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Stell dir vor, du hast die Liebe deines Lebens verloren und weißt nichts davon. Zwei Jahre ist es her, seit Noah Sarah das letzte Mal gesehen hat. Zwei Jahre, in denen sie einander nur Briefe schreiben konnten, um sich ihre Liebe zu versichern. Doch als Noah zurückkehrt, erwartet ihn eine böse Überraschung. Sarah ist weggezogen und als er sie endlich findet, sieht er sie mit einem anderen. Was ist passiert? Hat sie ihn all die Zeit belogen? Oder ist das Ganze nur ein riesiges Missverständnis? PS: Du fehlst mir ist ein Liebesroman voller Tiefe und Gefühl. Herzzerreißend und absolut überraschend.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Copyright © 2018 by Hannah Siebern
Impressum
Hannah Siebern
Am Vogelbusch 18
48301 Nottuln
ISBN: 9783759248077
Deutsche Erstausgabe 09/2018
All rights reserved.
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Erstellt mit Vellum
Über den Autor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Mehr Bücher der Autorin
Vorgeschichte
Epilog
Nachwort
Danksagung
Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch. Inzwischen schreibt sie in verschiedenen Genres und ist immer mit ganzem Herzen dabei.
Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund in der Nähe von Münster (NRW) und arbeitet schon wieder an ihrem nächsten Romanprojekt.
Foto: Guido Karp www.p41d.com
www.hannahsiebern.de
Lieber Noah,
ich weiß, dass ich dir nicht schreiben darf, aber ich tue es trotzdem. Auch wenn dieser Brief dich vermutlich niemals erreichen wird – allein schon, weil ich keine Ahnung habe, wohin ich ihn schicken soll –, muss ich dir einfach erzählen, wie es mir geht, in der Hoffnung, dass die Zeit dann schneller vergeht.
Du bist jetzt seit fünf Stunden weg. Fünf Stunden, in denen ich nur geweint habe, weil mir der Gedanke, so lange auf dich warten zu müssen, grausam erscheint. Fünf Stunden, in denen ich gehofft habe, dass mich jemand aus diesem Albtraum weckt und mir sagt, dass ich alles nur geträumt habe und nichts von alledem passiert ist.
Ich kann einfach nicht fassen, dass man dich mir weggenommen hat. Sie schicken dich nach Skandinavien. In einem Wohnmobil. Mit einem Betreuer, den du gar nicht kennst. Das hast du nicht verdient. Selbst wenn du getan haben solltest, was sie dir vorwerfen – was ich nicht glaube –, dann ist es trotzdem ungerecht.
Und warum dieses Kontaktverbot? Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dich von Randy fernhalten wollen. Du weißt, dass ich auch immer der Meinung war, dass er dir nicht guttut. Aber warum von mir? Wie kommen sie auf die Idee, dass ich nicht gut für dich bin? Ich hatte immer das Gefühl, dass du in meiner Nähe friedvoller gewesen bist und dass ich dich eher beruhigt als aufgewühlt habe. Falls es anders gewesen ist, tut es mir leid.
Aber ich denke, dass es ihnen eher um einen Neubeginn für dich geht. Sie wollen, dass du mich vergisst und nochmal von vorne anfangen kannst, sobald du volljährig bist. Doch das ist noch so lange hin. So furchtbar lange, dass ich allein bei dem Gedanken daran wieder anfangen muss zu weinen. Noch fast zwei Jahre.
Für einen Erwachsenen mag das nicht allzu viel sein, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich meine … wir kennen uns seit vier Jahren und wenn du jetzt zwei Jahre weg bist, dann ist das die Hälfte der Zeit, die wir uns kennen.
Trotzdem werde ich mein Versprechen dir gegenüber halten. Vor fünf Stunden habe ich mich an dich geklammert und dir geschworen, dass ich auf dich warten werde. Und das habe ich auch so gemeint. Ich werde dich nicht vergessen und ich werde dir nicht untreu sein in dieser Zeit. Stattdessen werde ich genau hier warten und da sein, wenn du zurückkommst. Das verspreche ich dir.
In Liebe. S.L.
PS: Du fehlst mir.
Noah
Ein Jahr, zehn Monate, vier Tage, zwölf Stunden und fünfunddreißig Minuten. So lange war es her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Wenn ich mich anstrengte, dann könnte ich vermutlich sogar die Sekunden ausrechnen, die es her war, seitdem ich dieses Haus das letzte Mal gesehen hatte.
Sarahs Haus. Beziehungsweise das Haus ihrer Familie. Fast zwei Jahre hatte ich darauf gewartet, dass ich endlich hierher zurückkehren konnte. Zurück zu ihr. Zu dem Mädchen, das meine Seele davor gerettet hatte, in der Finsternis zu versauern. Zurück zu dem Mädchen, das ich in meinem Leben mehr geliebt hatte als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt.
Sarah Lorenz.
Ihre Mutter war Engländerin, daher sprach man den Namen englisch aus. Genau wie bei ihrer kleinen Schwester Summer.
Sarah war der wunderbarste Mensch überhaupt. In den letzten zwei Jahren hatten wir kaum Kontakt zueinander gehabt. Man hatte uns verboten zu telefonieren oder zu skypen. Wir hatten keine E-Mails austauschen dürfen und uns auch sonst keine Messages schicken können. Nur Briefe waren möglich gewesen. Aber auch die waren viel zu oft abgefangen worden.
Doch nun war ich hier.
So lange hatte ich darauf gewartet, Sarah wiederzusehen und ihr zu sagen, dass sich für mich rein gar nichts geändert hatte. Dass ich sie immer noch genauso liebte wie damals und dass es mir unglaublich leidtat, dass man uns vor zwei Jahren voneinander getrennt hatte. Ich hatte so viele Fehler gemacht und bereute jeden einzelnen davon. Aber das war jetzt alles unwichtig. Wichtig war nur, dass ich hier war und dass ich mein Versprechen endlich einlösen konnte. Es spielte keine Rolle, dass ich keine Ahnung hatte, was in der Zwischenzeit alles passiert war. Ich wusste nur, dass ich Sarah wiedersehen musste und dass sich alles andere dann schon ergeben würde.
Daher straffte ich die Schultern, ging zu der hellblauen Tür und drückte die Klingel.
