Puppenmoor - Heike Schulz - E-Book

Puppenmoor E-Book

Heike Schulz

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Beschreibung

Sentas sonst so fürsorgliche Eltern sind wie verwandelt. Seit sie vom Wandern im Moor eine alte Puppe mitgebracht haben, liegt ihre Aufmerksamkeit nur mehr bei diesem dreckigen Ding. Als sie Senta und ihrem kleinen Bruder Anton gegenüber sogar aggressiv werden, flieht Senta mit ihm und versteckt sich in einem alten Bergwerk. Dort treffen sie unter anderem auf die störrische Alyssa, den Möchtegern-Gangster Ömer, den Nerd Karl und Sentas Schwarm Per. Alle Kinder erzählen Ähnliches von ihren Eltern. Gemeinsam kommen sie zu dem Schluss: Die Puppe trägt einen Fluch und sie müssen sie loswerden. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn inzwischen rotten sich die Erwachsenen zu einer Jagd auf sie zusammen ...

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2021

 

Puppenmoor

 

© by Heike Schulz

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID: 869402154, Bildnachweis: PatriciaDz

Stock-Fotografie-ID: 91740398, Bildnachweis: toxawww

Lektorat: Paul Lung

Korrektorat: Johanna Günther

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: Alena Schuirmann

 

Coverbild ›Zeitloswelt‹ © 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Wonders Macht‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Halbwesen‹ © 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Phönixerwachen‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Stock-Fotografie-ID: 1223696895, Bildnachweis: cihatatceken

Coverbild ›Cataleya‹ © 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID: 1144576959, Bildnachweis: Denis-Art

Stock-Fotografie-ID: 502933463, Bildnachweis: RazoomGames

 

ISBN 978-3-96741-127-0

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

Heike Schulz

 

Puppenmoor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Horror

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Weitere Werke der Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Kaspar

 

Lausche mit dem Herz

 

Kapitel 1

 

Per

 

Per drehte die Musik seines Handys lauter, öffnete die Tür des Kleiderschranks einen Spaltbreit und lugte hinein. Was ihn hier zwischen den mit Alufolie verkleideten Wänden unter der LED-Leiste anlachte, übertraf alle seine Erwartungen. Der Tipp aus dem Lemon Haze Forum, während der Blühphase mit der Beleuchtung auf 800 Watt aufzustocken, hatte voll ins Schwarze getroffen. Er nestelte sein Handy aus der Tasche und rief seinen Kumpel Malte an.

»Alter, was gibt’s?«, meldete der sich nach dem zweiten Klingeln und gähnte herzhaft.

»Ey, sag mal, hast du etwa schon gepennt?« Per sah auf seine Uhr. »Es ist grade mal sechs. Nicht mal Zeit fürs Sandmännchen.«

Malte gähnte erneut. »Nee, nur ’n bisschen gechillt, wenn du verstehst, was ich meine. Gelobt sei das Ganja.«

Per grinste. »Wie wahr. Und das ist auch mein Stichwort. Rate mal, was ich hier gerade vor mir sehe.«

Er hörte Leder knarzen und sah regelrecht vor sich, wie Malte sich in seinem abgewetzten und durchgelegenen Monster von Sofa aufsetzte. »Ich bin ganz Ohr, Bruder«, klang er nun deutlich wacher.

»Ich steh vor meiner Growbox und seh mir das Weed an. Das ergibt eine Ernte von locker einem halben Pfund. Genug für deinen und meinen Eigenbedarf.«

»Super!« Malte schien ganz aus dem Häuschen. »Dann mach mal hinne mit der Verarbeitung, ich freu mich schon auf eine erste Kostprobe.«

»Worauf du wetten kannst. Also dann bis später im Fizz.« Per beendete das Gespräch und weidete sich voller Vorfreude am Anblick seiner Plantage. Mit etwas Glück amortisierten sich mit dem Verkauf des Überschusses die Kosten für die neue Lampe. Nicht jeder hatte wie er das Glück, einen alten Rübenkeller im Hof zu haben, der ausreichend Platz und eine diskrete Belüftung für eine eigene Plantage bot. Da war die Nachfrage für gutes Gras groß, selbst oder gerade in einem Fünftausend-Seelen-Nest wie Gremmershoven, dessen Hauptattraktion der Supermarkt war. Er band sich eine gummierte Schürze um, stopfte seine Dreads unter eine Plastikhaube und stülpte seine Gummihandschuhe über, bevor er die Schranktür ganz öffnete. Ein strenger Geruch nach Limone und Kräutern schlug ihm entgegen. Dieses Aroma und vor allem seine Wirkung galt es nun zu bewahren. Begleitet von den Songs von Mono und Nikitaman begann er mit der Ernte. Dieser Teil der Produktion machte ihm besonders viel Spaß, denn hier offenbarte sich zum ersten Mal der Lohn seiner Mühen. In zwei Wochen würde er in seinem Zimmer mit Malte schön gechillt bei sanfter Musik eine sorgfältige Qualitätskontrolle vornehmen. Aber bis dahin dauerte es noch ein Weilchen. Zeit genug, um sich Gedanken um sein zweites großes Vorhaben zu machen, und zwar eins, das nicht das Geringste mit Kiffen zu tun hatte. Zumindest sah die süße Kleine, die jeden Samstag mit ihren Freundinnen ins Fizz kam, nicht wie eine Kifferin aus. Mit ihrem dunkelblonden Bob, der randlosen Brille und den braven Klamotten wirkte sie, als würde sie nicht einmal bei Rot über die Straße gehen. Insgesamt machte sie auf den ersten Blick einen unauffälligen Eindruck, den seine Kumpels vielleicht langweilig nannten. Er aber fand ihre zurückhaltende Art äußerst anziehend und er glaubte, dass tief in ihr etwas Aufregendes schlummerte. Was es war, das wollte er herausfinden.

Er schnitt die letzten Dolden ab, schlüpfte aus seiner Schutzkleidung und hängte diese an einen Haken.

Alles lief nach Plan und wenn es mit dem Mädchen im Fizz heute ebenso glatt lief, stand ihm ein toller Sommer bevor.

 

 

Senta

 

»Und denk bitte daran, Anton auf dem Rückweg einzusammeln. Spätestens um neun sind wir zurück. Kuss, Mama und Papa.«

Senta zupfte den gelben Haftnotizzettel von der Kühlschranktür und verzog das Gesicht. Damit war ihr Abstecher ins Fizz nach dem Handballtraining erledigt. Lea und die anderen würden nicht gerade begeistert sein, wenn sie mal wieder auf dem letzten Drücker absagte. Sie warf den zerknüllten Zettel in die Mülltonne und zog ihr Handy heraus. Lea ging schon nach dem zweiten Klingeln ran.

»Hi Süße!«, flötete ihre Freundin atemlos. »Ich wollte dich gerade anrufen. Weißt du, wer heute Abend ins Fizz kommt? Rastaman! Das ist deine große Chance! Vicki hat gesagt, dass ihr Bruder gesagt hat …«

»Ich kann nicht«, unterbrach Senta Leas Redeschwall und biss sich auf die Unterlippe. Er kam heute ins Fizz. Ausgerechnet.

Am anderen Ende der Leitung wurde es schlagartig still, bis Lea schließlich ihre Sprache wiederfand. »Was soll das heißen?«

»Ich muss gleich nach dem Training Anton von seiner Freundin abholen. Meine Eltern sind mal wieder auf Tour.« Während sie mit Lea telefonierte, ging Senta in ihr Zimmer, schaltete das Gespräch auf laut und begann, ihre Trainingsklamotten aus dem Schrank zu nehmen.

»Der Furz ist gerade mal drei Jahre alt und hat schon eine Freundin? Die fangen ja immer früher damit an.«

»Kennst das doch. Schenk mir einen Lolli und ich bin deine Freundin. So läuft das in dem Alter. Knallharte Bestechung.« Sie warf ihre Turnschuhe aufs Bett. »Jedenfalls heißt das, ihr müsst heute ohne mich auskommen.«

Lea stieß hörbar die Luft aus. »Uncool. Süße, deine Erzeuger in allen Ehren. Ich finde es ja toll, dass sie in ihrem Alter noch so viel miteinander unternehmen. Aber denken sie auch mal daran, dass du ein Privatleben hast? Es kann doch nicht sein, dass du immer auf die Frucht ihrer Liebe aufpassen musst, wenn sie die Wanderlust packt. Sie stören ganz empfindlich dein Sexleben.«

»Wenn ich denn eins hätte!« Senta lachte trocken auf. Wo zum Geier steckte nur ihr Trikot?

»Eben! Du hast keins. Und das könntest du ändern, wenn du heute mit ins Fizz kommst. Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Rastaman wird dort sein. Der zukünftige Vater deiner Kinder!«

»Nenn ihn nicht so.«

»Aber er hat doch Dreads.«

»Nuss. Den zukünftigen Vater meiner Kinder. Wir haben schließlich noch kein einziges Wort miteinander gesprochen.« Sie fand ihr Trikot unter dem Bett.

