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Ein tödliches Spiel der Schuld … Inmitten der blühenden Schrebergärten der schwedischen Universitätsstadt Lund wird die Leiche eines Mannes gefunden, grausam entstellt, als habe man ihn zu Tode gefoltert. Wer könnte einen derartigen Hass auf den engagierten Sozialarbeiter Tobias Klingström gehabt haben? Schon bald fällt der Verdacht auf die Eltern seiner Freundin Samira, die gegen ihre Beziehung waren – doch Kommissarin Sara Vallén zweifelt an Tobias’ scheinbar makellosen Fassade: Immer tiefer taucht sie ein in die Vergangenheit des Toten und stößt schon bald auf ein düsteres Kapitel, voll von Machtmissbrauch, Gewalt und einem unkontrollierbarem Hass, der noch immer zu brodeln scheint … Band 2 der Sara-Vallén-Thrillerserie, die alle Fans der Scandi-Crime-Bestseller von Stieg Larsson begeistern wird. Als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 354
Über dieses Buch:
Inmitten der blühenden Schrebergärten der schwedischen Universitätsstadt Lund wird die Leiche eines Mannes gefunden, grausam entstellt, als habe man ihn zu Tode gefoltert. Wer könnte einen derartigen Hass auf den engagierten Sozialarbeiter Tobias Klingström gehabt haben? Schon bald fällt der Verdacht auf die Eltern seiner Freundin Samira, die gegen ihre Beziehung waren – doch Kommissarin Sara Vallén zweifelt an Tobias’ scheinbar makellosen Fassade: Immer tiefer taucht sie ein in die Vergangenheit des Toten und stößt schon bald auf ein düsteres Kapitel, voll von Machtmissbrauch, Gewalt und einem unkontrollierbarem Hass, der noch immer zu brodeln scheint …
»Racheschrei« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Die schwedische Krimiautorin Cecilia Sahlström hat vor ihrer Schriftstellerkarriere viele Jahre bei der Polizei gearbeitet. Ihr Debüt "Weißer Flieder" wurde vielfach für die präzise Schilderung der Polizeiarbeit gelobt.
Die Website der Autorin: ceciliasahlstromforfattare.blogspot.com/
Die Autorin bei Facebook: facebook.com/publicceciliasahlstrom/
Die Autorin auf Instagram: @cecilia_sahlstrom_forfattare
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre abgründigen Sara-Vallén-Thriller »Puppenopfer« und »Racheschrei«. Beide Bücher sind auch bei SAGA im Print und als Hörbuch erschienen.
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eBook-Ausgabe Juli 2024
Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem Originaltitel » I egna händer « bei SAGA Egmont, Kopenhagen.
Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2018, 2022 Cecilia Sahlström und SAGA Egmont
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2018, 2022 SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Studio Light and Shade, Mathias Kilman
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98952-071-4
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Cecilia Sahlström
Racheschrei
Thriller
Aus dem Schwedischen von Alina Becker
dotbooks.
»Endlich«, flüsterte er.
Endlich. Er küsste sie, drückte sie an sich und spürte, wie sich seine Wärme auf ihren Körper übertrug.
Ihre Atmung beruhigte sich. Sein Duft, seine Lippen auf den ihren und sein ruhiger Herzschlag lösten ihre Angst und Verspannung. Große Hände strichen über ihr Haar.
Überall auf dem Boden lagen ihre Kleider verstreut.
Ihre nackten Körper bewegten sich in rhythmischem Einklang. Sie kam lange vor ihm zum Höhepunkt, und nachdem auch er gekommen war, war es an der Zeit, dass sie sich verabschieden mussten. Von Mal zu Mal wurde es schmerzhafter.
Dann schlenderte sie durch die Straßen Hörbys nach Hause, ging den Slagtoftavägen entlang und bog nach rechts in die Storgatan ein. Die Nachtluft war erfrischend kühl, und die Sterne funkelten vom schwarzen Himmel herab. Sie kam am Autohaus Månsson vorbei, das um diese Uhrzeit natürlich wie ausgestorben wirkte, aber wie immer machte sie sich Sorgen, dass jemand sie sehen, ihr vielleicht sogar folgen könnte – dass jemand erfuhr, was sie getan hatte. Ein Gefühl des Unbehagens ergriff von ihr Besitz. Ein nicht unbekanntes Gefühl. Seit sie ihn kennengelernt hatte, den Mann ihrer Träume, war es ihr nächtlicher Begleiter, über all die Wochen, Monate hinweg. Sie ballte die Fäuste, kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Traute sich kaum zu atmen. Ihr Blick wanderte umher und suchte wie ein Scheinwerfer die Umgebung ab. Sie witterte Gefahr, war sich aber nicht sicher, wovon die Gefahr ausging. Und wovon nicht.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein knirschendes Geräusch. Wie von schweren Schritten auf Kiesboden. Ihr Herz begann zu rasen, und sie drehte sich so hastig um, dass ihr der lange geflochtene Zopf über den Rücken tanzte. Es war niemand zu sehen. Sie versuchte wiederholt, sich davon zu überzeugen, dass sie sich alles nur einbildete, blieb aber dennoch einen Moment stehen, um ihren Puls zu beruhigen und abzuwarten, dass das Rauschen in ihrem Kopf sich legte. Dann eilte sie leise weiter, vorbei an Sandahls Modehaus, über den Gamla torg, den Alten Platz, bis sie endlich ihr Zuhause erreicht hatte.
Sie kroch ins Bett, von Liebe erfüllt, aber immer noch mit einem angstvollen Pochen in der Brust. Ihre Eltern schliefen, und das Schnarchen ihres Vaters drang bis in ihr Zimmer, obwohl sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Tobias ging schnellen Schrittes hinaus auf den Parkplatz, öffnete die Autotür und zog den Kopf ein, um sich auf den Fahrersitz setzen zu können. Hinter sich hörte er ein Geräusch, aber ihm blieb keine Zeit, nachzusehen, was oder wer das sein könnte, denn schon klemmte irgendetwas seinen Kopf wie in einem Schraubstock ein. Er bekam keine Luft mehr, und ihm wurde schwindelig. Das Ding um seinen Hals war ein langer, kräftiger Arm. Vor Tobias’ Augen flackerte es, und ein Gedanke versuchte erfolglos, sich den Weg durch sein Gehirn zu bahnen.
Tobias glaubte, wissen zu müssen, wer ihn da gefangen hielt, kam aber so schnell nicht darauf.