Im ersten Moment geschah nichts. Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit und hörte kein Geräusch von drinnen. Komisch eigentlich. Denn normalerweise war Sarahs kleine Schwester Summer immer die Erste gewesen, die an der Türe war, um mich zu begrüßen. Stets nahmen mich ihre strahlend blauen Augen in Empfang, die denen von Sarah so ähnlich waren. Ihr breites Grinsen löste in mir ein starkes Glücksgefühl aus, das sich nur noch überbieten ließ, sobald Sarah an die Tür trat, um mich anzulächeln und mir einen Kuss auf die Wange zu geben.
Wir hatten uns in ihrem Elternhaus nie auf den Mund geküsst. Allein der Gedanke wäre ein Frevel gewesen. Sarahs Vater war evangelischer Pfarrer und die Eltern waren streng gläubig. Der Gedanke, ich könnte ihre wertvolle Tochter vor der Ehe unsittlich berühren, kam für sie einem Sakrileg gleich. Daher hatten wir stets darauf geachtet, vor ihnen auf Zärtlichkeiten zu verzichten. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich es heute schaffen würde, mich zusammenzureißen. Ich hatte Sarah so vermisst und wollte nichts lieber, als sie endlich in die Arme zu schließen.
Also drückte ich erneut auf die Klingel. Diesmal länger. Und als immer noch nichts passierte, ein weiteres Mal.
„Ja, ja. Moment“, ertönte eine ältere Stimme von drinnen. „Meine Knochen wollen nicht mehr so schnell.“
Die Tür wurde geöffnet und ich sah mich einem Mann um die achtzig und einem alten Dackel gegenüber. Der Mann hatte wache braune Augen, wirkte aber ansonsten sehr gebrechlich. Sein Hund hingegen schien fast blind zu sein, denn sein Besitzer konnte ihn gerade noch davon abhalten, gegen meine Beine zu laufen. Wer war das? Sarahs Großvater vielleicht? Wohnte er jetzt bei ihnen? Mit seinem Hund, von dem ich noch nie gehört hatte? Ich hatte den Mann nie kennengelernt und gedacht, Sarahs Großeltern würden in Hamburg leben. Aber vielleicht hatte ich das auch falsch in Erinnerung.
„Sie wünschen?“, fragte der Mann nicht unfreundlich und sah mich erwartungsvoll an.
Er trug mitten am Tag einen Pyjama und Pantoffeln. Auf seiner großen Nase saß eine schiefe Brille und das lange graue Haar war oben herum komplett ausgefallen.
„Ich …“ Ich räusperte mich. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt. „Ich möchte zu Sarah. Ist sie da?“
„Sarah?“, fragte der Mann irritiert und runzelte die Stirn. „Da haben Sie sich bestimmt in der Tür vertan. Hier wohnt keine Sarah.“
Es dauerte einen Moment, bis die Worte in meinem Hirn ankamen und mir wurde plötzlich eiskalt. Das konnte nicht sein. Das musste ein Irrtum sein.
„Natürlich wohnt sie hier!“, beharrte ich. „Sie hat ihr ganzes Leben hier gewohnt und ich wohnte nur drei Häuser weiter.“ Ich zeigte auf das längst abrissreife Haus mit den geschlossenen Vorhängen, in dem ich die schlimmste Zeit meines Lebens verbracht hatte und sah den alten Mann an. „Sarah Lorenz … 1,70 Meter groß, blond, blaue Augen. Sie ist das hübscheste Mädchen überhaupt und …“
Ich brach ab. Hätte der Mann Sarah gekannt, dann wären all diese Erklärungen gar nicht nötig gewesen.
Der alte Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich bin vor einem Jahr hier eingezogen und da war die andere Familie längst fort. Das Ganze lief über einen Makler.“
Nein. Das durfte nicht sein. Nein, nein, nein, nein! Ich wollte schreien, wollte um mich schlagen und jeden verfluchen, den ich auf dieser Welt kannte. Stattdessen drängte ich den Mann und den Hund zur Seite und verschaffte mir dadurch Zugang zum Haus. Ich musste mir Gewissheit verschaffen.
Der alte Mann war so überrumpelt, dass er keine Gegenwehr leistete und der Hund schien ohnehin kaum etwas mitzukriegen.
„Hey!“, rief er mir stattdessen hinterher, als ich ins Wohnzimmer stürmte.
Dieser Raum war es, in dem wir uns am meisten aufgehalten hatten. Wir hatten gemeinsam auf der hellen Ledercouch gesessen und Händchen gehalten. Damit hatten Sarahs Eltern leben können. Währenddessen hatte Summer zu unseren Füßen gesessen und wir hatten Gesellschaftsspiele gespielt oder uns gemeinsam Disneyfilme angesehen. Obwohl ich mit fünfzehn eigentlich andere Interessen gehabt hätte, waren das die mit Abstand glücklichsten Stunden meines Lebens gewesen.
Jetzt war das Wohnzimmer kaum wiederzuerkennen. Dort, wo früher das riesige Sofa gestanden hatte, waren nun zwei Ohrensessel und ein altmodischer Couchtisch zu sehen. Gegenüber befand sich immer noch ein TV-Gerät, aber jetzt war es kein moderner Flachbildschirm mehr, sondern ein alter Röhrenfernseher, in dem gerade die Nachrichten liefen. Die Fenster waren schon lange nicht mehr geputzt worden und auf den Simsen stand keine bunte Dekoration mehr, sondern hohe Pflanzen, die allesamt die Köpfe hängen ließen. Auf dem Boden lag ein muffiger Teppich und die hohen Regale waren bis obenhin voll mit Büchern.
„Hey!“, rief der alte Mann erneut und kam mir langsam hinterher. „Sie können doch nicht einfach so hier eindringen. Das ist mein Haus!“
„Ist es nicht“, flüsterte ich und lief in die Küche.
Auch hier dasselbe Bild. Alles war anders, als ich es in Erinnerung hatte. Die hellen Möbel waren einer dunklen und viel zu kleinen Küchenzeile gewichen. Nichts erinnerte mehr an die schönen Stunden, die ich hier mit Sarah und ihrer Familie verbracht hatte, die mich aufgenommen hatten, als wäre ich ein lange verloren geglaubter Sohn gewesen.
