0,00 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €
Prosper Mérimée: Erzählungen ist eine Sammlung von Erzählungen des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée. Die Geschichten sind geprägt von düsteren Themen und einer tiefen psychologischen Darstellung der Charaktere. Mérimée zeigt sein Talent, komplexe Beziehungen und menschliche Abgründe auf meisterhafte Weise zu erkunden. Sein literarischer Stil zeichnet sich durch eine prägnante Sprache und eine präzise Beobachtung der menschlichen Natur aus. Die Erzählungen spiegeln die romantische Ära des 19. Jahrhunderts wider und lassen den Leser tief in die dunklen Seiten der menschlichen Seele eintauchen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Books
Auguste Saint-Clair war in der sogenannten großen Welt nicht gerade beliebt; hauptsächlich aus dem Grunde, weil er nur den Leuten zu gefallen suchte, die ihm selber gefielen. Er pflegte den Umgang mit den einen und hielt sich fern von den andern. Im übrigen war er zerstreut und lässig. Eines Abends, als er aus dem Italienischen Theater kam, fragte ihn die Marquise A…, wie Mademoiselle Sontag gesungen habe. »Ja, gnädige Frau«, antwortete ihr Saint-Clair mit verbindlichem Lächeln und war mit seinen Gedanken bei ganz anderen Dingen. Diese lächerliche Antwort war unmöglich als Schüchternheit auszulegen; denn er sprach mit einem großen Herrn, mit einem bedeutenden Manne und sogar mit einer Dame von Welt in genau der selbstsicheren Art, wie wenn er sich mit seinesgleichen unterhalten hätte. – Die Marquise entschied, Saint-Clair sei ein seltenes Muster von Frechling und Snob.
Madame B… lud ihn eines Morgens zum Diner ein. Sie richtete häufig das Wort an ihn; und beim Weggehen bekannte er, nie einer liebenswürdigeren Frau begegnet zu sein. Madame B*** sammelte gern vier Wochen lang bei andern Geist, um ihn dann auf einer ihrer Abendgesellschaften um sich zu versprühen. Saint-Clair sah sie am Donnerstag derselben Woche wieder. Diesmal langweilte er sich etwas. Ein weiterer Besuch bestimmte ihn, in ihrem Salon nicht wieder zu erscheinen. Madame B*** bekundete überall, Saint-Clair sei ein junger Mann ohne Manieren und von unmöglichstem Ton. Er hatte ein zärtliches und liebevolles Herz ins Leben mitbekommen; aber in einem Alter, in dem man nur zu leicht in sich Eindrücke aufnimmt, die für immer haftenbleiben, hatte ihm seine allzu überschwengliche Gefühlsseligkeit die Hänseleien seiner Jugendgenossen zugezogen. Er war stolz und ehrgeizig; dabei behielt er einen Eigensinn, wie die Kinder ihn an sich haben. Hinfort ließ er es sich eifrigst angelegen sein, alle äußeren Zeichen dessen, was er für so etwas wie eine schimpfliche Schwäche ansah, zu verbergen. Er erreichte sein Ziel; aber sein Sieg kam ihm teuer zu stehen. Er verstand die Kunst, den andern die Regungen seiner allzu empfindsamen Seele zu verhehlen; aber dadurch, daß er sie in sich verschloß, wurden sie nur hundertmal peinigender für ihn selbst. In der Gesellschaft gelangte er in den traurigen Ruf eines empfindungslosen und um nichts besorgten Menschen; und in der Einsamkeit schuf ihm seine ruhelose Einbildungskraft um so entsetzlichere Qualen, als er dies Geheimnis niemandem anvertrauen wollte.
Einen Freund zu finden ist schwer! Das ist wahr.
Schwer! Ist es überhaupt möglich? Hat es je zwei Menschen gegeben, die voreinander kein Geheimnis gehabt hätten? – Saint-Clair glaubte nicht recht an Freundschaft, und das war zu merken. Man fand ihn kalt und zurückhaltend im Verkehr mit seinen Altersgenossen. Nie fragte er sie über ihre Geheimnisse aus, und für sie blieben alle seine Gedanken und die meisten seiner Handlungen ewige Rätsel. Die Franzosen sprechen oft und gern von sich selber; daher war denn Saint-Clair auch, ohne sein Zutun, Mitwisser einer Menge vertraulicher Mitteilungen. Seine Freunde – damit seien hier einmal die Menschen bezeichnet, die wir zweimal wöchentlich zu sehen bekommen – beklagten sich über sein Mißtrauen ihnen gegenüber; es ist immer wieder so: Wer uns ungefragt sein Geheimnis mitteilt, ist gewöhnlich beleidigt, wenn er nicht das unsre erfährt. Auch das Ausplaudern, bildet man sich ein, muß auf Gegenseitigkeit beruhen.
