein Herz« eroberten. Doch die eine zog plötzlich in eine entlegene Gegend, »die andere gab einem rechtschaffenen Manne sich hin«, weil Kant zu lange mit dem Heiratsantrag zögerte. Er wird wohl ohne tiefere Erschütterung darüber hinweggekommen sein.

Höchstwahrscheinlich hat Kant auch deshalb nie geheiratet, weil er in den Pflichten eines Ehe- und Familienlebens ein Hindernis für seine philosophische Daseinsaufgabe sah. Bereits in seiner ersten Schrift, den oben erwähnten »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte«, hat Kant den Wunsch nach Freiheit als seine wichtigste Denk- und Lebensmaxime formuliert. Er haderte sehr mit dem Zustand der unverschuldeten Unmündigkeit, in den er geriet, als im Alter seine körperlichen und geistigen Kräfte schwanden. Auf dem Sterbebett gelang es ihm dennoch, die Bilanz seines Lebens in drei Wörter zu fassen: »Es ist gut.«

Daten zu Kants Leben

1724

Geburt in Königsberg, der Hauptstadt Ostpreußens.

1747

Tod des Vaters. Kant verdient seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer bei Adelsfamilien in der Provinz.

1755

Kant kehrt nach Königsberg zurück, um seinen Magister an der Albertus-Universität zu absolvieren. Danach unterrichtet er als Privatdozent.

1770

Nachdem Kant seine Dissertation »Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen« verteidigt hat, erhält er die lang ersehnte Professur für Logik und Metaphysik.

1781

Erstveröffentlichung der »Kritik der reinen Vernunft«. Mit Erscheinen der zweiten Auflage im Jahr 1787 wird Kant zum meistdiskutierten Philosophen der Zeit werden.

1790

Zwei Jahre nach der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) erscheint nun Kants dritte kritische Hauptschrift, die »Kritik der Urteilskraft«. Der Philosoph ist auf dem Höhepunkt seines Ruhms.

1796

Im Juli hält Kant seine letzte Vorlesung. Ein Jahr später erscheint die »Metaphysik der Sitten«.

1804

Kant stirbt am 12. Februar 1804 und wird im Professorengewölbe am Königsberger Dom beigesetzt.

Daten zum geschichtlichen Kontext

1740

Friedrich II., der »Alte Fritz«, herrscht über Preußen.

1756

Beginn des Siebenjährigen Krieges. Preußen und England kämpfen gegen Österreich, Frankreich und Russland.

1758

Königsberg gerät unter russische Besatzung. Unter den Hörern von Kants Vorlesungen sind viele russische Offiziere.

1770

Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird in Stuttgart geboren.

1778

Jean-Jacques Rousseau stirbt in Ermenonville.

1786

Nach dem Tod Friedrichs II. besteigt dessen Neffe Friedrich Wilhelm II. den preußischen Thron.

1789

Beginn der Französischen Revolution. Sturm auf die Bastille.

1793

Ludwig XVI. wird auf der Guillotine hingerichtet. Die Revolution hat das Stadium des Terreur erreicht. Preußen verbündet sich mit Österreich und anderen Monarchien gegen Frankreich.

1804

Napoleon Bonaparte krönt sich selbst zum Kaiser der Franzosen.

Kants Grundbegriffe

Von Marianna Lieder

Kant verweist die Vernunft in ihre Schranken, sein Sittengesetz fordert unbedingten Gehorsam. Er tut dies in der Absicht, dem Menschen zu neuem Vertrauen in seine Erkenntnisfähigkeit zu verhelfen, und ernennt ihn zum obersten Befehlshaber seiner selbst.

