Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Was tust du, wenn dein eigenes Kind des Mordes verdächtigt wird? Im Park der schwedischen Universitätsstadt Lundholm wird ein junges Mädchen nackt aufgefunden. Jemand hat sie brutal vergewaltigt, verprügelt und halb tot in einem Gebüsch zurückgelassen. Vom Täter gibt es keine Spur, außer einem weißen Fliederzweig, den er wie ein Geschenk in der Hand seines Opfers drapiert hat. Polizeikommissarin Sara Vallén wird mit dem Fall beauftragt – doch nur kurze Zeit später wird er ihr wieder entzogen, als ein schrecklicher Verdacht die Runde macht: Ihr eigener Sohn Johannes soll für den bestialischen Überfall verantwortlich sein! Von nun an setzt Sara alles daran, die Wahrheit herauszufinden – aber als ein weiteres Mädchen verschwindet, bleibt ihr wenig Zeit, um zu entscheiden: Kann sie ihrem eigenen Sohn vertrauen? Band 1 der Sara-Vallén-Thrillerserie, die alle Fans der Scandi-Crime-Bestseller von Stieg Larsson begeistern wird. Als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über dieses Buch:
Im Park der schwedischen Universitätsstadt Lundholm wird ein junges Mädchen nackt aufgefunden. Jemand hat sie brutal vergewaltigt, verprügelt und halb tot in einem Gebüsch zurückgelassen. Vom Täter gibt es keine Spur, außer einem weißen Fliederzweig, den er wie ein Geschenk in der Hand seines Opfers drapiert hat. Polizeikommissarin Sara Vallén wird mit dem Fall beauftragt – doch nur kurze Zeit später wird er ihr wieder entzogen, als ein schrecklicher Verdacht die Runde macht: Ihr eigener Sohn Johannes soll für den bestialischen Überfall verantwortlich sein! Von nun an setzt Sara alles daran, die Wahrheit herauszufinden – aber als ein weiteres Mädchen verschwindet, bleibt ihr wenig Zeit, um zu entscheiden: Kann sie ihrem eigenen Sohn vertrauen?
Über die Autorin:
Die schwedische Krimiautorin Cecilia Sahlström hat vor ihrer Schiftstellerkarriere viele Jahre bei der Polizei gearbeitet. Ihr Debüt "Weißer Flieder" wurde vielfach für die präzise Schilderung der Polizeiarbeit gelobt.
Cecilia Sahlström veröffentlichte bei dotbooks ihre Thriller »Puppenopfer« und »Racheschrei«, die auch als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont erhältlich sind.
Die Website der Autorin: ceciliasahlstromforfattare.blogspot.com/
Die Autorin im Internet: facebook.com/publicceciliasahlstrom
***
eBook-Ausgabe Mai 2024
Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2017 unter dem Originaltitel »Vit Syren« bei Bokfabriken, Malmö. Die deutsche Erstausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Weißer Flieder« bei SAGA Egmont
Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2017 bei Bokfabriken, Malmö
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2017 Cecilia Sahlström und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Robin Erikson
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-070-7
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Puppenopfer« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Cecilia Sahlström
Puppenopfer
Thriller
Aus dem Schwedischen von Alina Becker
dotbooks.
Er stiefelte über den Wall im Stadtpark von Lund, entlang der Gyllenkroks Allé. Sein Gang wirkte etwas schlaksig, typisch für einen Teenager, der das Mannesalter noch nicht erreicht hatte – in der Schwebe zwischen Kindheit und Erwachsensein, entschlossen und unsicher zugleich. Obwohl er sich noch nicht sicher war, ob er die Grenze zum Mannsein schon überschritten hatte, war er selbstbewusst und von der Einzigartigkeit seiner Persönlichkeit vollauf überzeugt.
Er trug neue, strahlend weiße Schuhe. Auf seinem Weg zum Kulturhaus Mejeriet summte er eine Melodie vor sich hin, ein deutliches Zeichen für seine Ausgeglichenheit und sein vollkommenes Wohlbefinden.
Im Osten ging die Sonne auf und tauchte den Horizont in rosiges Licht, aber über seinem Kopf war der Himmel noch immer dunkelblau.
Der Junge bog vom Wall in den Park ab und sprang mit einem leichten Satz über eine Pfütze. Hinter frischen Pflanzentrieben verschmolz das Blattwerk der Sträucher zu einem geheimnisvollen dichten Netz. Das Kind in dem Heranwachsenden schlenderte ohne Eile und mit unerschütterlichem Urvertrauen durch den Park.
Hier und da tat sich eine Lücke zwischen den Bäumen und Büschen auf. Da kann man mit seinem Mädchen sitzen, dachte er, und ein Seufzer entwich ihm. Der Sommer war herrlich. Die Ferien standen vor der Tür.
Sein Haar war auf eine Länge von wenigen Millimetern gestutzt. Dunkel, fast schwarz, erinnerte es an das Fell einer Ziege. Eine weiße, schräg verlaufende Linie glänzte im Licht der aufgehenden Sonne. Einmal, vor langer Zeit, war der Junge von einem Baum gefallen. Wie so oft fuhr er jetzt mit der Hand über die glatte Narbe, auf der kein einziges Haar wuchs.
Dann blieb er wie angewurzelt stehen, und sein Summen erstarb. Aus dem Augenwinkel hatte er etwas Weißes bemerkt. Etwas, das nicht in die grüne Umgebung passen wollte.
Er drehte den Kopf nach links. Ein Fuß. Da war ein Fuß. Dessen war er sich vollkommen sicher, und er spürte, wie die Übelkeit in ihm aufstieg. Trotzdem zwang er sich, in Richtung der kleinen Lücke zwischen den Rhododendronbüschen zu schauen.
Nicht wissend, wie er die Situation einschätzen sollte, machte er aber ein paar vorsichtige Schritte auf seine Entdeckung zu und ging in die Hocke, um unter das dichte Blattwerk spähen zu können.
Vor ihm lag ein nacktes Mädchen, mit Ausnahme ihres ausgestreckten linken Beins in der Fötusstellung zusammengekrümmt.
Ihre Brust hob und senkte sich langsam.
Er schaute sie genauer an, während er verzweifelt nach seinem Handy tastete. Etwas Dunkles rann aus ihrem Mund und färbte ihre Haut fast schwarz. Blut, dachte er. Das musste Blut sein. Mit zitternden Fingern wählte er die 112.
»Geh ran, geh ran.« Er atmete schwer.
»112, Polizeileitstelle, Stefan.«
Die freundliche Männerstimme war ruhig und drang leicht gedämpft ans Ohr des Jungen. Er schnappte nach Luft.
»Im Stadtpark liegt ein nacktes Mädchen. Gleich bei der Mejeriet.«
»Verstanden. Können Sie mir genauere Angaben machen?« Die Stimme klang noch immer auffallend ruhig.
»Genau zwischen dem Wall und dem Fußweg von der Mejeriet. Beeilen Sie sich. Sie atmet so seltsam. Irgendwie langsam. Und ihr läuft Blut aus dem Mund. Ganz schön viel Blut.«
Johannes schaute fast im Sekundentakt auf die Uhr. Das Mädchen atmete noch. Langsam. Ansonsten rührte sich nichts. Er wagte nicht, das Mädchen zu berühren. Plötzlich nahm er von der Seite einen Schatten wahr.
Er beugte sich vor und blinzelte. Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem dichten Laub. Johannes erstarrte.