»Er ist zugeknöpft bis obenhin«, äußerte eines Tages der schöne Rittmeister Alphonse de Thémines. »Ich könnte nie das mindeste Zutrauen haben zu diesem verteufelten Saint-Clair.«
»Ein bißchen was Jesuitisches steckt in ihm, meine ich«, versetzte Jules Lambert. »Mir hat jemand gesagt, er könne beschwören, Saint-Clair zweimal dabei erwischt zu haben, wie er aus Saint-Sulpice herausgekommen sei. Niemand weiß, was er denkt. Mir kann nie so recht wohl werden im Umgang mit ihm.«
Sie trennten sich. Auf dem Boulevard Italien stieß Alphonse auf Saint-Clair, der gesenkten Hauptes und ohne jemanden zu sehen daherkam. Alphonse hielt ihn an, nahm ihn beim Arm, und ehe sie noch bis zur Rue de la Paix gelangt waren, hatte er ihm die ganze Geschichte von seinem Techtelmechtel mit Madame *** ausgepackt, deren Mann solch ein eifersüchtiger Kerl und Rohling sei.
Am selben Abend wurde Jules Lambert sein Geld beim Ecarté-Spiel los. Er stürzte sich in den Tanztrubel. Dabei rempelte er leicht einen Herrn an, der wie er sein ganzes Geld verspielt hatte und reichlich übler Stimmung war. Ein paar spitzige Bemerkungen herüber und hinüber – Duellforderung. Jules bat Saint-Clair, sein Sekundant zu sein, und borgte ihn bei dieser Gelegenheit um Geld an, das er bis heute vergessen hat, ihm zurückzugeben.
Alles in allem war Saint-Clair ein Mensch, mit dem sich ziemlich leicht auskommen ließ. Seine Fehler schadeten einzig ihm selbst. Er war verbindlich, oft liebenswürdig, selten langweilig. Er hatte sich in der Welt umgesehen, war sehr belesen und sprach von seinen Reisen und Bücherkenntnissen nur, wenn man ihn darum anging. Im übrigen war er hochgewachsen und gut gebaut; seine Gesichtszüge waren edel und geistvoll, fast stets zu ernst; doch sein Lächeln war offen und voll Wohlwollen.
Eine bedeutsame Einzelheit habe ich noch außer acht gelassen. Saint-Clair war aufmerksam gegenüber allen Frauen und bemühte sich mehr um das Geplauder mit ihnen als um ein Gespräch mit Männern. Liebte er? Das war schwer zu entscheiden. Wenn dies so kalte Wesen überhaupt Liebe empfand, war so viel klar, daß als die Dame seines Herzens wohl die hübsche Gräfin Mathilde de Coursy in allerengste Wahl kommen müsse. Das war eine junge Witwe, bei der man ihn oft genug sah. Auf ein vertrauteres Verhältnis der beiden durfte man aus folgenden Mutmaßungen schließen: Zunächst einmal war da Saint-Clairs nahezu abgemessene Höflichkeit für die Gräfin und umgekehrt; dann weiter seine Beflissenheit, nie ihren Namen in der Gesellschaft über die Lippen zu bringen; oder aber, mußte er ihn unbedingt nennen, dann ohne das mindeste Lob; des ferneren: ehe Saint-Clair sie zu Gesicht bekommen hatte, ging er ganz in der Musik auf, und die Gräfin hatte eine gleich tiefe Neigung für die Malerei. Seit sie sich kennengelernt hatten, war ein Wechsel in ihren Neigungen zu bemerken. Und zu guter Letzt: als im vergangenen Jahre die Gräfin eine Badereise machte, war Saint-Clair kaum eine Woche nach ihr auch verreist …
Meine Aufgabe als Erzähler erlegt mir die Verpflichtung auf, weiterzuberichten, daß in einer Julinacht, kurz vor Sonnenaufgang, sich die Pforte zum Park eines Landhauses öffnete und aus ihr ein Mann mit all der Vorsicht trat, wie sie ein Dieb wahrt, der überrascht zu werden fürchtet. Dies Landhaus gehörte der Gräfin de Coursy, und dieser Mann war Saint-Clair. Eine in einen Pelz gehüllte Frauengestalt geleitete ihn bis zur Tür und neigte ihren Kopf weit vor, um ihm noch länger nachblicken zu können, während er den Fußpfad hinab davonschritt, der längs der Parkmauer hinführte. Saint-Clair hielt inne, sah sich nach allen Seiten um und winkte der Nachschauenden zu, sich zurückzuziehen. Die helle Sommernacht ließ ihn deutlich ihr blasses Gesicht erkennen, das immer noch auf derselben Stelle verharrte. Er ging die wenigen Schritte zurück, zu ihr hin und schloß sie zärtlich in seine Arme. Er wollte sie bewegen, hineinzugehen; aber er hatte ihr noch hundert Dinge zu sagen. Ihr Geplauder währte bereits zehn Minuten, als die Stimme eines Bauern vernehmlich wurde, der an sein Tagewerk ging. Schnell wird ein Kuß getauscht; dann fällt die Tür ins Schloß, und Saint-Clair ist mit einem Satze am Ende des Fußsteigs.