Vernunftkritik

Das Wort Kritik, das im Titel der drei Hauptschriften Kants auftaucht, bedeutet nicht etwa Beanstandung oder Tadel, sondern prüfende Untersuchung. Kant geht es mit seiner Vernunftkritik um eine systematische Bestandsaufnahme und Selbstvergewisserung des menschlichen Erkenntnisvermögens. Als Wissenschaft von den notwendigen und allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis will er die Transzendentalphilosophie verstanden wissen. In der ersten »Kritik« sucht er vor allem nach einem Weg, die ewigen Streitereien zwischen Empiristen (Locke, Hume) und Rationalisten (Leibniz, Wolff) zu überwinden. Während die einen ganz auf sinnliche Wahrnehmung setzen und die ewigen Wahrheiten der Ratio zum bloßen Hirngespinst erklären, frönen die anderen einem regelrechten Vernunftfetischismus und meinen, die Welt unabhängig von der Empirie erklären zu können. Kant schlägt den Mittelweg ein: Sinnliche Erfahrung ist ein notwendiges Element jeder Wissenschaft. Aber erst dadurch, dass die rohen Sinnesdaten durch apriorische (nichtempirische) Fähigkeiten des Geistes verarbeitet und sortiert werden, kommt es zur Erkenntnis. Gleichzeitig zeigt Kant die Grenzen des rein kognitiven Vermögens auf. Demnach kann all das, was nicht in den Bereich der Sinneserfahrung fällt, sei dies nun Gott oder die unsterbliche Seele, niemals Gegenstand objektiv gültiger Einsichten sein.

Die kopernikanische Wende

Einst glaubte man, die Sonne kreise um die Erde. Dann kam Kopernikus und erklärte: Das sieht nur so aus. Im Zentrum unseres Planetensystems steht die Sonne, um die wir uns in Wahrheit drehen. Einst glaubte man ferner, unsere Erkenntnis richte sich nach den Gegenständen, die sich uns zeigen, wie sie an und für sich sind. Dann kam Kant und erklärte: Das sieht nur so aus. Wie oder was das Ding an sich ist, bleibt für uns ein Rätsel, doch soll uns das nicht weiter kümmern. Unser Erkenntnisvermögen funktioniert nun einmal nach bestimmten Bedingungen – den Begriffen des Verstandes (Kategorien), nach denen wir alles zwangsläufig systematisieren, oder den apriorischen Formen unserer Anschauung, Raum und Zeit. Alles, was von außen ins Bewusstsein dringt, jedes Objekt unserer wissenschaftlichen oder alltäglichen Betrachtung, muss sich diesen Eigentümlichkeiten unseres Denkapparates beugen. Daher richtet sich der Gegenstand nach unserer Erkenntnis und nicht umgekehrt. Selbstbewusst verweist Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« auf die Parallele mit Kopernikus. Beide haben eine überkommene Überzeugung als Schein enttarnt. Doch während der Astronom den Menschen aus dem Zentrum des Planetensystems verbannt hat, macht Kant das transzendentale Subjekt zum Dreh- und Angelpunkt im Kosmos der Erkenntnis.

Autonomie

Nach Kant wird das menschliche Wollen und Handeln auf zwei verschiedene Arten bestimmt: autonom oder heteronom, nach eigener oder fremder Gesetzgebung. Heteronomie liegt dann vor, wenn wir unsere Triebe, Bedürfnisse, Antipathien, Sympathien, Lust- und Unlustgefühle zu Hauptmotiven unseres Verhaltens machen. Wir folgen dann zwar unseren physischen oder psychischen Impulsen, handeln aber keineswegs nach eigenen Gesetzen. Diese können weder aus der Veranlagung noch aus den Sinnen stammen, sondern einzig aus der Vernunft. Erst dadurch, dass wir uns von den sinnlichen (materialen) Bestimmungsgründen unseres Wollens emanzipieren und unser Verhalten an rationalen Prinzipien orientieren, stellen wir unsere Autonomie unter Beweis. Für Kant unterscheidet sich das Vernunftwesen Mensch gerade durch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, der Willensfreiheit, vom bloßen Naturwesen Tier. In seiner Erkenntnistheorie musste er es offenlassen, ob es so etwas wie einen »freien Willen« überhaupt gibt. Zumindest könne dessen »Wirklichkeit« durch die theoretische Vernunft nicht bewiesen werden. Aus »praktischer Hinsicht« allerdings folgt Willensfreiheit aus dem vernünftig einsehbaren Unbedingtheitsanspruch des Sittengesetzes. Einzig wer frei ist, kann moralisch handeln. Autonomie ist die Bedingung schlechthin der Sittlichkeit und der Grund der Menschenwürde (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 436).