Je mehr er sich bemühte, sich aus dem Griff zu befreien, desto fester packte der andere seinen Hals und desto weniger Luft drang in seine Lungen. Er versuchte, durch die Nase zu atmen und sich nicht von der Angst übermannen zu lassen. Tobias war selbst groß und kräftig, aber offensichtlich war der Mann, der ihn festhielt, noch größer. Schließlich blieb Tobias nichts anderes übrig, als sich zu entspannen, um atmen, seine Gedanken sortieren und schlussendlich handeln zu können.
Auch der Mann hinter ihm holte tief Luft, und sein warmer Atem kitzelte Tobias im Nacken, während ein stechender Geruch nach Schweiß aufstieg, vermischt mit dem Aroma eines penetranten Herrenparfums.
»Du wirst sie nie wieder sehen«, zischte der Mann in Tobias’ rechtes Ohr.
Sein Atem roch metallisch.
Sie. Natürlich ging es um sie. Tobias versuchte zu antworten, brachte aber nichts heraus.
»Ich warne dich nur ein einziges Mal.«
In Tobias’ Kopf rauschte und summte es. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf.
»Sieh nicht hin«, zischte die Stimme.
Der Druck an Tobias’ Kehle ließ nach. Dann entfernten sich die dumpfen Schritte des Mannes immer weiter, aber Tobias wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren.
Die Autotür stand noch offen, und sein Handy lag auf dem Sitz. Er wählte den Notruf, überlegte es sich dann aber anders, stieg stattdessen ins Auto, fuhr vom Parkplatz und bog nach links auf den Slagtoftavägen ab. Von dort aus fuhr er etwa einen Kilometer weit bis zur Auffahrt zur E22 und bog dann nach links in Richtung Lund ab. Plötzlich begannen seine Beine so stark zu zittern, dass er rechts ranfahren und am Straßenrand halten musste. Im selben Moment klingelte sein Handy.
Kommissarin Sara Vallén wachte langsam auf und tastete nach ihrem Handy. Sie atmete erleichtert auf, als sie auf dem Display sah, dass es erst acht Uhr war. Durch die Schlitze der Jalousien fielen die Sonnenstrahlen genau auf den Spiegel an der kurzen Seite des Raumes. Das ließ hoffen. Ein schöner Herbsttag, dachte Sara und streckte sich im Bett aus.
Heute würde sie im Prozess gegen Peter Matsson aussagen. Die Verhandlung hatte mehrere Tage gedauert, und dies war der vorletzte. Morgen standen noch die Schlussplädoyers an, dann war alles vorbei, und Sara würde weitermachen können. An den anderen Tagen war es um all die Jahre gegangen, in denen Matsson seine Frau misshandelt hatte. Sara verspürte ehrliches Mitleid mit ihr, auch wenn es sie verärgerte, dass Linda Matsson das alles so lange mit sich hatte machen lassen. Nach so vielen Jahren bei der Polizei wusste Sara, wie schwierig es für Frauen sein konnte, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu befreien. Der Prozess der Normalisierung war anstrengend. Sieh dich doch selbst an, dachte Sara und strich sich die kitzelnden Haare aus dem Gesicht.
Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und versuchte im wahrsten Sinne des Wortes, das Gefühl des Unbehagens abzuschütteln, das schwer auf ihren Schultern lastete. Der Angstknoten in ihrem Magen war allerdings nicht so einfach loszuwerden.
Der Sommer lag noch nicht allzu weit zurück, aber für Sara fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Oder wie ein ganzes Leben. Sie würde diesen Sommer nie vergessen. Den wahrscheinlich schlimmsten, den sie je erlebt hatte. Dieser kummervolle Junge, der mehrere Morde begangen und sich dann erschossen hatte. Saras Sohn Johannes, der wegen eines Verbrechens verhaftet worden war, das er nicht begangen hatte. Und dann noch Peter Matsson, der Kollege, in den sie sich verliebt hatte, bevor er sich als Teufel hinter der heimtückischen Maske eines Charmeurs entpuppte. Aber die würde sie ihm heute herunterreißen.
Allerdings hatte ihr dieser Sommer auch bewusst gemacht, wie fragil das Leben war und wie wichtig es war, zusammenzuhalten.
Sara stieg unter die Dusche und entspannte sich unter dem fast brühendheißen Wasser. Sie betastete ihre Brüste, die ganz weich waren. Das hatte sie sich angewöhnt, seit sie angefangen hatte, zur Mammografie zu gehen. Also auch heute kein Brustkrebs, dachte sie, während sie das Wasser abstellte.
Ihre Kleider hatte sie sich bereits zurechtgelegt, aber irgendwie war sie nicht zufrieden. Sie holte ein anderes Outfit aus dem Schrank. Nein, das war auch nicht ideal. Schließlich entschied sie sich für eine schwarze Jeans, ein weißes Oberteil und einen schwarzen Blazer. Sie nahm die Stiefel aus dem Schrank, die sie in Simrishamn gekauft hatte, und stellte sie in den Flur. »Na, sieh mal einer an«, hatte Jonny Svensson gesagt, als sie damit auf der Arbeit erschienen war. Sara lächelte beim Gedanken daran. Sie hatte sich nicht umsonst in die schwarzen, mit leuchtenden Farben bestickten Stiefel verliebt.
Sara eilte die Kalendegatan entlang und betrat das Bezirksgericht Malmö. Sie winkte dem Rezeptionisten zu und nahm mehrere Stufen auf einmal die Treppe hinauf. Dort wartete die Anwältin Marit Ståhl auf sie.
»Verdammte Stadt. Keine vernünftigen Parkplätze. Und jede Menge Wächter von Q-Park.«
»Tja, so ist das eben in den Städten. Gut, dass ich das Fahrrad nehmen kann. Haben Sie über Ihre Zeugenaussage nachgedacht?«
»Ja«, antwortete Sara. »Ich fasse es immer noch nicht, dass ich in diesen Typen verknallt war. Und dass ich trotz meiner jahrelangen Erfahrungen mit Gewaltverbrechen so verblendet war.«
»Nun ja«, sagte die Anwältin mit einem freundlichen Lächeln. »Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Nein, das stimmt«, gab Sara zu und lachte bitter auf. »Aber es fällt mir trotzdem schwer, das zu akzeptieren. Immerhin habe ich die Zeichen schon nach kurzer Zeit erkannt. Und trotzdem.«
Sara verstummte. Der Sonderstaatsanwalt für Polizeiangelegenheiten, Stig Malmsten, trat im gleichen Moment in den Wartesaal wie Peter Matsson und dessen Verteidiger, und der Fall wurde aufgerufen. Sie alle betraten den Gerichtssaal und ließen sich auf den vorgesehenen Plätzen nieder. Die Staatsanwältin, Sara Vallén und Anwältin Marit Ståhl auf der einen Seite, Peter Matsson und sein Verteidiger auf der anderen.