Er überließ sich einem Wege, der ihm anscheinend wohlvertraut war. Bald sprang er fast übermütig hoch und stürmte voran, während er mit seinem Spazierstock auf die Sträucher einhieb; bald blieb er stehen oder schritt gemächlich dahin, indes er zum Himmel hinaufsah, der im Osten sich purpurn färbte. Kurz, wer seiner ansichtig geworden wäre, hätte ihn für einen Verrückten halten müssen, der überselig war, aus seiner Zelle ausgebrochen zu sein. Nach einer halben Stunde Weges war er an der Tür eines abgelegenen kleinen Hauses, das er für den Sommer gemietet hatte. Er drehte den Schlüssel im Schloß um und trat ein; dann warf er sich auf ein bequemes Kanapee und gab sich da, mit starr in die Ferne gerichtetem Blicke und einem süßen Lächeln auf den Lippen, dem Sinnen hin; er träumte mit offenen Augen. Seine Einbildungskraft zauberte ihm die holdseligsten Bilder und Gedanken vor. »Wie glücklich bin ich!« sagte er sich aller Augenblicke. »Endlich habe ich es gefunden, dies Herz, das meines ganz erfühlt…! – Ja, mein Wunschbild ist für mich Wirklichkeit geworden…! Ich habe in einem Wesen Freund und Geliebte gewonnen … Welch menschlicher Charakter…! Was für eine leidenschaftliche Seele…! Nein, vor mir hat sie noch nie geliebt …« Und bald, wie sich denn die Eitelkeit immer in alle irdische Dinge mit einschleicht, kam er darauf: »Sie ist doch die schönste Frau von Paris.« Und seine Einbildungskraft hob ihm von neuem all ihren Liebreiz bis in den kleinsten Zug vor Augen. – »Unter allen hat sie mich erwählt. Die Löwen des Salons hatte sie zu Bewunderern: den Husarenoberst, diesen schönen, schneidigen und – gar nicht so fexigen Mann; dann den jungen Künstler, der so schöne Aquarelle malt und der das Leben so ausgezeichnet auf die Bühne stellt; dazu den russischen Lovelace, der den Balkan gesehen hat und der unter Diebitsch mit dabeigewesen ist; vor allem aber Camille T***, der bestimmt Geist, ein feines Benehmen und einen prachtvollen Säbelhieb auf der Stirn hat … Allen hat sie einen Korb gegeben. Und ich…!« Damit war er wieder auf seinen alten Kehrreim gekommen: »Wie glücklich bin ich! Wie glücklich bin ich!« Und er erhob sich und machte das Fenster auf, denn die Brust wurde ihm eng; dann wandelte er auf und ab im Zimmer; danach warf er sich wieder auf dem Kanapee hin und her.
Ein glücklicher Liebhaber ist fast so langweilig wie ein unglücklicher. Ein Freund von mir, der sich bald in dem einen, bald in dem andern dieser beiden Zustände befand, hatte sich keinen besseren Rat gewußt, seinem übervollen Herzen Luft zu machen, als mir ein ausgezeichnetes Gabelfrühstück jeweils vorzusetzen, währenddessen er sich nach Herzenslust über seine Liebesangelegenheiten auslassen durfte; nach dem Kaffee war jedoch unbedingt die Unterhaltung auf andere Dinge zu bringen.