„Nein, nein, nein!“, schrie ich und stürzte quer durchs Haus. Alles war anders. Alles. Die Tapeten waren weg, der Boden war mit neuen Teppichen ausgelegt und die Möbel waren komplett verändert worden. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. Gar nichts.
Ich stürmte in den Garten und erwartete, auch hier alles verändert vorzufinden, aber zu meiner Überraschung war dieser Ort der einzige, den ich sofort wiedererkannte. Es war zwar alles verwildert, aber offenbar hatte der alte Mann hier nicht viel getan. Der Garten war groß, bestimmt 400 Quadratmeter, und in einer Ecke stand ein Gewächshaus. Es wirkte zwar nicht so, als wäre es noch in Benutzung, aber immerhin war es noch da. Und daneben stand er. Unser Baum. Es war eine große Eiche, an der ich immer noch die einzelnen Sprossen erkennen konnte, die Sarah und ich angebracht hatten, um besser nach oben zu kommen. Das war unser Platz gewesen, an den uns noch nicht einmal Summer hatte begleiten dürfen. Dort oben hatte es nur uns gegeben.
Damit sie nicht traurig war, hatte ihr Vater genau unter unserem Ast eine Schaukel für Summer gebaut, auf der sie gerne gesessen hatte, wenn sie nachdenken musste oder uns ärgern wollte. Und auch diese war immer noch da. Sie hing an ihren Seilen, als würde sie nur darauf warten, dass Sarahs kleine Schwester um die Ecke kam und sich darauf setzte, um uns zu überreden, ihr Anschwung zu geben. Das hatte sie früher ständig getan, selbst als sie für so etwas schon längst zu alt gewesen war.
Ich schluckte und hörte das Gezeter des Alten, aber es interessierte mich nicht. Stattdessen kletterte ich den Baum hoch und setzte mich auf den Ast, auf dem ich mit Sarah stundenlang gesessen und über die Zukunft philosophiert hatte. Meine Hand fuhr über das Herz, das wir damals gemeinsam in den Stamm geschnitzt hatten. S+N stand da in verwitterten Buchstaben. Meine Finger strichen über die Einkerbungen und mein Magen krampfte sich so sehr zusammen, dass ich es kaum noch ertragen konnte.
Ich ballte meine Hand zur Faust, schloss die Augen und schlug mit voller Wucht gegen den Stamm. Der Schmerz fuhr durch meine Hand und schien sich in meinem gesamten Körper auszubreiten. Ich schrie auf und war mir im selben Moment klar darüber, dass ich mir den Knöchel verstaucht hatte. Das kam nicht zum ersten Mal vor, daher wusste ich genau, wie sich das anfühlte. Aber es war mir egal. Alles war egal und jede Ablenkung war mir recht, sofern ich mich nicht der Realität stellen musste. Der Realität, dass Sarah nicht mehr hier war.
Sie war fort und ich hatte keine Ahnung, wo ich nach ihr suchen sollte. Fast zwei Jahre hatte ich mich jeden Tag nach ihr verzehrt und wofür? Für nichts.
Ich schrie meine Frustration heraus, lehnte meinen Kopf an den Baumstamm und wartete auf die Polizei.
Denn dass die früher oder später kommen würde, war für mich absolut selbstverständlich. Mich würden nämlich keine zehn Pferde von diesem Baum herunterbringen. Nicht, bevor ich nicht wusste, was mit Sarah passiert war.
„Wo bist du nur?“, fragte ich leise den Baum, als wäre er eine geheime Verbindung zu Sarah, wo auch immer sie jetzt war. „Und warum hast du mich verlassen?“
Lieber Noah,
ich glaube nicht, dass mein letzter Brief dich erreicht hat. Vermutlich ist er einfach irgendwo verloren gegangen oder du warst längst nicht mehr an demselben Ort wie beim letzten Mal. Ich weiß, dass ich aufhören sollte, dir zu schreiben, aber das kann ich nicht. Diese Briefe sind zu einer Art Tagebuch für mich geworden und ich werde sie weiter verfassen, selbst wenn sie dich nie erreichen.
Wusstest du eigentlich, dass ich mit der Gewissheit aufgewachsen bin, einer von Gottes kleinen Lieblingen zu sein? Meine Eltern haben Summer und mir das immer wieder gepredigt. Bei mir gibt es dafür viele Gründe.
Im Alter von drei bin ich im Schwimmbad von der Kante ins Wasser gefallen und hatte unheimliches Glück, weil meine Mutter es sofort bemerkte und mich wieder herauszog. Später war ich stets die Einzige, die von der schweren Grippe im Kindergarten verschont blieb und im Alter von sieben habe ich tatsächlich einen 100-Euro-Schein auf der Straße gefunden. Da wir nicht herausfinden konnten, wem er gehörte, hielten meine Eltern mich dazu an, ihn zu spenden, was ich mit großer Freude tat: Ich ließ das Geld dem nächsten Bettler in den Hut fallen. Das war vermutlich nicht ganz das, was meine Eltern sich vorgestellt hatten, aber ich war zufrieden. Denn ich hatte noch nie in meinem Leben die Augen eines Menschen mehr leuchten sehen als die des Bettlers in dem Moment, als ihm klar wurde, dass der Schein echt war.
Und dann war da natürlich noch die Sache mit dir.
Das war wahrscheinlich der größte Glücksfall überhaupt. Nicht nur für mich, sondern vermutlich auch für dich und irgendwie sogar für meine ganze Familie. Ich erinnere mich noch so gut an den Tag, als wäre es gestern gewesen.
Ich war zwölf und wir kamen spät nach Hause, weil eine Kirchenveranstaltung länger gedauert hatte als erwartet. Meine Eltern und Summer blieben noch draußen und unterhielten sich mit den Nachbarn, aber ich musste dringend auf die Toilette, deswegen bat ich meine Eltern um den Schlüssel und ging ins Haus. Ich kam ins Wohnzimmer und stieß einen Schrei aus, denn mitten in der Küche standest du und warst gerade dabei, unseren Kühlschrank zu plündern. Ich war noch nie so erschrocken wie in diesem Moment und ich glaube, dir ging es genauso. Du sahst so süß aus mit deinen viel zu langen dunklen Haaren und den großen braunen Augen. Deine Kleidung war abgetragen, aber ich hatte trotzdem keine Angst vor dir. Ich weiß gar nicht so genau, warum nicht. Vielleicht, weil ich gespürt habe, dass du selbst mehr Angst hattest als ich. Oder ich habe damals schon gewusst, dass von dir niemals eine Gefahr für mich ausgehen würde. So oder so war ich die Erste, die sich getraut hat, etwas zu sagen.