Er rannte. Sein Körper fühlte sich leicht an, und seine Gedanken waren glasklar.
Zickzack, dachte er. Muss sie verwirren. Geschmeidig bewegte er sich durch Sträucher und an Lauben vorbei, quer über Wege und Rasenflächen, zwischen Bäumen hindurch, wieder durchs Gebüsch und auf den nächsten Weg. Er lief, als wäre der Boden unter ihm glühend heiß.
Am Schwimmbad machte er kehrt und steuerte unverändert leichtfüßig und geräuschlos die Svanegatan an. Von dort aus bog er nach links in die Grönegatan ein.
In seinem Kopf hallte sein keuchender Atem wider. Ob man ihn nach außen hin auch so laut wahrnahm?
Was hatte sie eigentlich gedacht? Dass sie davonkommen würde? Dass sie den Zeitpunkt selbst bestimmen konnte? Der Gedanke an sie schnürte ihm die Kehle zu und ließ sein Herz schneller schlagen. Sie war nur eine gewöhnliche Hure, dachte er. Die Blume, der Fliederzweig – mit dieser Idee war er vollkommen zufrieden. Es roch so gut und überdeckte den Gestank der Leiche. Niemand würde verstehen, welchen Dienst er ihr erwiesen hatte. Dass er sie aus den Fängen des Teufels gerettet hatte.
Vor einem Hauseingang blieb er stehen und machte dann einen Schritt auf den Treppenabsatz. In die Irre führen, dachte er. Ein Hechtsprung nach rechts, und er landete neben dem Eingang. Unter den Fensterrahmen drückte er sich an der Hauswand entlang und tippelte auf Zehenspitzen zum nächsten Tor. Dort zog er die Schuhe aus, holte kurz Luft und schlüpfte dann durch das Tor. Es ließ sich geräuschlos schließen. Das wusste er. Im Innenhof war alles still, die Fenster schauten misstrauisch wie schwarze Augen auf ihn herab.
Sachte klopfte er an eine der Türen im Innenhof.
»Wie siehst du denn aus? Komm rein.«
Er schlüpfte in die Wohnung, ohne einen Laut von sich zu geben, zog sich die blutüberströmte Kleidung aus und stellte sich dann unter die Dusche.
Als er wieder hinaustrat, war er allein. Auf dem Bett lag ein Jogginganzug. Er zog ihn an.
Malva Gran, der in dieser Nacht die Einsatzleitung oblag, schrubbte wie besessen Erbrochenes vom Rücksitz des Streifenwagens. Der letzte Saufkopf hatte kotzen müssen, weil Peter Matsson wie ein Irrer gefahren war. Peter selbst stand nur da und mampfte Würstchen mit Kartoffelbrei, als wäre nichts geschehen. Er grinste, bestens gelaunt angesichts Malvas Wut.
Anfangs hatte Malva sich zu ihm hingezogen gefühlt – so gut aussehend und kräftig, wie er war. Im Laufe der Zeit hatte sich ihre Meinung geändert. Peter war ein selbstgefälliger Ochse mit einem deutlichen Hang zur Aggressivität, und wer einem schlecht gelaunten Peter Matsson in die Quere kam, musste mit mindestens einem heftigen Seitenhieb rechnen.
Malva wischte gerade den letzten Rest Flüssigkeit vom Sitz, als der Funkspruch hereinkam.
»Drei-Neun-Zehn, hier Sieben-Null.«
Matsson antwortete antriebslos.
»Drei-Neun-Zehn, in der Garage. Kommen.«
»Direkt am Eingang zum Stadtpark, nahe der Mejeriet. Dort ist ein Junge namens …«
Der Kollege von der Einsatzleitstelle verstummte einen Augenblick, meldete sich aber kurz darauf zurück.
»Johannes. Schnell ausrücken, Drei-Neun-Zehn. Kommen.«
Malva reagierte umgehend, ohne lange nachzudenken. Der Tonfall des Kollegen klang ernst. Peter Matsson ließ auf der Stelle die Pappschale mit der Wurst fallen. Sie stürzten sich auf die Autositze und Malva warf den stinkenden Kotzlappen aus dem Wagen.
Sirenen und Blaulicht, und Malvas Puls schnellte in die Höhe. Sie warf Matsson einen Blick zu, der ebenfalls vom Adrenalinrausch ergriffen schien. Wenn es darauf ankam, agierte er schnell, das musste sie ihm widerwillig zugestehen.
Malva kontaktierte die Leitstelle und bestätigte ihre Ankunft am Einsatzort. Dann schnappte sie sich ihr Handy aus dem Handschuhfach und stieg aus dem Wagen.
Fußweg zwischen Mejeriet und Wall, dachte sie, konnte aber nicht erkennen, ob sich jemand dort aufhielt. Hören konnte sie auch nichts. Das Morgenlicht schaffte es nicht, sich den Weg durch die Bäume zu bahnen. Die Sonne stand noch zu tief. Niemand war zu sehen.
»Hallo?«, rief Malva. »Hallo? Ist hier jemand?«
Peter war ihr dicht auf den Fersen.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« Peter wirkte fast enttäuscht.
»Ich weiß es nicht.« Malva stieß einen Zischlaut aus, der Peter galt. »Hast du das gehört? Klang, als würde jemand stöhnen.«
»Dort entlang«, sagte er und deutete auf einen der Wege. Einige Meter entfernt von ihnen lag jemand auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Malva stürzte auf die Person zu. Es war ein Junge.
In der Ferne waren deutlich die Sirenen eines Krankenwagens zu hören. Das Blaulicht des Streifenwagens wies dem Notfallteam den Weg.
»Er lebt!«, rief Malva.
»Ich habe ihn gesehen. Er hat mich niedergeschlagen«, flüsterte der Junge.
Er deutete auf einen der Rhododendronsträucher.
»Da. Da liegt sie.«
Peter Matsson und Malva Gran traten eilig auf die Lücke im dichten Buschwerk zu.
»Oh, mein Gott«, entschlüpfte es Malva. »Mein Gott!«
Peter ging neben dem Kopf des Mädchens in die Hocke.
»Verdammt, das ist ja das Allerletzte.«
Er fühlte ihren langsamen Puls und kontrollierte ihre flache Atmung, wusste aber nicht, wie er ihr helfen sollte.
Malvas Handykamera gab ein klickendes Geräusch von sich, und die Blitze erhellten die kleine Höhle im Gebüsch. Die Szene war grotesk. Malva Gran ging hinter ihrer Kamera in Deckung.
Vom Rand des Parks näherte sich das Rettungsteam, und im Nu wurde das Mädchen auf die Trage verfrachtet und davongerollt. Es sah aus, als hätten die kopfschüttelnden Sanitäter resigniert, dachte Malva.
»Sieben-Null an alle Streifen in Lund.«
Das war wieder Stefan von der Einsatzleitstelle. Für den Einsatz waren etwa fünf Streifen verfügbar.
»Sieben-Null an alle Streifen in Lund. Wir wechseln auf Kanal 60. Alle bitte auf Kanal 60 schalten. Bitte bestätigen. Kommen.«
Wahrscheinlich ist es eh schon zu spät, dachte Malva Gran, als alle Patrouillen ausschwärmten. Der Park war weitläufig, und es gab jede Menge Möglichkeiten, sich aus dem Staub zu machen.
Johannes saß noch immer auf dem Boden. Er hielt eine Blume in der Hand – einen weißen Fliederzweig, der intensiv duftete. Peter ging neben dem Jungen in die Hocke.