Da ich nicht allen meinen Lesern ein Gabelfrühstück geben kann, will ich sie auch mit den Liebesgedanken Saint-Clairs im einzelnen verschonen. Überdies kann man nicht fortwährend im siebenten Himmel schweben. Saint-Clair war müde; er gähnte, reckte die Arme und sah, daß es schon hellichter Tag geworden war; es war Zeit, endlich ans Schlafen zu denken. Als er wieder munter wurde, sah er an der Uhr, daß ihm kaum mehr als ein paar Minuten zum Ankleiden blieben, um noch schnellstens nach Paris hineinzukommen, wo er zu einem Sektfrühstück mit etlichen Altersgenossen aus seinem Bekanntenkreise eingeladen war …
Man hatte gerade eine neue Flasche Champagner entkorkt; die wievielte es war, überlasse ich den Leser festzustellen. Ihm möge der Hinweis genügen, daß der Augenblick da war, der bei einem Junggesellenfrühstück ebenfalls ziemlich früh sich einzustellen pflegt, wo alle auf einmal reden wollen und die noch klareren Köpfe für die bereits umnebelten Gemüter Besorgnis zu empfinden anfangen.
»Ich wünschte«, hub Alphonse de Thémines an, der sich nie eine Gelegenheit, von England zu reden, entgehen ließ, »ich wünschte, es wäre in Paris wie in London Mode, daß jeder einen Toast auf seine Angebetete ausbringt. Auf diese Weise würden wir haargenau darüber ins Bild gesetzt, wen unser Freund Saint-Clair anschmachtet.« Und während er das sagte, füllte er sein und seiner Nachbarn Glas neu.
Leicht verlegen wollte Saint-Clair etwas darauf erwidern; aber Jules Lambert kam ihm zuvor:
»Diesen Brauch finde ich höchst geschmackvoll«, sagte er, »und ich greife ihn hiermit auf«; und indem er sein Glas erhob, rief er: »Auf alle Modistinnen von Paris – mit Ausnahme der über Dreißig, der einäugigen, hinkenden und so weiter…!«
»Hurra! Hurra!« schrien begeistert alle jungen Englandschwärmer.
Saint-Clair erhob sich mit dem Glas in der Hand.
»Meine Herren«, sagte er, »ich habe kein so weites Herz wie unser Freund Jules, dafür aber ein etwas beständigeres. Und meine Standhaftigkeit ist um so löblicher, als ich seit langem von der Dame meines Herzens getrennt bin. Was es damit auch auf sich habe, ich bin mir sicher, Sie gönnen mir meine Auserwählte, wofern Sie nicht etwa gerade dabei sind, mir bei ihr den Rang abzulaufen. Auf Judith Pasta, meine Herren! Möchten wir Europas erste tragische Künstlerin doch in Bälde wiedersehen!«
Thémines wollte Einwände gegen den Trinkspruch erheben; aber der allgemeine Beifallssturm schnitt ihm das Wort ab. Mit der Abwehr dieses Stoßes glaubte Saint-Clair sich für den weiteren Tagesverlauf aus der Affäre gezogen zu haben.
Die Unterhaltung stürzte sich zunächst auf die Theaterereignisse. Von der Theaterzensur kam man auf die Politik zu sprechen. Von Lord Wellington ging man auf die englischen Pferde über und von den englischen Pferden schließlich, durch eine leichte Gedankenverbindung, zu den Frauen; denn für junge Leute sind zuvörderst ein schönes Pferd und sodann eine hübsche Liebste die beiden begehrenswertesten Dinge.
Danach verbreitete man sich über die Mittel und Wege, an diese so erstrebenswerten Dinge heranzukommen. Pferde lassen sich erhandeln, Frauen sind gleichfalls für Geld zu haben; aber von dieser Gattung soll hier nicht weiter die Rede sein. Nach einem bescheidenen Hinweis auf seine geringe Erfahrung in so delikaten Angelegenheiten vertrat Saint-Clair den Standpunkt, die erste Bedingung, um Eindruck auf eine Frau zu machen, bestehe darin, daß man etwas Besonderes an sich habe und anders sei als die anderen. Gibt es aber eine allgemeingültige klare Formel für das Eigenartige? Er glaube: nein.