„Hallo. Ich bin Sarah“, habe ich zu dir gesagt. „Und wer bist du?“
„Noah.“
„Hallo, Noah. Du musst hungrig sein, wenn du hier einfach so einbrichst. Wie bist du reingekommen?“
„Die … die Terrassentür war auf. Es tut mir so leid, ich …“
„Sarah? Sarah. Mit wem redest du da?“, rief mein Vater in diesem Moment und ich habe dir angesehen, dass du am liebsten sofort davongerannt wärst. Ich habe die Panik in deinem Blick erkannt und hätte dir auch direkt Platz gemacht, wenn von meinem Vater eine Gefahr ausgegangen wäre. Aber das war nicht der Fall. Da war ich mir sicher. Also habe ich abgewartet, bis er bei mir war und dann auf dich gedeutet.
„Papa. Darf ich vorstellen? Das ist Noah. Er hatte Hunger und die Terrassentür war auf.“
Mein Vater war im ersten Moment geschockt, dich zu sehen, aber wie ich nicht anders erwartet hatte, war er nicht sauer. Er hat sich schnell wieder gefasst und dir seine Hand entgegen gestreckt. Ich bin sicher, dass es dich sehr verunsichert haben muss, dass er noch seinen Pastorenkittel trug.
„Hallo, Noah“, hat mein Vater zu dir gesagt. „Ich bin Pfarrer Dominik. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“
Deine Kinnlade ist nach unten geklappt und ich musste lachen. Kurz danach kamen auch Summer und Mama herein und nach dem ersten Durcheinander hat Papa dich zum Essen eingeladen. Einfach so.
Du hast uns erzählt, dass deine Mutter vor einiger Zeit abgehauen ist und dass dein Vater immer nur Alkohol trinkt und auf der Couch herumsitzt. Dein Bruder hatte versucht, für euch was zu Essen aufzutreiben, aber er war seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Da du Hunger hattest, bist du losgezogen, um selbst was zu suchen. Ich weiß noch, dass Summer dich die ganze Zeit über angesehen hat, als wärst du der coolste Junge der Schule. Aber du hattest nur Augen für mich. Du hast mich angeschaut, als wäre ich deine Rettung. Dabei warst du es doch, der das Herz meines Vaters erweicht hat. Wenn du nicht so liebenswert gewesen wärst, dann hätte er bestimmt noch die Polizei gerufen. Aber er hat verstanden, dass du nicht gestohlen hattest, um dich zu bereichern, sondern weil du Hunger hattest.
„Hast du einen Ort zum Schlafen?“, hat mein Vater nach dem Essen gefragt und du hast genickt.
„Ja, Herr Pfarrer.“
„Das ist gut. Wenn du das nächste Mal Hunger hast, versprich mir, dass du nirgendwo einbrichst. Klopf einfach hier an und sag Bescheid. Willst du, dass ich mal mit deinem Vater rede?“
Dein panisches Kopfschütteln war deutlich genug und obwohl ich genau wusste, wie gerne mein Vater sich eingemischt hätte, hat er es nicht getan. Zumindest nicht an diesem Tag.
Als du gegangen bist, habe ich befürchtet, dich nie wiederzusehen. Aber offenbar war dein Hunger größer als die Furcht, mein Vater könnte mit deinem Vater sprechen. Auf jeden Fall hast du am nächsten Tag wieder an der Tür geklingelt. Genau wie am übernächsten und am Tag danach. So lange, bis du ein regelmäßiger Gast warst, den man sich schon gar nicht mehr wegdenken konnte.
Ich war glücklich, weil ich damals schon wusste, dass du mal jemand ganz Besonderes für mich werden würdest und ich hatte recht.
Das damals war der Beginn der größten Liebesgeschichte meines Lebens und ich bin mir sicher, dass sie noch nicht vorüber ist.
Pass auf dich auf da oben in Schweden oder wo auch immer du gerade bist.
In Liebe. S. L.
PS: Du fehlst mir.
Noah
Am Ende war es nicht die Polizei, die mich vom Baum herunterholte, sondern der Hunger. Entgegen meinen Erwartungen hatte der alte Mann nicht die Bullen gerufen. Stattdessen hatte er sich einen Morgenmantel angezogen, sich seine Pfeife geholt und sich mit einer Zeitung zu mir in den Garten gesetzt. Sein Hund war irgendwann dazu gekommen und hatte sich zu seinen Füßen in die Sonne gelegt.
Die nächsten zwei Stunden war der Mann dort geblieben und hatte zufrieden gelesen, während ich auf dem Ast gesessen und meiner Vergangenheit hinterhergetrauert hatte. In dieser Zeit war mir aufgefallen, wie bescheuert es eigentlich war, was ich hier tat. Ich würde Sarah ganz sicher nicht zurückbekommen, indem ich hier oben saß und auf sie wartete. Wenn sie sich über ein Jahr nicht mehr hatte blicken lassen, würde sie bestimmt nicht plötzlich zur Tür hereinspaziert kommen und mir fröhlich zuwinken. Statt also hier herumzusitzen und mich selbst zu bedauern, sollte ich lieber handeln.
Trotzdem konnte ich mich so lange nicht dazu aufraffen herunterzukommen, bis der alte Mann im Haus verschwand und eine halbe Stunde später mit einem Eintopf zurückkam. Der Topf dampfte und der erstaunlich appetitliche Duft stieg mir in die Nase, bis mein Bauch anfing so laut zu knurren, dass es vermutlich selbst die Nachbarn gegenüber hören konnten.
„Hunger, Jungchen?“, fragte der alte Mann. „Komm runter, dann kriegst du was ab.“
Er verschwand wieder im Haus und kam mit zwei Tellern und zwei Löffeln zurück. Er machte beide Teller voll und begann dann genüsslich zu essen. Ab und zu warf er seinem Hund ein Stück Brot zu. Lustigerweise fing dieser es aber nicht auf, sondern es kullerte ihm vor die Füße, wo es eine Weile liegen blieb, bis der alte Dackel kapiert hatte, was es eigentlich war.