Sara wäre es lieber gewesen, Peter nicht ansehen zu müssen, aber sie zwang sich dazu und hielt seinem Blick stand, bis er sich abwandte.
Obwohl es eiskalt im Saal war, glühten Saras Wangen. Sie erinnerte sich an die tröstenden Worte ihrer Freundin Rita Anker: So etwas passiert den Besten. Nicht dir sollte es peinlich sein, sondern ihm.
Der Staatsanwalt trug seine Anklage vor, Matssons Anwalt seine Verteidigung. Dann sagten Rita Anker und Peter Matssons Kollegin Malva Gran aus. Anschließend der Gerichtsmediziner. Die Zeit kroch nur langsam voran. Als Sara von dem Verteidiger in die Mangel genommen wurde, konnte sie ihre Wut nur schwer zurückhalten.
»Bestimmt haben Sie Peter Matsson provoziert«, eröffnete der Verteidiger die Befragung und deutete auf den Angeklagten.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich stelle hier die Fragen«, blaffte der Verteidiger.
»Ich kann nicht antworten, wenn ich Ihre Frage nicht verstehe«, gab Sara mit grimmigem Blick zurück.
»Ich formuliere meine Frage neu«, sagte Matssons Anwalt und lehnte sich zurück. »Fällt es Ihnen schwer, Ihr Temperament zu zügeln?«
Sara starrte ihn an. »Schwer? Nein.«
»Aber Sie machen doch Judo, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Sie haben Ihre Fähigkeiten in einem anderen Zusammenhang schon einmal gegen einen Mann eingesetzt?«
»Ja. Gegen einen Mann, der mich angegriffen hat.«
»Also fällt es Ihnen schwer, sich zu kontrollieren? Immerhin haben Sie Peter Matsson misshandelt.«
»Was?«
Der Richter drehte sich um und runzelte die Stirn. Die Staatsanwältin stand auf, wurde aber aufgefordert, sich wieder zu setzen.
»Würde der Herr Verteidiger mir bitte sagen, worauf er hinauswill?«, fragte der Richter.
»Selbstverständlich. Peter Matsson weist Verletzungen auf, die auf Gewalteinwirkung hinweisen. Diese Verletzungen sollen ihm von der Klägerin Sara Vallén zugefügt worden sein. Hat Sara Vallén also Schwierigkeiten damit, sich unter Kontrolle zu halten? Das dürfte ja nun nicht das erste Mal sein.«
Sara traute ihren Ohren nicht.
Die Staatsanwältin erhob sich erneut.
»Was sollen das für Verletzungen sein, von denen wir noch nie etwas gehört haben?«, fragte sie und rang die Hände.
»Ja, von welchen Verletzungen sprechen Sie?«, fragten Marit Ståhl und der Richter wie aus einem Mund.
»Ich möchte einige Bilder als Beweismaterial vorlegen.«
Der Richter nickte und ließ sich vom Anwalt einen Stapel Fotos reichen. Auch an die Staatsanwältin und Marit Ståhl wurden Kopien ausgehändigt. Die Bilder waren mit einem Datum versehen – dem Datum, an dem auch Sara beim Arzt gewesen war, um ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. Neben Peters rechtem Auge und an seinem rechten Schlüsselbein war jeweils eine Platzwunde zu erkennen sowie ein Bluterguss an seinem Kinn, nicht größer als eine Öremünze.
Der Richter wirkte ausgesprochen unzufrieden.
»Was soll das werden, Herr Verteidiger? Ich darf doch um ein Mindestmaß an Sinn und Verstand bitten. Die Zeugin muss die Frage nicht beantworten.« Der letzte Satz des Richters war an Sara gerichtet.
»Freie Beweisführung«, widersprach der Anwalt und verzog das Gesicht, als wäre ihm übel.
»Der Herr Verteidiger will offenbar suggerieren, dass das Gezeigte in einem angemessenen Verhältnis zu der Gewalt stünde, der Sara Vallén ausgesetzt war. Wie ich schon sagte, ein wenig Sinn und Verstand wäre wünschenswert.«
Der Anwalt erhob Einspruch gegen die Worte des Richters, erhielt aber keine Antwort und gab auf.
Die Anhörung dauerte den ganzen Tag. Saras Anwältin plädierte auf Schmerzensgeld. Als Sara endlich den Gerichtssaal verlassen konnte, atmete sie erleichtert auf, und ein Teil der Anspannung fiel von ihr ab. Anwältin Ståhl tätschelte ihr sanft den Arm.
»Es ist gut gelaufen«, sagte sie.
»Ja, aber das war verdammt anstrengend.«
»Das kann ich verstehen. Wir hören nach den Schlussplädoyers voneinander.«
Der Staatsanwalt hatte nicht einmal erwogen, Matsson wegen etwas anderem als schwerer Körperverletzung an Frauen anzuklagen, und sie alle waren davon überzeugt, dass es zu einer Verurteilung kommen würde, sowohl im Fall von Matssons Frau als auch in Saras Fall.
Bevor Sara nach Hause fuhr, rief sie Rita an. »Bin nicht wirklich erleichtert. Fühle mich nur leer. Leer und traurig, aber danke, dass du da warst«, sagte sie auf Ritas Frage, wie sie sich fühle.
»Klar, das ist wahrscheinlich eine ganz normale Reaktion«, erwiderte Rita. »Was passiert ist, ist passiert. Mehr können wir jetzt nicht mehr tun. Aber das war uns ja bewusst.«
»Stimmt. Aber das Wichtigste ist schon einmal, dass er mit hundertprozentiger Sicherheit nicht mehr bei der Polizei arbeiten wird. Und das ist gut. Dort hat er nämlich wirklich nichts verloren.«
Sara war auf dem Weg nach draußen, um in der Stadt zu Mittag zu essen. Den ganzen Morgen über hatte das Telefon geklingelt. Sie musste sich beeilen. Als sie die Tür zufallen ließ und den ersten Schritt die Treppe hinunter tat, klingelte es schon wieder.
»Hallo, hier ist Marit Ståhl.«
»Hallo.«
»Haben Sie eine Minute Zeit?«
»Ja, natürlich. Wurde das Urteil gesprochen?«
»Ja, er wurde zu einer Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er dem Polizeidisziplinarausschuss PAN zufolge aus dem Dienst entlassen wird. Und Ihnen wird eine Entschädigung von fünfundzwanzigtausend Kronen zugesprochen.«
Sara schnaubte.