»Ihrem Empfinden nach«, gab Jules ihm Bescheid, »hat denn wohl einer mit einem längern und einem kürzern Bein oder mit einem Buckel mehr Aussichten, zu gefallen, als ein gradegewachsener und wie alle andern gebauter Mensch?«
»Sie übertreiben die Sache etwas reichlich«, erwiderte Saint-Clair, »aber wenn es denn sein soll, stehe ich für meine Behauptung in ihrer ganzen Tragweite ein. Wäre ich beispielsweise bucklig, dann würde ich mir deshalb nicht gleich eine Kugel in den Kopf jagen, sondern wollte vielmehr allerhand Eroberungen machen. Fürs erste würde ich mich nur an zwei Arten von Frauen halten, an solche, die ein echtes gefühlvolles Herz haben, oder an solche – und ihre Zahl ist groß –, die Anspruch darauf erheben, für eigenartig zu gelten, eccentric, wie man in England sagt. Den ersteren malte ich in den lebhaftesten Farben aus, wie scheußlich mein Dasein sei, wie grausam die Natur an mir handle. Ich würde es darauf anlegen, ihre Rührung über mein Los zu wecken; ich ließe die Ahnung in ihnen aufkeimen, ich wäre leidenschaftlicher Liebe fähig. Ich erledigte einen meiner Nebenbuhler im Duell und unternähme einen Selbstmordversuch mit einer schwachen Dosis Opiumtinktur. Nach ein paar Monden würde man meinen Höcker nicht mehr gewahr werden, und dann wäre es meine Angelegenheit, den ersten Schwächeanfall des gefühlvollen Herzens auszuspähen. Was die weiblichen Wesen angeht, die ihren Stich ins Besondere haben – da ist das Herumkriegen leicht. Setzt ihnen nur den Floh ins Ohr, es stehe unumstößlich fest, daß ein Buckliger kein Glück haben könne; sofort werden sie an die Widerlegung dieser unerhörten Verallgemeinerung gehen wollen.«
»Da habt ihr den Don Juan!« rief Jules.
»Brechen wir uns die Beine, meine Herrn!« riet der Oberst Beaujeu. »Wir, die wir das Pech haben, ohne Buckel auf die Welt gekommen zu sein.«
»Ich bin vollkommen der gleichen Ansicht wie Saint-Clair«, bekundete Hector Roquantin, der einen ganzen Meter fünfzehn groß war. »Man kriegt tagtäglich vor Augen geführt, wie die hübschesten und piekfeinsten Puppen sich an Kerle wegschenken, die Leute unsres Schlags als Mitbewerber gar nicht ernst nähmen …«
»Hector, ich bitte dich, steh auf und läute uns Wein ‘ran«, sagte Thémines mit der natürlichsten Miene der Welt. Der Kurzstämmige erhob sich, und jeder dachte dabei lächelnd wieder an die Fabel vom Fuchs, dem der Schwanz gestutzt ward.
»Ich für mein Teil«, nahm Thémines das Wort weiter, »sehe immer deutlicher, je mehr ich erlebe, daß ein leidliches Gesicht …« – dabei warf er einen wohlgefälligen Blick in den Spiegel ihm gegenüber –, »daß ein leidliches Gesicht und ein geschmackvoller Anzug den großen Reiz des Besonderen verleihn, der die Widerstrebendste in seinen Bann zieht …« Und er schnellte mit den Fingerspitzen ein Brotbrösel von seinem Rockaufschlag fort.
»Pah!« warf der zu kurz Geratene laut dazwischen. »Mit einer netten Visage und einem Maßanzug der Firma Staub angelt man weibliche Wesen, die man von Sonntag bis Samstag behält und die unsereinen beim zweiten Stelldichein schon anöden. Es gehört ganz was andres dazu, um sich lieben zu lassen, was man so lieben nennt … Da muß man …«
»Halt!« unterbrach ihn Thémines, »wollt ihr ein schlagendes Beispiel? Ihr habt alle den Massigny gekannt, und ihr wißt, was mit dem los war. Ein Benehmen wie ein englischer Stallknecht, geistreich wie sein Gaul … Aber schön war er wie Adonis, und seine Krawatte band er wie der Modekönig Brummell. Alles in allem der langweiligste Pinsel, der mir je vor Augen gekommen ist.«
»Ich war nahe daran, an seiner Langweiligkeit draufzugehn«, sagte der Oberst Beaujeu. »Stellt euch vor, daß ich einmal zweihundert Wegstunden in seiner Gesellschaft durchmachen mußte.«
»Wißt ihr denn«, fragte Saint-Clair, »daß er den armen Richard Thornton, den ihr alle gekannt habt, in den Tod getrieben hat?«
»Ja, aber«, hielt ihm Jules entgegen, »wissen Sie denn nicht, daß er von Wegelagerern in der Nähe von Fondi um die Ecke gebracht ist?«
»Das stimmt! Aber ihr werdet gleich sehen, daß Massigny mindestens mitschuldig war an der Untat. Eine Anzahl Italienbesucher, unter ihnen Thornton, waren sich einig geworden, bis nach Neapel gemeinsam zu reisen, weil ihnen wegen des Raubgesindels Besorgnisse kamen. Massigny wollte sich der Reisegesellschaft anschließen. Sowie Thornton davon erfuhr, machte er sich vor den andern auf und davon, voll Entsetzen, vermute ich, ein paar Tage in seiner Begleitung hinbringen zu müssen. Er reiste allein, und was sich noch ereignete, ist euch bekannt.«
»Thornton hatte Verstand«, sagte Thémines, »und wählte von zwei Todesarten die mildere. Jeder andere hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt.« Dann nahm er nach einer Pause seinen Faden wieder auf:
»Ihr seid also mit mir einer Meinung, daß Massigny der langweiligste Mensch auf dem Erdballe war?«
»Einer Meinung!« schrie alles beifällig.