»Dazu muss man nicht miteinander sprechen.« Lea kicherte. »Aber zurück zu Problem Numero uno. Wie kriegen wir dich heute ins Fizz?«

»Gar nicht.« Senta seufzte. »Es sei denn, ich nehme den Zwerg mit.«

»Was äußerst unpassend wäre.« Lea schnalzte mit der Zunge. »Dann heißt das also, wir müssen tatsächlich ohne dich auskommen. Aber zum Training kommst du doch, oder?«

»Ja, klar.«

»Immerhin etwas. Also gut, bis später.«

Sie schmatzten einander Luftküsschen zu und legten auf.

Mist. Senta ließ sich auf die Bettkante fallen. Jetzt verpasste sie nicht nur einen schönen Abend mit ihren Freundinnen, sondern auch die Gelegenheit zu einer Begegnung mit ihm. Nicht, dass sie sich jemals getraut hätte, ihn anzusprechen. Aber alleine für ein paar Sekunden seinen fragenden und durchaus freundlichen Blick auf sich zu wissen und sein verschmitztes Lächeln geschenkt zu bekommen, dafür hätte sich das Fizz gelohnt. Stattdessen würde sie den Abend mit Fang den Hut und Bob, der Baumeister verbringen. Was würde eigentlich passieren, wenn sie Anton einfach bei seiner Freundin ließ? Den Gedanken durchspielend griff sie nach ihrer Sportasche, zog den Reißverschluss zu und machte sich auf den Weg zur Dreifachturnhalle.

 

Die Sprungwurfübungen und das Passtraining brachten Senta an den Rand der Erschöpfung und ließen zunächst keinen Raum für Grübeleien. Erst als sie viel später mit Anton vor seiner Playmobilburg saß und versuchte, einigermaßen glaubhaft die Stimme eines Ritters zu imitieren, kroch in ihr die Enttäuschung hoch. So sah also der Abend einer gesunden Sechzehnjährigen aus? Ritter spielen und Benjamin Blümchen hören? Und jetzt begann Anton auch noch zu quengeln. Zuerst lenkte Senta ihn noch mit einer ziemlich beeindruckenden Drachendarbietung von der Tatsache ab, dass ihre Eltern auf sich warten ließen, doch irgendwann fing er an zu weinen.

»Was meinst du? Sollen wir mal nachsehen, ob noch Eis da ist?«

Diesen Joker wollte sie eigentlich nicht ziehen, aber die Aussicht auf eine Portion Eiscreme zum Abendessen stoppte Antons Tränenflut auf der Stelle. Begeistert folgte er ihr in die Küche und sah zu, wie sie die Packung Vanilleeis aus dem Gefrierfach zog.

»Eine oder zwei Kugeln?« Grinsend hielt sie den Portionierer hoch.

Hochkonzentriert zählte er die gewünschte Anzahl an seinen knubbeligen Fingerchen ab. »Zwei!« Stolz reckte er drei Finger in die Luft.

»Fast.« Senta nahm seine Hand und rollte vorsichtig einen Finger wieder ein. »Jetzt sind es zwei.«

Anton nickte bekräftigend. »Zwei jetzt.«

»Eine doppelte Portion Vanille für den Herrn. Kommt sofort.« Sie verteilte je zwei extragroße Kugeln auf zwei Schälchen und trug sie ins Wohnzimmer.

Nach ein paar Folgen Shaun, das Schaf aus dem Stream schlummerte er endlich zufrieden und eisverschmiert auf dem Sofa ein. Behutsam trug sie ihn in sein Bett, drückte ihm seinen Plüsch-Findus in den Arm und deckte ihn zu. Spätestens um neun sind wir zurück. Wie witzig. Während Anton leise vor sich hin schnarchte, begann Senta sich zu sorgen. Ob ihnen etwas passiert war? Manchmal wanderten ihre Eltern in ziemlich abgelegenen Gegenden ohne Internet. Wenn dann auch noch das GPS ausfiel oder sie von der Dunkelheit überrascht wurden, konnte es leicht passieren, dass sie sich verirrten. Würden sie dann nicht anrufen? Normalerweise schon, und wenn die Akkus leer waren? Laut Murphy’s Law nicht unwahrscheinlich. Senta griff zum Handy und wählte nach einigem Zögern die Nummer ihrer Mutter. Beinahe kam es ihr albern vor, Samstag abends den eigenen Eltern hinterher zu telefonieren. Sie mussten sie ja für völlig hysterisch halten, denn normalerweise sollte es umgekehrt sein. Als eine elektronische Stimme verkündete, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer derzeit nicht erreichbar sei, kam ihr das alles nicht mehr albern vor. Dasselbe beim Handy ihres Vaters. Sie versuchte es daraufhin beinahe im Minutentakt, und je länger sie kein Lebenszeichen von ihren Eltern erhielt, desto stärker wuchs ihre Gewissheit, dass ihnen etwas zugestoßen war. Was sollte sie Anton sagen, wenn er morgen früh aufwachte und nach Mama fragte? Sie rechnete inzwischen fest damit, dass jeden Moment ernst blickende Polizeibeamte an der Tür klingelten und sie fragten, ob sie die Tochter von Yvonne und Thorsten Conrads sei. So war das doch immer im Film, oder? Dementsprechend bekam sie beinahe einen Herzkasper, als sie kurz nach Mitternacht einen Schlüssel im Türschloss hörte.

»Wo wart ihr?«, empfing sie ihre Eltern und ärgerte sich über den Klang ihrer Stimme, der dem ihrer Mama erschreckend ähnelte.

»Wenn wir das wüssten!« Erschöpft streifte ihr Vater seine Wanderschuhe ab und ließ den Rucksack neben den Garderobenschrank fallen.

»Wir haben uns total verfranzt. Das GPS-Signal muss irgendwo im Moor hängen geblieben sein. Wir sind dauernd im Kreis gerannt und dann wurde es auch schon dunkel.« Ihre Mutter hängte ihre Jacke an den Haken und zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf.

»Warum habt ihr nicht angerufen?« Senta verschränkte die Arme vor der Brust. Das konnte doch nicht wahr sein! Da hatte sie vor lauter Sorge schon Blut und Wasser geschwitzt, und nun marschierten die beiden einfach so herein und taten so, als wäre alles in bester Ordnung.

Ihr Vater zog die Stirn kraus. »Nun hab dich nicht so.«

Während er ins Bad ging, förderte ihre Mutter einen ziemlich dreckigen Lumpen aus ihrem Rucksack zutage. »Jetzt sind wir ja wieder da«, sagte sie abwesend. »Schläft Anton schon?«

»Es ist fast halb ein Uhr nachts. Natürlich schläft er, was sonst?« Ein Gähnen unterdrückend folgte Senta ihrer Mutter in die Küche, wo diese den Lumpen ins Spülbecken legte. Erst jetzt erkannte Senta eine ziemlich ramponierte Porzellanpuppe, die ihr aus starren Glasaugen entgegen glotzte. Sie steckte in einem grauen Fetzen, der entfernt an ein Brautkleid erinnerte. In früheren Zeiten musste sie blonde Locken besessen haben, von denen inzwischen nur noch ein schmutzig braunes Gestrüpp übrig geblieben war. An einer Stelle hatte es sich bereits abgelöst und gab den Blick auf das hohle Innere des Schädels frei.

»Was für ein widerliches Teil!« Senta verzog den Mund und trat einen Schritt zurück.

Ihre Mutter sah sie empört an. »Das ist eine original Schönau und Hoffmeister! Siehst du hier, den Stempel mit dem Stern und den Initialen? Und die 18 darunter ist sicher die Seriennummer.« Sie deutete auf eine Stelle im Nacken der Puppe. »Die ist sicher sehr wertvoll.«

»Sieht trotzdem ekelig aus«, beharrte Senta. »Anton hat übrigens dauernd gefragt, wo ihr bleibt, und da habe ich ihm erlaubt, ein paar Filme zu gucken und Eis zu essen«, setzte Senta ihren Bericht fort, doch ihre Mutter schien kaum richtig zuzuhören.

»Schau mal, ist sie nicht schön?« Sie hob die Puppe hoch und musterte sie von allen Seiten. »Ihr fehlen zwar zwei Fingerchen, aber das lässt sich sicher reparieren.«

»Allerdings hat er nicht die Zähne geputzt, weil …«

»Vielleicht bringe ich sie zu einem Gutachter. Sie ist sicher sechzig, siebzig Jahre alt. Mindestens.« Zärtlich nahm ihre Mutter den Porzellankopf zwischen die Hände und betrachtete das Gesicht.