Der kategorische Imperativ

»Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (Kritik der praktischen Vernunft, V 35), lautet eine der Formulierungen des kategorischen Imperativs, Kants ultimativem moralischen Testverfahren. Hält sich jemand beispielsweise nicht an sein Versprechen, handelt also nach dem subjektiven Handlungsgrundsatz (Maxime): »Ich breche mein Wort«, entscheidet für Kant nicht der enttäuschte Gesichtsausdruck des Geprellten darüber, dass das Verhalten des Wortbrüchigen unmoralisch war. Ausschlaggebend ist der Umstand, dass die Maxime nicht widerspruchsfrei zum (Natur-)Gesetz verallgemeinert werden kann. Denn eine Welt, in der sich niemand an sein Versprechen hält, ist eine Welt, in der es überhaupt kein Versprechen gibt. Im kategorischen Imperativ nimmt die Sittlichkeit die Form eines Gebots an. Es gilt für jeden Menschen – jedes »endliche Vernunftwesen«, das seinen Willen zwar autonom bestimmen kann, dies aber nicht zwangsläufig tut. Und es gilt »kategorisch«, also unbedingt, ohne Rücksicht auf außermoralische Zwecke und Interessen – ganz anders etwa als die hypothetischen Imperative nach dem Muster: »Übe jeden Tag Klavier, wenn du Konzertpianist werden willst.« Wem eine musikalische Karriere gleichgültig ist, der kann sich über das Gebot hinwegsetzen – es sei denn, er hat das tägliche Etüdenspiel versprochen.

Pflicht

Jemand hilft seinem Nächsten – ganz einfach deshalb, weil er den Notleidenden sympathisch findet. Nebenbei hofft er, sein Image durch eine Wohltat ein wenig aufpolieren zu können. Für Kant kommt diesem Verhalten zwar Legalität zu, da es äußerlich den Anforderungen des Sittengesetzes genügt. An Moralität jedoch mangelt es. Dafür müsste die Gesinnung stimmen. Denn während die legale Handlung lediglich »pflichtgemäß« ist, geschieht die moralische »aus Pflicht«; jenem Bewusstsein, das sich aus der bloßen »Achtung fürs Gesetz« ergibt und uns die stärkste, einzig gültige Motivation für gute Taten liefert. Der vermeintliche Rigorismus dieser Pflichtethik ist wieder und wieder kritisiert worden. Schon Kants Zeitgenosse Schiller hatte Einwände: »Gern diene ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung / Und so wurmt es mich oft, dass ich nicht tugendhaft bin.« Allerdings verfehlt die berühmte Polemik ihr Ziel um Haaresbreite. Denn obgleich für Kant menschenfreundliche Charakteranlagen nichts zum moralischen Wert einer Handlung beitragen, ist ganz und gar nichts dagegen einzuwenden, wenn sie das Handeln »aus Pflicht« begleiten. Günstige Eigenschaften, eine Neigung zur Wohltätigkeit etwa, heißt es, könnten die »Wirksamkeit moralischer Maximen sehr erleichtern« (Kritik der praktischen Vernunft, V 118). Andere warfen Kant unter dem Stichwort »Gesinnungsethik« vor, gegenüber dem tatsächlichen Erfolg einer Handlungsabsicht »aus Pflicht« gleichgültig zu sein. Allerdings ist dem Sittengesetz nicht schon durch den frommen Wunsch Genüge getan, es verlangt die »Aufbietung aller Mittel« – sofern sie in der Macht des Handelnden stehen.

