Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation -  - E-Book

Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation E-Book

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Beschreibung

Um den Herausforderungen gesellschaftlicher Veränderungen gerecht werden zu können, benötigen angehende Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen umfassende Kompetenzen. Die sozialarbeiterische Kompetenzentwicklung innerhalb eines dualen Studiums kann dabei als ein rekursives, prozessuales und reflexives Geschehen beschrieben werden. Reflexivität als ein Akt des kritischen Denkens ist eng mit der aktiven Anpassung an Veränderungen und zugleich mit Unsicherheiten verbunden. Der Gedanke, dass die (Kompetenz-)Entwicklung hin zur Performanz und somit das professionelle Werden nicht ohne Reflexion erfolgen kann, ist der Grundton dieses Werkes. In diesem kommen dual Studierende zu Wort und reflektieren ihre psychosozialen Realitäten zwischen einer Praxisanalyse und der kritischen Beobachtung der Versorgungssituation.

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André Niggemeier (Hrsg.)

Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation

Ein Praxisbeitrag aus der Perspektive dual Studierender

2022

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet: www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2022

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9055-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9056-1 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790554

© 2022 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt beim Herausgeber.

Wissenschaftlichkeit und (Theorie-) Entwicklung einer professionellen klienten- und organisationsbezogenen Beratung aus psychoanalytischer Perspektive

André Niggemeier

1 PSYCHOANALYTISCHE PERSPEKTIVEN EINER KLIENTENZENTRIERTEN, PSYCHOSOZIALEN BERATUNG

Die Techniken einer wissenschaftlich begründeten psychosozialen Beratung betreffen nicht nur die sachlichen Aspekte der Aneignung bestimmter Verfahrensweisen, sondern auch deren subjektive Seite: besondere psychische Faktoren, auf deren Grundlage theoriebegründete Beratung überhaupt erst möglich ist bzw. die die Effektivität der Anwendung von Beratungstechniken bestimmen.

Obwohl die psychischen Aspekte in der einschlägigen Literatur durchaus angesprochen werden (allerdings in eher beiläufiger, selten wissenschaftlicher Form), ist hier doch ein Wort zum Beratungsgegenstand notwendig, um psychische Rückkopplungsmechanismen verständlich machen zu können.

(Psychosoziale) Beratung ist eine Grundform pädagogischen Handelns (vgl. Giesecke 2000) und berührt somit grundlegende Aspekte lernpsychologischer Forschung. Dabei befinden sich sowohl Studierende der Beratungswissenschaft als auch diejenigen, die professionellen Rat suchen, in der Rolle von Lernenden (vgl. Niggemeier 2018). Haken und Schiepek (2010) haben durch ihre Beiträge zur Theorie der Selbstorganisation im Kontext von Professioneller Beratung die (lern-)psychologischen Grundlagen von Veränderungsprozessen sowohl auf der Seite der Beratenden als auch auf der Seite der Ratsuchenden deutlich gemacht.

Gleichzeitig erlebt die psychosoziale Beratung neben allem Professionalisierungstendenzen auch Deprofessionalisierungstendenzen (vgl. Niggemeier 2018; Niggemeier 2019). Das abnehmende wissenschaftliche Niveau von Beratung ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass in Curricula zur Ausbildung von Beratenden häufig operative Theorien vermittelt werden, anhand derer dann jedoch nur eine oberflächliche, unzureichende oder theoretisch nicht begründete Analyse der Problemsituation durchgeführt wird (vgl. Niggemeier 2018; Niggemeier 2019). Wer nun diese Ebene vermeiden und nur objekttheoretisches Wissen über die Bedeutung psychischer Faktoren für die wissenschaftliche Beratung vermitteln will, andererseits aber nicht in der Lage ist, das eigene lernpsychologische Lehrbuch zu schreiben, das angesichts der Forschungslage bzw. der Relevanz dieser Faktoren nötig wäre, der ist in seinen Aussagen erheblich eingeschränkt, besonders wenn die lernpsychologischen Grundlagen nicht bloß in ihrer allgemeinen Relevanz, sondern vor allem hinsichtlich ihrer direkten handlungsleitenden Konsequenzen thematisiert werden sollen.