»Mama? Hörst du mir überhaupt zu?« Senta legte die Hand auf die Schulter ihrer Mutter, doch sie schüttelte sie mit einer unwirschen Bewegung ab.

»Ja, ja. Filme geschaut, Eis gegessen, keine Zähne geputzt«, zählte sie ungeduldig auf. »Ich habe genau zugehört. Noch was?«

Senta zuckte zurück. »Ich meine ja nur. Brauchst mich deswegen nicht gleich anzupampen.«

Sentas Mama ließ die Puppe sinken. »Tut mir leid. Ich bin einfach ziemlich müde. Lass uns morgen reden, okay? Und nun ab ins Bett mit dir.« Sie drückte Senta einen Kuss auf die Wange, riss ein Blatt Küchenkrepp von der Rolle, feuchtete es an und betupfte das Puppengesicht.

»Okay, Mama, dann gute Nacht.« Senta gab ihrer Mutter ebenfalls einen Kuss auf die Wange. »Guckst du noch bei Anton rein?«

Statt einer Antwort gab ihre Mutter ein undefinierbares Schnauben von sich und drapierte die Puppe auf dem Abtropfgitter. Sie mussten wirklich eine ziemliche Ochsentour hinter sich haben, wortkarg, wie sie war, und auch ihr Papa fragte nicht wie üblich nach ihrem Tagesablauf. Nun gut, morgen war ja Sonntag und somit genug Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen.

 

 

 

 

Per

 

Die Kleine mit der Brille hatte sich nicht im Fizz sehen lassen. Ihre Freundinnen waren zwar da, aber von ihr keine Spur. Per blieb noch eine Weile in der Hoffnung, sie würde vielleicht nachkommen. Als er aber ein paar Gesprächsfetzen der Mädchen entnahm, dass sie nicht mehr auftauchen würde, trollte er sich. Malte war auch nicht aufgekreuzt, vermutlich war er beim Chillen auf dem Sofa klebengeblieben. Was tun mit dem angebrochenen Abend? Flüchtig überlegte er, ob er sich seinen Laptop schnappen und zu Malte gehen sollte, aber wieder nur World of Warcraft zocken, darauf hatte er keine besondere Lust. Also beschloss er, sich in seinem Zimmer in die Hängematte zu baumeln, ein bisschen Bob Marley zu hören und sich dabei ganz gepflegt einen Joint reinzuziehen. Vielleicht hatte Malte sogar Bock, mitzumachen? Er tippte eine entsprechende Nachricht in sein Handy, die kurz darauf von einem Jo, Diggah! beantwortet wurde. Er schwang sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Heimweg. Hoffentlich schliefen seine Eltern schon. Sie hatten zwar nichts dagegen, dass er ab und zu mal einen durchzog, aber sie hatten die Angewohnheit, seine Freunde jedes Mal über sein Liebesleben auszuquetschen. Dauernd fragten sie sie, ob er eine Freundin hätte, und waren regelrecht enttäuscht, wenn sie verneinten. Doch, natürlich waren die Mädchen an ihm interessiert, aber er nicht an ihnen, zumindest an keinem Bestimmten. Und nein, er war definitiv nicht schwul, wie seine Mutter neulich Malte gegenüber betont beiläufig gemutmaßt hatte. Erleichtert über das Nein war sie dann trotzdem. Dabei taten seine Eltern doch immer so liberal. Kiffen? Kein Problem. Dreads? Sind doch witzig. Schwul sein? Wen interessierts? Sie hatten ihn weltoffen erzogen und seinen freien Geist gefördert. Aber insgeheim, so vermutete er, wäre seine Mutter doch froh, wenn er endlich eine Freundin mitbrächte und damit ihre Hoffnung auf Enkel lebendig hielt. Und wer weiß? Vielleicht konnte er ihr den Gefallen in mittelfristiger Zukunft tun, sofern er es endlich schaffte, diese Senta anzusprechen.

Er schloss das Tor zum Innenhof auf und ließ es für Malte angelehnt, damit er ohne zu klingeln einfach reinkommen konnte. Sobald er da war, würde Per es abschließen, es fehlte noch, das ungebetene Gäste seine Grasbestände plünderten. Durch das Wohnzimmerfenster flimmerte das Licht des Fernsehers. Gut, dann waren seine Eltern bestimmt abgelenkt und bemerkten ihn nicht. Er tippte eine Nachricht an Malte, in der er ihn bat, möglichst leise einfach reinzukommen, und ging ins Haus.

 

 

Alyssa

 

»Komm runter, und zwar ein bisschen plötzlich!«, gellte Patricks Stimme die Treppe rauf. Alyssa zuckte zusammen. Was war denn jetzt schon wieder? Sie klappte ihr Tagebuch zu und verschloss es mit dem kleinen Schlüssel an ihrer Halskette. »Eine Sekunde!«, rief sie zurück und sprang aus dem Bett. Jemanden wie seine Hoheit Pissfleck ließ man lieber nicht zu lange warten.

»Ein bisschen plötzlich, hab ich gesagt! Ich hab noch was Wichtigeres zu tun, kapiert?«

Na klar! Alyssa schnaubte verächtlich. Was konnte wichtiger sein, als den Tag vor der Glotze zu verbringen, Kippen zu stopfen und zu saufen? Hastig legte sie das Tagebuch unter die lose Bodendiele, verschloss ihr Geheimversteck mit einem Fußtritt und schob den Teppich drüber. Das fehlte noch, dass ausgerechnet er ihre geheimsten Gedanken zu fassen bekam. Wenn er las, für welchen Loser sie ihn hielt und welches Ende sie ihm wünschte, wäre sie fällig.

»Ja, Mann!«, rief sie, streifte ihre Jacke über und öffnete die Zimmertür. Wenn er so drauf war, machte man sich lieber für einen schnellen Abflug bereit.

»Ich geb‘ dir gleich Ja, Mann!«, kam es verwaschen von unten. »Ist ‘n bisschen mehr Respekt vielleicht zu viel verlangt?«

Statt zu antworten, eilte sie die Treppe runter. Schon auf halber Strecke erriet sie den Grund für Patricks Wutausbruch, dazu brauchte es nur einen Blick auf den Tabakeimer in seiner Hand. Verdammt, er hatte es bemerkt.

»Hast mich mal wieder beklaut, was?« Etwas Lauerndes lag in seiner Stimme. »Ich weiß, dass du rauchst, aber das ist mein verdammter Tabak! Meiner!«

Alyssas Mutter stand einen Schritt hinter ihm, knetete ein Geschirrtuch und mied ihren Blick. Ein roter Abdruck auf ihrer Wange verriet Alyssa, dass Patrick diese Angelegenheit bereits mit ihr auf seine sehr eigene Art diskutiert hatte. Zur Angst in Alyssas Magengrube gesellte sich eine ordentliche Portion Hass. Dieses Schwein! Nichts in diesem Haus gehörte ihm, nicht einmal das schmierige Unterhemd und die ausgebeulte Jogginghose an seinem knochigen Körper. Alles hatte ihre Mutter von ihrem mühsam verdienten Putzlohn bezahlt. Aber für Argumente war der Typ nicht zugänglich, schon gar nicht, wenn sie seine selbsternannte Position als Oberhaupt dieser sogenannten Familie beschädigten.

»Ich hab deinen beschissenen Tabak nicht geklaut!« Im nächsten Moment bereute sie ihre patzige Antwort. Aus dem Nichts klatschte es und ihre linke Gesichtshälfte brannte wie Hölle. Scheiße, nie sah sie es kommen. Wie machte er das bloß? So träge und unkoordiniert er sonst war, beim Schläge verteilen hatte Patrick es im Laufe der Jahre zu erstaunlicher Geschicklichkeit gebracht.

Ihre Mutter schnappte nach Luft. Durch den aufsteigenden Tränenschleier sah Alyssa, wie sie das Geschirrhandtuch vor den Mund presste, um nicht zu protestieren. Auch das unterließ man lieber, wenn man gesund bleiben wollte.

»Ich hab deinen Tabak nicht geklaut«, wiederholte Alyssa und zwang sich, mutiger zu klingen, als sie sich fühlte. Die wahre Geschichte lautete, dass ihr der Eimer beim Aufräumen des Schlachtfelds namens Wohnzimmer umgekippt war. Ein paar der Tabakflocken waren unrettbar in einer Bierpfütze auf dem Couchtisch klebengeblieben. Sie hatte sie weggeworfen, aber das behielt sie für sich. Es interessierte ihn nicht und war ohnehin viel zu kompliziert für seine Gehirnwindungen.

»Dann lüg ich also. Willst du das sagen?« Er trat so nah an sie heran, dass sie seine Ausdünstungen riechen konnte. Eine Mischung aus Schweiß, alter Unterhose, kaltem Qualm und Alkohol. Eau de Versager nannte sie es in ihrem geheimen Tagebuch.