»Ein Jahr und vier Monate. Das bekommt er dafür, dass er jahrelang seine Frau verprügelt hat? Und mich ebenfalls? Das ist nicht gerade ein Grund zur Freude.«
»So kann man es natürlich auch sehen, aber es ist immer noch eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass nicht alle Vorfälle genau geschildert und belegt werden konnten. Aber er wird aus dem Dienst entlassen und in Zukunft keinen Beruf mehr ausführen dürfen, in dem er mit Menschen zu tun hat.«
Sara wiederholte ihr Schnauben. »Natürlich. Aber trotzdem. Hat er überhaupt Geld? Welche Entschädigung hat Linda Matsson zugesprochen bekommen?«
»Sie bekommt siebzigtausend Kronen.«
Sara hörte die Ablehnung in Marit Ståhls Stimme.
»Siebzigtausend, das ist doch verrückt. Für so viele leidvolle Jahre.«
»Ich weiß.«
Sara fand, dass sich ihre Stimme wie eine alte knarrende Tür anhörte, und sie räusperte sich.
»Tja, jetzt ist es sowieso vorbei. Es sei denn, er geht in Berufung.«
»Das bleibt abzuwarten.«
»Mich würde es jedenfalls nicht wundern.«
»Nein, mich auch nicht. Aber wenn es so wäre, glaube ich nicht, dass sich das Urteil verändern würde. Höchstens vielleicht verschärfen.«
»Wer weiß. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Ich Ihnen auch, Sara. Bis dann«, beendete Marit Ståhl das Gespräch.
Sara erreichte das La Cucina in der Hantverksgatan, betrat das Restaurant und setzte sich an einen Tisch am Fenster.
Der Kellner brachte ihr die Speisekarte.
»Hallo und herzlich willkommen. Was kann ich Ihnen bringen? Pasta all’Arrabiata?«, fragte er mit einem Lächeln.
»Genau. Wie immer«, antwortete Sara. »Und Wasser mit Kohlensäure, bitte. Vielen Dank.«
Zurück im Büro setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Sie war mit einem ungelösten Fall beschäftigt, an dem sie sich schon seit Ewigkeiten die Zähne ausbissen. Aber immerhin ging es im Schneckentempo voran.
Um halb fünf beschloss Sara, Feierabend zu machen. Sie steckte schon mit einem Arm im Jackenärmel, als ihr Handy klingelte. Eine interne Nummer.
»Nicht schon wieder«, murmelte sie, nahm den Anruf aber dennoch an. »Sara Vallén, gerade auf dem Heimweg.«
»Hallo Sara, hier ist die Bezirkswache. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber ein älteres Ehepaar hat in der Kleingartenkolonie Västra Sommarstaden einen Toten gefunden. Sie sollten sich darum kümmern. Ich habe bereits eine Streife auf den Weg geschickt und die Spurensicherung benachrichtigt. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie da sind.«
»Ich kümmere mich darum«, antwortete Sara mit einem Seufzer und beendete das Gespräch, während sie auf den Korridor hinausging und ihre Kollegen zu sich rief. Rita steckte den Kopf durch ihre Bürotür.
»Toter Kerl im Schrebergarten«, erklärte Sara kurz angebunden.
Am Rand des Maskinvägens und auf einer kleinen Straße, die zu einer Grundschule hinaufführte, parkten mehrere Streifenwagen. Das Tor der Kleingartenanlage stand offen. Der Weg wurde durch einen Rettungswagen blockiert, und neben der entsprechenden Hütte wartete ein Polizeiauto. Das Blaulicht zuckte in den allmählich dunkler werdenden Himmel, und vor den Absperrungen hatten sich einige Schaulustige versammelt. Sara und Rita hoben das blau-weiße Flatterband an und betraten den herbstlichen Garten. In den Apfelbäumen hingen die reifen Früchte, und in den Beeten wuchsen Astern und Ringelblumen. Ein älteres Ehepaar stand auf dem Kiesweg nicht weit von der Hütte entfernt, eingewickelt in die hellblauen Decken der Notfallteams.
»Hallo«, sagte Sara, trat forschen Schrittes auf das Ehepaar zu und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Sara Vallén. Ich bin Kriminalkommissarin und leite die Ermittlungen. Das ist Inspektorin Rita Anker.« Sara zeigte auf ihre große, blonde und kräftige Kollegin, die ihr direkt auf den Fersen war.
»Roland Bruhn«, stellte sich der Mann fast tonlos vor.
»Anja Bruhn«, sagte seine Frau. Beim Nachnamen brach ihre Stimme. »Wir wissen gar nicht, was los ist. Wer würde denn so etwas tun?«
»Das wissen wir auch noch nicht«, antwortete Sara, während sie den dünnen Unterarm der Frau tätschelte, der unter der Decke hervorlugte. »Ich denke, Sie sollten mit dem Rettungswagen fahren. Dann sind Sie im Warmen und werden gut betreut. Wir reden dann später, das ist schon in Ordnung.« Sie nickte in Richtung des Fahrzeugs.
»Aber wir wollen nicht im selben Krankenwagen fahren wie der Tote«, wandte Anja Bruhn mit zitterndem Kinn ein. Sie biss die Zähne zusammen, um dem Beben entgegenzuwirken.
»Machen Sie sich da keine Sorgen«, beruhigte Sara die Frau. »Er braucht keinen Rettungswagen mehr. Der Tote wird in einem anderen Wagen abtransportiert.«
Anja Bruhns Mann verzog das Gesicht, und er fasste sich an die Brust. Einen Moment lang befürchtete Sara, er würde einen Herzinfarkt bekommen.
»Wir brauchen hier einen Sanitäter«, rief sie in Richtung des Rettungsteams, und einen Augenblick später kam eine Kollegin herbeigelaufen. Sara nickte in Roland Bruhns Richtung, und die Sanitäterin verfrachtete ihn gegen seinen Protest in den Krankenwagen. Anja Bruhn blieb stehen und schaute sich verwirrt um.
»Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung ist, aber jetzt sollten wir zum Rettungswagen gehen, damit Sie beide mitfahren können. Das ist wirklich das Beste. Kommen Sie mit mir.«
Ritas Ton war entschlossen, aber freundlich, und die Frau gab nach. Sara hingegen machte sich auf den Weg zum Schrebergartenhaus, an dessen Tür sie auf den Arzt traf.