»Wir wollen niemanden zur Verzweiflung bringen«, ließ sich Jules hören. »Nehmen wir *** aus, vor allem wenn er seine politischen Pläne entwickelt!«
»Und nun werdet ihr mir auch zugeben«, fuhr Thémines fort, »daß Madame de Coursy eine geistvolle Frau ist, sofern es das tatsächlich geben soll.«
Es entstand einen Augenblick Stille. Saint-Clair senkte den Kopf und bildete sich ein, die Blicke aller seien auf ihn gerichtet.
»Wer wollte das bezweifeln?« bemerkte er darauf, während er, immer noch über seinen Teller gebeugt, sehr eindringlich die gemalten Blumen auf dem Porzellan zu betrachten schien.
»Ich halte daran fest«, fuhr Jules mit erhobener Stimme fort, »ich halte daran fest, daß sie eine der drei liebenswürdigsten Frauen von Paris ist.«
»Ich kannte ihren Mann«, sagte der Oberst. »Er hat mir des öftern entzückende Briefe von ihr gezeigt.«
»Auguste«, schaltete sich Hector Roquantin ein, »stellen Sie mich doch der Gräfin vor. Es geht die Sage, Sie machen bei ihr Regen und Sonnenschein.«
»Nach dem Herbst«, brachte leise Saint-Clair heraus, »wenn sie wieder in Paris sein wird … Ich … ich glaube, auf dem Lande empfängt sie keine Besuche.«
»Wollt ihr mal herhören?« rief laut Thémines.
Es wurde wieder still. Saint-Clair rückte auf seinem Stuhl hin und her wie ein Angeklagter vor einem Schwurgerichtshof.
»Vor drei Jahren haben Sie den Anblick der Gräfin noch nicht genießen können, damals waren Sie in Deutschland, Saint-Clair«, fing Alphonse de Thémines von neuem mit einer Kaltblütigkeit an, die zur Verzweiflung bringen konnte. »Sie machen sich kein Bild davon, wie sie da aussah: schön, frisch wie eine Rose, von Leben übersprudelnd, und beschwingt wie ein Falter. Na, und wissen Sie, wen sie, unter ihren zahllosen Anbetern, mit ihrer Huld beehrte? Den Massigny! Der dümmste Trottel hat der geistreichsten Frau den Kopf verdreht. Sind Sie noch der Ansicht, einer, der wie ein menschliches Fragezeichen aussieht, hätte das ebenso fertiggebracht? Gehen Sie mir mit so etwas! Halten Sie sich an mein Wort: Sei ein hübscher Kerl, hab einen erstklassigen Schneider, und geh fesch ‘ran!«
Saint-Clair war in einer scheußlichen Lage. Er war drauf und dran, den Erzähler Lügen zu strafen, nur die Befürchtung, die Gräfin dabei neuem Gerede auszusetzen, hielt ihn davon zurück. Er hätte mit seinem Wort für sie eintreten mögen; aber die Zunge war ihm wie erstarrt. Seine Lippen zuckten vor Zorn, und er suchte nach irgendeinem Anlaß, einen Streit vom Zaune zu brechen.
»Was!« äußerte Jules laut und machte dazu ein erstauntes Gesicht. »Madame de Coursy hat sich dem Massigny gegeben! Schwachheit, dein Name ist Weib!«
»Der Ruf einer Frau – eine völlig belanglose Angelegenheit!« sagte Saint-Clair trocken und verächtlich. »Man darf ihn herunterreißen, stellt man sich nur witzig genug dabei an, und …«
Während er das sagte, kam ihm zu seinem Schrecken die Erinnerung an eine gewisse etruskische Vase, die er hundertmal wohl schon auf dem Kamine der Gräfin in Paris gesehen hatte. Er wußte, daß sie ein Geschenk Massignys nach seiner Rückkehr aus Italien war; und – ein schwer ins Gewicht fallender Umstand! – diese Vase hatte die Reise von Paris aufs Land mitgemacht. Und Abend für Abend nahm Mathilde seine Blumen, seine Gabe an sie, und stellte sie in die etruskische Vase. Das Wort erstarb ihm auf den Lippen; ihm stand nur noch eines vor Augen, sein Denken kreiste nur noch um eines: die etruskische Vase.