»Er war verdammt groß, richtig riesig. Große Hände. Glaube ich. Es war so dunkel. Ich weiß nicht. Ich glaube, er hatte … keine Ahnung. Er war halt irgendwie groß«, sagte Johannes und ergänzte: »Er war auf jeden Fall größer als ich.«
Er gab sich wirklich Mühe.
»Woher hast du den Fliederzweig?«, fragte Peter.
»Ich weiß es nicht. Aber er muss mich geschlagen haben.«
»Wohin?«, fragte Matsson.
»In den Bauch. Mir ist der Atem weggeblieben. Was dann passiert ist, weiß ich nicht.«
Malva ging zum Auto zurück, um eine Decke zu holen. Johannes zitterte. Vermutlich ein Schock, dachte sie.
»Drei-Neun-Zehn an Sieben-Null, bitte kommen.«
»Sieben-Null hier. Kommen.« Stefans Stimme wieder. Gut, dachte Malva, er klingt entspannt.
»Wir brauchen hier die Spurensicherung. Und Ermittler vom Bereitschaftsdienst. Kommen.«
»Verstanden, Drei-Neun-Zehn. Einen Hund schicke ich auch. Der Wachhabende ruft Sie gleich an.«
Kommissarin Sara Vallén hatte einen langen und harten Arbeitstag hinter sich. In letzter Zeit war sie für sämtliche Probleme allein verantwortlich gewesen, da ihr Vorgesetzter krankgeschrieben war, weshalb sie sich todmüde fühlte.
Sie war auf Abruf, aber Gott sei Dank kam es selten vor, dass sie mitten in der Nacht zu einem Einsatz gerufen wurde. Obwohl Sara so erschöpft war, fanden ihre Gedanken keine Ruhe, und ihr Kiefer schmerzte vor Anspannung. Sie nahm eine Allergietablette, die sie etwas schläfrig machte, und nickte schließlich ein, als es auf zwei Uhr zuging.
Sie befand sich in einem Raum. Eine Tür stand offen. Hinter der Tür wartete ihr Vater mit einer Axt. Eine Schlange kroch herein, und Sara stand da wie versteinert. Plötzlich sprang ihr Vater vor und hieb mit der Axt auf die Schlange ein. Unbeeindruckt kam ihr das Tier dennoch näher, zischte sie an. An seiner peitschenden Zunge hingen zwei klingende Glöckchen. Sara versuchte verzweifelt, sich an der Wand des Raumes in Sicherheit zu bringen, während das Klingeln immer schriller wurde. Dann fuhr sie mit einem Ruck aus dem Schlaf.
»Vallén«, sagte sie schlaftrunken und atmete tief ein.
»Hallo«, antwortete eine Stimme aus ihrem Telefon. »Wachhabender Kjell Stigsson hier.«
»Ja?« Sara setzte sich kerzengerade im Bett auf, schüttelte sich kurz und war augenblicklich hellwach.
»Im Stadtpark von Lund wurde ein Gewaltverbrechen an einem Mädchen verübt. Soviel ich weiß, wurde sie sehr schwer verletzt, vielleicht sogar lebensbedrohlich.«
»Im Stadtpark? Das ist nicht weit von hier entfernt. Ich rufe die Spurensicherung an. In einer Stunde sollte sie vor Ort sein. Ich selbst bin in zehn Minuten dort.«
»Gut. Wir haben auch schon Spürhunde angefordert«, sagte Stigsson. »Der Täter ist vom Tatort geflohen, als ein Junge vorbeikam und das Mädchen fand. Hoffen wir, dass sie es überlebt. Toi, toi, toi.«
Sara steckte bereits mit einem Bein in ihrer Hose. Wenn sie auf Abruf war, legte sie ihre Kleider immer in derselben Reihenfolge bereit, um sich möglichst schnell wieder anziehen zu können: Sport-BH, Collegepullover, Hose. Die Turnschuhe unter dem Stuhl. Ansonsten war Sara eher schlampig veranlagt. In ihrem Kleiderschrank herrschte ein einziges Durcheinander. Manchmal kam es ihr so vor, als hätte sie zwei verschiedene Persönlichkeiten: Sara, die Polizistin, und Sara, die Privatperson.
Sara Vallén stieg in ihren Wagen, einen alten und klapprigen Saab 900, und rief gleichzeitig bei Jörgen Berg und Rita Anker an.
»Stadtpark. Wenn möglich ein wenig schneller als sonst. Ich briefe euch während der Fahrt«, erklärte Sara während des Konferenzanrufs ihren beiden Kollegen.
Sara hatte ihr eigenes Team zur Aufklärung schwerer Verbrechen zusammengestellt und dafür ihre früheren Kollegen vom Landeskriminalamt ausgewählt. Noch fühlten sich alle ein wenig verloren in ihren neuen Rollen. Aus einer eingeschworenen Gemeinschaft, die viele Jahre lang zusammengearbeitet hatte, war eine Gruppe geworden, die sich auf verschiedene Reviere und teils sogar auf unterschiedliche Polizeidistrikte aufteilte. Nichts war mehr so wie früher, und das hatte ein Gefühl der Unsicherheit geschürt. Aber in Situationen wie dieser wussten alle ganz genau, was zu tun war.
»Es ist nicht weit für mich«, sagte Rita, die in der Grönegatan wohnte.
»Ich stecke quasi schon in meinen Klamotten«, erklärte Jörgen. »Ich brauche vielleicht eine Viertelstunde. In drei Minuten fahre ich in Dalby los.«
Sara gab ihnen die spärlichen Informationen durch, die sie hatte.
»Wir sehen uns dort«, sagte sie schließlich. Sie verabschiedeten sich zeitgleich, und anschließend wiederholte Sara das Prozedere mit ihren Kollegen Jonny Svensson und Torsten Venngren, die beide zur Polizei Malmö gehörten. Dann herrschte Stille.
Plötzlich durchfuhr Sara ein Gefühl des Unbehagens. Waren die Mädchen zu Hause? Sie hatte nicht noch einmal nachgesehen. War einfach losgerauscht. Was, wenn es eines von ihnen war?, dachte Sara, griff wieder zum Telefon und wählte die Handynummer einer ihrer Töchter. Eine verschlafene Mädchenstimme antwortete, und Sara war beruhigt, als ihre Tochter verwirrt bestätigte, dass sowohl sie als auch ihre Zwillingsschwester zu Hause waren.
Sara trat wieder aufs Gaspedal.
Mit einer Vollbremsung brachte sie den Wagen vor den Absperrungen zum Stehen und lief dann zu Fuß auf das blinkende Blaulicht nahe der Mejeriet zu.
Die Einsatzleiterin erwartete sie bereits, eine hübsche junge Frau mit zu einem Pferdeschwanz hochgebundenen dunklen Haaren. Trotz der angespannten Situation wirkte sie ruhig.
Sie streckte die Hand aus.
»Malva Gran.«
»Sara Vallén, leitende Kommissarin.«
»Ich zeige Ihnen den Tatort«, sagte Malva. »Möglicherweise haben wir schon einen Verdächtigen. Er wurde auf Anordnung des diensthabenden Staatsanwalts zur Vernehmung vorgeladen. Ein Ermittler führt die ersten Befragungen durch, dann entscheidet der Staatsanwalt, wie es weiter geht.«
»Gut. Kennen Sie die Identität des Mädchens?«
Sara versuchte, die Sorge, dass es sich bei dem Opfer um eine Bekannte ihrer Töchter handeln könnte, hinter einem professionellen Tonfall zu verbergen.