Die genannten Schwierigkeiten werden noch dadurch verstärkt, dass Ratsuchende immer im Kontext konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse lernen. Psychische Faktoren wissenschaftlich begründeter psychosozialer Beratung müssen also immer in ihrem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang reflektiert werden: Alle Erkenntnisse über die Möglichkeiten, die Konzentration im Beratungsprozess zu steigern oder die Gedächtnisleistung zu verbessern, sind nur begrenzt von Bedeutung, wenn die hemmende Wirkung von Verhältnissen überwiegt, die durch den bzw. die Einzelne(n) nicht verändert werden können: paternalistische „Helfer*innen“, Sachzwänge usw.

Welche Konsequenzen hat aber diese Erkenntnis für die Behandlungsweise der psychischen Aspekte?

Eines erscheint deutlich: Da es sich bei den Hemmfaktoren stets um konkrete Faktoren handelt, müssen sie auch konkret reflektiert werden. Die folgenden drei Aussagen zeigen einen möglichen, alternativen Umgang mit diesen Hemmfaktoren auf:

Im psychosozialen Beratungsprozess sollten lernpsychologische Erkenntnisse so weit wie möglich ausgenutzt werden. Zwar lassen sich die ungünstigen Verhältnisse mit lernpsychologischen Erkenntnissen weder verändern noch voll ausgleichen, wohl aber besser verstehen. Angesichts der miserablen Umstände, in denen sich ein*e Ratsuchende*r (möglicherweise) befindet, ist die Beherrschung der lernpsychologischen Erkenntnisse immer noch besser als ihre Unkenntnis.

Bei starker Beeinträchtigung der psychischen Leistungsfähigkeit empfiehlt es sich allemal, zunächst auf individuelle Problemlösestrategien zurückzugreifen und deren Möglichkeiten auszuschöpfen. Die Sichtung einschlägiger Literatur bestätigt dies (vgl. Schiersmann / Thiel 2018; Haken / Schiepek 2010; Felfe 2015) und zeigt, dass der Versuch der Problemlösung günstiger ist, als sich fatalistisch den Wirkungen der Umstände zu unterwerfen und nichts zu tun.

Letztlich kann die Erkenntnis, dass die äußeren (Umwelt-)Faktoren gegenüber den psychischen Aspekten des psychosozialen Beratungsgeschehens ein größeres Gewicht haben, nur zu der Empfehlung führen, diese Faktoren selbst zu ändern, d. h. gemeinschaftlich und solidarisch an ihrer Beseitigung aktiv mitzuwirken.

Um die psychischen und vor allem psychoanalytischen Aspekte einer wissenschaftlich begründeten Beratung erfassen zu können, bedarf es der Darstellung von Grundlagen und Grundvoraussetzungen von Beratung. Folglich soll der psychoanalytische Fokus auch auf (Sozial-)Organisationen gerichtet werden. In diesem Zusammenhang soll dargestellt werden, dass das Phänomen des Totalitarismus in Organisationen ein zutiefst psychodynamisches ist. Anschließend wird dargestellt, dass es eine besondere Form der Theorie benötigt, um psychoanalytisch fundiert beraten zu können. Ferner stellt das Kapitel dar, welche Unterscheidungsmerkmale von Theorien im Kontext von Beratung, Psychodynamik und Veränderungsmanagement in der Literatur zu differenzieren sind.

2 PSYCHOANALYTISCHE PERSPEKTIVEN AUF POST-MODERNE (SOZIAL-)ORGANISATION

An dieser Stelle soll die Entstehung eines organisationalen Totalitarismus sowie seiner widersprüchlichen Folgen in Einrichtungen des Sozialwesens dargestellt werden. Dabei soll die psychodynamisch orientierte Studie zur Entstehung des organisationalen Totalitarismus in den Vereinigten Staaten von Amerika von Howard F. Stein aus dem Jahre 2007 aufgegriffen werden (vgl. Stein 2007, S. 29 ff.).