›Ein schöner Beweis!‹ wird ein Vernunftmensch sagen: ›Wegen einer so geringfügigen Sache seine Liebste beargwöhnen!‹
›Waren Sie einmal verliebt, Herr Vernünftler?‹
Thémines war in zu guter Laune, als daß er sich an dem Tone gestoßen hätte, den Saint-Clair gegen ihn anschlug. Er erwiderte mit biedermännischer Miene nur leichthin darauf:
»Ich gebe hier lediglich wieder, was man in größerem Kreise schon erzählt hat. Die Sache ging als sicher um, damals, als Sie in Deutschland waren. Im übrigen kenne ich Madame de Coursy herzlich wenig; anderthalb Jahre ist’s her, daß ich ihr Haus betreten habe. Möglich also, daß man sich getäuscht hat und daß mir Massigny ein Märchen erzählt hat. Doch um auf das, was unsere Gemüter beschäftigt, zurückzukommen: Wenn das Beispiel, das ich angezogen habe, auch fehl am Platz wäre, hätte ich darum doch nicht weniger recht. Euch ist allen bekannt, daß die geistreichste Frau in Frankreich, die, deren Werke …«
Die Tür ging auf, und auf der Bildfläche erschien Théodore Néville. Er kehrte aus Ägypten zurück.
»Théodore! So schnell wieder hier!« Er wurde mit Fragen überschüttet.
»Hast du ein echt türkisches Kostüm mit im Gepäck?« wollte Thémines wissen. »Hast du einen arabischen Hengst und einen ägyptischen Groom mitgebracht?«
»Was für ein Kerl ist der Pascha?« fragte Jules. »Wann macht er sich unabhängig? Hast du einen Schädel mit einem Streich heruntersäbeln sehen?«
»Und die Bauchtänzerinnen und Blitzdichterinnen?« rief ihm Roquantin entgegen. »Sind sie hübsch, die Weiber in Kairo?«
»Haben Sie den General L*** zu Gesicht bekommen?« bestürmte ihn der Oberst Beaujeu mit seinen Fragen. »Wie hat er die Streitmacht des Paschas aufgebaut? – Hat Ihnen Oberst C*** einen Krummsäbel für mich mitgegeben?«
»Und die Pyramiden? Und die Nilkatarakte? Und die Memnonssäule? Ibrahim Pascha? Und … Und…?«
Alles fragte und redete durcheinander; Saint-Clair hatte nur die etruskische Vase im Kopf.
Théodore war inzwischen in Hockstellung mit gekreuzten Beinen niedergegangen – denn er mochte von dieser in Ägypten angenommenen Gewohnheit auch in Frankreich nicht mehr lassen –, wartete, bis die Fragenden müde wurden, und haspelte das Folgende ziemlich zungenfertig herunter, um nicht gleich wieder unterbrochen zu werden:
»Die Pyramiden! Ehrenwort, ein regelrechter Humbug. Weniger hoch, als man meint. Das Straßburger Münster ist nur vier Meter niedriger. Altertümer kann ich nicht mehr sehen. Redet mir bloß davon nicht mehr! Sehe ich auch nur eine Hieroglyphe irgendwo, wird mir sofort grün und gelb vor den Augen. Es gibt mehr als genug Globetrotter, die mit solchem Zeugs ihre Zeit vertrödeln! Für mich kam es darauf an, den Charakter und das ganze Gehaben dieses buntscheckigen Völkergewimmels mir gründlich zu beschauen, so wie es sich da durch die Straßen von Alexandria und Kairo drängt von Türken, Beduinen, Kopten, Fellahs, Moghrebinen … Ich habe mir in aller Eile ein paar Aufzeichnungen gemacht, als ich in Quarantäne lag. Sie stinkt einen an, diese Quarantäne! Ihr, die ihr hier um mich herumsitzt, glaubt nicht an Ansteckung, will ich hoffen! Ich, ich habe euch da in aller Gemütsruhe meine Pipe mitten unter dreihundert Pestkranken geschmaucht … Ja, Oberst, da hätten Sie eine fabelhafte Reiterei sehen können. Ich will Ihnen mal prachtvolle Waffen zeigen, die ich mitgebracht habe. Ich besitze einen Djerid, der dem berühmten Murad Bey gehört hat. Für Sie, Oberst, habe ich einen Yatagan und für Auguste einen Khandjar. Ihr sollt meinen Metschlah, meinen Burnus, meinen Haïk sehen. Ist euch klar, daß ich, wenn