»Verdammt.« Er schnitt eine Grimasse. »Der Tote hat unzählige Stichwunden am ganzen Körper, da muss eine irrsinnige Wut im Spiel gewesen sein. Und man hat ihm die Fingernägel ausgerissen, er wurde also gefoltert. Die Spurensicherung ist schon da, und die Leiche geht direkt in die Gerichtsmedizin.«
Er verzog wieder das Gesicht, nickte ihr zu und ging weiter. Sara beobachtete, wie er ihre Kollegin begrüßte, und grinste. Als der Arzt mit ihr gesprochen hatte, musste er einen Buckel machen, um sich zu ihr herunterzubeugen. Jetzt, im Gespräch mit Rita, stand er so steif da, als hätte er einen Besen verschluckt.
Einen Augenblick später gesellte sich Rita zu Sara, putzte ihre Schuhe auf der Fußmatte ab und legte Sara die Hand auf den Rücken, bevor sie die Hütte betraten.
Der Mann lag mitten auf dem Boden. Sara zuckte zusammen. Scheiße, dachte sie. Der Arzt hatte Recht gehabt. Der Typ war gefoltert worden.
»Oh, verflucht. Was ist das?«, rief Rita in ihrem derben Värmländisch aus.
Ove Ovesson, der leitende Kriminaltechniker, drehte sich um. Er stand über die Leiche gebeugt und stocherte in etwas herum, das nach Fingernägeln aussah. »Tja, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Und vorher hat der Mörder ihn gefoltert. Er hat Brandmale im Gesicht, und seine Nägel wurden herausgerissen. Mal sehen, was der Gerichtsmediziner zu den Genitalien sagt. Auf jeden Fall ist da Blut an der Hose.«
Polizeichefin Beatrice Larsson saß auf der Kante ihres Schreibtisches und ließ den Blick über Sara und die vier Kollegen schweifen, die Sara vorschriftsgemäß einberufen hatte. Larsson trommelte mit zwei Fingern gegen ihre linke Schläfe. Von ihrem Haaransatz löste sich eine Schweißperle.
»Das Opfer wurde noch nicht identifiziert, aber wir haben die Liste vermisster Personen durchsucht und sind zu einem möglichen Ergebnis gekommen: Ein Tobias Klingström wurde gestern als vermisst gemeldet, ist aber wahrscheinlich schon seit ein paar Tagen verschwunden. Die Beschreibung stimmt mit dem Toten überein, aber leider müssen wir noch die Eltern oder einen Elternteil bitten, ihn zu identifizieren. Das wird unschön werden. Sara?«
»Ja, wir setzen den ganzen Prozess sofort in Gang. Ich weiß nicht so recht, was ich von diesem Mord halten soll. Einerseits sieht es nach ungezügelter Wut aus, andererseits spricht die Folter für Kalkül und somit keineswegs für mangelnde Impulskontrolle.«
Sara schaute zu ihren Kollegen. Jonny Svensson war zusammen mit Torsten Venngren aus Malmö einbestellt worden. Jörgen Berg lehnte am Türrahmen, und Rita Anker stand am Fenster zum Innenhof.
»Hass«, stellte Rita fest und rang die Hände.
»Ja, wahrscheinlich«, stimmte Jörgen zu.
»Sehr wahrscheinlich«, wiederholte Sara. »Wir müssen am richtigen Ende ansetzen. Das heißt mit der Identifizierung.«
»Soll ich zuerst die Klingströms anrufen und sie ins Krankenhaus bitten?«, fragte Torsten Venngren.
Sara nickte. Das war das Naheliegendste. Torsten hatte ein Talent dafür, mit allen möglichen Leuten umzugehen. Und mit allen möglichen Gefühlsausbrüchen.
»Du überprüfst Tobias Klingström. Was über ihn bekannt ist, mit wem er in Kontakt stand und so weiter«, sagte Sara und deutete auf Jörgen, der die Lippen schürzte.
»Wir wissen doch noch gar nicht, ob er es ist.«
»Das ist im Moment egal, wir müssen schnell loslegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Klingström handelt, ist groß genug.«
Jörgen schüttelte den Kopf und verließ Beatrice Larssons Büro.
Jonny deutete fragend auf sich selbst.
»Und ich?«
»Du rufst bitte den Gerichtsmediziner an und erkundigst dich, wie die Obduktion gelaufen ist«, antwortete Sara automatisch. Sie war mit den Gedanken bereits bei allen möglichen Szenarien.
Sowohl Torsten als auch Jonny machten sich auf den Weg. Jetzt waren nur noch die drei Frauen übrig.
»Du kommst mit mir«, sagte Sara plötzlich zu Rita, drehte sich hastig auf dem Absatz um und ging zur Tür.
»Denken Sie daran, dass die Identität des Toten festgestellt werden muss, bevor Sie schlafende Hunde wecken«, rief die Polizeichefin ihnen hinterher.
Sara winkte ihrer Vorgesetzten zu. Sie war erfahren genug, um diese Art von freundlich gemeinten, aber völlig unnötigen Hinweisen gekonnt zu ignorieren.
Torsten war wieder auf dem Weg zum Polizeirevier, erschüttert und zerknirscht nach seinem Besuch im Krankenhaus. Er hätte dafür sorgen müssen, dass die Identität des Toten anhand zahnärztlicher Unterlagen festgestellt wurde. Die Eltern hätten ihren Sohn unter anderen Umständen sehen sollen – vorzeigbar, in einer stimmungsvollen Umgebung. Nicht so klinisch und rücksichtslos. Das hätte viel besser gehandhabt werden können, dachte Torsten und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Der Altweibersommer war ausgeblieben, und die Luft war glasklar und kalt. Die Blätter hatten begonnen, sich orange und rot zu färben, und die Beeren sahen wie kleine Feuer in den Sträuchern aus. Es war trotzdem alles sehr schön. Innerhalb eines Monats würden die Blätter abfallen, und alles würde trüber werden. Die Felder in der Umgebung von Lund würden sich in dunklen Schlamm verwandeln.
Im Polizeirevier spürte Torsten, wie sich die Wärme in seinen Gliedern ausbreitete, und er sprang die Treppe mit großen Schritten hinauf. Sein Weg führte ihn direkt in das Büro von Sara Vallén, die gemeinsam mit Rita vor dem Computer saß und versuchte, in das Labyrinth eines menschlichen Lebens einzutauchen.
»Er ist es«, sagte Torsten. »Tobias Klingström. Die Mutter hat ihn identifiziert.«
Sara und Rita sahen auf. Beide nickten.