Der amerikanische Totalitarismus, so die These Steins, weist einen besonderen nationalen Stil auf, der durch einen extremen konkurrenzbetonten Kapitalismus sowie die Allmacht des Profits geprägt ist, „…bei dem einzig und allein das zählt, was unterm Strich rauskommt“ (ebd., S. 29). Zurückführen lässt sich dies auf ein stark uniformes Denken sowie eine große Dominanz von Feindbildern, welche durch strukturelle und kulturelle Führungssysteme zum Ausdruck gebracht werden. Neben der Darstellung totalitärer Diskurse aus Literatur und Alltag soll die Psychodynamik totalitärer Ideologien erläutert und dabei die Überlegungen zur Entstehung totalitärer Organisationen anhand dreier Fallbeispiele verdeutlicht werden. So wird veranschaulicht, dass „… die bedrohliche intersubjektive Atmosphäre am Arbeitsplatz in zunehmendem Maße durch Verlassenheit- und Existenzängste geprägt ist“ (ebd.). Obwohl (organisationale) Verfehlungen, die als intern bzw. vertraulich einzustufen sind, mittlerweile von der Umwelt vermehrt kritisch betrachtet werden (können), „… bietet dies doch denen nur wenig Trost, die für sich selbst keine andere Möglichkeit sehen, als die totalitären Tendenzen stillschweigend über sich ergehen zu lassen und sich auf die bloße Erfüllung ihrer Aufgaben zurückzuziehen“ (ebd.).

3 DER „WAR ON TERROR“UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE ENTSTEHUNG TOTALER ORGANISATIONEN IM SOZIALWESEN

Beim Management von Kritik, abweichenden Ansichten oder gar opportunistischem Verhalten intervenieren Führungspersonen durch gezielten Rückgriff auf eine Sprache, mit der der Dissens gesteuert bzw. kontrolliert wird. Durch die gezielte Anwendung von Taktiken wie Verleugnung, Druck, Untergraben, Umkehrung, Unterdrückung oder Diskreditierung von Meinungen, die den vorherrschenden Ideologien entgegenstehen, werden inner-institutionelle Exempel statuiert, welche totalitäre Managementstile am Arbeitsplatz entstehen lassen und aufrechterhalten (vgl. ebd., S. 30). Dabei werden abweichende Meinungen nicht allein und in erster Linie durch Sprache unterdrückt, sondern Sprache dient vielmehr als Instrument und Medium des Totalitarismus, um das Denken selbst zu zerstören.

Verschiedene soziale Institutionen werden von einem kulturellen Ethos unterwandert, mit dem Ergebnis, dass die Organisationen der Arbeit ebenso von faschistischem Gedankengut geprägt wird wie ganze Nationen (vgl. ebd., S. 31). Organisationen (der sozialen Arbeit) sind demnach Mikrosysteme bzw. Mikromuster, die kulturell in einer direkten und intensiven Wechselbeziehung bzw. einer Wechselwirkung aus Emergenz und Versklavung zum Makromuster (Gesellschaftssysteme, Kulturen und Werte) stehen (vgl. Haken / Schiepek 2010, S. 134 f.).

Die öffentliche Entstehung einer solchen Dichotomie wurde kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 an den Erklärungen des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, George W. Bush, exemplarisch erkennbar: „Entweder seid ihr für uns, oder ihr seid für die Terroristen“ (Rede an den U.S.-Kongress von George W. Bush am 20.09.2001). Kognitiv und emotional rationalisiert, „…durch den unbarmherzigen und gnadenlosen wirtschaftlichen Wettkampf in einer globalisierten Welt, haben unzählige Unternehmensführer dieselbe Haltung zum Ausdruck gebracht, wenngleich auch in Bezug auf andere Gegner“ (Stein 2007, S. 31; vgl. Niggemeier 2021b, S. 34).

