Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2021
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2021 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle Rechte vorbehalten
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Text: Natalie Buchholz
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Innenillustrationen und Satz: Inka Vigh
Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition
unter Verwendung einer Illustration von Inka Vigh
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur
Petra Eggers e.K., Berlin.
ISBN eBook 978-3-8458-4411-4
ISBN Print 978-3-8458-3934-9
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Illustriert von
Für Balthasar und Thérèse
6
SONNTAG, DEN 29. SEPTEMBER
(ziemlich graues Wetter und blöder Regen.
Und dann hat mir auch noch eine Taube auf
den Kopf gekackt. Bäh! War ja klar, dass
das bei diesem Vorzeichen ein mieser Tag
werden würde …)
Liebe Emma,
eigentlich will ich Dir gar nicht schreiben. Das
heißt, ich will Dir schon schreiben, aber nicht so.
Nicht mit Füller oder Bleistift oder Kuli oder was
auch immer. Da tut mir die Hand immer weh nach
einiger Zeit. Die fällt mir noch ab, wenn das so
weitergeht. Dann kann ich sie begraben. Stell Dir
das mal vor, Emma! Ich, Lore Constantia Hippe,
trage meine linke Hand in einem Minisarg zum
Friedhof. Als ob das nicht tragisch genug
wäre, will zur Beerdigung meiner Hand
niemand kommen, weil alle finden, dass ich ein
Freak bin mit nur einer Hand.
7
Also stehe ich ganz allein auf dem Handfriedhof
und werfe Miniblumen in mein Minihandgrab. Nicht
einmal Du kommst vorbei, weil Du so unfassbar
weit weggezogen bist.
Heul!
Und wem habe ich zu verdanken, dass ich allein bin
und ohne Hand und ohne Freunde dastehe wie eine
Bekloppte? Na klar, meiner Mutter. Wem sonst?
Sie hat mein geliebtes Smartphone einkassiert,
weil ich mit ihrer Kreditkarte Klamotten gekauft
habe. Für 250 Euro. Sie hat es bis Weihnachten
einkassiert! Ich wiederhole: BIS WEIHNACHTEN!!!
Das sind fast drei Monate.
VERDAMMTE 3 MONATE!!!!!!!!!!!
Hölle!
Ich darf auch ihres nicht haben. Oder das von
Papa. Oder von Oma oder Opa (aber die sehe ich
ja eh kaum, und außerdem haben die sowieso so ein
Uralt-Gerät mit extra großen Tasten, das außer
ihnen niemand bedienen kann …).
Klein-nerv-mich-nicht-Bruder-Max
hat ja noch kein Handy.
Hölle!
Hölle!
Heul!!
Heul!!!
A
A
A
H
H
H
!
!
A
H
H
H
!
A
A
8
Doch wenn er eines hätte, dürfte ich auch das nicht
haben. Und wenn sie mich erwischt, dass ich mir von
jemand anderem eines leihe, ganz egal von wem, dann
verlängert sie das Verbot um einen weiteren Monat.
Ich bekomme bis Weihnachten auch kein Taschengeld!
SMARTPHONE-COMPUTER-
FiNANZEN-ABSTiNENZ
nennt meine Mutter das.
Bis ich vernünftig werde.
Ich wiederhole:
SMARTPHONE-COMPUTER-
FiNANZEN-ABSTiNENZ!!!
Das hört sich an wie eine Krankheit, habe ich zu
ihr gesagt. Da kamen aus ihren Augen Blitze ge-
schossen. Mit richtig scharfen Spitzen. Die hätten
mich fast erstochen. Kein Witz, Emma.
Ehrlich, ich schwöre es beim Leben meiner
Katze.
9
Also habe ich lieber nichts mehr
gesagt und erst mal ge-
schmollt und dann nur noch
geweint. Richtig arg. Mit
Schluchzen und ganz
vielen Tränen.