»Na, nennst du mich einen Lügner?«, fragte er so leise, dass sie vor Angst das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Auf diese Frage zu antworten, war gefährlich und obendrein müßig. Es gehörte gewissermaßen zum Vorgeplänkel. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.« Er packte ihre Haare, zerrte ihren Kopf in den Nacken und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken. Alyssas Adern vereisten. Zu der kranken Vorfreude, die normalerweise in seinem Blick flackerte, hatte sich noch etwas anderes gesellt. Etwas, das sie trotz seiner Freude am Quälen nie zuvor gesehen hatte: blanke Mordlust. Sie wusste, diesmal käme sie nicht mit einer Tracht Prügel davon.

Einen Moment schien er sich an ihrer Erkenntnis zu weiden, dann ging alles blitzschnell. Reflexartig zog sie das Knie hoch und rammte es ihm mit aller Kraft zwischen die Beine. Es fühlte sich wie ein kurzer Triumpf an, als er ihre Haare losließ, in sich zusammensackte und seine erbärmlichen Eier hielt.

»Mach bloß, dass du wegkommst, sonst hat dein Hintern Kirmes«, quiekte er. Im Hintergrund erklang das panische Gezeter ihrer Mutter.

Das ließ sich Alyssa nicht zweimal sagen. Wie diese Kirmes aussah, hatte er ihr schon zur Genüge demonstriert. Mit dem Kleiderbügel, dem Handfeger – eigentlich mit allem, was ihm in seiner Wut in die Finger kam, und zwar nicht nur auf ihrem Hintern. So wählerisch war der feine Herr nicht und würde es jetzt erst recht nicht mehr sein. Ehe er sich aufrappeln konnte, flüchtete sie aus der Wohnung und rannte davon. Weg, nur weg von hier. Egal, wohin.

Erst am Spielplatz, der sich dunkel und verlassen vor ihr ausbreitete, machte sie Halt. Ihr Herz trommelte wild in ihrer Brust. Zur Erleichterung, ihrem Stiefvater vorerst entkommen zu sein, mischte sich Verzweiflung. Nach der Geschichte würde sie nie wieder nach Hause zurückkönnen. Der Typ gehörte in eine Irrenanstalt, so, wie er sie angesehen hatte. Aber wohin jetzt? Sie zog die Ärmel ihrer Jacke über die Hände und setzte sich auf den Rand des Sandkastens. Für Anfang Juni war es nachts noch immer empfindlich kalt draußen. Ihr fiel niemand anderes ein, also zog sie ihr Handy heraus und rief Amanda an. Als sie sich meldete, kam Alyssa ohne Erklärung gleich zur Sache.

»Kann ich eine Weile zu dir?«

»Wieder Stress mit Patrick?« Amanda gähnte. »Schlimm?«

Kurz stieg in Alyssa der Wunsch auf, ihrer großen Schwester alles anzuvertrauen, so wie damals, als sie noch dachte, Amanda könne sie vor allem beschützen. Dann unterdrückte sie den Wunsch. Amanda hatte nun wen anderes, der ihren Schutz brauchte.

»Geht so«, log sie und zog die Nase hoch. »Wär auch nur für ein paar Tage.«

»Sis, du weißt doch, dass es nicht geht.« Die Stimme ihrer Schwester klang gedämpft. Bestimmt schliefen Leon und das Baby bereits. »Es ist doch auch so schon viel zu eng in einem Zimmer. Warte mal.«

Im Hintergrund hörte Alyssa, wie ihr Neffe zu weinen anfing. Dann verriet ihr ein Klappern, dass ihre Schwester das Telefon beiseitegelegt hatte und nun versuchte, den kleinen Louis mit gemurmelten Worten zu beruhigen.

»Was‘n hier los?«, kam nun eine Männerstimme dazu.

Scheiße, jetzt war auch noch Leon aufgewacht. Inzwischen hatte Alyssas Neffe zu schreien begonnen. Drei-Monats-Koliken. Amanda hatte neulich erzählt, dass die ihnen derzeit die Nächte zur Qual machten. Zuerst hatte Alyssa das als Scherz aufgefasst. Blähungen von einem Säugling? Die konnten unmöglich so stinken, dass man davon nachts nicht schlafen konnte. Aber dann hatte Amanda ihr erklärt, dass die dem kleinen Wurm ganz üble Krämpfe bescherten, von denen er manchmal nächtelang schrie.

Es war eine bescheuerte Idee, Amanda anzurufen und sie um Hilfe zu bitten. Sie hatte ja selbst alle Hände voll zu tun, und Leon war ihr auch nicht gerade eine große Unterstützung. Er war zwar lieb und fürsorglich, aber leider völlig verstrahlt. Eigentlich hatte Amanda jetzt zwei Kinder an der Backe – eins von knapp zwölf Wochen und eins von zwanzig Jahren. Von schlechtem Gewissen gequält lauschte Alyssa noch eine Weile dem Chaos am anderen Ende der Leitung und legte dann auf. Tränen stiegen in ihr auf, aber sie erlaubte ihnen nicht, sich zu zeigen. Verfluchter Dreck, verfluchter. Wo sollte sie nun hin? Nach Hause war keine Option, das hatte das Arschloch von Patrick ihr mehr als deutlich gemacht.

Außer ihrer Schwester hatte sie keine näheren Verwandten, und Freundinnen hatte sie erst recht nicht. Bis jetzt hatte sie es immer als Vorteil betrachtet, eine Einzelkämpferin zu sein und sich nicht mit den Tussis aus ihrer Klasse abgeben zu müssen. Die hielten sie sowieso für einen Freak. Jetzt aber wäre eine Freundin, bei der sie für ein paar Tage unterkriechen konnte, gar nicht so übel. Wie auch immer, hier konnte sie nicht bleiben, es fehlte noch, dass die Bullen sie aufgriffen und zurück nach Hause brachten.

Nach Hause. Dabei war der Ort, an dem sie lebte, seit Papas Tod alles andere als das. Jetzt ließen sich ihre Tränen doch nicht länger zurückhalten. Papa. Wie sehr er ihr auch nach drei Jahren noch fehlte. Verdammter Scheißkrebs. Musste er ausgerechnet den Menschen holen, den sie am meisten auf der Welt liebte? Was hatte Gott sich nur dabei gedacht? Aber Patrick, der Drecksack, der würde wahrscheinlich hundert Jahre alt werden. Warum sich ihre Mutter ausgerechnet an diesen Versager klammerte, würde sie wohl nie verstehen. Klar, sie war einsam gewesen, aber der war doch wirklich kein Ersatz für Papa. Außerdem würde ihn wohl nie ein anderer ersetzen können. Jedenfalls nicht für Alyssa.

Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg und schaute sich um. Der verlassene Spielplatz bot keinen bequemen Unterschlupf, aber irgendwo musste sie unterkommen. Vielleicht in einem leeren Keller oder einer Scheune. Am Ende der Straße gab es doch diesen restaurierten Rübenhof. Die Leute, die dort wohnten, hatten nur einen Sohn. Wie hieß er noch gleich? Pit, Per, oder so ähnlich. Die Eltern arbeiteten auf irgendeinem Amt und hatten mit Landwirtschaft nichts am Hut. Sie nutzten ganz sicher nicht alle Nebengebäude. Vielleicht konnte sie sich dort einschleichen und einen Platz zum Schlafen finden.

 

Wie erhofft, war die Tür zum Innenhof nicht abgeschlossen. Nur eine Laterne im Torbogen spendete ein bisschen Licht. Alyssa schlich unter den dunklen Fenstern des Wohnhauses vorbei und erschrak, als eine weitere Lampe über der Haustür anging. Blöder Bewegungsmelder. Sie duckte sich in den Schatten einer altertümlichen Wasserpumpe und wartete mit angehaltenem Atem, ob jemand aus dem Haus trat. Kurz darauf erlosch das Licht und sie entspannte sich ein wenig. Als niemand herauskam, um nach dem Rechten zu sehen, schlich sie weiter die Hauswand entlang und um ein angelehntes Fahrrad herum, bis sie das Gebäude gegenüber der Hofeinfahrt erreichte. Alyssa stellte sich auf die Zehenspitzen und wölbte die Handflächen neben die Augen, um durch eins der Sprossenfenster zu spähen. Vermutlich hatte man hier früher die landwirtschaftlichen Maschinen gelagert, aber nun schien man darin eine Art Atelier untergebracht zu haben. Sie erkannte eine Staffelei mit einem Gemälde, einen Arbeitstisch voller Dosen, Tuben und Becher mit Pinseln und jede Menge Bilder, die an den Wänden lehnten. Was sie zeigten, konnte sie im Dämmerlicht nicht erkennen, aber das interessierte sie auch nicht weiter. Klar war nur, dass dieser Raum als Versteck ungeeignet war. Enttäuscht sank sie in ihre gebückte Haltung zurück und huschte weiter, bis sie das Gebäude gegenüber des Wohnhauses erreichte. Es war aus grobem Naturstein gemauert, tonnenförmig und viel niedriger als die anderen. Man musste ein paar Treppenstufen hinabsteigen, um zu einer verwitterten Tür zu gelangen. Fenster gab es keine und das gewölbte Dach war von Gras und Unkraut überwuchert. Der Rübenkeller des Hofs, schlussfolgerte sie. Der wurde doch bestimmt nicht mehr genutzt. Wie eine Katze glitt sie die ausgetretenen Stufen hinunter und drückte die rostige Klinke. Um ein Haar hätte sie vor Erleichterung aufgelacht, als die Eichentür unter leisem Quietschen aufschwang. Rasch schlüpfte sie hindurch und schob sie hinter sich zu, bis völlige Dunkelheit und ein merkwürdiger Gestank sie umgab. Was war das? Sie hatte etwas Ähnliches schon einmal gerochen. Auf einem Festival, aber so ganz konnte sie es nicht einordnen. Sie zückte ihr Handy und suchte mit der Displaybeleuchtung vergeblich nach einem Lichtschalter. Stattdessen baumelte eine Glühbirne von der niedrigen Decke und daneben eine Strippe. Sie zog versuchsweise daran.