»Gut, dass wir das schon einmal hätten. Konnten die Eltern sich einen Reim darauf machen?«, fragte Sara. Sie spürte, wie ihr Augenlid zu zucken begann, und sie versuchte, es unter Kontrolle zu bekommen, als sie Torstens Blick begegnete.
»Was soll das Gezwinker?«
»Du weißt ganz genau, dass das ein Tic ist«, sagte Sara leise.
Torsten nickte.
»Um deine Frage zu beantworten: Nein, sie konnten sich keinen Reim darauf machen. Außerdem waren sie so schockiert, dass ich einen Sozialarbeiter rufen musste, der wiederum den Krankenhauspfarrer benachrichtigt hat. Reicht das?«
»Tut mir leid, ich wollte nicht unsensibel sein. Aber wir müssen die Eltern trotzdem befragen.«
»Morgen«, sagte Torsten. »Ich bin mir sicher, dass Jörgen genug herausfindet, damit wir uns fürs Erste ein grobes Bild machen können.«
Samira wachte in ihrem Klappbett auf, nicht im Geringsten ausgeruht und mit einem unguten Gefühl im Magen. Als wäre etwas passiert. Sie hörte ein knarrendes Geräusch und setzte sich hastig auf.
»Warum stehst du da herum und glotzt so?«, fragte sie auf Schwedisch ihren Vater, der sie mit verschränkten Armen und zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen schweigend musterte.
Samira bedeckte ihren Körper mit der Decke.
»Sag was. Ich muss aufstehen und nach Lund fahren. In einer Stunde fangen meine Seminare an«, fuhr sie fort und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen, obwohl es ihr eiskalt über den Rücken lief.
Als er nicht antwortete, hatte sie die Nase voll.
»Raus«, sagte sie. »Verschwinde aus meinem Zimmer.«
Ihr Vater machte auf dem Absatz kehrt. An seinem angespannten Rücken konnte sie erkennen, dass er wütend war. Sehr wütend. Er murmelte etwas in ihrer Sprache. Sie verstand nur ein Wort: »Weg.«
Samira stand auf und zog sich eilig an. Sie ging in die Küche, wo ihre Mutter saß und die Hände auf den Knien verknotete.
»Was hast du getan?«, wimmerte sie.
Getan? Was getan? Wussten sie etwas? Nachdem sie so vorsichtig gewesen war. Sie spürte, wie die Angst von ihr Besitz ergriff. Gleichzeitig empfand sie pure Verachtung.
»Nichts. Ich habe nichts getan«, antwortete sie hartnäckig und mit zitternder Stimme auf Schwedisch. »Gar nichts.«
Sie verschwand ins Badezimmer. Legte Make-up auf. Putzte sich die Zähne. Dann trat sie in den Flur, schlang sich ihr Tuch um den Kopf und öffnete die Haustür. Hinter sich hörte sie die schweren Schritte ihres Vaters, und so schnell sie konnte, rannte sie die Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe stolperte sie und schlug mit der Stirn auf dem Steinboden auf, rappelte sich aber wieder hoch, taumelte aus der Haustür und rannte los. Als sie die Bushaltestelle erreichte, hatte der Fahrer gerade die Tür geschlossen, aber er öffnete sie noch einmal, als Samira an die Scheibe klopfte. Er schaute sie schweigend an, als sie einstieg, und fragte nicht einmal nach ihrer Fahrkarte. Samira eilte den Gang entlang und setzte sich ganz hinten ans Fenster.
Einige ihrer Kommilitonen waren bereits vor Ort, aber der einzige, der reagierte, als sie den Saal betrat, war Martin. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass etwas nicht stimmte. Er stand auf, packte sie am Arm und zog sie aus dem Zimmer.
»Du bist voller Blut«, flüsterte er Samira ins Ohr.
Instinktiv schlug Samira die Hände vors Gesicht. Ihre Haut fühlte sich klebrig und rau zugleich an.
Sie schlossen sich in der Behindertentoilette ein. Im Spiegel betrachtete Samira ihr blutverschmiertes Gesicht und war überrascht, es nicht früher bemerkt zu haben. Sie stellte das heiße Wasser an und wusch sich gründlich. Martin untersuchte die Wunde auf ihrer Stirn.
»Scheint nicht allzu tief zu sein. Ein kleines chirurgisches Pflaster sollte genügen.«
Martin machte sich auf den Weg, das Verbandsmaterial zu holen, und Samira blieb stehen, um auf ihn zu warten. Sie zog ihren weißen, nun rot gefleckten Wollpullover aus, krempelte ihn auf links und band ihn sich um die Hüfte.
Ihre Wangen waren heiß, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hätte ahnen müssen, wie sie nach dem Sturz die Treppe hinunter ausgesehen haben musste. Was würden ihre Kommilitonen von ihr denken?
Nachdem Martin zurückgekehrt war und sie verarztet hatte, zog Samira vorsichtig die Tür zum Hörsaal auf und spürte den verärgerten Blick ihres Dozenten, während sie ihre Plätze wieder einnahmen.
»Sie wissen, was ich von Verspätungen halte«, war alles, was er sagte.
Samira und Martin nickten. Bis zum Ende des Seminars sagten sie kein Wort mehr.
»Triffst du dich heute mit meiner Schwester?«, fragte Martin dann.
Samira schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht. Weißt du, ob sie gerade hier an der Uni ist?«
»Keine Ahnung, aber ich kann mal nachfragen.«
»Nicht nötig. Ich rufe sie später an«, sagte Samira und verließ schnellstmöglich den Raum, während sich bereits eine Gruppe Studierender aus dem nächsten Kurs hineindrängte. Samira drehte sich um und sah, wie Martin versuchte, mit ihr Schritt zu halten, aber er wurde von der Menschenmenge zurückgedrängt. Samira ging ohne ihn weiter zu ihrem nächsten Kurs.
Beim Mittagessen rief sie Elin an, die einzige Person, der sie sich anvertrauen konnte. Aber selbst ihr konnte Samira nicht sagen, warum sie es so eilig gehabt hatte und wovor sie sich fürchtete.
»Ich bin die Treppe hinuntergefallen, als ich zum Bus gerannt bin«, erklärte sie.
Das war immerhin nicht komplett gelogen. Obwohl sie sich schon seit vielen Jahren kannten, konnte Samira ihrer Freundin nicht die ganze Wahrheit erzählen. Elin liebte Samiras Familie. Aber sie kannte nur die Maske, die Samiras Eltern vor ihr aufsetzten und hinter der die fanatische Kontrolle wie ganz normale Fürsorge wirkte. Vielleicht ahnte Elin etwas, aber wenn, dann hatte sie nie ein Wort über ihren Verdacht verloren.