Das Schöne

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, sagt das Sprichwort. Insofern damit bloße Gaumenfreuden gemeint sind, stimmt Kant zu. Ob ich nun Äpfel oder Birnen bevorzuge, beruht auf bloßen Lust- und Unlustempfindungen und bleibt meine Privatangelegenheit. Anders verhält es sich bei dem ästhetischen Geschmacksurteil über die Schönheit eines Objekts, sei dies nun eine Skulptur oder eine Landschaft. Auch hier ist das Affektleben beteiligt, doch im Gegensatz zu kulinarischen Vorlieben können wir erwarten, dass andere uns zustimmen, wenn wir etwas als »schön« bewerten. In der »Kritik der Urteilskraft« unterscheidet Kant diesen ästhetischen Allgemeingültigkeitsanspruch als »subjektiv« von der »objektiven« Verbindlichkeit moralischer oder theoretischer Urteile. Denn während die beiden Letzteren auf Vernunftbegriffen basieren, also erklärbar und diskursiv begründbar sind, kann die ästhetische Erfahrung niemals vollständig durch Begriffe und Sprache erfasst werden. Das Geschmacksurteil bleibt sowohl frei von Erkenntnisinteressen im engeren Sinne als auch von Nützlichkeitserwägungen. Die Lustempfindung, die uns beim Anblick eines schönen Bildes in einer Galerie überkommt, wird – zumindest dann, wenn es »reine« ästhetische Lust ist – von keinem Kaufwunsch begleitet. Diesen kontemplativen Zustand beschreibt Kant als »uninteressiertes Wohlgefallen«. Schönheit gefällt um ihrer selbst willen und weist gerade deshalb über sich hinaus.

Werke Kants Schriften

Wer sich nicht sofort an das erkenntnistheoretische Mammutwerk, die »Kritik der reinen Vernunft« (1781/87) traut, kann sich Kants Gedankenwelt – wie hier vorgeschlagen – durch die Lektüre der »Prolegomena« (1783) nähern. Neben der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) entwickelt er seine Moralphilosophie in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785). Die Lehre vom Schönen und Erhabenen erläutert Kant im ersten Teil der »Kritik der Urteilskraft« (1790), im zweiten schlägt er den transzendentalphilosophischen Bogen zu den teleologischen Prozessen des Naturgeschehens. Unbedingt lesenswert sind seine kurze anthropologische Schrift »Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte« (1786) und sein Spätwerk »Zum ewigen Frieden« (1795). Kants Werke liegen in verschiedenen Ausgaben vor. Standardreferenz ist die traditionsreiche Akademie-Ausgabe.

Weiterführende Literatur

Als Klassiker für Kant-Anfänger gilt Otfried Höffes Einführung »Immanuel Kant« (C.H. Beck). An deutlich Fortgeschrittene richtet sich Peter Baumanns umfassender Kommentar zur ersten Kritik, »Kants Philosophie der Erkenntnis« (Königshausen & Neumann). Einen systematischen Überblick zu Kants Werk im Kontext bietet das von Gerd Irrlitz herausgegebene »Kant-Handbuch« (Metzler). Aufschlussreich sind auch die Bilanz von Reinhard Brandt, »Immanuel Kant. Was bleibt?« (Meiner), sowie Gernot Böhmes »Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht« (Suhrkamp).

Stimmen zu Kants Bedeutung

Zusammengestellt von Marianna Lieder

Kant war der Denker der Freiheit. Die Autonomie war für ihn die Grundlage der unantastbaren Menschenwürde. Seine Ideen der moralischen und politischen Selbstbestimmung bedeuteten eine radikale Neuerung – und sind bis heute aktuell.

»Tiefer Menschenkenner« Von Franz M. Wuketits

»Man mag Kant einen Moralisten oder moralischen Rigoristen nennen, der die menschliche Natur mit seinen strengen sittlichen Ansprüchen überforderte. In seinen späteren – zum Teil erst posthum veröffentlichten – anthropologischen Schriften zeigt sich Kant allerdings von einer anderen Seite: als kenntnisreicher Beobachter unserer Gattung, dem Menschliches, ja allzu Menschliches keineswegs fremd ist. Wir Menschen sind Egoisten. Das wusste Kant sehr wohl und bemerkte, dass das ›liebe Selbst‹ bei jedem Menschen von Anfang an zum Vorschein kommt. Vor allem in Kriegszeiten breche die Bösartigkeit der menschlichen Natur unverhohlen hervor. Doch der Königsberger Weltweise erkannte ebenso, dass wir nicht nur danach trachten, uns gegenseitig zu bekämpfen, sondern auch in der Lage sind, solidarisch zu kooperieren, und dass diese Kooperation sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Gruppen stattfinden kann. Damit näherte sich Kant einer heute evolutionstheoretisch begründeten Einsicht: Der Mensch ist alles andere als ein Engel, aber im Dienste der Art- und Selbsterhaltung seines eigenen Lebens und Überlebens zahlt sich das Gute (Kooperation und gegenseitige Hilfeleistung) für ihn aus. Kant ebnete mit seiner Philosophie den Weg zu einem modernen, realistischen Menschenbild, das sich als unentbehrliche Grundlage für einen aufgeklärten Humanismus erweist.«

Der Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits lehrt Philosophie der Biowissenschaften an der Universität Wien. 2010 erschien »Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation« (Gütersloher Verlagshaus).