Es funktionierte! Im schwachen Licht der Glühbirne schaute sie sich ihren Unterschlupf genauer an. Rüben wurden hier keine mehr gelagert, soviel stand fest, aber offensichtlich nutzte man das Gewölbe, um irgendwelche Kräuter zu trocknen. Sie lagen ausgebreitet auf einem aufgebockten Fliegengitter. Ein Schrank stand an der Rückwand des Kellers und an einem Haken hingen eine Schürze, ein Kittel und eine Steppjacke. Nicht gerade ein einladender Schlafplatz, aber besser, als draußen irgendwo unter einer Brücke zu pennen. Sie würde morgen ganz früh verschwinden und sich nach etwas Besserem umsehen, aber jetzt fielen ihr vor Müdigkeit fast die Augen zu. Alyssa nahm die Sachen vom Haken, legte sie in einer Ecke auf den Boden und stellte ihren Handywecker auf sechs Uhr. Vorher würde ganz bestimmt niemand aufstehen – nicht an einem Sonntagmorgen. So gut es ging, machte sie es sich auf ihrem Lager bequem und schlief beinahe augenblicklich ein.

 

Kapitel 2

 

Senta

 

Am nächsten Morgen erwachte Senta in aller Frühe vom Gedudel des Fernsehers, das sie zunächst nicht einordnen konnte. Dann erkannte sie die Titelmelodie von Dragonball Z und grinste in sich hinein. Diese Serie war bis vor Kurzem eine ihrer Lieblingssendungen gewesen, und auch heute noch schaltete sie nicht weg, wenn sie beim Zappen darüber stolperte. Für Anton jedoch waren die Abenteuer von Son Goku und seinen Freunden noch viel zu aufregend. Vermutlich hatte der kleine Furz heimlich den Fernseher angeschaltet und saß nun völlig überfordert davor, während ihre Eltern noch tief und fest schliefen und sich von den Strapazen ihrer Wanderung erholten. Widerwillig schlug Senta ihre Bettdecke zurück, schlüpfte in ihren Morgenmantel und tappte schlaftrunken ins Wohnzimmer. Wie erwartet klebte Anton förmlich mit glasigen Augen an der Mattscheibe und lutschte an seinen Händchen, die er abwechselnd tief in ein Nutellaglas tauchte.

»Hey, du kleiner Gauner!« Lachend stemmte sie die Hände in die Hüften. »Hast dir wohl schon Frühstück gemacht.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»Schmeckt lecker. Willst du auch mal?« Treuherzig hielt er ihr eine Faust voll Nougatcreme hin.

»Nee, danke, vielleicht später.« Sie musterte ihren bis zur Unkenntlichkeit verschmierten Bruder und nahm ihn mit ins Bad. Während er fröhlich vor sich hinplapperte, wusch sie ihn in der Badewanne gründlich ab. Dabei fiel ihr Blick durchs Fenster in den Garten, wo sie ihre Mutter entdeckte. Sie war noch im Nachthemd und barfuß und befestigte irgendetwas an der Wäscheleine. Senta musste zweimal hinsehen, um das frisch gewaschene Kleid dieser fürchterlichen Puppe zu erkennen. Es war ihrer Mutter also völlig ernst damit, diese Scheußlichkeit zu behalten und wieder auf Vordermann zu bringen – aber warum auch nicht? Es konnte ja nicht jeder so eine tiefe Abneigung gegen Puppen hegen, wie sie selbst. Und wer weiß? Vielleicht bekam man tatsächlich auf Ebay ein nettes Sümmchen dafür.

 

 

Alyssa

 

Alyssas erster Gedanke galt ihren Füßen. Sie waren so entsetzlich durchgefroren, dass sie wehtaten. Warum dudelte ihr Handywecker und wieso war es so dunkel und kalt? Nach und nach kam ihr Patricks Ausraster wieder in den Sinn und mit ihm die Ereignisse von gestern Nacht. Sofort breitete sich die Kälte ihrer Füße in ihrem ganzen Körper aus. Was sollte sie nur tun? Hierbleiben konnte sie nicht, und außerdem war ihr fast schlecht vor Hunger. Sie brauchte eine andere Unterkunft, etwas zu essen und vielleicht eine Dusche. Aber zuallererst musste sie hier weg.

Mühsam stemmte sie sich in die Höhe. Ihr linker Arm war eingeschlafen und hing wie ein Fremdkörper von ihrer Schulter. Sie schüttelte ihn und biss die Zähne zusammen, als das Blut mit dem Gefühl von Messerstichen zurückkehrte. Bestimmt sah sie aus wie ausgekotzt, aber wenn sie Glück hatte, würde sie zu so früher Stunde niemandem begegnen. Im Schein ihrer Handybeleuchtung tappte sie um den Tisch mit diesen merkwürdig stinkenden Kräutern herum. Seltsames Zeug. Was man damit wohl machte? Sie ging weiter bis zur Tür und wollte sie aufziehen, da dämmerte es ihr. Trotz ihres Magenknurrens und ihrer eisigen Knochen musste sie grinsen. Na klar! Von wegen Küchenkräuter! Das hier war Marihuana. Ob die Eltern dieses Pit oder Per wussten, was ihr Söhnchen so trieb? Offensichtlich gab es hinter den Gardinen dieses Spießerkaffs doch mehr Geheimnisse, als geglaubt.

Sie schlüpfte aus dem Rübenkeller und beschirmte ihre Augen, als sie in das Licht der Morgensonne trat. Rasch duckte sie sich und spähte über den Rand der Treppe. Der Innenhof lag im friedlichen Schlummer. Das Fahrrad lehnte wie letzte Nacht an der gegenüberliegenden Hauswand, und unter dem Torbogen brannte noch immer die Laterne. Sehr gut. Wäre bereits jemand wach, hätte man die Laterne bestimmt schon ausgeschaltet.

Alyssa vergewisserte sich, dass sich in den Fenstern nichts regte, und wagte sich aus ihrem Versteck. Wie eine Maus huschte sie zum Hoftor, drückte die Klinke herunter und zog. Nichts. Sie stemmte sich gegen die Pforte, die zwar in den Angeln quietschte und ein bisschen vor und zurück schwang, aber dennoch blieb sie fest verschlossen. Verdammt! Jetzt saß sie auch noch in der Falle. Bestimmt hatte man das Quietschen gehört. Jeden Moment konnte jemand aus dem Haus kommen und sie entdecken. Eine Einbrecherin auf frischer Tat. Wobei sie genaugenommen eine Ausbrecherin war. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Patrick würde begeistert sein, wenn die Bullen sie nach Hause brachten. Ein letztes Mal stemmte sie sich vergeblich gegen die Tür, huschte zurück zum Rübenkeller und kauerte sich in den Treppenabgang. Was sollte sie tun? Abwarten, bis jemand das Tor aufschloss? Zu riskant. Aber vielleicht konnte sie woanders raus. Verzweifelt schaute sie sich nach einer weiteren Fluchtmöglichkeit um. Keine Chance, es sei denn, sie versuchte, an der gewölbten Natursteinmauer des Rübenkellers hinaufzuklettern. Sie betastete die grobe Wand. Die Steine standen unregelmäßig aus der Mauer hervor, und außerdem war das Gebäude nicht allzu hoch. Ob sie es wagen sollte? Sie richtete sich auf, langte nach oben und bekam zwei Steine zu fassen. Ihre linke Fußspitze fand Halt in einem Mauerspalt. Entweder jetzt oder nie. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht und stemmte sich hoch. Mit den Fingern tastete sie sich vor, krallte sich an eine Kante und fand mit dem anderen Fuß Halt. Das ging ja einfacher als gedacht! Sie ließ los, fasste nach oben und erschrak, als sie eine Jungenstimme hörte.