Ein besonders eindrückliches Beispiel für ein derart geprägtes Führungsverhalten ist der frühere CEO von Scott Paper und spätere Leiter des Haushaltsgeräteherstellers „Sunbeam“, Albert Dunlap. Der Anthropologe Howard F. Stein begleitete Dunlap und analysierte seine Vorgehensweise. Der folgende, kurze Erfahrungsbericht verdeutlicht, welche Mechanismen Dunlaps Verhaltensweisen zugrunde lagen.

„Er [Dunlap] sprach von sich selbst als Rambo in Nadelstreifen. Seine Taktiken reichten von lauten Konfrontationen bis hin zur öffentlichen Demütigung und Bloßstellung. Er machte sich einen Namen als Kettensägen-Al und Reißwolf durch seine berühmt-berüchtigte Praktik, in Schwierigkeiten geratene Firmen dadurch zu retten, dass er Angestellte gnadenlos entließ und zahlreiche Betriebe schloss. Wie diese Namen schon erahnen lassen, behandelte er Menschen wie leblose Gegenstände. Das einzige, was für ihn zählte, war, den Unternehmenswert zu steigern – ihn kurzfristig aufzublasen – und Aktionäre zufrieden zu stellen. 1996 veröffentlichte Dunlap ein Buch mit dem Titel Mean Business: How I save Bad Companies and Make Good Companies Great – Scheußliches Management: Wie ich schlechte Unternehmen rette und gute Unternehmen großartig mache. In Wirklichkeit teilte er die Welt auf in Aktionäre und Arbeiter. Während seiner Schreckensherrschaft von den siebziger bis in die neunziger Jahre fand er großen Gefallen daran, sich deren gegenüber unbarmherzig und grausam zu zeigen, die sich seinen Ambitionen in den Weg stellen. Aktionäre waren seine Verbündeten‘ und Angestellte seine ‚Feinde‘. Dunlaps Landsmann, P. Newton White, stellt Dunlaps Methode, seine Untergebenen zu behandeln, so dar: ‚Mach sie erst mal fertig und baue sie dann wieder auf‘ (Byrne 2003, S. 3). Je mehr Angestellte er entließ, desto höher kletterten die Aktienkurse. Je mehr er sein Unternehmen von ihnen säuberte, desto mehr gefiel er uns“ (Stein 2007, S. 31).

Das Beispiel zeigt, dass die Suche nach äußeren Feindbildern so unerbittlich erfolgt, dass (Mit-)Menschen innerhalb derselben Nationalkultur ebenso zu Feinden gemacht werden wie diejenigen, die im Krieg gegen den Terror nicht „für uns sind“ (vgl. Stein 2005; Lotto 1998). Der von Agyris erstmals beschriebene, informelle, psychologische Arbeitsvertrag zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in (vgl. Agyris 1960), der offene und unausgesprochene Erwartungen an Entwicklung, Gerechtigkeit, Anerkennung und Partizipation enthält (vgl. Hagemann 2019), „wurde Mitte der 80er rigoros gekündigt, und die Arbeitnehmer wurden sich selbst überlassen. Sich wiederholende Wellen von Entlassungen, Downsizing, Umstrukturierungen, Re-engineering, Outsourcing und Qualifizierungen sind die Hinterlassenschaften dieses kulturellen Krieges gegen jene, die als Bedrohung für den reifizierten Staat oder ein Unternehmen erachtet werden“ (Stein 2007, S. 32). Die Wortwahl, die Stein für seine Beobachtungen nutzt, bringt den so genannten „state-of-mind“ (vgl. Schiersmann / Thiel 2018), also die kognitivemotionalen Verhaltensmuster innerhalb der Organisation (vgl. Haken / Schiepek 2010), zum Ausdruck. Dass die Dynamiken und die Sprache des Totalitarismus nicht nur auf den politischen Apparat einer Nation begrenzt sind, wird in dem folgenden Zitat von Seth Allcorn (2006) erkennbar:

„Jene, die Organisationen beobachten und studieren, sind nicht länger überrascht, dominierte, kontrollierte und entfremdete Arbeitnehmer vorzufinden. In den letzten Jahren […] haben Entlassungen, Downsizing, Umstrukturierungen, Globalisierung, Unternehmensskandale, Neustrukturierungen der Regierung und die zunehmenden technologiegesteuerten Organisationen das Ideal von Freiheit, Würde und Demokratie am Arbeitsplatz verhindert“ (Allcorn 2006 in: Stein 2007, S. 32).