Erneut knurrte mein Bauch und mir wurde klar, dass ich mich gerade lächerlich machte. Ich benahm mich wie ein Fünfjähriger, der nicht aus seiner Deckenbude kommen wollte, weil er Angst vor den Monstern unter seinem Bett hatte. Das war total bescheuert.
Ich war volljährig, verdammt nochmal. Vor zwei Tagen war ich volljährig geworden und es gab nun niemanden mehr, der mir etwas vorschreiben durfte. Denn egal, wie gut die Menschen es mit mir meinten, es gab niemanden, der mir geben konnte, was ich brauchte. Niemanden außer Sarah.
Aber auch Sarah würde nichts davon haben, wenn ich auf diesem Ast verhungerte, also riss ich mich zusammen, kletterte den Baum herunter und stellte mich zu dem Mann an den Tisch.
Als er eine einladende Handbewegung machte, konnte ich nicht länger widerstehen. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, schnappte mir den Löffel und begann gierig den Eintopf in mich hineinzuschaufeln. Natürlich verbrannte ich mir dabei die Zunge, aber das war mir völlig egal. Ich löffelte so lange weiter, bis der Teller vollkommen leer war und schnappte mir dann ein Stück Brot, das der alte Mann mir hinüber geschoben hatte. Erst danach ging es mir etwas besser. Die Situation erinnerte mich sehr stark an den Tag, als ich Sarah kennengelernt hatte. Ich hatte damals seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und so schrecklichen Hunger, dass ich aus lauter Verzweiflung in ein fremdes Nachbarhaus eingestiegen war, nur um etwas zu beißen zu bekommen. Heute war es ähnlich. Ich hatte in den letzten Tagen kaum gegessen und vermutlich auch viel zu wenig getrunken. Es hatte einfach keine Rolle gespielt. Ich war hierhergefahren, weil ich keine weitere Sekunde hatte warten wollen. Und nun war ich hier. An dem Ort meiner Träume und es war überhaupt nicht so, wie ich erwartet hatte.
„Nachschlag?“, fragte der alte Mann und ich nickte.
Er tat mir mehr von dem Eintopf auf den Teller und nahm sich dann selbst noch eine Portion. Diesmal aß ich langsamer und merkte dadurch, dass der Eintopf tatsächlich so gut war, wie er gerochen hatte. Was für eine Verschwendung, dass ich die erste Ration so verschlungen hatte.
„Warum tun Sie das?“, fragte ich schließlich, nachdem ich auch den zweiten Teller geleert hatte und mein Kopf begann, etwas klarer zu werden. „Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Wenn ich die gerufen hätte, dann hätte ich ja nie erfahren, was es mit dir auf sich hat, Bürschchen. Aber ich bin neugierig. Es ist offensichtlich, dass du die Vorbesitzer meines Hauses kanntest und ich wüsste gerne deine Geschichte.“
Meine Geschichte. Ich schüttelte den Kopf. Darauf konnte der Opa lange warten.
„Warum?“, fragte ich erneut.
Der Mann seufzte, ließ sich zurücksinken und zündete sich wieder seine Pfeife an. Sie roch ganz anders als die vielen Zigaretten, die mein Alter früher immer geraucht hatte. Zum Glück, denn seit damals machte mich der Gestank von Zigaretten fuchsteufelswild.
„Mein Junge. Ich bin alt. Das wird dir wohl kaum entgangen sein. Ich habe vier Söhne und irgendwo auf der Welt sieben Enkelkinder, von denen ich kein einziges je zu Gesicht bekommen habe. Keiner meiner Söhne besucht mich und die meisten meiner Freunde sind längst gestorben. Ich bin einsam. Daher interessiere ich mich für Menschen, die einfach in mein Haus platzen und es sich dann in meinem Baum gemütlich machen, um dort herumzubrüllen und auf den Stamm einzuschlagen. Ich habe in den letzten drei Stunden mehrere Anrufe besorgter Nachbarn bekommen, ob bei mir eingebrochen wurde. Aber ich konnte sie alle beruhigen. Offiziell bist du einer meiner verschollenen Enkel, den ich heute zum ersten Mal sehe.“
Ich schnaubte. So schnell kam man also zu einem neuen Großvater. Dabei wäre es ja durchaus schön gewesen, meine eigenen Großeltern hätten noch gelebt, um sich um mich zu kümmern. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen, als es nun der Fall war. Doch das Leben war nun mal kein Wunschkonzert.
„Das ist für mich immer noch kein Grund, Ihnen meine Geschichte zu erzählen“, sagte ich bestimmt.
Ich gehörte nicht zu den Leuten, die einem Fremden bereitwillig ihr Herz ausschütteten. Im Prinzip gehörte ich noch nicht einmal zu den Menschen, die ihren Freunden ihr Herz ausschütteten, was daran liegen mochte, dass ich kaum welche hatte. Die einzige Person, die alles über mich wusste, war Sarah. Und sie zu finden, war für mich das Wichtigste überhaupt.
„Nein. Das sicher nicht. Meine Einsamkeit und meine Neugier sind immerhin ganz allein mein Problem. Aber fangen wir doch von vorne an. Ich bin Waldemar Eilers. Das da unten ist Dachs.“ Er deutete auf den Hund, der im Zeitlupentempo den Boden nach Brotkrumen absuchte. „Und wer bist du?“
Ich zögerte, nahm dann aber die Hand an, die der Opa mir entgegenstreckte. Immerhin hatte er nicht die Polizei gerufen und mir sogar etwas zu essen gegeben. Da konnte ich zumindest höflich zu ihm sein.
„Noah“, sagte ich. „Noah Bender.“
„Und du hast früher hier in der Nachbarschaft gewohnt?“
Ich nickte. Das wusste er doch schon.
„Ich habe von dem Mann gehört, der in dem dunklen Haus gelebt hat. Soweit ich weiß, ist er im Gefängnis.“
Dazu sagte ich nichts, biss aber die Zähne fest zusammen. Wenn er es schon wusste, warum fragte er dann überhaupt?