»Nein, noch nicht. Die Sanitäter haben sie sofort mitgenommen. Sie hat unfassbar an einer seltsamen Stelle geblutet … ihre Zunge war abgeschnitten.«
Sara Vallén zog eine angewiderte Grimasse.
»Was ist das für ein Verrückter?«, fragte sie. »Das muss wirklich übel ausgesehen haben!«
»Ja, schrecklich«, antwortete Malva Gran. »Nicht die ganze Zunge, aber doch ein großer Teil davon.«
»Was für eine Welt ist das eigentlich, in der wir hier leben?«, fragte die Kommissarin grimmig.
Obwohl sie sich seit so vielen Jahren mit schweren Verbrechen befasste, erschreckte sie die fürchterliche Fratze der Brutalität nach wie vor.
»Die Zunge lag neben ihr.«
»Das hier ist also der Tatort?«
»Sieht so aus. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht behaupten. Das wird die Spurensicherung herausfinden«, konstatierte Malva.
Sara nickte.
»Das Mädchen hielt einen Fliederzweig in der Hand. Es sah wie ein unheimliches Zeichen aus. Schwer einzuordnen, sowohl die Sache mit der Zunge als auch mit dem Flieder …«
»Scheint so, aber das soll wohl irgendeine Botschaft sein«, antwortete Sara.
Sie folgte Malva zur Kräftesammelstelle, die etwas entfernt von dem Rhododendronbusch errichtet worden war, unter dem das Mädchen gelegen hatte.
Alles war abgesperrt, und eine angespannte Stille lag über dem Park. Nur das Knistern der Funkgeräte war gelegentlich zu hören.
»Der Junge, der sie gefunden hat, hielt übrigens auch einen Fliederzweig in der Hand«, sagte Malva und wandte den Blick ab.
Sie blinzelte verunsichert.
Dann holte sie tief Luft.
»Sein Name ist Johannes Vallén.«
Sara hatte das Gefühl, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Sie wandte sich ab. Unterdrückte den Drang, einfach fortzulaufen. Dann sammelte sie sich und stampfte mit den Füßen auf den Boden, als suchte sie Halt.
»Das kann nicht sein«, sagte sie nur und ließ Malva stehen.
»Wir arbeiten so wie immer«, rief Malva ihr hinterher.
»Selbstverständlich«, antwortete Sara. »Aber es kann nicht sein, dass mein Sohn so etwas getan hat. Verstehen Sie!«
Malva schaute der Kommissarin respektvoll hinterher. Sie bewunderte Sara Valléns Stärke, konnte aber den Gedanken nicht abschütteln, dass sie mit ihr möglicherweise die Mutter eines Gewaltverbrechers vor sich hatte. Malva ballte die Faust und beschloss, weiterhin objektiv zu bleiben.
Virro schnüffelte vom Rhododendrongebüsch aus los. Um die Brust trug er ein Geschirr, an dem eine lange Leine befestigt war. Der Hund schnupperte nicht direkt am Boden, was darauf hindeutete, dass die Spuren noch frisch waren. Er wuselte mal hierhin, mal dorthin, und es sah nicht so aus, als würde er irgendeiner bestimmten Fährte folgen. Fredrik, der Hundeführer, murmelte vor sich hin. Zu viele Menschen waren schon hier herumgetrampelt. Er führte den Hund fort vom Gebüsch zu einer Stelle, von der aus der Täter möglicherweise geflüchtet war. Im Kies waren deutliche Spuren zu erkennen, die nach scharrenden Füßen aussahen.
Virro drückte die Schnauze näher an die Erde, nahm die Witterung auf und schlug eine Richtung ein.
Wie viel Zeit seit der Flucht des Täters vergangen war, konnte derzeit niemand sagen, aber die Spürnase des Hundes hatte definitiv eine Fährte gefunden. Fredrik ließ sich von dem Tier leiten, das ihn die Wiese hinauf zur Svanegatan führte. Der Hund blieb, wie es von ihm erwartet wurde, kurz stehen, schnupperte erneut und zog seinen schweigenden Hundeführer dann weiter voran.
Von dort führte die Spur wieder auf den Schotterweg und in Richtung des Schwimmbades. Wieder blieb der Hund stehen und schnupperte, bevor es weiterging. Die Spur schien im Zickzack zu verlaufen, und der Hund wurde stark gefordert. Die unterschiedlichen Beschaffenheiten des Bodens machten es ihm noch schwerer. Nun ging es wieder zurück zur Svanegatan.
Bis auf das Klappern der Ausrüstung am Gürtel des Hundeführers war nur Virros Hecheln zu hören. Plötzlich blieb dieser stehen, schnupperte erneut, änderte die Richtung und stürmte auf den Fußweg, der zum Högevalls-Schwimmbad führte. Die Nase ein gutes Stück über dem Boden führte der Hund seinen Führer am Bad vorbei und rechts auf die Svanegatan.
Asphalt, dachte Fredrik. Nicht gut. Die Spur wird er bald verlieren. Aber Virro schien noch am Ball zu sein, schnüffelte dicht über der Straße und bog schließlich in die Grönegatan ein, wo er in der Nähe eines Tores stehen blieb. Dort schnupperte er eine Weile herum. Etwas schien ihn zu verwirren. Offensichtlich war die Fährte hier zu schwach, und der Hund hatte Schwierigkeiten, sie wiederzufinden. Er schnaufte und glotzte sein Herrchen an. Dann beschnüffelte er die Mauer neben einem anderen Tor, hob das Bein und pinkelte. Einem spontanen Impuls folgend, rüttelte Fredrik am Tor, aber es war verschlossen. Ach, Virro hatte die Spur verloren. Schade. Das war nichts Neues für den Hundeführer, und er wusste, dass der Hund sein Bestes gegeben hatte. So war es eben in seinem Job. Manchmal hatte man Erfolg, manchmal nicht.
»Sieben-Drei-Zehn an Drei-Neun-Zehn«, funkte der Hundeführer die Einsatzleitung an.
»Ich höre«, antwortete diese.
»Der Hund hat die Spur verloren. Wir sind in der Grönegatan, nicht allzu weit entfernt.«
»Verstanden.«
»Er ist siebzehn Jahre alt und die Sommerferien stehen vor der Tür. Da kann man ihn doch wirklich nicht einsperren. Außerdem ist er kein Gewalttäter, Göran. Das ist ein Missverständnis. Ich habe um anwaltlichen Beistand gebeten«, sagte Sara, bevor das Telefongespräch beendet wurde.
»Mein Ex-Mann«, erklärte sie entschuldigend gegenüber Malva, die neben ihr stand.
Malva musterte die leitende Kommissarin, die nur dastand und den Kopf schüttelte. Ihr ganzes Auftreten ließ darauf schließen, dass Sara sich innerlich von den Ereignissen distanziert hatte. Erneut konnte Malva sie nur für ihre Stärke bewundern.
»Der wahre Schuldige wird sich innerhalb von wenigen Minuten aus dem Staub gemacht haben«, sagte Sara.
Sie sprach schnell und undeutlich im Stockholmer Dialekt und blinzelte ihre Tics weg – ihre Augenlider hatten die Angewohnheit, sich auf halbem Wege zu verhaken. Sara wusste, dass sie dann sehr arrogant herüberkam, aber es geschah automatisch, wenn zu viel gleichzeitig auf sie einprasselte.