Das Phänomen der chronischen narzisstischen Wut, welches erstmals von Heinz Kohut (1972) beschrieben wurde, findet sich nicht nur in Klassikern der Literatur (vgl. Kapitän Ahab in „Moby Dick“), sondern auch in der jüngeren amerikanischen Geschichte. „Bearbeitet auf dem Amboss der Einschüchterung, besteht Ahabs Crew nicht mehr länger aus selbstständig denkenden und agierenden Individuen. Mit Ahab miteinander identifiziert, verkörpern sie einen einzigen – nicht denkenden – Willen. […] Obwohl Kapitän Ahab eine klassische Figur aus der Literatur ist, so ist er doch auf eine unheimliche Weise sehr modern“ (Stein 2007, S. 33 f.).

4 PSYCHODYNAMIKEN DES TOTALITARISMUS UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF SOZIALEINRICHTUNGEN

In der Organisationsliteratur zu findende, ideologische Systeme wie das managed social change und die damit verbundene Terminologien stehen weder für sich selbst, noch agieren sie unabhängig voneinander. Karikaturen und kritische Blickwinkel auf das Thema Arbeit und Organisation sind trotz des enormen gesellschaftlichen, organisationalen, technologischen und kulturellen Fortschritts heute noch genauso aktuell und beliebt wie Ende der 1980er Jahre. So finden populäre Kulturformen „…wie Scott Adams‘ Dillbert deshalb fortlaufend ihren Platz in Zeitungen und Buchhandlungen, weil sie die Fantasien und Ängste der Käufer und Leser ansprechen“ (ebd., S. 37). Jene Kulturformen erfüllen damit psychologische Funktionen, die den Leser*innen helfen, Ängste im Zaum zu halten und unbewusste Wünsche zu erfüllen (vgl. ebd.). Sie sind somit nicht nur eine psychologische Realität an amerikanischen Arbeitsplätzen, sondern gleichzeitig auch Teil des sogenannten organizations in mind und externer Strukturen. Somit existieren „… Organisationen und [andere] Gruppen […] vorwiegend, aber nicht ausschließlich als ein Ergebnis dynamischer und sich verändernder individueller und kollektiver Projektionen, die auf unbewussten Fantasien und Emotionen beruhen“ (Diamond et al. 2004, S. 32).

Der Psychoanalytiker und Psychohistoriker David Lotto griff in diesem Zusammenhang den wiederauflebenden Faschismus in den Vereinigten Staaten im Jahr 2003 auf. Dabei stellt er die folgenden psychodynamischen Merkmale in Politik, Kultur und Ideologie heraus:

„Ich behaupte, dass der Faschismus auf einer übertriebenen Tendenz primitiver Spaltungsmechanismen beruht, durch die die Welt in Gut und Böse unterteilt wird, wobei das Böse dadurch externalisiert wird, dass es auf einen fremden Feind projiziert wird, während das Gute ausschließlich für einen selbst und die eigene Kohorte in Anspruch genommen wird. Diese Betrachtungsweise faschistischer Impulse und Aktionen erlaubt uns, die Gemeinsamkeiten in einer Vielzahl augenscheinlich ungleicher Arten politischer Aktivitäten zu sehen“ (Lotto 2003, S. 297).