„Dein Schweigen deute ich jetzt mal als Bestätigung“, sagte Waldemar und paffte wieder seine Pfeife. „Ich wüsste wirklich zu gerne, was sich damals zugetragen hat. Aber ich verstehe schon, dass du dafür mehr haben willst als nur eine warme Mahlzeit.“
Ich sah ihn an und runzelte die Stirn. Wollte er wirklich mit mir feilschen? Was sollte es schon geben können, das er hatte und ich wollte? Da konnte ich mir kaum etwas vorstellen.
„Die Familie Lorenz ist schon vor über einem Jahr hier weggezogen, und sie haben einen Nachsendeauftrag eingerichtet. Trotzdem sind im Laufe der Zeit ein paar Briefe bei mir angekommen, die ich aufbewahrt habe. Alle paar Monate schicke ich sie ihnen nach.“
Ich erstarrte, als mir bewusst wurde, was er da gerade gesagt hatte. Hieß das etwa …
„Sie haben die Adresse von Sarah?“, fragte ich fassungslos. „Sie haben die neue Adresse und haben mich trotzdem stundenlang auf diesem beschissenen Baum sitzen lassen?“
„Ja. Ich habe die Adresse und kann sie dir geben. Allerdings werde ich das nur tun, wenn du mir deine Geschichte erzählst und ich zu dem Schluss komme, dass es richtig ist, dir die Adresse mitzuteilen. Andernfalls wirst du von mir kein Wort erfahren.“
Wut wallte in mir auf. Am liebsten hätte ich den Kochtopf genommen und dem Opa den Rest seines bescheuerten Eintopfes einfach über den Kopf gekippt, aber dann hätte ich vermutlich erst recht nicht erfahren, wo sich Sarah aufhielt.
„Wenn du etwas erreichen willst, solltest du dich auch dementsprechend verhalten“, hatte Sarahs Vater mir einmal gesagt. „Die Menschen reagieren auf uns und wenn wir etwas wollen, dann müssen wir zuerst etwas dafür geben. Gib und du wirst bekommen. So läuft das nun mal im Leben.“
Ich hatte diesem Bild nie viel abgewinnen können. Mein Vater hatte nie etwas gegeben, wenn er etwas haben wollte. Im Gegenteil. Er hatte sich alles genommen und das hatte lange Zeit ganz wunderbar funktioniert.
„Also verstehe ich Sie richtig? Sie geben mir die Adresse nur, wenn Ihnen die Geschichte gefällt, die ich Ihnen erzähle? Dann können wir uns die Mühe sparen. Die Geschichte gefällt nämlich niemandem. Das kann ich Ihnen versprechen. Es ist keine nette Gutenachtgeschichte, sondern eher ein Albtraum, aus dem man so schnell wie möglich wieder aufwachen möchte.“
Der Opa schüttelte den Kopf. „Es geht nicht darum, ob ich die Geschichte schön finde“, sagte er. „Sondern darum, ob du ehrlich zu mir bist und ob ich den Eindruck gewinne, dass du dem Mädchen keinen Schaden zufügen willst. Denn ich würde es mir nie verzeihen, wenn in ein paar Tagen in der Zeitung steht, dass diese Sarah, zu der du so dringend willst, verschleppt worden ist.“
Ich schnaubte freudlos. Als wenn ich Sarah auch nur ein Haar krümmen könnte. Niemals würde ich ihr etwas antun. Ganz egal, ob sie alle unsere Versprechen gebrochen hatte. Es spielte keine Rolle mehr. Zwei Jahre waren eine lange Zeit und ich hätte es verstanden, wenn sie weitergezogen war. Immerhin hatte ich verdammt lange gebraucht, um zurück nach Hause zu kommen.
„Also gut“, lenkte ich schließlich ein. „Ich erzähle Ihnen meine Geschichte, aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass ich danach Sarahs Adresse bekomme.“
Ich hätte so ziemlich alles getan, um zu erfahren, wo sie war. Insofern sprang ich über meinen Schatten und begann zu erzählen.
Ich konnte nur hoffen, dass ich dadurch wirklich erfahren würde, was mit Sarah passiert war.
S.L.
Gott liebt dich. Am Arsch. Wenn das stimmte, dann wäre eine ganze Menge von dem Scheiß in den letzten zwei Jahren nicht passiert. Außerdem war der liebe Gott offenbar nicht dazu imstande, mir etwas mehr Talent für Französisch zu geben, denn meine Klausur war dieses Mal wieder absolut mangelhaft ausgefallen. Verdammt.
Wenn es etwas gab, worin ich einfach nur grottenschlecht war, dann war es Französisch. Das war immer schon so gewesen. In der fünften Klasse hatte ich in jedem Fach eine Eins gehabt, außer in Französisch. Aber wie es aussah, war ich heute nicht die Einzige, die so ihre Probleme hatte.
„So ein Mist“, sagte Gerrit neben mir und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte knallen. „Mein Vater bringt mich um, wenn er das sieht.“
„Leise rieselt die Vier“, begann Miriam in der Melodie von Leise rieselt der Schnee zu singen. „Auf mein Zeugnispapier. Fünfen und Sechsen dazu. Freue dich, Papa haut zu.“
„Das ist nicht lustig“, schimpfte mein Freund und sah Miriam böse an. „Papa wird wirklich sauer. Vermutlich streicht er mir einen Monat das Taschengeld.“
Ich lachte. Gerrit und ich waren seit sieben Monaten ein Paar und ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, wie viel Geld er zur Verfügung hatte.
„Ich wünschte ja, ich würde überhaupt Taschengeld kriegen. Meine Eltern haben mich damals dazu überredet, mein Taschengeld jeden Monat zu spenden.“
„Dein Ernst?“, fragte Miriam mit großen Augen. Offenbar hatte sie das nicht gewusst.