»Oh, das hätte übel ausgehen können. Wie geht es dir? Du hättest dir den Hals brechen können, Samira.«
»Ach, Quatsch. Mir geht es gut. Martin hat sich um mich gekümmert. Ich habe aber meinen Lieblingspulli versaut.«
»Ach du, das ist doch kein Grund, sich zu ärgern. Du kannst dir doch einfach einen neuen kaufen, so verwöhnt, wie du bist.« Elin kicherte.
»Bin ich überhaupt nicht.«
»War nur ein Scherz«, sagte Elin. »Aber du hast Glück, dass noch einmal alles gut gegangen ist.«
»Ich wollte dich nur vorwarnen. Wahrscheinlich wird dir Martin die reinste Horrorgeschichte erzählen, aber jetzt weißt du ja Bescheid.«
Sie beendeten ihr Telefonat, und der Tag verging, ohne dass jemand Samira fragte, was passiert war. Nur Martin behielt sie hartnäckig im Auge, aber aus irgendeinem Grund nahm er keinen Kontakt mehr zu ihr auf.
»Das alles wissen wir bereits«, sagte Sara und deutete auf das Whiteboard, auf das sie Namen gekritzelt und diese mit Pfeilen und Strichen verbunden hatte. »Tobias Klingström arbeitet für Kind und Familie, diesen sozialen Dienst in Hörby. Hat gearbeitet, meine ich.«
»Ach, dieses Kaff«, bemerkte Jonny Svensson verächtlich.
Sara warf ihm einen kurzen Blick zu.
»Er ist seit Montag verschwunden. An dem Tag kam er nicht zur Arbeit. Seine Eltern haben ihn am Abend darauf als vermisst gemeldet. Im Fahndungsregister ist nichts über ihn zu finden, aber ich habe schon kurz mit der Leiterin des Sozialdienstes gesprochen. Sobald wir hier fertig sind, fahre ich nach Hörby und zu Tobias Klingströms Arbeitsplatz. Torsten und Rita sprechen mit den Eltern. Sie kommen um zehn Uhr hierher.«
Sara wandte sich an Jörgen.
»Sprich du bitte noch einmal mit dem Gerichtsmediziner. Außerdem brauchen wir die Ergebnisse der Spurensicherung. Dazu hat dir Ove Ovesson bestimmt etwas zu erzählen.«
Jörgen Berg nickte. Er saß vor dem Laptop und tippte mit flinken Fingern auf der Tastatur herum.
»Jonny, du übernimmst das Ehepaar, dem der Schrebergarten gehört.«
»Warum bin ich immer für die alten Knacker zuständig?«
»Irgendjemanden trifft es eben.«
Jonny zuckte mit den Schultern und seufzte vernehmlich. Aber ausnahmsweise sparte er sich weitere Einwände. Sara nickte ihren Kollegen zu und ging in ihr Büro, um einen Anruf zu tätigen. Es klingelte mehrere Male.
»Sozialdienst, Karin Thorsson.«
»Hallo, mein Name ist Sara Vallén, und ich bin Kriminalbeamtin bei der Polizei in Lund. Ich würde gerne nach Hörby kommen und mit Ihnen über Tobias Klingström sprechen. Ich nehme an, Sie wissen, dass er tot aufgefunden wurde.«
»Ja, wir haben davon gehört. Das ist alles so unangenehm. Tobias war ein sehr beliebter Kollege.«
Sara entging die Wortwahl nicht. Wäre Tobias unbeliebt gewesen, wäre die Situation also nicht unangenehm?, dachte sie, hielt aber den Mund.
»Ich würde gern gleich vorbeikommen, wenn das in Ordnung ist. Ich habe schon mit Ihrer Vorgesetzten Gertrud Hagberg gesprochen.«
»Ja, natürlich, Sie sollen die Angelegenheit ja so schnell wie möglich klären können. Kommen Sie jederzeit vorbei. Die meisten Kollegen arbeiten heute hier vor Ort im Haus, wir hatten gerade eine Mitarbeiterbesprechung.«
»Dann fahre ich sofort los. In etwa vierzig Minuten bin ich bei Ihnen.«
Die Landschaft leuchtete in allen Herbstfarben, aber Sara war in Gedanken versunken und konzentrierte sich auf die Straße, sodass sie das Farbspiel kaum wahrnahm.
Schuld. Warum habe ich mich schuldig gefühlt, als Peter mich misshandelt hat? Und warum habe ich diese Beziehung nicht von vornherein beendet? Sie wusste die Antwort. Weil du ein gestörtes Verhältnis zu Männern hast. Es war, als sitze auf einer ihrer Schultern ein Engel, auf der anderen ein Teufel. Der eine versuchte, nett zu ihr sein, der andere flüsterte ihr ein, dass sie den Vorfall selbst verschuldet hatte. Sara versuchte, die Gedanken zu verdrängen, aber die Stimmen in ihrem Kopf wollten nicht verstummen.
Die Fragen, die sie anderen misshandelten Frauen gestellt hatte, konnte sie selbst nicht beantworten. Sara dachte darüber nach, wie der Verteidiger versucht hatte, ihr ebenso viel Schuld anzuhängen wie Peter Matsson. Genau darüber hatte sie selbst schon so oft gegrübelt. Aber der Prozess war wie ein Weckruf gewesen. In den Köpfen der Menschen geschehen seltsame Dinge, dachte Sara, und erst als sie von der E22 in Richtung Stadtzentrum abbog, wurde ihr klar, dass sie viel zu schnell gefahren war. Im selben Moment verschwanden die Gedanken an Peter Matsson.
Sie parkte den Wagen vor dem Gebäude am Slagtoftavägen 1, in dem Hörbys Sozialdienst untergebracht war. Es wirkte grob und ungepflegt, und auf einem der Balkone stand ein Mann und rauchte.
»Na, willste ’n Moment mit raufkommen?«, fragte er in breitem Schonisch. Er war ganz offensichtlich betrunken. Ein passender Ort für einen Sozialdienst, dachte Sara. Oder ganz und gar nicht passend. Eher eigentümlich.
Sara läutete an der Tür, aber es machte niemand auf. Sie klingelte erneut und hörte Schritte im Eingangsbereich. Eine Frau öffnete die Tür.