Ich bin in einem
See aus Tränen gestanden und habe mir gewünscht,
die Blitze meiner Mutter würden ins Tränenwasser
treffen und mich grillen. Meine Mutter wäre dann
bestimmt todtraurig, wenn ich wie ein Grillhähn-
chen aussähe und sowieso kein Smartphone in die
Hand nehmen könnte.
Das hätte sie dann davon.
Jedenfalls sitze ich jetzt da und schreibe Dir mit
einem Omafüller auf diesem Omapapier voller Blu-
men. Das riecht voll muffig, finde ich. Meine Mutter
hat es mir gegeben, als der Tränensee um meine
Beine zum Tränenmeer angestiegen ist. Da legte
sie eine Hand auf meine Schulter, drückte ein biss-
chen zu fest an meinen Knochen herum und sagte,
sie käme gleich wieder zurück. Und weg war sie. Sie
ist tatsächlich gleich wieder zurückgekommen. Zu-
sammen mit diesem Stinkpapier hier. PUH!
10
Sie zeigte darauf und sagte, so könne ich auch
mit Dir kommunizieren.
Ich wiederhole:
KOMMUNIZIEREN!!!
Sie meinte, es täte mir gut zu erfahren, wie es in
ihrer Kindheit gewesen sei.
Die spinnt doch total! Warum sollte ich?
Ich meine, die hatten damals kein WhatsApp.
Noch nicht mal richtige Handys. Meine Mutter
kommt aus der Steinzeit und schickt mich glatt
dorthin zurück. »Das ist FOLTER!«, habe ich ge-
schnieft. »Nichts als FOLTER.« Bei der Bestra-
fung solle sie mich lieber gleich in der Hölle ver-
brennen. Das sei ehrlicher. Dann wäre ich erlöst.
Da verdrehte sie so stark ihre riesigen Augen,
dass sie ihr fast rausgefallen wären. Und dann
ging sie weg. Diesmal kam sie nicht wieder zurück.
Sie rief nur noch durch meine Zimmertür: »Denk
mal darüber nach, Lore!«
ES IST NICHT ZUM AUSHALTEN , EMMA .
ES IST EINE KATASTROPHE .
KATASTROPHE.
11
Mein Leben ist vorbei. Ich spüre es genau.
Es ist vorbei. Aus und vorbei!
Ich will mein Smartphone zurück!
SOFORT!
Ich will Dich zurück!
AUCH SOFORT!
Und ich will die Klamotten zurück, die ich mit der
Kreditkarte meiner Mutter gekauft habe und die
ich wieder zurückschicken musste!
Die waren so megacool.
Jetzt guck nicht so streng, Emma. Du brauchst
gar nicht glauben, dass ich nicht sehe, wie Du
guckst, nur weil Du am anderen Ende von Deutsch-
land wohnst. Ich sehe Deinen skeptischen Blick
bis hierher. Wie Du die Augenbrauen zusammen-
ziehst und den Kopf nach unten senkst. Ich weiß
auch, was Du denkst. Ich weiß immer, was Du
denkst. Mir ist schon klar, dass ich großen Mist
gebaut habe. Verdammt großen Mist!
Aber, Emma, es ging nicht anders. Ehrlich,
ich schwöre es beim Leben meiner Katze.
miau?
12
Du hättest mal die Jacke mit den Fransen an den
Ärmeln sehen sollen. Die sah fast genauso aus wie die
Jacke, die Marina-Schmolllippe mal getra-
gen hat und die alle
so GENiAL
fan-
den. Nur noch viel, viel besser. Und
außerdem gab es die Jacke
im Sale! Ich bin beim
Online-Bummeln
ganz zufällig
auf sie ge-
stoßen.
Erst dach-
te ich, es
sei Zufall.
Doch dann dachte ich: Von
wegen Zufall, es ist EINDEU-
TIG ein Zeichen, dass die Jacke
für mich bestimmt ist. Was für ein
Hammerteil! Und vor allem: 180 Euro
statt 350 Euro!!!