Dabei bringt Lotto die Verbreitung eines ideologischen, amerikanischen Faschismus mit den innerpsychischen Wunden der Anschläge vom 11. September 2001 in Verbindung. Jene Anschläge haben dazu geführt, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen bedroht fühlen und die so ausgelösten Emotionen außer Kontrolle geraten. Infolgedessen brechen sich narzisstische Verletzungen und narzisstische Wut Bahn, um jene zu zerstören, die für diese Schmerzen verantwortlich sind (vgl. Lotto 2003, S. 305). Jene Argumente könnten zeitlich und räumlich ausgedehnt werden, um die Reaktion zahlreicher Firmen, Industrien und anderer (Sozial-)Organisation in das chronisch raue äußere Klima verschärften Wettbewerbs und den ständigen Kampf ums organisatorische Überleben einzubeziehen, Trends, die seit den 80er Jahren um sich greifen. Unter solchen Bedingungen psychologischer Belagerung und Angriffe forcieren narzisstische Führer*innen eine Innen-Außen-Dichotomie, verlangen bedingungslose Loyalität und unterbinden jeglichen internen Widerspruch. Durch die kontinuierliche Heraufbeschwörung der drohenden Gefahren für die Organisation tragen sie dazu bei, Regression und Abhängigkeit von der angeblich wohlgemeinten Obhut zu erzeugen – was unter dem Deckmantel von Sicherheit wiederum zu größerer Verwundbarkeit führt.

An dieser Stelle soll der Begriff des „Totalen“ geschärft und in den Kontext des Totalitarismus verortet werden. Erik Erikson (1968) beschreibt in seinem Werk die Kategorien von Jugendlichen, wie Drinnen/Draußen oder Entweder/Oder, die typisch für totalitäre Ideologien sind. Dabei unterscheidet er zwischen einem exklusivistischen, totalistischen Denken und inklusivistischer Ganzheit bei der Identitätsbindung (vgl. Erikson 1968, S. 74 ff.). Totalistisches Denken schafft und fördert eine Ideologie, welche die Welt radikal vereinfacht, jegliche andersartigen oder konträren Sichtweisen und Meinungen ablehnt und gegenüber Zweifel intolerant ist. Erikson erklärt diesen Prozess so, dass alle Völker in einem gewissen Ausmaß sich selbst als Menschen bezeichnen, während sie andere Kulturen als niedriger oder weniger wertvoll erachten (vgl. ebd., S. 41 f.). Dies bedeutet, dass es eine affektive Spaltung in anschlussfähige, gute Gefühle und nicht anschlussfähige, schlechte Gefühle gibt. Erstere werden mit der eigenen Gruppe verbunden, Letztere hingegen mit den anderen. Zugehörigkeit wird idealisiert und Fremdheit dämonisiert. Die anderen, abgelehnten Kulturen „…waren zumindest als Projektionsfläche für negative Identitäten dienlich, die einen notwendigen, wenn auch höchst unangenehmen Gegenpol zu den guten bildeten“ (ebd., S. 41). Erikson beschreibt diese Pseudospezies als „einer der dunkelsten Aspekte von Gruppenidentität“ (ebd., S. 42). Dieser Prozess spitzt sich zu und erstarrt schließlich in Krisenzeiten in einem kollektiven Angstgefühl und massiver Gruppenregression, Phänomene, die Vamik Volkan (2002) und Howard Stein (2004) untersucht haben. Unter solch extremen Umständen greifen die Menschen auf psychologische Notfallmaßnahmen zurück, um sich zu schützen. Ein Denkmuster, das George Devereux (1955) als Katastrophendenken bezeichnete, erfasst die Gruppe, und der Abbau dieser psychotischen Angstgefühle wird zur Obsession der Gruppe und ihrer Führer*innen. Um die von Verlust und Todesangst besessene Gruppe zu revitalisieren, werden größte Anstrengungen unternommen (vgl. La Barre 1972). Unter diesen gleichzeitig wirkenden inneren und äußeren Umständen erleben die Beteiligten wieder eine Vernichtungsangst und wehren sich dagegen mit frühesten primitiven Abwehrmechanismen wie Spaltung, massiver projektiver Identifikation und Veräußerlichung. Diese starre Identität ersetzt eine kontinuierliche Identitätsentwicklung.