»Willkommen«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Karin Thorsson.«
»Sara Vallén, Kriminalpolizei.«
Karin Thorsson ließ ihren Besuch eintreten, und Sara war verblüfft, wie schäbig es auch im Inneren des Gebäudes aussah. Sie war auf dem Hinweg am Gemeindehaus vorbeigefahren, das einen ziemlich modernen Eindruck machte, und hatte erwartet, dass auch die Sozialdienste in einem ansprechenden Gebäude untergebracht waren. Mit einem schwachen Lächeln führte Karin Thorsson Sara in den Konferenzraum, und sie setzten sich an den großen Tisch.
»Möchten Sie jetzt gleich mit dem Personal sprechen?«
Sara schüttelte den Kopf. »Ich würde mich gern mit Ihnen unter vier Augen unterhalten. Im Anschluss würde ich mit einigen Mitarbeitern sprechen, falls sie mir etwas zu sagen haben. Ist jemand dabei, der Tobias besonders gut kannte?«
Karin Thorsson dachte einen Moment lang nach.
»Dann sprechen Sie am besten mit Staffan.«
»Warum gerade mit diesem Staffan?«
»Er kennt Tobias gut, und sie sind auch außerhalb der Arbeit gute Freunde.«
Sara nickte.
»Erzählen Sie mir von Tobias«, bat sie Karin Thorsson.
»Nun, er war ein aufrichtiger Mensch, und er stand der Arbeit, den Kollegen und den Menschen im Allgemeinen positiv gegenüber.«
»Was hielten seine Kollegen von ihm?«, fragte Sara.
»Er war sehr beliebt. Er gab jedem das Gefühl, gut und wichtig zu sein. Also, fürsorglich und aufmerksam war er, sozusagen.«
»Und in letzter Zeit? Ich denke an Stimmungsschwankungen oder andere Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war.«
»Um ehrlich zu sein, finde ich, dass er in den letzten paar Monaten ein bisschen schwermütig gewirkt hat. Manchmal jedenfalls. Ich habe den Eindruck, dass es sich um eine Liebesgeschichte gehandelt haben könnte. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht. Manchmal hat er telefoniert, und ich habe einmal gehört, wie er lieb dich gesagt hat.«
»Er hat Ihnen aber nichts davon erzählt?«
»Nein, gar nichts.«
»Würden Sie ihn etwas genauer beschreiben?«
Sara beobachtete die Frau eindringlich, um festzustellen, ob sie Anzeichen von Unsicherheit zeigte. Karin Thorsson schien sich in der Verhörsituation nicht ganz wohlzufühlen, machte auf Sara aber nicht den Eindruck, dass sie log oder etwas verheimlichte.
»Er ist, ich meine, war, groß, athletisch gebaut, hatte es leicht, die Leute für sich einzunehmen. Er hatte soziale und emotionale Reife. War dreißig Jahre alt. Intellektuell, aber vielleicht eher praktisch veranlagt. Mal sehr gesprächig, mal eher still. Ich glaube, das ist alles, was ich Ihnen über ihn sagen kann.«
Sara bedankte sich mit einem Brummen und Nicken. Als Karin Thorsson sich in ihrem Stuhl zurücklehnte, tat Sara es ihr gleich.
»Wann war er gesprächig?«
»Wenn wir große Besprechungen hatten oder am Kaffeetisch saßen. Wenn alle zusammen waren, sprach er oft für die ganze Gruppe.«
»Und wann war er ruhiger?«
Karin Thorsson dachte nach.
»Wenn er mit einem Problem konfrontiert wurde, wirkte er immer sehr konzentriert. Selbst wenn wir in der Gruppe zusammensaßen und arbeiteten, hat er nicht viel gesagt.«
Sara nickte.
»Hatte er irgendwelche Feinde?«
»Ich weiß es nicht, kann es mir aber kaum vorstellen. Er war ein wirklich anständiger Mann und sowohl bei Kunden als auch bei Kollegen sehr beliebt.«
Sara überlegte, womit die Frau noch gleich ihre Neugier geweckt hatte. Dann fiel es ihr wieder ein.
»Können Sie beschreiben, was Sie mit schwermütig meinen?«
»Schwer zu sagen. Er war nicht deprimiert oder so, sondern ist einfach in sein Büro gegangen und hat die Tür hinter sich geschlossen. Er hat deutlich gemacht, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Daran ist eigentlich nichts Seltsames, aber ich hatte das Gefühl, als wäre er über etwas traurig. Oder eben schwermütig, wie gesagt.«
Karin Thorsson ließ ihren Stift von einer Hand in die andere wandern. Das war das einzige Zeichen dafür, dass ihr etwas durch den Kopf ging.
»Kommissarin Sara Vallén«, sagte Sara, stand auf und streckte dem Mann, der den Konferenzraum betreten hatte, die Hand entgegen. Ihr fielen seine gerötete Nase und die blutunterlaufenen Augen auf. Er hatte geweint.
»Staffan Davidsson«, sagte er und erwiderte Saras Handdruck mit festem Griff, wich aber ihrem Blick aus. Das überraschte sie.
»Setzen Sie sich ruhig«, sagte Sara.
Sara gab Staffans Vorgesetzter ein Zeichen, die daraufhin den Raum verließ und die Tür sorgfältig hinter sich schloss.
Der Sozialarbeiter setzte sich mit geradem Rücken auf den Stuhl, schaute Sara aber immer noch nicht an. Sie startete die Aufnahmefunktion ihres Telefons und nannte das Datum, die Uhrzeit und ihre Namen. Dann hielt sie es Staffan hin.
»Ich glaube, Sie wurden darüber informiert, dass Tobias Klingström tot aufgefunden wurde.«
Staffan nickte und sah aus, als würde er gleich wieder in Tränen ausbrechen. Dann holte er tief Luft.
»Ja«, sagte er. »Das ist furchtbar.«
»Ja, das ist es.« Sara nickte zustimmend.
»Und völlig unbegreiflich«, fuhr er fort. »Tobias ist der netteste Mensch, den ich kenne. Oder er war es. Haben Sie schon mit seinen Eltern gesprochen?«
»Ja. Das ist das Erste, was wir getan haben. Wie gut kannten Sie Tobias?«
»Ich glaube, wir waren das, was man als beste Freunde bezeichnen würde«, antwortete Staffan. »Wir haben uns schon seit der Uni gekannt und sind seitdem immer zusammen gewesen.«
»Das klingt schön. Können Sie mir etwas über Tobias erzählen? Wer er war und wie er gelebt hat?«
Der junge Mann nickte und schluchzte gleichzeitig auf. Sara ließ ihm Zeit.
»Alle haben ihn gemocht: Er war aufmerksam, freundlich, liebevoll und fürsorglich. Er hatte wirklich Skills