Johannes drängte sich zwischen ihre rationalen und emotionalen Gedanken, und zwei Stimmen meldeten sich zu Wort. Eine, die mit Nachdruck behauptete, es sei unmöglich, dass der freundliche und fröhliche Johannes etwas derart Böses tun könne. Und eine andere, die Zweifel in ihr schürte, obwohl Sara wusste, dass ihr Sohn nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte. Das war einfach ausgeschlossen.
Sara ließ den Blick über den Park schweifen und sah zu ihrer Erleichterung, dass sich Rita Anker und Jörgen Berg näherten. Kurz darauf hörte sie, wie ein Auto hinter dem Streifenwagen hielt, aus dem Jonny Svensson und Torsten Venngren stiegen.
Sara berichtete ihren Kollegen, was sich ereignet hatte. Zuerst zögerte sie, entschied sich dann aber, ihnen nicht zu verschweigen, dass möglicherweise ihr Sohn des Verbrechens verdächtigt wurde. Ihre Kollegen starrten sie verständnislos an.
»Aber dann solltest du doch nicht die leitende Kommissarin sein«, sagte Jonny Svensson.
»Wir haben jetzt niemand anderen. Aber das ist schon in Ordnung. Johannes hat es schließlich nicht getan. Punkt.« Sara warf ihren Kollegen einen grimmigen Blick zu. Kein Zweifel, dass sie keinen Widerspruch gestattete. Das verstanden alle sofort.
Jonny senkte mürrisch den Kopf, gab aber klein bei. Er zündete sich eine Zigarette an und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, zu diskutieren. Das war eine Erkenntnis, die ihn die jahrelange Zermürbung gelehrt hatte.
Gemeinsam kletterten sie über das Absperrband und bewegten sich vorsichtig am Rand des abgetrennten Bereichs zum Tatort. Malva folgte ihnen und Sara wandte sich direkt an sie.
»Sorgen Sie dafür, dass die Absperrungen gesichert sind, und schicken Sie jemanden zur Grönegatan«, sagte Sara und war überrascht, dass ihre Stimme nicht zitterte.
Sie machte eine abweisende Geste in Richtung Malva, die schon dabei war, die Anweisungen zur Sicherung der Grönegatan zu verschicken.
»Um den Rest kümmere ich mich mit meinem eigenen Team.«
Sie zeigte auf Rita und Jörgen. Rita war schon auf dem Sprung, und Jörgen schloss sich ihr wie gewohnt an. Beide verschwanden schnell von der Bildfläche.
Dann nickte Sara Jonny und Torsten zu.
»Ihr übernehmt die Svanegatan und die Gyllenkroks Allé.«
Als die beiden verschwunden waren, traten die beiden Kollegen von der Spurensicherung auf Sara zu. Sie deutete auf den Tatort.
»Gut, dass ihr da seid. Hier sind leider schon viele Leute herumgelaufen. Aber ich weiß, dass es eindeutige Fußspuren gibt, die sich von den anderen unterscheiden. Sie sind ein bisschen in die Länge gezogen, als hätte die Person einen Blitzstart hingelegt.«
Die Kriminaltechniker nickten. Das war keine ungewöhnliche Situation.
»Ansonsten findet ihr natürlich auch jede Menge Schuhabdrücke von Polizei und Rettungskräften, das seht ihr ja selbst«, fuhr Sara fort.
»Sonst noch etwas, das wir wissen sollten?«, fragte der leitende Kriminaltechniker Ove Ovesson.
»Ja, der Hund hat die Fährte an einem Tor in der Grönegatan verloren.«
»Das Gebiet muss sofort abgesperrt werden«, bemerkte der Kollege Bengt Karlsson. »Vielleicht gibt es dort interessante Spuren.«
Vorsichtig betraten die Techniker den abgesperrten Bereich. Karlsson baute ein Stativ mit einer Kamera auf und begann damit, die Szenerie aus allen Blickwinkeln zu fotografieren.
Zwischen all dem Grün sahen ihre weißen Overalls wie Wolken aus.
In Saras Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn, eine Runde nach der anderen. Johannes? Das war doch vollkommen verrückt. Sie zuckte zusammen, als sich Ove ›Schatten‹ Ovesson von hinten an sie heranschlich. Er machte seinem Spitznamen alle Ehre.
»Wir haben einiges gefunden«, sagte er. »Ich meine, wir sind hier im Freien und hier laufen immer viele Leute herum. Das weißt du ja selbst. Außerdem werden wir wohl Schuhabdrücke der Sanitäter und Polizisten nehmen müssen, wie du auch schon vorgeschlagen hast.«
Sara nickte.
»Das erledigen wir selbst«, sagte sie leise aber bestimmt.
In der praktischen Arbeit, den technischen Vorgängen, fühlte sie sich zu Hause, und sie wusste ganz genau, was zu tun war. Selbst zuzupacken gab ihr ein Gefühl der Ausgeglichenheit.
»Und natürlich wird der Gerichtsmediziner das Mädchen untersuchen wollen.«
Sara suchte Malva Grans Aufmerksamkeit.
»Gibt es schon Rückmeldung von Ihren Kollegen, die die Absperrungen sichern und sich durch die Nachbarschaft fragen?«
»Ja«, erwiderte Malva. »Negativ. Nichts Neues bisher. Übrigens waren sowohl ich als auch mein Kollege dort im Gebüsch. Für die Notfallversorgung natürlich.«
»In Ordnung. Sorgen Sie dafür, dass wir auch von Ihrem Kollegen Schuhabdrücke bekommen«, sagte Ovesson. »Sie selbst haben zu kleine Füße, das sehe ich sofort. Nur um uns unnötige Arbeit zu ersparen. Raucht Ihr Kollege?«
Es war allgemein bekannt, dass Ovesson Raucher verabscheute. Und noch mehr hasste er rauchende Polizisten. Die verursachten immer Chaos. Überall diese Kippen – schlimmstenfalls sogar an den Tatorten.
»Nein, das tut er nicht.«
»Gut, dann kann er sich einen DNA-Test sparen. Die Abdrücke reichen.«
Sara winkte den stellvertretenden Einsatzleiter zu sich.
Ohne ein Wort des Grußes schaute sie auf seine großen Füße hinunter.
»Lassen Sie Abdrücke von Ihren Schuhen nehmen«, ordnete sie an und deutete auf einen der Techniker von der Spurensicherung.
Der bestimmte Tonfall machte klar, dass es eher ein Befehl als eine freundliche Bitte war. Peter Matsson nickte und hielt sich entgegen seiner Gewohnheit mit einer dreisten Bemerkung zurück, obwohl ihn das vage Gefühl beschlich, soeben vor Malva das Gesicht verloren zu haben.
Er zuckte kaum merklich mit den Schultern und machte sich auf den Weg, um den Einsatzbericht zu unterschreiben, den er eben aufgesetzt hatte. In seinen Jahren bei der Polizei hatte er unzählige solcher Berichte verfasst. Punkt für Punkt sollte man alle getroffenen Entscheidungen und die durchgeführten Arbeitsschritte nachverfolgen können. Peter wusste, wie wichtig es war, von Anfang an Sorgfalt walten zu lassen, denn alles im Nachhinein zu rekonstruieren war meistens ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem ging das Dokument in die Voruntersuchungen ein und konnte einer eingehenden Kontrolle unterzogen werden. Deshalb notierte Peter auch die Anordnung, die Abdrücke seiner Schuhe untersuchen zu lassen. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
In diesem Moment kehrte der Hundeführer zurück.