Das, was Bion als unbewusstes Grundannahmen-Denken bezeichnete, und insbesondere die für die Flucht-/Kampf-Grundannahme typische Wachsamkeit und Angriffsbereitschaft scheinen vorzuherrschen. Ebenso bestimmt nun das Phänomen der Gruppeneinheit, das Pierre Turquet (1974) die vierte Grundannahme nennt und das Michael Diamond und Seth Allcorn (1987) als Gruppenhomogenisierung bezeichnete, das Verhalten der Gruppe. Kritikfähigkeit, Selbstabgrenzung und Integration werden auf der Suche nach physischer und psychischer Sicherheit bereitwillig aufgegeben – einer Sicherheit gegenüber dem eigenen Unbewussten wie gegenüber der Realität, die unbewusst zu einem Angriff reizt. So versuchen die Gruppenmitglieder unter dem Bann dieser Einheit beispielsweise, einen Bund mit einer omnipotenten und unerreichbaren Macht einzugehen, um das Selbst der passiven Teilnahme unterzuordnen und so Existenz, Wohlbefinden und Zusammenhalt zu erleben (vgl. Turquet 1974, S. 357). Zwischen dem*der charismatischen, schamanenhaften Führer*in und der Gruppe wird ein Übertragungsvertrag geschlossen: der*die narzisstische Führer*in verspricht, den Status der Gruppe zu erhöhen, der jegliches Selbstbewusstsein genommen worden ist, während die Gruppenmitglieder ihrerseits das Versprechen abgeben, die angebliche Großartigkeit und Brillanz ihres*ihrer Führers*in widerzuspiegeln und zu bestätigen. Schwartz (1987) setzt diese Phänomene, nämlich den Glauben an die organisatorische Perfektion und die Unterwürfigkeit und den Gehorsam in der Gruppe, miteinander in Bezug und zeigt ihre Bedeutung für den organisatorischen Totalitarismus auf. Die totalitäre Gruppe ist aufgrund ihrer Unfähigkeit, durch Erfahrungen zu lernen, paralysiert (vgl. Bion 1962), und der Realitätsbezug ist beeinträchtigt, da die äußere Welt durch entleerte Inhalte des Unbewussten bestimmt wird. So tauchen Unternehmensführer*innen wie Albert Dunlap scheinbar aus dem Nichts auf, um angeblich die Organisation zu retten und zu revitalisieren, verringern aber letztlich nur deren Wert.

5 BEISPIELHAFTE ILLUSTRATION EINES TOTALITÄREN ORGANISATIONALEN DISKURSES

An dieser Stelle sollen die vorangestellten theoretischen Ausführungen nun in die Praxis transferiert werden. Das nachfolgende Beispiel ist real, lediglich die Namen wurden verändert.

Dr. John Diamond war ein angesehener Mediziner in einer städtischen Klinik. Er machte aus seiner kritischen Haltung nie ein Geheimnis und akzeptierte Behauptungen von Seiten des Präsidenten, Dekans oder Abteilungsleiters nie, ohne darüber zu reflektieren oder sie zu kommentieren. Er war die Stimme des Dissens an einem Ort, an dem vermehrt Denken im Gleichschritt verlangt wurde. Im Jahr 1999 wurde er ohne Vorwarnung fristlos entlassen. Anfang Oktober 2003 schrieb Dr. Diamond, er habe nach seiner Entlastung eine neue Anstellung gefunden – anscheinend sogar eine bessere als zuvor (instrumentale Sichtweise). Aus einer expressiven, symbolischen Sichtweise heraus hatte er einen schmerzvollen Verlust erlitten, was jedoch niemand hören oder anerkennen wollte. Kenneth Doka (1989) bezeichnet dieses Phänomen als aberkannte Trauer: ein Verlust, der kulturell bedingt keine Anerkennung oder Trauer verdient und daher nicht gesellschaftlich unterstützt wird.