»Radikale Freiheit« Von Marcus Willaschek

»Freiheit – in all ihren Facetten – steht im Mittelpunkt der kantischen Philosophie: Freiheit des Denkens, des Handelns, Freiheit als moralische Selbstbestimmung, politische Freiheit. Da fragt es sich, wie Kants Philosophie heute noch aktuell sein kann, wenn Neurowissenschaftler behaupten, dass es Freiheit gar nicht gibt. Doch dass alles, was wir tun, durch körperliche Prozesse determiniert ist, hätte Kant nicht überrascht. Wenn wir ihre Ursachen nur genau genug kennen würden, so Kant, könnten wir jede menschliche Handlung vorhersagen wie eine Sonnenfinsternis; trotzdem seien unsere Handlungen frei und wir für sie verantwortlich. Kant war also ein ›Kompatibilist‹ – jemand, der Freiheit und Determinismus für vereinbar hält. Auch seine Vorgänger Leibniz und Wolff waren Kompatibilisten, doch für sie hatte Kant nur Spott übrig. Frei sei eine Handlung dann, so diese Philosophen, wenn wir sie ›von selbst‹ tun, was wiederum bedeute, dass ihre Ursachen in uns selbst liegen. Doch das, so Kant, gilt auch für einen ›Bratenwender‹ (eine Art federgetriebener Dönerspieß), der dann, wenn er einmal aufgezogen ist, sich ebenfalls ›von selbst‹ weiterdreht. Wirkliche Freiheit, so Kant, erfordert, dass man in einem viel radikaleren Sinn ›von selbst‹ handelt, nämlich: unverursacht, ohne durch irgendetwas anderes dazu bestimmt zu sein. Es ist diese Freiheit, von der Kant meinte, zeigen zu können, dass sie mit dem Determinismus vereinbar ist. Ob ihm das gelungen ist, ist umstritten. Aber auf jeden Fall hat er gezeigt, was eine überzeugende Theorie der Freiheit, sollte es sie geben, leisten müsste.«

Marcus Willaschek ist Professor für Philosophie der Neuzeit und lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien das von ihm mitherausgegebene »Kant-Lexikon« (de Gruyter).

»Es lebe die Republik!« Von Otfried Höffe

»Wenn Kant in seiner Rechts- und Staatsphilosophie dem Volk die Befugnis abspricht, sich gegen die Staatsmacht zu erheben, scheint das auf den ersten Blick obrigkeitsfromm zu sein, überdies seiner Begeisterung für die Französische Revolution zu widersprechen. Doch spricht Kant in seinen Schriften als Philosoph, der das Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt für nicht legitimierbar hält. Die geschichtliche Wirklichkeit der Französischen Revolution erkennt er als soziales Naturereignis an, dessen Folgen, die Errichtung einer Republik, volle Zustimmung verdient.

Ganz ähnlich würde Kant heute den ›arabischen Frühling‹ beurteilen: als ein begrüßenswertes soziales Naturereignis, dessen Ergebnis anzuerkennen sei. Allerdings solle man grausame Nebenfolgen von der Art des Jakobinerterrors vermeiden. Analoges würde er zu der ›Occupy‹-Bewegung sagen, wiewohl es sich hier um eine weitaus bescheidenere Revolution handeln dürfte.