»Guten Morgen! Darf ich fragen, was du da machst?«

 

 

Senta

 

Nachdem Senta sich und Anton fertiggemacht hatte, ging sie in die Küche, um beim Decken des Frühstückstischs zu helfen. Das schien allerdings leichter gesagt, als getan. Der komplette Tisch war von ihrem Vater in Beschlag genommen, der die Einzelteile der Porzellanpuppe vor sich ausgebreitet hatte. Noch ungeduscht und mit einem Bartschatten im Gesicht polierte er mit einem Wollläppchen die beiden Puppenaugen. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er Senta gar nicht bemerkte. Erst als sie hinter ihn trat und ihm einen Kuss auf die kratzige Wange gab, schaute er kurz von seiner Arbeit auf.

»Gut geschlafen nach eurer Tour?« Sie begann, das Frühstücksgeschirr aus dem Schrank zu räumen.

»Wie ein Toter.« Er drückte die Puppenaugen in die leeren Höhlen und befestigte sie mit einem feinen Gummibändchen.

»Kommst du gut voran?« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Einzelteile der Puppe.

»Die Befestigungen für die Gliedmaßen sind hin. Aber ich habe in Mamas Nähzeug noch eine Rolle feine Gummilitze gefunden. Die funktioniert genauso gut.« Er drehte den Puppenkopf in den Händen und justierte die Glasaugen, sodass sie beide in dieselbe Richtung schauten. Zufrieden lächelte er dem Porzellangesicht zu und legte den Puppenkopf vorsichtig auf einen Eierbecher.

Senta betrachtete das Ding skeptisch und mit einem flauen Gefühl von Abscheu. Die blauen Augen verliehen dem haarlosen Schädel zwar einen halbwegs lebendigen Eindruck, doch sie fragte sich, wie damals ein Kind Gefallen an den starren Gesichtszügen finden konnte.

»Schön, Papa. Können wir sie trotzdem wegräumen, solange wir frühstücken?« Sie nahm eins der Puppenbeine, da schnellte die Hand ihres Vaters vor und packte ihr Handgelenk.

»Pfoten weg«, zischte er. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor.

Senta ließ das Bein los, als hätte sie daran einen Stromschlag bekommen. »Papa, du tust mir weh!«

Ihr Vater verstärkte seinen Griff, bevor er ihre Hand ganz plötzlich freigab. »Entschuldige. Aber diese Puppe ist wirklich sehr kostbar.« Er lächelte sie verlegen an und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Senta rieb sich das schmerzende Handgelenk. »Und wo sollen wir frühstücken?«

»Ist mir doch scheißegal. Ich habe sowieso keinen Hunger. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe, du nervst.«

Senta sah ihren Vater fassungslos an. Was war dem denn über die Leber gelaufen? Bestimmt hatte er sich gestern auf der Wanderung mit Mama gefetzt. Sie war ja letzte Nacht auch schon so komisch drauf gewesen. Wortlos packte sie ein paar Frühstücksutensilien auf ein Tablett, nahm eine Kanne Himbeereistee aus dem Kühlschrank und verzog sich ins Wohnzimmer. Dort hockte Anton wieder vor der Glotze, während Mama mit seiner alten Babybürste die Frisur der Puppe in Form brachte.

»Guck mal, sieht das nicht hübsch aus?« Stolz hielt sie das gereinigte Haarteil hoch, dessen Locken sie zu Zöpfen geflochten und mit weißem Schleifenband festgebunden hatte.

»Ja, ein echter Kracher.« Senta stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch. »Papa gibt den Küchentisch nicht frei«, erklärte sie und schmierte für Anton und sich ein paar Leberwurstbrote.

»Na und?«

»Was soll das heißen, na und?«, fragte Senta zwischen zwei Bissen. »Erst stopft der Kleine sich unbeaufsichtigt ein halbes Glas Nutella in den Hals, und jetzt essen wir vor dem Fernseher. Findest du nicht, dass …«

»Sei still!« Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich fast. »Immer muss sich alles um euch drehen. Da will man einmal, nur einmal etwas für sich machen und erntet nichts als Vorwürfe.«

Anton, der gerade einen Schluck Eistee trinken wollte, ließ seinen Becher fallen und begann zu weinen. Senta zog ihn auf ihren Schoß und wischte ihm mit einer Papierserviette den Mund ab.

»Ist schon gut, mein Süßer«, murmelte sie ihm zu. Über seinen Kopf hinweg beobachtete sie ihre Mutter, die angewidert den Mund verzog und sich wieder der Puppenfrisur widmete. »Mama meint es nicht so. Komm, wir gehen ein bisschen raus.« Sie stellte ihn auf die Füße und ging mit ihm in den Flur, wo sie ihm seine Sandalen und eine dünne Jacke anzog. Dann schlüpfte sie in ihre Ballerinas und nahm den Haustürschlüssel vom Haken.

»Bis später«, rief sie über die Schulter und war nicht überrascht, als keine Antwort kam. Egal, erst mal nichts wie raus aus diesem Irrenhaus, bis sich die beiden heute Nachmittag wieder beruhigt hatten. Was auch immer zwischen ihnen bei der Wanderung vorgefallen war, ging sie und vor allem Anton nichts an. Das sollten sie mal schön alleine auf die Reihe kriegen.

 

 

Per

 

Per musterte das Mädchen von Kopf bis Fuß. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt und mager wie ein Weidenstock. Lange braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Normalerweise waren sie sicher glatt, nun aber standen sie verfilzt in alle Richtungen, als wäre sie eben erst aus dem Bett gefallen. Ihre grünen Augen funkelten ihn trotzig an. Ob sie wusste, dass der Kajal, den sie wie die meisten Mädchen ihres Alters viel zu großzügig aufgetragen hatte, längst in schwarzen Tränenspuren auf ihren Wangen klebte? Sie hatte die Fäuste in die Hosentaschen ihrer Jeans gestemmt und zitterte trotz der lauen Morgenluft in ihrem dünnen Kunstlederjäckchen. Eine Einbrecherin war sie nicht, vielmehr erinnerte sie ihn an eine streunende Katze.

»Wenn du die Bullen rufst, verrate ich denen, was du hier versteckst«, fauchte sie ihm entgegen.

Per kratzte sich am Kopf. Eine streunende Katze. Definitiv. »Hast du Hunger?«

Ihre Augen weiteten sich auf Tellergröße. Mit dieser Frage schien sie nicht gerechnet zu haben. »Willst du mich verarschen?«

»Nö, aber du siehst aus, als hättest du länger nichts zu Futtern bekommen. Also nochmal: Hast du Hunger?«

Amüsiert beobachtete er, wie sie versuchte, ihre abwehrende Haltung aufrecht zu halten.

»Du rufst nicht die Bullen?«, vergewisserte sie sich vorsichtig.

»Warum sollte ich, du hast doch nichts geklaut, oder?«

Sie zog die Hände aus den Hosentaschen und hielt ihm die leeren Handflächen hin. Klein waren sie, und der pinke Nagellack an manchen Stellen abgesplittert.

»Siehst du, du bist keine Diebin. Also brauchen wir keine Bullen. Aber was bist du dann? Ich weiß, dass du von hier stammst, ich habe dich schon öfter nachmittags auf dem Spielplatz abhängen sehen. Bist du vielleicht von zu Hause abgehauen?«

Ihr schuldbewusster Blick war ihm Antwort genug.

»Stress mit den Alten, was? Soll vorkommen. Nun komm, genug geredet. Wenn du willst, kannst du auch duschen. Ich bin übrigens Per.« Er hielt ihr die Hand hin, die sie misstrauisch musterte. »Nun komm schon, ich bin kein Sittenstrolch.«

Sie lächelte verlegen, als hätte sie genau das befürchtet. »Alyssa.« Zögerlich schlug sie ein. »Aber sagen deine Eltern nichts, wenn du plötzlich jemand Fremdes anschleppst?«

Er schüttelte sich grinsend die Dreads aus dem Gesicht. »Nee, meine Alten sind da ganz gechillt. Außerdem bist du ja jetzt niemand Fremdes mehr. Ich weiß ja immerhin deinen Namen.«

Im Hausflur sah sie sich verstohlen um, als erwartete sie jeden Augenblick ein Donnerwetter.