„Nein. Sie macht Scherze. Natürlich ist das ihr Ernst“, blaffte Gerrit. „Ihr Vater ist ein Heiliger. Was erwartest du da?“
„Wenn mein Vater mein Taschengeld spenden würde, würde ich ihm die Augen auskratzen“, erklärte Miriam überzeugt und strich sich mit einem ihrer manikürten Finger eine Strähne hinters Ohr. „Das sollte er mal wagen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ach. Das ist schon okay. Ich habe ja noch das Geld, das ich beim Babysitten verdiene.“
„Irgendwie ist das unlogisch“, sagte Gerrit. „Dein Taschengeld wird gespendet, aber wenn du dich um Lilly kümmerst, bekommst du dafür Geld.“
„Meine Tante meint, ich soll lernen, dass man für sein Geld arbeiten muss und dass einem nicht alles in den Schoß fällt. Dir würde das auch ganz guttun.“
Ich zwinkerte meinem Freund zu und der murrte irgendetwas Unverständliches. Im Gegensatz zu mir musste er nie etwas für sein Geld tun. Er bekam einhundert Euro Taschengeld im Monat und zusätzlich nochmal etwas für Kleidung. Das Taschengeld konnte er also verprassen, wie es ihm gefiel und das tat er auch. Ein Luxus, den ich mir nicht einmal vorstellen konnte.
Trotzdem hatte ich nie das Gefühl gehabt, es hätte mir an etwas gefehlt. Zumindest nicht bis zu diesem einen Tag vor anderthalb Jahren, der mein komplettes Leben aus der Bahn geworfen hatte.
„Was für eine Note hast du eigentlich?“, fragte ich Gerrit und schielte über seinen Arm.
„Eine Drei“, maulte er und ich musste lachen.
„Eine Drei? Und dann machst du so ein Theater? Ich habe eine Fünf!“
Fassungslos sah er mich an. „Und damit traust du dich nach Hause?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Wie gesagt. Das Taschengeld können sie mir eh nicht kürzen und in allen anderen Fächern stehe ich zwischen eins und drei. Ich muss nur diese blöde Fünf irgendwie ausgleichen. Letztes Mal hatte ich eine Vier, also kann ich nur hoffen, dass ich nicht auf der Fünf kleben bleibe.“
„Du könntest dich auch einfach mündlich mehr beteiligen“, schlug Gerrit vor. „In allen anderen Fächern bist du doch auch gut.“
Ich verzog den Mund. Alle anderen Fächer fielen mir auch leicht, aber in Französisch war ich gehemmt, weil ich mir die blöden Vokabeln einfach nicht so gut merken konnte. Sonderpunkte für guten Willen gab es für gewöhnlich nicht.
Gerrit griff nach meiner Arbeit und begann zu lachen, als er ans Ende blätterte.
„Du hast so viele Rechtschreibfehler gemacht, dass Frau Fründt irgendwann aufgehört hat, sie zu zählen!“, sagte er. „Sowas schaffst auch nur du.“
Ich biss mir auf die Zunge, musste dann aber auch lachen. Oh Mann. Da hatte er vermutlich recht. Sowas schaffte nur ich. Aber es war nicht die Art und Weise, auf die ich in Französisch Aufmerksamkeit erregen wollte.
Es klingelte und ich packte meine Sachen zusammen. Französisch war die letzte Stunde gewesen und ich war froh, jetzt nach Hause gehen zu können. Gerrit packte ebenfalls seine Sachen zusammen und legte dann auf dem Weg nach draußen ganz automatisch den Arm um meine Schulter.
„Und, meine Hübsche? Hast du dir inzwischen überlegt, ob du morgen Abend zu mir kommen möchtest? Es wäre doch ein Jammer, wenn wir das sturmfreie Wochenende nicht nutzen würden.“
Er hob vielsagend die Augenbrauen und ein Knoten bildete sich in meinem Magen, der einfach nicht verschwinden wollte. Ich wusste genau, was Gerrit mir damit sagen wollte. Wir waren schon über ein halbes Jahr zusammen und trotzdem war bisher nicht viel mehr als Knutschen und ein bisschen Fummeln passiert. Ich wusste, dass er sich mehr wünschte, aber ich war mir einfach nicht sicher, ob ich dazu bereit war, ihm mehr zu geben. Gerrit war ein klasse Freund.
Als ich vor einem Jahr neu auf die Realschule gekommen war, weil ich im Gymnasium den Anschluss verloren hatte, war ich froh gewesen, so schnell neue Freunde zu finden. Ich hatte mich auf Anhieb gut mit Gerrit und seiner Clique verstanden. Miriam, Julia, Tobi und er waren schon seit der fünften Klasse befreundet und trotzdem hatten sie mich sofort in ihrem Kreis willkommen geheißen. Ein Teil von mir wusste, dass das daran lag, dass Gerrit gleich ein Auge auf mich geworfen hatte, aber ich hatte ihn trotzdem ein paar Monate zappeln lassen, bis ich auf seine Bitten um ein Date eingegangen war. Immerhin hatte ich mehr als genug andere Probleme gehabt und mich lange nicht bereit gefühlt, eine Beziehung mit ihm einzugehen.
Doch nach einer wilden Geburtstagsparty und jeder Menge Alkohol waren wir schließlich doch knutschend auf der Couch gelandet und ich hatte festgestellt, dass es richtig viel Spaß machte, ihn zu küssen. Nur leider war ihm das nach einem halben Jahr nicht mehr genug und ich wusste, dass ich ihn nicht ewig würde hinhalten können. Trotzdem war mir morgen definitiv zu früh.
„Es tut mir leid, aber morgen kann ich nicht“, sagte ich daher. „Ich muss auf Lilly aufpassen.“
Ich sah die Enttäuschung auf Gerrits Gesicht.
„Schon wieder?“, fragte er. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Was machen Katja und Nils denn schon wieder? Mit deinen Eltern zusammen Waisenkindern vorlesen oder Obdachlose füttern?“
„Du sagst das, als wenn es etwas Schlimmes wäre.“
„Ist es auch, solange sie dich dafür abstellen, um ein Kleinkind zu hüten. Warum haben dein Onkel und deine Tante überhaupt ein Baby bekommen, wenn sie überhaupt keine Lust haben, sich darum zu kümmern? Das verstehe ich einfach nicht.“
Ich sagte nichts, weil Gerrit keine Ahnung hatte, wovon er da eigentlich redete. Lilly war ein absolutes Wunschkind für meine Tante und meinen Onkel gewesen und wurde von allen geliebt. Vor allem von mir. Daher hatte ich schon fast ein schlechtes Gewissen, dass ich sie einfach vorgeschoben hatte, obwohl es dieses Wochenende durchaus möglich für mich gewesen wäre, den Samstagabend auszugehen. Aber ich war einfach noch nicht so weit und es war mir unangenehm, das vor Gerrit zuzugeben.