Bei ›Stuttgart 21‹ würde er als Erstes die einschlägigen staatsrechtlichen Prinzipien betonen: die Demokratie, deren gewählte Vertreter sich zu einer bestimmten Lösung entschieden hatten; die Rechtsstaatlichkeit, die Einsprachen vor den juristischen Instanzen erlaubte; das Schlichtungsverfahren, das noch eine nachträgliche Prüfung zuließ; schließlich die Volksabstimmung, die dem Staatsvolk noch eine weitere, jetzt aber letzte Entscheidungsmöglichkeit eröffnete. Nachdem die Abstimmung stattgefunden hat, ist die überstimmte Minderheit rechts- und staatsethisch verpflichtet, das Votum der Mehrheit anzuerkennen. Andernfalls beanspruchte sie, was den beiden Leitprinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit widerspricht, nämlich Sonderrechte (Privilegien).«

Der Philosoph Otfried Höffe lehrt an der Universität Tübingen und leitet dort die Forschungsstelle für politische Philosophie. Von ihm liegen zahlreiche Publikationen zu Kant vor, unter anderem die Einführung »Immanuel Kant« (C.H. Beck, 1996).

Vernunftkritik bei Kant

Von Volker Gerhardt

Kants 1781 erstmals erschienene »Kritik der reinen Vernunft« gilt als eines der Gründungsdokumente der Moderne. In der zweiten Auflage von 1787 ist selbstbewusst von einer »Revolution der Denkart« die Rede. Philosophische Revolutionen lassen sich nicht beschwören oder ausrufen, sondern sie finden statt, indem man sich den ungelöst überlieferten Fragen zuwendet, sich ihnen mit einer neuen Methode und verschärfter Konsequenz widmet und dabei zu neuen Einsichten gelangt. All dies ist bei dem von Kant zum Einsatz gebrachten Verfahren einer Selbstkritik der Vernunft der Fall.

»Die menschliche Vernunft«, so beginnt Kant die Vorrede zur ersten Auflage der »Kritik«, »hat das besondere Schicksal … durch Fragen belästigt« zu werden, »die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben«. Und dennoch übersteigen diese Fragen »alles Vermögen der menschlichen Vernunft«. So gerät sie durch sich selbst, wenngleich »ohne ihre Schuld«, in endlose Streitigkeiten – mit sich selbst (A VIIf.). »Ohne ihre Schuld« heißt hier: Sie kann nicht anders.

Dieses innige und gleichwohl gegensätzliche Selbstverhältnis ist das Kennzeichen der Vernunft. Sie hat ihre Einheit in Widersprüchen und findet nur im Streit zu sich selbst. Nichts an ihr ist einfach, eindeutig oder harmlos: Wo sie das Konkrete hat, will sie die Abstraktion; hat sie den abstrakten Begriff, verlangt sie nach Bestätigung in der Konkretion, weil sie selbst auf dem Sinn ihrer Einsicht besteht. Alles an ihr ist in Bewegung. Ihr Zustand ist permanent kritisch. Sie verunsichert sich fortwährend selbst – gerade indem sie nach Sicherheit strebt. Sie stürzt sich »in Dunkelheiten«, sucht das »Wagnis« und wird von widerstreitenden »Bedürfnissen« angetrieben. Kurz: Die Vernunft ist ein »Kampfplatz … endloser Streitigkeiten«.

Auch in Kants Vorrede zur zweiten Auflage ist es die Metaphysik, die als »Kampfplatz« (B XV) bezeichnet wird. Das liest sich, als sei es abwertend gemeint. Doch ist es die Metaphysik, in die Kant das »Schicksal« hat, verliebt zu sein (Träume, 2, 367). So hat er es 1766 beschrieben, und so ist es immer geblieben. 1781/87 präsentiert er den Versuch, sie als »Wissenschaft« zu begründen. Er will seiner Geliebten zur Anerkennung unter geregelten Verhältnissen verhelfen. Das aber kann nicht dadurch geschehen, dass er den »Kampfplatz« verlässt. Auch scheint es paradox, einfach Ruhe und Ordnung stiften zu wollen, denn dazu bedürfte es ebender Vernunft, von der die Streitigkeiten ausgehen. Dennoch hält Kant an dieser Vernunft mit aller Emphase fest.