»Da vorne ist das Bad.« Per wies auf die Tür zu seiner Rechten. »Ich lege dir noch ein paar Handtücher raus, dann kannst du duschen. In der Zwischenzeit mache ich das Frühstück.« Mit dem Daumen deutete er über seine linke Schulter. »Komm einfach rein, wenn du fertig bist.«

»Und deine Eltern haben bestimmt nichts dagegen?«

»Echt nicht. Sie sind noch unterwegs, ein paar Besorgungen machen, aber sobald sie zurück sind, kannst du dich selbst davon überzeugen. Kaffee oder Tee?«

»Kakao, wenn’s keine Umstände macht.« Endlich schien sie ein bisschen zu entspannen. »Und danke.«

»Kakao. Kein Problem. Nichts zu danken.« Er nahm ein paar Handtücher aus dem Badezimmerschrank und legte sie ihr auf den Wannenrand. Danach ging er in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Alyssa hieß sie also. Ob sich ihre Eltern bereits Sorgen um sie machten? Als er in ihrem Alter war, wussten seine Eltern immer, wo er die Nacht verbrachte. Nicht, dass sie ihn kontrolliert hätten. Es hatte nur einfach keinen Reiz, etwas vor ihnen zu verheimlichen, weil sie ihm ohnehin fast alles erlaubten. Regeln gab es bei seinen Alten nur wenige, aber Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit gehörten dazu. Solange er stets sagte, wo er steckte und wann er nach Hause kam, war alles in Ordnung. Sie konnten es nur nicht ausstehen, wenn er sie belog oder unpünktlich war. Er nahm ein paar Keramikbecher vom Regal und stellte sie auf den Tisch. Ob sie wegen seiner kleinen Plantage im Rübenkeller dichthielt? Vor den Bullen vermutlich schon, sie schien ja selbst nicht besonders scharf auf eine Begegnung mit ihnen zu sein. Aber was, wenn sie sich vor ihren Freunden wichtigtun wollte und überall herumerzählte, was sie entdeckt hatte? Er roch an einer angebrochenen Milchpackung. Noch trinkbar. Nein, Alyssa machte nicht den Eindruck, als hätte sie viele Freundinnen. Sonst wäre sie letzte Nacht vermutlich bei einer von ihnen untergekrochen und nicht in seinem stinkigen Rübenkeller. Er stellte eine Dose Kakaopulver auf den Tisch und setzte sich. Keine fünf Minuten später betrat Alyssa die Küche.

»Das sieht ja toll aus«, staunte sie. »Sogar mit Tischdecke!«

Ihre Haare waren noch nass, aber ansonsten sah sie schon wesentlich besser aus. Jetzt, ganz ohne Schminke und diesem schrecklichen schwarzen Zeug, erkannte er ganz deutlich, wie jung sie noch war. Ein Kind, das so gerne erwachsen wäre.

»Setz dich, greif zu.« Er schob ihr den Brotkorb hin und beobachtete amüsiert, wie sie andächtig das Angebot sichtete und ein Mohnbrötchen auswählte. Sie bestrich es fingerdick mit Butter und Honig und aß es mit wenigen Bissen auf. »Darf ich auch davon einen haben?« Schüchtern deutete sie auf einen Kirschjoghurt.

»Klar.«

Sie nahm den Becher, riss den Deckel ab und schleckte ihn sauber. Dabei blieb ein bisschen Joghurt an ihrer Nasenspitze kleben, was ihn einmal mehr an eine Katze erinnerte. Sie schien es nicht bemerkt zu haben.

»Du hast da was im Gesicht.«

Schnell wischte sie sich mit der Hand über die linke Wange. »Ist es weg?«

Er grinste. »Nö.«

Jetzt versuchte sie es auf der anderen Seite.

»Immer noch nicht. Warte, ich helfe dir.« Mit einer Serviette tupfte er ihre Nase sauber. »So ist es besser.«

Sie sahen einander an und brachen gleichzeitig in Lachen aus. Wenn sie mal nicht mürrisch guckte, sah sie eigentlich ganz hübsch aus. Natürlich viel zu jung für ihn, aber in drei, vier Jahren würde sie den Jungs den Kopf verdrehen. Ihr Lachen schallte noch durch die Küche, als seine Eltern hereinkamen.

»Wer ist das?« Seine Mutter verengte prüfend die Augen.

»Mama, Papa, das ist Alyssa, eine Freundin. Alyssa, das sind meine Eltern.«

Alyssa stand auf, wischte sich die Hände an einer Serviette sauber und hielt sie Pers Mutter zur Begrüßung hin. »Guten Morgen. Vielen Dank, dass ich bei Ihnen frühstücken darf.«

Pers Mutter machte keinerlei Anstalten, die dargebotene Hand zu ergreifen.

»Per, wer ist die?« Mit dem Finger deutete sie auf Alyssa, die förmlich zu schrumpfen schien.

»Was macht die in unserem Haus?«, setzte sein Vater hinzu.

Unsicher schaute Per zwischen seinen Eltern hin und her. Wenn das mal wieder einer ihrer Scherze war, ging der gerade ziemlich in die Hose.

»Frühstücken, würde ich mal sagen.« Mit einem Lachen versuchte er, die Situation zu entspannen.

»Die hat hier nichts zu suchen. Mach, dass die verschwindet, sonst rufe ich die Polizei.« Der Finger seiner Mutter stieß wie ein Dolch in Alyssas Richtung.

»Entschuldigung. Ich geh dann mal lieber.« Mit eingezogenem Kopf quetschte Alyssa sich an seinen Eltern vorbei.

»Und zwar ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf!«, bellte sein Vater ihr hinterher.

»Sagt mal, habt ihr einen Knall?« Völlig perplex sprang Per auf die Füße. »Wie seid ihr denn drauf?«

»Was fällt dir ein, so mit uns zu reden?« Sein Vater machte einen Schritt auf ihn zu.

»Was ist nur mit euch los?« Er schaute seine Eltern wie zwei Fremde an. Dann rannte er Alyssa hinterher, die inzwischen an der Haustür angekommen war. »Alyssa, warte!«

»Nochmal danke für alles, Per, aber das mit dem Frühstück war ein Fehler.« Ohne sich umzudrehen, trat sie hinaus auf die Treppe.

Er folgte ihr und zog die Tür hinter sich zu. »Wo willst du denn jetzt hin?«

Auf halber Treppe blieb sie stehen. »Weiß nicht.« Endlich wandte sie sich ihm zu. Ihr Blick war wieder so trotzig und verschlossen wie zuvor, nur noch von einer Spur Enttäuschung ergänzt.

»Du, hör mal. Was meine Eltern da gerade abgezogen haben,« er hob ratlos die Schultern, »so kenne ich sie gar nicht. Ich rede nochmal mit ihnen, dann kriegen sie sich sicher wieder ein.«

»Lass gut sein.« Ihr Mund verzog sich zu einem gezwungenen Lächeln. »Du hast schon mehr als genug getan. Ich komm schon klar. Danke für die Dusche und das alles. So nett war schon lange keiner mehr zu mir.«

Ehe er etwas erwidern konnte, nahm sie die letzten Stufen und rannte davon. Mit einem mulmigen Gefühl schaute er zu, wie sie durch das schwere Hoftor verschwand. Ob sie zum Spielplatz lief? Oder doch zurück nach Hause? Er hoffte es um ihretwillen. Vielleicht hatte sich der Ärger, vor dem sie offensichtlich auf der Flucht war, ja längst verflogen und ihre Eltern sorgten sich bereits um sie. Was allerdings mit seinen eigenen los war, das würde er jetzt mal mit ihnen klären.

Er straffte die Schultern, betrat das Haus und ging zurück in die Küche. Die beiden hatten sich inzwischen stocksteif einander gegenüber an den Tisch gesetzt. Das Frühstück vor sich schienen sie nicht zu bemerken, stattdessen starrten sie mit ausdruckslosen Gesichtern aneinander vorbei. Es herrschte eine beinahe unnatürliche Stille, nicht einmal Vogelgezwitscher drang durch das gekippte Fenster. In Pers Eingeweiden begann es zu rumoren. Eine Vorahnung packte ihn, als würde ihm gleich etwas Schreckliches zustoßen.

»Kann mir mal einer erklären, was euch über die Leber gelaufen ist?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist was passiert?«

Endlich wandte sich sein Vater zu ihm um. Mit kalten Augen schaute er ihn an. »Du!«

»Ich? Was ich?« Wer waren diese Leute und was hatten sie mit seinen Eltern gemacht?

»Du bist uns über die Leber gelaufen«, mischte sich nun seine Mutter ein. Ganz langsam griff sie nach dem Buttermesser und umklammerte es. Einen Moment lang hatte Per den lächerlichen Gedanken, sie würde es ihm am liebsten in den Hals rammen. Dann ließ sie es los, als hätte sie daran verbrannt. Sie blinzelte kurz, dann setzte sie ein unverbindliches Lächeln auf.

»Nichts. Es ist nichts«, fuhr sie mit seltsam hoher Stimme fort und deutete auf den Brotkorb. »Frühstück?«

Ruckartig ließ sein Vater die Schultern fallen und langte nach dem Aufschnitt, als sei nichts gewesen. Unmittelbar darauf setzte draußen Vogelgezwitscher ein.