Doch dieser schien auch so zu merken, dass Lilly nicht mein Hauptproblem war.
„Ich habe inzwischen das Gefühl, dass du es mit Absicht hinauszögerst, mit mir allein zu sein“, sagte er und blieb mitten auf dem Schulhof stehen, sodass ich ebenfalls anhalten musste. „Jetzt mal im Ernst. Was ist das Problem? Ich würde doch nicht gleich über dich herfallen, nur weil wir mal alleine sind. Wir würden dasselbe machen wie sonst auch. Knutschen, Kuscheln und vielleicht ein bisschen mehr. Aber deswegen müssen wir ja noch lange nicht bis zum Äußersten gehen.“
Ich schluckte und wich seinem Blick aus.
„Ich weiß“, sagte ich hilflos. „Ich … ich bin nur einfach noch nicht so weit.“
Er schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Ich warte jetzt schon so lange und ich habe das Gefühl, dass wir überhaupt nicht vorankommen.“
„Ist das denn so schlimm? Bist du nur mit mir zusammen, weil du Sex willst?“
„Nein. Natürlich nicht, aber ich finde, irgendwann …“
„Ganz genau. Irgendwann. Aber nicht morgen“, grätschte ich dazwischen und nahm ihm damit den Wind aus den Segeln. „Wir können ja nächste Woche mit den anderen mal wieder ins Kino gehen. Da kann man doch auch ganz gut knutschen.“
Ich lächelte zurückhaltend und Gerrit seufzte. „Also gut. Das ist immerhin besser als gar nichts.“
Ich nickte und sah dann auf meine Uhr. „Wir müssen weiter“, stellte ich fest. „Der Bus kommt gleich.“
Ich ging los und Gerrit eilte mir hinterher.
„Warte. Ich bringe dich noch nach Hause“, sagte er und ging neben mir her zum Bus.
„Das musst du nicht“, erwiderte ich halbherzig, obwohl ich genau wusste, dass es nichts bringen würde.
„Ich will es aber. Oder möchtest du nicht, dass ich dich begleite?“
Ich seufzte. „Doch, natürlich will ich das.“
Wie zum Beweis griff ich nach seiner Hand und drückte sie, um dann mit ihm gemeinsam in den Bus zu steigen.
Noah
Es gab drei Dinge, die ich in den letzten zwei Jahren erreicht hatte und auf die ich stolz war. Erstens: Ich hatte mein Abitur geschafft. Mithilfe meines Betreuers hatte ich jeden Tag, den wir unterwegs waren, gelernt und das Abi an einer Fernuni absolviert. Das war zwar sehr ungewöhnlich, aber der Richter hatte beschlossen, dass eine normale Schule für mich nicht mehr in Frage kam. Insofern hatte ich keine andere Wahl gehabt, als diesen Weg zu wählen.
Zweitens: Ich hatte meinen Führerschein gemacht. Das Geld dafür hatte das Jugendamt zur Verfügung gestellt. Wir hatten zwar ganz schön dafür kämpfen müssen, aber irgendwann hatten sie eingesehen, dass es für mich und meine Zukunft extrem wichtig war, mobil zu sein.
Und drittens: Ich hatte mir einen eigenen Wagen gekauft. Es war kein besonders schicker Wagen und ich hatte einen ganzen Sommer auf einer Ranch geschuftet, um ihn mir leisten zu können, aber es hatte sich gelohnt. Denn inzwischen durfte ich alleine fahren und konnte hin, wo auch immer ich wollte.
Nachdem der alte Mann meine Geschichte gehört hatte, war er bereit gewesen, mir zu helfen. Wie hätte es auch anders sein sollen? Ein Mensch müsste schon ein Herz aus Stein haben, um mich in so einer Situation nicht zu unterstützen. Immerhin hatte ich zwei Jahre darauf gewartet, Sarah wiederzusehen, nachdem man uns gewaltsam voneinander getrennt hatte. Und jetzt, wo ich endlich wieder zu ihr durfte, hatte ich feststellen müssen, dass sie fort war.
Ich hatte mich darauf eingestellt, zur Not um die ganze Welt zu fahren, um Sarah zu finden. Aber wie es aussah, war das gar nicht notwendig, denn die Adresse, die mir der alte Mann gegeben hatte, lag am anderen Ende von Linden.
Ich sah noch einmal auf die Straßenkarte und folgte dem Weg, den ich mir eingezeichnet hatte. Ein Navigationsgerät besaß ich nicht. Genauso wenig wie ein Handy, obwohl ich mir fest vornahm, das zu ändern, sobald ich wieder an Geld kam.
Es war lächerlich. Ich war vermutlich der einzige Achtzehnjährige auf dieser beschissenen Welt, der kein Handy besaß und weder auf Facebook noch auf Twitter oder Instagram aktiv war. Auch Snapchat oder WhatsApp besaß ich nicht. Ich war einfach ein kompletter Online-Analphabet. Die einzige Kommunikationsmöglichkeit, die ich in den letzten zwei Jahren genutzt hatte, waren Briefe und Telefonate gewesen. Und das auch nur ab und zu, wenn es unumgänglich gewesen war.
Das war eine der Voraussetzungen des Richters gewesen. Absolute Kontaktsperre zu meinen alten Freunden und natürlich zu meinem Vater. Aber die Onlinekommunikation war auch für mich und Sarah außer Kraft gesetzt. Das Einzige, was mir blieb, waren ihre Briefe gewesen, die sie immer direkt an den Jugendhilfeträger geschickt hatte, der sie dann wiederum an mich weitergeleitet hatte. Fotos waren verboten gewesen. Genau wie andere persönliche Gegenstände. Ich wusste, dass der Jugendhilfeträger die Briefe las, bevor ich sie bekam, damit sie sichergehen konnten, dass Sarah mir keine Telefonnummer schickte, unter der ich sie erreichen konnte. Die Festnetznummer hatten ihre Eltern geändert und ohnehin wusste ich, dass sie selbst die Briefe nicht guthießen.