 

Die alle Zeit »kritische«, sich fortgesetzt selbst destabilisierende Vernunft soll sich als Kritik und damit als Instanz der Selbstkritik etablieren. Die diagnostizierte Schwäche der Vernunft wird zu ihrem eigentlichen Vorzug umgedeutet. Kant analysiert die geschichtliche Lage, stellt die destruktiven Bedingungen einer fortgesetzt gegen sich selbst arbeitenden Vernunft heraus und entdeckt ebendarin die Voraussetzungen einer neuen Produktivität. Es ist dies die schon 1765 hoffnungsvoll erwähnte »Crisis« (Briefe 10, 57), der die Vernunft ihre überlegene Rolle verdankt – vorausgesetzt, sie überwindet den »Despotismus« des Dogmatismus und lässt den »Indifferentism« der Skepsis hinter sich (4, 8). Auch deshalb hat Kant Grund, alle Klagen über »Verfall« und »Seichtigkeit« seines Zeitalters zurückzuweisen. Selbst wenn die Klagen berechtigt wären, gibt doch die bewusst erfahrene Krise der Kritik ihre Chance.

Was ist das Neue, das mit der »Kritik der reinen Vernunft« auf den Weg gebracht worden ist? Hierauf ist mehr als bloß eine Antwort denkbar. Der Metaphysiker dürfte Kant dankbar sein für die scharfe Grenzziehung zwischen Erfahrung und Denken, jener Trennlinie, die es ihm heute erlaubt, unbefangener von dem zu sprechen, was im Jenseits wissenschaftlicher Erkenntnis liegt und dennoch von größter Bedeutung für den Menschen ist. Dem könnte der Ethiker beipflichten, denn mit der Unterscheidung von Empirie und konsequentem Denken gewinnt er einen sicheren Standpunkt für den begrifflich konzipierten Willen, in dem die Freiheit praktisch wird. Ein Biologe könnte Kant dafür rühmen, dass er ein Prinzip lebendiger Selbstorganisation in die Geschichte des Denkens eingeführt hat, dem wir nicht nur eine Konzeption des Organischen und eine auf Lebensprozesse gegründete Theorie des Schönen, sondern auch eine evolutionäre Theorie der Kultur verdanken. Schließlich könnte ein Theologe Kant dafür danken, dass er mit der Unsitte, Gott »beweisen« zu wollen, Schluss gemacht hat, um so den Weg des Glaubens philosophisch neu zu ebnen.

Man könnte auch einfach sagen, dass Kant mit seiner Vernunftkritik ebenjene Eigenschaft bewiesen hat, die er von seinen Studenten bereits 1764 verlangte, nämlich den »Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen«. Es ist dies der Mut, dessen es bedarf, um epochal Neues zu denken. Ein Denken, das die alten Probleme nicht einfach wegerklärt, sondern sich ihnen auf ungekannte Weise zuwendet und dabei kein anderes Interesse hat, als zu ihrer Lösung beizutragen.

 

Heine klagte, dass es so schwierig sei, Kants Lebensgeschichte wiederzugeben, denn er habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt. Zweifelsohne ist Kants Biographie arm an äußeren Ereignissen – an Frauen lag ihm fast ebenso wenig wie am Reisen. In kurioser Gleichförmigkeit verliefen seine Tage und Jahre in der preußischen Provinzhauptstadt Königsberg.

Seine Philosophie hingegen erschütterte das Universum des Geistes. Kant prägte das Denken der Neuzeit wie kaum ein Zweiter. In seiner Erkenntnistheorie vermaß er das Feld des gültigen Wissens neu, die Lehre vom richtigen Handeln stellte er auf ein neues Fundament. Überlieferte Dogmen und Autoritätsansprüche machte er zunichte. Unerschütterlich waren einzig sein Vertrauen in die Vernunft und sein Glaube an die Freiheit des Menschen.

Volker Gerhard lehrt Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien »Öffentlichkeit: Die politische Form des Bewusstseins«, München 2012: C.H. Beck, »Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche«, München 2014: C.H. Beck, sowie »Licht und Schatten der Öffentlichkeit. Voraussetzungen und Folgen der digitalen Innovation«, Wien 2014: Picus.

Immanuel Kant Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können

| Diese Prolegomena sind nicht zum Gebrauch vor Lehrlinge, sondern vor künftige Lehrer, und sollen auch diesen nicht etwa dienen, um den Vortrag einer schon vorhandnen Wissenschaft anzuordnen, sondern um diese Wissenschaft selbst allererst zu erfinden.