Per machte einen Schritt rückwärts. »Nein danke, ich hab schon gegessen.« Mit einem flauen Bauchgefühl machte er, dass er rauskam.

Er musste mit Alyssa reden. Wenn sie nicht nach Hause gegangen war, fand er sie vielleicht am Spielplatz, da hatte er sie ja schon öfter gesehen. Oder beim alten Bergwerk, das war zwar ziemlich ungemütlich, aber es gab auch ein paar super Verstecke. Hier stimmte etwas nicht. Das eben hatte ausgesehen, als hätte jemand oder etwas für einen Moment die Kontrolle über seine Eltern übernommen. Vielleicht hatten sich ihre Eltern ähnlich verhalten und sie war deshalb ausgebüxt. Ein unsicheres Kichern entkam seiner Kehle. Oder er wurde verrückt. Möglicherweise sollte er auch aufhören, Weed zu rauchen, alleine der Gedanke an kollektiv durchdrehende Eltern war ja creepy. So oder so, er musste eine Erklärung dafür finden, und nur Alyssa konnte ihm dabei helfen.

 

Kapitel 3

 

Senta

 

»Höher, höher!« Antons Jauchzen schallte weit über den Spielplatz. Immer wieder gab Senta ihm einen Schubs auf der Schaukel und beobachtete, wie er völlig unkoordiniert versuchte, mit seinen kleinen Beinchen den Schwung mitzunehmen. Seine blonden Locken flatterten im Wind und seine Wangen glühten vor Begeisterung. Wenigstens er hatte Spaß. Ihr hingegen lag der Auftritt ihrer Eltern noch immer im Magen. Ob sie wieder Krach hatten? Genauso hatte es vor fünf Jahren angefangen, als ihr Vater Stress im Job hatte und kaum noch zu Hause gewesen war. Damals waren ihm nur noch Bilanzen und Aufträge wichtig gewesen und er hatte sich dabei so weit von ihr und ihrer Mutter entfernt, dass Senta befürchtet hatte, sie würden sich trennen. Irgendwann hatte ihre Mutter es nicht mehr ausgehalten und sie alle drei zur Familienberatung geschleppt. Das Ergebnis war ihre gemeinsam entdeckte Leidenschaft fürs Wandern und Anton.

»Komm, rutschen!« Ihr Bruder glitt von der Schaukel, plumpste in den Sand und watschelte zum Klettergerüst der Rutsche. »Ich kann alleine!«, protestierte er, als Senta ihm beim Hinaufklettern den Rücken stützen wollte.

Ein Gefühl der Zärtlichkeit durchströmte sie. Wie groß er schon war. Damals, kurz nach seiner Geburt, war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie ihn mochte. Dieses schreiende Etwas sollte ihre brüchig gewordene Burg reparieren? Dabei war er nicht nur ein Eindringling, sondern auch ein Konkurrent gewesen. Aber sie war seinem Zauber ebenso schnell unterlegen gewesen wie ihre Eltern, die seitdem hart an sich und ihrer Ehe gearbeitet hatten. Sie hatten sich mit dem Wandern ein gemeinsames Hobby gesucht und achteten sorgfältig darauf, einander wieder genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Dass Senta sich dabei manchmal ein bisschen zurückgesetzt fühlte, war wohl der Preis, den sie für die Rettung ihrer Familie zahlen musste. Und sie zahlte ihn gerne. Sie hatte ihr Zuhause nicht verlassen müssen. Es war ihr erspart geblieben, die Schulferien zwischen Mama und Papa aufzuteilen. Sie würde nicht mit neuen Partnern an der Seite ihrer Eltern zurechtkommen müssen. Inzwischen erschienen ihr die Ängste, die sie ausgestanden, die Nächte, die sie durchgeheult hatte, wie eine verblassende Erinnerung an eine schwere Krankheit, die überstanden war. Zumindest bis heute Morgen. Es erschreckte sie, wie gut sich ihr Unterbewusstsein noch an die Signale von damals erinnerte. Ein kalter Blick, ein scharfer Ton, und alles kam wieder in ihr hoch und erschütterte sie bis ins Mark. Ob sie diese Tortur nochmal durchstehen könnte?

»Fang mich!« Antons fröhliches Krähen riss sie aus ihren Gedanken.

»Warte, ich komme schon.« Sie ging um das Klettergerüst herum, um ihren kleinen Bruder am unteren Ende der Rutsche in Empfang zu nehmen, doch sie kam zu spät. Er sauste bereits mit ausgebreiteten Armen herunter, im blinden Vertrauen darauf, dass seine große Schwester rechtzeitig da sein und ihn auffangen würde.

Obwohl ihr klar war, dass sie es nicht schaffen würde, rannte sie los, doch statt mit der Nase im Sand fand sie ihn in den Armen eines Mädchens wieder.

»Hab dich«, lachte das Mädchen, nahm ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft.

»Nochmal, nochmal!« Anton quietschte vor Vergnügen, ließ sich von dem Mädchen auf die Füße stellen und flitzte an Senta vorbei zum Aufstieg.

Es war diese komische Alyssa, die hier öfter abends alleine abhing, mit dem Smartphone spielte, rauchte und auf obercool tat. Was hatte die mit ihrem Bruder zu schaffen?

»Ich mache das.« Entschlossen marschierte Senta zum Ende der Rutsche und machte ihr mit einem Kopfnicken unmissverständlich klar, dass sie selbst jetzt übernahm. Die andere funkelte sie böse an und für einen Moment glaubte Senta, sie würde einfach dort stehenbleiben und es auf eine Rangelei ankommen lassen. Dann trat das Mädchen beiseite und sah zu, wie Anton nun Senta entgegensauste und sich ihr glucksend in die Arme warf. Senta drückte ihn fest an sich und gab ihn erst wieder frei, als er nach einer weiteren Rutschpartie verlangte. Doch statt erneut zum Klettergerüst zu rennen, zeigte er auf Alyssa.

»Und jetzt wieder du.« Er schenkte dem Mädchen sein bezauberndes Lächeln und flitzte los.

Alyssa warf Senta einen triumphierenden Blick zu. »Darf ich mal?«

Widerwillig sah Senta dabei zu, wie Anton sich der anderen mit derselben Begeisterung entgegenwarf, wie zuvor ihr. Als das Mädchen ihn wiederum durch die Luft wirbelte, war Senta kurz davor, ihn ihr einfach aus dem Arm zu reißen, doch er schien nicht genug von dem Spiel zu bekommen. Danach hatte wieder Senta die Ehre, ihn auffangen zu dürfen. So wechselten sie sich eine Weile ab, bis Anton mit ihnen beiden auf die große Vogelnestschaukel wollte. Zu dritt legten sie sich in die Mulde und beobachteten, wie mit jedem Schwung die dicht belaubten Äste der Bäume vor dem blauen Himmel in ihr Blickfeld kamen. Als sie schließlich auspendelten, war Anton zwischen ihnen eingeschlummert.

»Der ist ja so süß.« Alyssa strich ihm eine blonde Locke aus der Stirn.

»Meistens schon. Aber er kann einem auch echt auf den Senkel gehen.« Senta betrachtete die langen Wimpern, an denen ein paar Sandkörner klebten und die leicht geöffneten roten Lippen mit den kleinen Milchzähnchen dahinter. Ja, wenn er so schlief, war er der reinste Engel. »Hast du denn keine Geschwister?«

»Doch, eine Schwester. Aber die ist schon neunzehn. Dafür habe ich einen Neffen, der ist erst zwölf Wochen alt.«

»Dann bist du ja eine echte Tante. Gratuliere.« Senta stützte sich auf die Ellbogen. »Und wie ist dein Neffe so?«

»Er schreit viel.« Alyssa seufzte. »Eigentlich dauernd.«

»Das kenne ich. Als Anton noch klein war, hat er auch viel geschrien. Das hat am Anfang tierisch genervt, zumindest mich. Manchmal hätte ich ihn am liebsten in die nächstbeste Babyklappe gestopft. Ich habe meine Eltern echt bewundert, wie sie das ausgehalten haben. Aber das ist anscheinend normal, dass Eltern ihre Kinder lieben, egal, wie nervig sie sind.«

Alyssa lachte bei der Bemerkung freudlos auf. »Sie scheinen echt in Ordnung zu sein, deine Eltern.«

»Ja, das sind sie«, stimmte Senta zu. »Zumindest meistens. Heute jedoch scheinen sie einen schlechten Tag zu haben.«

»Ja, das kommt vor.« Nachdenklich senkte Alyssa den Blick. »Was meinen Neffen betrifft, den sehe ich leider nicht so oft.

---ENDE DER LESEPROBE---