ich gewollt hätte, Weiber hätte mitbringen können? Ibrahim Pascha hat so viele aus Griechenland hinverfrachtet, daß sie geradezu umsonst zu haben sind … Aber meiner Frau Mama zuliebe … Ich habe allerhand persönliche Unterredungen mit dem Pascha gehabt. Ein Mann von Geist ist das, alle Wetter! Ohne die mindeste Voreingenommenheit. Ihr würdet es nicht für möglich halten, wieviel Verständnis der für unsere Angelegenheiten hat. Ehrenwort! Er ist über die Geheimnisse unseres Kabinetts bis aufs I-Tüpfelchen im Bilde. Aus der Unterhaltung mit ihm habe ich mir höchst wertvolle Aufschlüsse über den Stand der Parteien in unserem Lande holen können … Augenblicklich beschäftigt er sich sehr viel mit Statistik. Er bezieht alle unsere Tageszeitungen. Wißt ihr, daß er verbissener Bonapartist ist? Er hat nur Napoleon im Munde. ›Ah, was für ein großer Mann, dieser Bounabardo!‹ rief er nicht selten vor mir aus. Bounabardo, so nennen sie dort Napoleon!«
»Giourdina, das heißt soviel wie: Jourdain«, murmelte Thémines vor sich hin.
»In der ersten Zeit«, fuhr Théodore fort, »war Mohammed Ali mir gegenüber sehr zurückhaltend. Es dürfte euch kein Geheimnis sein, daß alle Türken grundsätzlich mißtrauisch sind. Er hielt mich – der Deibel soll mich holen! – für einen politischen Spitzel oder für einen Jesuiten. Die Jesuiten hat er schwer auf dem Zuge. Nach ein paar Begegnungen zwischen mir und ihm aber hat er dann gleich herausbekommen, daß ich ein unvoreingenommener Weltreisender war, der das brennende Verlangen hatte, Sitten, Gebräuche und Politik des Ostens kennenzulernen. Da wurde er aufgeknöpfter und hat sich mir rückhaltlos aufgeschlossen. Bei der letzten Audienz – es war die dritte, die er mir gewährte – nahm ich mir die Freiheit, ihm folgendes zu sagen: »Es ist mir nicht faßlich, weshalb Deine Hoheit sich nicht unabhängig von der Hohen Pforte macht!« – »Du lieber Gott«, vertraute er sich mir an, »ich möchte schon gerne, aber ich fürchte, die freisinnigen Blätter, die in deiner Heimat den Ton angeben, stoßen mit mir nicht ins gleiche Horn, wenn ich erst mal die Unabhängigkeit Ägyptens feierlich verkündet habe.« – Er ist ein prächtiger alter Herr, ein edler Weißbart, der nie das Antlitz zum Lachen verzieht. Fabelhaft feines Konfekt hat er mich kosten lassen, und von den Angebinden, die ich ihm überreichte, hat ihm das größte Vergnügen das Uniform-Album der Kaiserlichen Garde von Charlet gemacht.«
»Ist der Pascha Romantiker?« erkundigte sich Thémines.
»Mit Literatur beschäftigt er sich wenig. Euch wird aber wohl nicht ganz unbekannt sein, daß die arabische Literatur hochromantisch ist. Einer der ihren ist der Dichter Melek Ayatalnefous-Ebn-Esraf, der kürzlich erst seine ›Meditationen‹ auf dem Buchmarkt hat erscheinen lassen; ihnen gegenüber nehmen sich die von Lamartine wie klassische Prosa aus. Nach meiner Ankunft in Kairo nahm ich mir einen Privatlehrer fürs Arabische, mit dem ich mich in den Koran hineinkniete. Obschon ich nur ein paar Stunden bei ihm genoß, habe ich doch genug Einblick in das Ganze bekommen, um die erhabenen Schönheiten des Sprachstils des Propheten unmittelbar zu erfassen und wegzukriegen, wie schlecht alle unsere Übertragungen sind. Halt mal, wollt ihr arabische Schriftzüge sehen? Dies Wort da in goldenen Lettern, das bedeutet: ALLAH, das heißt: Gott!«
Während er so daherredete, zeigte er einen reichlich speckigen Brief herum, den er aus einem nach allerhand Wohlgerüchen duftenden Seidenbeutel hervorgeholt hatte.
»Wie lange hast du in Ägypten geweilt?« erkundigte sich Thémines.
»Sechs Wochen!«