Alex würde mich darin zu 100 %
zum ersten Mal sehen. Ich meine:
So richtig sehen. ANSEHEN!!! Nicht
nur durch mich hindurch oder an mir vorbei.
13
Dass dann auch noch dieser knallrote Pullover mit der
Paillettenschwalbe über der Schulter im Angebot
war, das war Schicksal, ganz ohne Zweifel, das
musst selbst Du zugeben, oder? Als wüssten
die vom Online-Shop, was mir gefällt. Und
der Pulli hat ja auch nur 70 Euro statt
140 gekostet. Ich meine, man muss das
Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Das sagt auch meine Mutter ständig.
Und die hat's ja mit Sprüchen, wie Du
weißt. So gesehen habe ich eigentlich
nur auf meine Mutter gehört.
Ja, ja, schon gut, Emma. Du kannst den
skeptischen Blick echt sein lassen.
Ich verstehe ja, dass meine Mut-
ter stinksauer auf mich ist. Ich
wäre auch stinksauer auf mich,
wäre ich meine Mutter.
Trotzdem finde ich
SMARTPHONE-COMPUTER-FiNANZEN-
ABSTiNENZ
voll unfair.
Mehr noch:
KATASTROPHENHoLLE!
14
Wenn am 26. Oktober
nicht die Party von
Jasmin-ich-baggere-
alle-an wäre, dann
hätte ich das mit
der Kreditkarte
niemals getan.
Wirklich nicht.
Das kannst Du
mir glauben.
S
P
ABER DIE PARTY
IST NUN MAL SCHON
AM 26. OKTOBER!
ICH HABE
IMMER NOCH NICHTS
ZUM ANZIEHEN, EMMA!
UND DIE ZEIT RINNT.
ICH KRIEGE NOCH EINEN
ANAPHYLAKTISCHEN
CHOCK, WENN ICH NICHTS
ASSENDES FINDE. ABER
WIE SOLL ICH DAS
ANSTELLEN? HILFE!
DAS IST DIE ÜBELSTE
KATASTROPHE ALLER
ZEITEN!!!
HiLFE!!
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Deine bald-einhändige-traurige-geknickte-
verärgerte-Dich-vermissende-sich-für-den-
Kreditkartenklau-schämende
PS: Was ich Dir noch gar nicht geschrieben habe.
Das Schlimmste überhaupt: Mia hat erzählt,
sie hätte gesehen, wie Alex Marina-Schmolllippe
geküsst hätte!!!
SO RiCHTiG GEKuSST!!! MiT ZUNGE!!!
PPS: Bevor Du umgezogen bist, war ich ja nur ein
bisschen verknallt in Alex, aber als Du dann weg
warst und ich ihn in der Schule gesehen habe, da
hat's peng! gemacht. So richtig peng!!! Hat voll weh-
getan in der Brust. Manchmal frage ich mich, ob ich
mich in Alex so krass verliebt habe, weil Du nicht
mehr da bist. Ob er für mich vielleicht nur ein Ersatz
für Dich ist. Doch wenn ich ihn dann irgendwo sehe,
weiß ich, dass das ein Quatschgedanke ist. Alex ist
KEIN Ersatz für Dich.
*Lore*
Viele liebe Gr
üße,
16
Weil Dich niemand ersetzen kann.
Weil es immer und immer wieder
peng! macht. Und weil peng!
nichts anderes ist als Liebe.
PPPS: Kann Dein Vater nicht
wieder hier eine Arbeit
finden? 942 Kilometer
sind einfach viel zu viel für
Bitte schreib mir ganz schnell zurück. Ich muss mit
jemandem reden. Und Du bist meine aaaaaaallerbeste
Freundin.
AAAAAAALLERBESTE
FREUNDiNNEN.