»Was gibt es denn da zu grinsen?«, fragte er Peter.
»Ach, nichts Besonderes. Musste nur gerade an die leitende Kommissarin denken. Richtig Haare auf den Zähnen.«
»Oh, ja. Ich habe allerdings gehört, sie soll gut und extrem kompetent sein«, sagte Fredrik bedächtig.
Matssons Lippen wurden schmal, und der Hundeführer verspürte einen Anflug von Selbstzufriedenheit. Matsson war ein Kotzbrocken, und jeder, der einmal mit ihm zusammengearbeitet hatte, wusste das. Fredrik war da keine Ausnahme. Er machte auf dem Absatz kehrt und suchte nach Malva Gran.
Sara wandte sich an Ove Ovesson – wohl wissend, dass es einiges zu fragen gab und sie jetzt nur einen Bruchteil der nötigen Antworten bekommen würde. Trotzdem kam sie nicht umhin, nachzuhaken.
»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass ein Kampf stattgefunden hat?«
»Na ja, nicht viele. Aber natürlich gibt es überall im Umkreis Spuren. Ich habe trotzdem eher das Gefühl, dass sie ziemlich schnell ausgeknockt wurde. So sieht es jedenfalls aus. Wir werden ja erfahren, ob das Mädchen irgendwelche Verletzungen hat, die auf eine körperliche Abwehr schließen lassen. Waffen oder andere Utensilien haben wir hier im Umfeld nicht gefunden.«
»Das ist großartig«, sagte Sara und verspürte so etwas wie einen kleinen Hoffnungsschimmer.
»Großartig?« Ove Ovesson starrte sie fragend an. »Sicher, dass es dir gut geht?«
»Ich habe es bisher nur den Ermittlern gegenüber erwähnt, aber der Junge, den sie festgenommen haben, ist mein Sohn. Er wurde zur Vernehmung vorgeladen. Ich schätze, er wird verdächtigt.« Sara spürte, wie ihre Lippen zu zittern begannen.
»Was sagst du da?«, platzte Ovesson heraus.
»Ich weiß, das klingt unglaublich. Aber deshalb ist es gut, dass wir keine Waffen gefunden haben, denn das hätte den Verdacht fürs Erste verhärtet. Bis zu den Ergebnissen der DNA-Tests, meine ich.«
»Ja, wenn man es so sieht, kann das sein«, sagte Ove nachdenklich und augenscheinlich noch nicht ganz überzeugt von diesen Überlegungen. Aber er ließ es zunächst dabei bewenden.
»Bist du dir sicher, dass du unter diesen Umständen hier sein solltest?«
»Ja, Johannes’ Vater ist gerade bei ihm. Ich komme später nach. Aber bitte kümmert euch um eine Vertretung für mich. Bis wir jemanden gefunden haben, behalte ich erst einmal die Position inne.«
»Sollte wirklich ich das Gespräch mit Johannes führen, wenn man bedenkt, wie eng wir zusammenarbeiten?«, fragte Torsten Venngren, als er aus der Svanegatan zurückkehrte. Jonny Svensson hatte Unterstützung von einem anderen Kollegen bekommen.
»Na ja, immerhin arbeiten wir nicht in einem festen Team zusammen«, wandte Sara Vallén ein. »Und bis auf Weiteres bin ich schließlich noch die leitende Kommissarin«, fügte sie hinzu.
Sie gab sich entschlossener und ungerührter, als sie sich fühlte. In Wirklichkeit schaffte sie es kaum, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ihr Herz pochte heftiger als gewohnt, und in ihrem Magen breitete sich ein bohrender Schmerz aus. Trotzdem schaffte sie es noch, rational zu denken. Ihr Psychologe hatte ihr schon vor einiger Zeit gesagt, dass ihre stärkste Kraft die Vernunft sei. An diesem Tag dankte Sara dem Schicksal für diese Eigenschaft. Torsten Venngren war der Einzige, dem sie voll und ganz vertraute. Er schaffte es, Menschen dazu zu bringen, alles von sich preiszugeben, ohne dabei jemals kränkend oder auch nur respektlos zu sein. Das machte ihn zum besten Vernehmungsleiter, den Sara in all den Jahren kennengelernt hatte.
»Gut. Ich rufe dich an, sobald ich Näheres weiß. Immer mit der Ruhe, es wird sich schon alles klären«, versprach Torsten, konnte seine Besorgnis aber nicht hinter seinem Lächeln verbergen.
Lieb von dir, Torsten, dachte Sara, nickte aber nur und ging wieder ans Werk.
Die Inspektoren Jörgen Berg und Rita Anker klopften an die Türen in der Grönegatan. Aus Erfahrung wussten sie, dass es besser war, keine Zeit zu verlieren. Vor dem Tor zum Grundstück, auf dem der Polizeihund die Fährte verloren hatte, hing bereits blau-weißes Absperrband, und auf der Straße stand ein uniformierter Polizist Wache. Weder Jörgen noch Rita gingen hinein. Zuerst musste die Spurensicherung vor Ort gewesen sein. Der Polizist war ohnehin der Ansicht, dass niemand das Gebäude verlassen könne, da es keinen Hinterausgang gab.
Alle Verbrechen, die nicht innerhalb von ein oder zwei Wochen aufgeklärt wurden, liefen Gefahr, sich in die Riege ungeklärter Kriminalfälle einzureihen, die in den Polizeiarchiven vor sich hin moderten. Jörgen und Rita arbeiteten unermüdlich, Rita etwas schneller als ihr Kollege, aber sie beide spürten den Druck, der auf ihnen lag. Ein Anwohner nach dem anderen öffnete ihnen die Tür, oft noch schlaftrunken und nur mit einem Bademantel bekleidet. Eine Ausnahme gab es: einen Mann, der schon Trainingshose und ein T-Shirt aus seidigem Material trug und sagte, dass er früh mit der Arbeit beginne und zuvor noch ein Lauftraining absolvieren müsse.
»Die Tageszeit ist perfekt zum Laufen, und hell ist es auch schon«, betonte er. Rita musterte den Mann in der Tür mit Skepsis. Er baute sich mit angespannten Oberarmmuskeln und geschwellter Brust vor ihr auf. Rita wusste nicht, ob das bewusst und einstudiert war, aber sie konnte ihn instinktiv nicht ausstehen.
»Sie haben nicht zufällig jemanden hier draußen vorbeigehen sehen?«, fragte sie. »Immerhin gehen Ihre Fenster zur Straße hinaus.«
»Nein, oh nein, dafür ist es doch viel zu früh«, antwortete der Mann. »Ist etwas passiert?«
Die Frage war berechtigt, aber Rita verspürte nicht das Bedürfnis, sie zu beantworten. Jörgen Berg hingegen schien ihr Misstrauen nicht zu teilen. Er musterte das Muskelpaket in der Tür mit unverhohlenem Interesse. Rita versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Kollegen zu erregen, aber sein Blick verriet, dass ihn die Statur seines Gegenübers mehr beeindruckte als der Instinkt seiner Kollegin.
»Ein Mädchen ist übel zugerichtet worden, und der Täter scheint über die Grönegatan geflüchtet zu sein«, erklärte er.
Rita kniff Jörgen in die Seite. Mit wütendem Blick drehte er sich um und wand sich aus Ritas Griff.