Kiel
R
o
s
i
m
18
Dnsta, 1. Oor
Hl e,
das war vielleicht eine Überraschung! Ich habe
noch nie einen Brief bekommen. Nur einmal
eine Postkarte von Oma und Opa aus
Dänemark, die Papa dann gleich
mit einem Magneten an unse-
ren Kühlschrank gehängt hat.
Der Kühlschrankmagnet war das
Konterfei der Königin von England.
Mit goldener Krone obendrauf. Ein
Mitbringsel meiner Großeltern aus
ihrem Urlaub ein Jahr zuvor. Seit
dem Umzug ist sie aber weg.
Die Königin UND die Post-
karte. Papa sagt, wenn
man umzieht, müssen
ganz viele Dinge
Flügel kriegen, sonst stürzt
man ab. Du weißt ja, wie er ist. Er redet oft so
komisches Zeug, wenn er Angst hat, dass er
mit mir Ärger kriegt. Obwohl ich ihm eigentlich
nie viel Ärger mache. Das sagt er selbst.
19
Dein Brief lag bei uns vor der Haustür. Auf
der Fußmatte. Wir haben nämlich noch keinen
Briefkasten. Den will Papa erst am Wochenende
aufstellen. Keinen normalen Briefkasten. Nor-
male Briefkästen seien was für Normalos, sagt
er. Und wir seien niemals Nor-Malos, sondern
Total-Chaos. Deswegen hat er auf
einem Flohmarkt eine alte Milchkanne
gekauft. Ein Riesending.
Da gingen ursprünglich 20 Liter
Milch rein. Jetzt ist an der
einen Seite, wo mal einer
der Henkel war, ein großes
Loch drin. Da soll später der
Pfosten hinein, den wir im
Baumarkt besorgt haben. Wenn der erst
mal drin ist, schwebt die Kanne waagrecht
in der Luft. Öffnet man dann den
Milchkannendeckel, kann die Post
in die Kanne gelegt werden.
D lme h
übns, e ih De
O-p o fine!
20
Aber Papa sagt, es gäbe eigentlich keine Brie-
fe mehr, nur noch Rechnungen und Werbung.
Da wedelte ich mit Deinem Brief so richtig
schön vor seiner Nase und sagte:
»Stimmt nicht, ällabätsch!«
Deinen Brief habe ich in Ruhe
in meinem neuen
Zimmer gelesen.
Es ist unterm Dach
und viiiiiiel kleiner
als mein Zimmer in
Kiel. Trotzdem mag
ich es. Vor allem, wenn der Regen aufs Dach-
fenster prasselt. Das ist richtig gemütlich. Hof-
fentlich kommst Du mich bald besuchen, damit
ich es Dir zeigen kann. Das Zimmer wäre noch
viel schöner, wenn Du hier bei mir wärst. Dann
könnten wir gemeinsam auf meinem Bett lie-
gen und dem Regen lauschen.
Papa sagt:
»Wen dr ge pt,
eräht er v den
uf. Hör gt zu, b
veuc ct zu en,
s dr e zäht.«
21
Das habe ich mir gedacht, nachdem
ich Deinen Brief gelesen habe:
Du hast echt
en Kl!
Du hast echt
en Volkl!
Ich kann gut verstehen, dass Deine Mutter
stinksauer auf Dich ist. Wäre meine auch, wenn
sie noch leben würde.
Ich kann auch verstehen, dass Du die Fransen-
jacke von Marina-Schmolllippe (oder so eine
ähnliche …) unbedingt haben wolltest. Die ist
echt so was von GENIAL. Marina-Schmolllippe
sah darin aus wie ein Star. (Neid!)
Marina-Schmolllippe sieht eigentlich immer aus
wie ein Star. (Doppelt Neid!!) Ob mit oder
ohne Jacke. Und ob mit oder ohne Fran-
sen an der Jacke. Das ist echt
gemein. Ich finde, jemand, der so
blöd wie Marina-Schmolllippe ist,
der sollte auch blöd aussehen.
Das wäre nur fair.