»Wie schrecklich«, kommentierte der Mann, und Rita musterte ihn prüfend. Ihr Polizeiblick erfasste einen nervenaufreibend selbstgerechten Typen. Irgendetwas in seiner Mimik passte nicht zu dem, was er sagte. War das etwa der Anflug eines Lächelns, das sich für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Lippen gestohlen hatte? Oder hatte sie sich geirrt? Rita schaute genauer hin, konnte aber keine Spur eines Lächelns mehr erkennen. Dennoch läuteten die Alarmglocken in ihrem Kopf – wenigstens leise.
Jörgen Berg nickte betroffen und schüttelte dann die Hand des Mannes.
»Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben«, sagte er.
Rita nickte nur. Dann schloss sich die Tür hinter ihnen und sie traten wieder hinaus auf die Straße.
»Der wirkte harmlos«, sagte Jörgen.
»Irgendwoher kenne ich ihn«, gab Rita nachdenklich zurück.
Sie zerbrach sich eine Weile den Kopf.
»Vielleicht ist daran auch gar nichts Seltsames, immerhin wohnen wir in derselben Straße. Aber nein, für harmlos halte ich ihn nicht. Er hat unnatürlich auf mich gewirkt. Deshalb habe ich dich auch gekniffen. Ich wollte nicht, dass du ihm zu viel sagst. Aber nein, du verstehst den Wink nicht und plapperst weiter, als sprächest du mit dem Papst höchstpersönlich. Hast du nichts aus deinen fünfzehn Jahren als Fahnder gelernt?«
»Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Reg dich doch nicht so auf.«
Jörgen Berg zuckte die Schultern und fragte sich, ob es daran lag, dass er Frauen noch nie richtig durchschaut hatte. Aber andererseits war ihm Rita ähnlicher als so manch männlicher Kollege.
»Wie sah er aus?«, fragte Sara, als sie ihr telefonisch Bericht erstatteten.
»Überspannt«, antwortete Rita, »und athletisch gebaut. Er sagte, er sei Bauarbeiter und beginne früh mit der Arbeit. Vorher wolle er noch joggen gehen. Wenn du mich fragst, hatte er etwas Unangenehmes an sich. Etwas … Unnatürliches.«
»Kannst du das genauer beschreiben?«
»Nein, nicht wirklich … aber wahrscheinlich hatte es etwas mit seinem Blick zu tun. Auf jeden Fall will er nichts gehört oder gesehen haben.«
»Okay«, antwortete Sara.
»Und wie geht es dir?« Rita machte sich mehr Sorgen um Sara als um Johannes. Sie kannte die Familie Vallén gut und zweifelte nicht an Johannes’ Unschuld.
»Ich mache mir keine Sorgen, ich weiß, dass er nichts getan hat«, sagte Sara. »Aber ich will jetzt nicht darüber sprechen. Später. Was hat Jörgen von dem Typen gehalten?«
»Jörgen ist nichts aufgefallen, also bilde ich mir vielleicht nur etwas ein.«
Rita hielt einen Augenblick inne.
»Er ist gerade hier entlanggelaufen, also hat er dahingehend immerhin nicht gelogen«, sagte sie dann, als sie den Mann mit langen Schritten auf die Gyllenkroks Allé abbiegen sah. Widerwillig musste sie zugeben, dass es sie beeindruckte, wenn jemand sich so früh am Morgen zum Laufen motivieren konnte.
»Ich fahre zum Krankenhaus und versuche, die Identität des Mädchens festzustellen«, sagte Sara zu Malva, die sich gerade mit dem Funkgerät beschäftigte.
Sara warf einen Blick zu den Kollegen von der Spurensicherung. Sie konnte sie guten Gewissens sich selbst überlassen. Neben ihnen lagen Papiertüten mit Kleidung, kleinere Tütchen mit Wattestäbchen, gesicherten Sperma- und Blutproben. Der Fliederzweig lag gesondert für sich. Das Zungenstück war mit ins Krankenhaus genommen worden. Die weiß gekleideten Männer gingen schweigend umher, die Blicke suchend auf den Boden gerichtet.
Malva nickte Sara zu, während sie aufmerksam den Funkverkehr verfolgte.
»Wenn die Spurensicherung fertig ist, können Sie die Absperrungen entfernen«, bemerkte Sara und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen.
Kaum, dass sich die Autotür hinter ihr geschlossen hatte, kamen die Tränen. Sara legte die Stirn ans Lenkrad, umklammerte es mit den Händen und schluchzte aus tiefstem Herzen wie ein unglückliches Kind. Den Schrei, der sich in ihrer Brust aufbaute, unterdrückte sie, damit keiner ihrer Kollegen etwas von ihrem Ausbruch mitbekam. Nach ein paar Minuten richtete sie sich auf, warf einen Blick in den Rückspiegel und strich sich mit zitternden Händen übers Gesicht. Sie tätschelte ihre Wangen, um ihnen wieder etwas Farbe einzuhauchen. Dann sortierte sie ihre Gedanken und startete den Wagen.
»Sie hat ein schweres Trauma oder auch mehrere Traumata. Deswegen hat man viele Ärzte herangezogen«, sagte die Krankenschwester mit ernstem Blick zu Sara Vallén.
»Und was geschieht jetzt?«, fragte Sara.
Die Krankenschwester seufzte beklommen.
»Die Erstversorgung und lebensrettenden Maßnahmen haben die Chirurgen und das medizinische und gynäkologische Personal zusammen mit dem Anästhesisten eingeleitet. Anschließend wurde sie von Neurologen, Orthopäden und Hals-Nasen-Ohren-Ärzten behandelt. Am wichtigsten war es allerdings zunächst, das Mädchen zu stabilisieren.«
»Kann ich nach ihr sehen?«, wollte die Kommissarin wissen.
»Jein. Sie können mit mir zur Notaufnahme kommen, und wir schauen mal, ob wir einen Blick auf sie werfen können.«
»Wurde sie schon identifiziert?«
»Nein, nein«, antwortete die Krankenschwester. »Dafür war beim besten Willen keine Zeit. Außerdem war sie nackt und wir hatten nichts, was uns dabei hätte helfen können.«
Sara Vallén folgte der Krankenschwester, die in Richtung der Notaufnahme davonhuschte. Durch ein kleines Fenster konnte Sara mit ansehen, wie Ärzte, Krankenschwestern und Pflegeassistenten die Patientin belagerten. Am Kopf des Mädchens stand eine Ärztin und drückte langsam auf eine Blase, die an einem im Rachen des Mädchens steckenden Schlauch hing.
»Was ist das?«, fragte Sara.
»Ein Ambu-Beutel«, erklärte die Schwester und führte auf Saras fragende Miene hin aus: »Das ist ein Beatmungsbeutel, mit dem Luft und Sauerstoff in die Lungen des Mädchens gepumpt werden können.«
»Und dann?« Sara spürte, wie ein Gefühl des Unbehagens von ihr Besitz ergriff. An Johannes dachte sie im Moment überhaupt nicht. Gerade war sie ausschließlich Polizistin.
»Dann wird noch einiges passieren«, antwortete die Krankenschwester. »Ihr Kopf wurde bereits geröntgt und die Ärzte sehen sich gerade die Bilder an. Vielleicht muss ihr Schädel noch geöffnet werden. Sie soll so schnell wie möglich auf die neurologische Intensivstation verlegt werden. Der Gynäkologe hat die Verletzungen im Unterleib untersucht, aber Sie verstehen sicher, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis wir alles überprüft haben. Das Mädchen hat viele Verletzungen.«
Sara Vallén machte eine resignierende Geste und wandte sich vom Fenster ab.
»Muss sie leiden?«
»Im Moment gerade nicht, sie wurde in Narkose versetzt, obwohl sie schon bewusstlos war, als sie eingeliefert wurde.«
Die Schwester tätschelte Saras Schulter.
»So etwas ist selbst für die abgebrühtesten Polizisten oder Krankenschwestern schwer zu verkraften«, sagte sie.
Als Sara das Krankenhaus verließ, spürte sie, wie müde sie war. Bis ins Mark. Eine Stunde Schlaf sollte sie sich wenigstens gönnen. Immerhin etwas, dachte sie.
Johannes Vallén saß in einer Zelle, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Er hatte keine Ahnung, was gerade vor sich ging – absolut keine. Warum war er hier? Sie hatten ihm gesagt, er solle verhört werden, weil er sich an dem Fundort des Mädchens aufgehalten hatte. Aber wenn er doch nur ein Zeuge war, warum hockte er jetzt in einer Zelle, die nach Urin und Erbrochenem stank?
Er hatte Bauch- und Kopfschmerzen vor Angst, und plötzlich konnte er den Brechreiz nicht länger zurückhalten und übergab sich.
»Hilfe«, rief er. »Hilfe!«
Ein Wachmann kam herbeigeeilt und riss die Tür auf.
»Was zum Teufel treibst du hier?«
»Ich habe solche Kopfschmerzen«, klagte Johannes. Sein schlaksiger Körper zitterte heftig.
Nach einem kurzen Blick auf ihn lief der Wachmann los.
Einige Zeit später wurde die Zellentür erneut geöffnet und ein Mann in einem weißen Kittel trat ein. Er schaute Johannes freundlich an, wandte sich an den Wachmann und bat ihn, schnell jemanden zu holen, der in der Zelle sauber machte, damit man sich dort wieder aufhalten könne.
»Von der UN-Menschenrechtserklärung haben Sie ja vielleicht schon gehört«, schloss er seine Anordnung brüsk ab.
Dann untersuchte er Johannes und wies die Justizvollzugsbeamten an, einen Krankenwagen zu rufen.
»Der Junge muss zum Röntgen ins Krankenhaus gebracht werden«, war alles, was er sagte.
»Papa«, stieß Johannes aus, als Göran Vallén den Raum betrat. »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich habe nichts getan. Das schwöre ich!«
»Natürlich hast du das nicht«, versicherte ihm Göran und versuchte, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen.
Torsten Venngren erhob sich von seinem Stuhl am Fenster.
»Torsten Venngren, wir sind uns schon einmal begegnet. Ein Anwalt wird auch bald hier sein«, sagte er und streckte Göran die Hand entgegen.
»Aber ich habe nichts getan«, wiederholte Johannes. »Ich würde niemals jemanden verletzen. Ich hasse es, mich zu prügeln. So etwas würde ich niemals über mich bringen. Ich weiß nicht einmal, wer das Mädchen ist.«
Johannes hatte das Gefühl, als schnürte es ihm die Kehle zu. Ihm war immer noch übel, und er meinte, sein Kopf würde explodieren.
Göran sah die Panik in den Augen seines Sohnes, und er zog ihn fest an sich.
»Alles wird gut«, flüsterte er dem Jungen ins Ohr. Der besorgte Blick von Torsten Venngren entging ihm allerdings nicht.
Das Verhör begann, nachdem Abstriche von Johannes’ Wangeninnenseite genommen worden waren. Zum DNA-Abgleich, hatte Venngren gesagt. Nichts Gefährliches.
Johannes durfte frei heraus sprechen, und Torsten hörte aufmerksam zu. Johannes erzählte, was er getan und nicht getan hatte. Die hinzugerufene Anwältin schwieg, und Göran Vallén gab sich größte Mühe, es ihr gleichzutun. Aber Torstens Fragen waren nicht urteilend. Er stellte sie mit der üblichen emotionslosen Gewohnheit eines geübten Vernehmungsleiters.
Johannes hatte seinen Freund Axel besucht und war bis fast zwei Uhr nachts bei ihm geblieben. Da der nächste Tag ein Schultag war, hatte Johannes schließlich beschlossen, nach Hause zu gehen. Vielleicht ein bisschen spät, aber immerhin. Er war die Grönegatan entlanggegangen, hatte die Gyllenkroks Allé überquert und war anschließend über den Damm am Stadtpark gelaufen. Die Straße war menschenleer, und Johannes hatte niemanden gehört oder gesehen, bis er den Park auf der Höhe der Mejeriet durchqueren wollte und die nackten Füße aus dem Gebüsch ragen sah. Warum seine Kleidung blutverschmiert war, konnte er sich nicht erklären, aber er ging davon aus, dass es passiert sein musste, als er sich über das Mädchen gebeugt hatte.
»Ich habe keine Ahnung, wer sie ist«, sagte er. »Ich habe nichts gesehen, abgesehen von dem Mädchen und einem Schatten auf der anderen Seite des Gebüschs. Dann ist alles dunkel geworden.«
»Was hast du gesehen?«
»Ich habe gesehen, dass sie aus dem Mund blutete und langsam atmete.«
»Welche Haarfarbe hatte das Mädchen?«
»Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht oder habe es nicht erkannt. Oder beides.«
»Was hast du gemacht, als du sie gefunden hast?«
»Ich habe den Notruf gewählt. Dann hat mich jemand niedergeschlagen. Ich schwöre es!«
Nach fast einer Stunde beendete Torsten das Verhör. Der Junge musste sich dringend ausruhen.
Torsten verließ das Krankenhauszimmer und griff nach seinem Telefon. Dann rief er den diensthabenden Staatsanwalt an.
»Und?«, fragte der Staatsanwaltschaft auffordernd, als Torsten die Geschichte des Jungen wiedergegeben hatte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es war. Er hat eine Verletzung, weil man ihn niedergeschlagen hat, eine Gehirnerschütterung und gebrochene Rippen«, zählte Venngren auf, der sich vollkommen sicher war, was Johannes’ Unschuld anbelangte. Selbst ohne seine Verletzungen war der Junge viel zu schwach und wies außerdem keine aggressiven Verhaltensmuster auf.
»Okay«, sagte der Staatsanwalt. »Aber wir behalten ihn erst einmal bei uns, bis wir die Ergebnisse der verschiedenen Tests haben. Um 6 Uhr 22 wird Haftbefehl erlassen.«
Der Staatsanwalt beendete das Gespräch mit weiteren Anweisungen an Venngren, seufzte dann tief und meinte, er werde jetzt nach Hause gehen und schlafen. Das war ein deutliches Zeichen dafür, dass er nicht weiter gestört werden wollte.
Torsten Venngren wunderte sich, widersprach aber nicht, sondern notierte sich den Beschluss auf dem entsprechenden Formular. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei, wusste aber, dass es keinen Grund gab, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Wenn der Staatsanwalt eine Entscheidung getroffen hatte, dann gab es daran nichts zu rütteln. Venngren hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass man Staatsanwälte und ihre Beschlüsse nicht infrage stellte. Vor allem nicht, wenn es sich um schwere Straftaten handelte, bei denen die Staatsanwaltschaft immer lieber auf Nummer sicher ging.