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Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: Ritorna Vincitor von Carolin Lüders (Kurzgeschichte) Der Zustand der Welt von Aiki Mira (Kurzgeschichte) Ein Regenbogen aus Gold von Linda-Julie Geiger (Kurzgeschichte) Für alle Brüche von Claudia Klank (Prosagedicht) Hinter den Sternen von Sonja Lemke (Kurzgeschichte) Sonnenaufgang, Sonnenaufgang, Sonnenaufgang von Lauren Ring (Kurzgeschichte) What is dead may never die – Über Toxische Nostalgie von Christian Vogt (Essay) 13 Mini-Fiction Texte zum Thema Aufgeregt Marginalisiert Der Queertalsbericht 01/202
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Seitenzahl: 156
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Herausgeber*innen: Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan
1. Auflage
© 2022 Ach je Verlag
ein Imprint des Amrûn Verlag, Traunstein
https://www.amrun-verlag.de
Layout: Judith Vogt
Coverillustration: Eno Liedtke
Umschlaggestaltung im Verlag
Queer*Welten Logo: Milan Dangol (https://milandangol.de)
Printed in the EU
9783947720910 (Print)
9783947720927 (eBook)
Vorwort
Liebe Leser*innen,
hier ist es, unser erstes Heft im neuen, halbjährlichen Rhythmus – mit mehr Geschichten! Wir haben für euch diesmal vier originär deutschsprachige Kurzgeschichten, ein Gedicht, einen Essay und zum ersten Mal auch eine aus dem Englischen übersetzte Geschichte.
In dieser Ausgabe könnt ihr euch auf Ritorna Vincitor, eine Geschichte über rivalisierende Hexen, eine beendete Beziehung und Opernleidenschaft freuen – auf Der Zustand der Welt über Guerilla Journalismus und unethische Erfindungen – auf Ein Regenbogen aus Gold über eine entflohene Prinzessin in einem Land queerer Feen und Mythengestalten – auf Hinter den Sternen, eine Story um Depression, Stigma und die Flucht von einer Raumstation – auf Für alle Brüche, ein Gedicht um den Bruch mit der Heteronormativität, auf Sonnenaufgang, Sonnenaufgang, Sonnenaufgang, eine übersetzte Kurzgeschichte um zwei Astronautinnen in einer Zeitschleife am Ereignishorizont eines schwarzen Lochs – und auf What is dead may never die, einen Essay über die toxische Nostalgie, die unsere Popkultur im Griff hat.
Doch damit nicht genug: Unser neues Konzept mit halbjährlich erscheinenden und dafür umfangreicheren Ausgaben haben wir euch ja bereits im letzten Heft vorgestellt. Durch den neuen Umfang und den für uns als Redaktion nicht mehr so straffen Zeitplan konnten wir noch eine weitere Idee umsetzen: Eine Sonderausschreibung mit Mikro-Fiction in dieser Ausgabe. Unter Mikro-Fiction werden kürzeste Erzählformate zusammengefasst, beispielsweise in Länge eines Tweets (280 Zeichen), mit einer begrenzten Anzahl an Sätzen oder, wie in dieser Ausgabe, mit einer bestimmten Anzahl an Worten. Wir haben um Texte mit genau 100 Worten gebeten und als Thema Aufgeregt marginalisiert vorgegeben. Wir freuen uns sehr, dass uns so viele Texte erreicht haben, dass wir gar nicht alle abdrucken konnten und eine Auswahl treffen mussten. Dreizehn 100-Wort-Texte findet ihr immer zwischen den längeren Geschichten. Queerfeministisch-Phantastisches gibt es in dieser Ausgabe also geradezu überbordend und aufgeregt.
Ein paar Worte zum Motto „Aufgeregt marginalisiert“ dieser Ausschreibung: In der Debatte um diverse und progressive Phantastik wird manchmal der Vorwurf erhoben, dass diejenigen, die verschiedenste marginalisierte Figuren in ihre Geschichten einbringen und Marginalisierungserfahrungen thematisieren, das vor allem tun, um Aufmerksamkeit zu erregen und eine Agenda zu verfolgen. Stattdessen, so heißt es dann oft, sollte es doch vor allem um die gute Geschichte gehen, und natürlich könne diese auch marginalisierte Figuren aufweisen, aber doch bitte mehr so nebenher, ganz natürlich und vor allem: unaufgeregt. Unaufgeregt, das Lieblingswort von allen, denen der Tonfall wichtiger ist als der Inhalt; jenen, die Wut von marginalisierten Personen nicht ertragen wollen und als Shitstorm irgendwo im Internet abtun.
Wir haben dazu, ihr könnt es euch denken, eine etwas andere Meinung. Wir feiern es, wenn Autor*innen in ihren Werken nicht nur marginalisierte Personen einbauen, sondern auch deren Kämpfe und Stärken zum wichtigen Teil der Handlung machten. Wir jubeln über Listen mit Schlagworten, die uns sagen, wo wir Bücher mit bestimmter Repräsentation finden. Wir freuen uns über Own Voice-Geschichten, die uns ihre eigenen Erfahrungen zugänglich machen. Wir wollen keine Geschichten, in denen queere Figuren, Figuren mit Behinderungen und Krankheiten, Figuren, die unter Rassismus leiden, nur eine Randerscheinung sind, die bloß nicht zu sehr im Fokus stehen soll. Und deshalb sind die 13 Mikro-Fictions vor allem eins: aufgeregt marginalisiert!. Vielen Dank für eure Zusendungen!
An dieser Stelle möchten wir euch außerdem noch zwei Neuigkeiten verkünden:
Zum einen freuen wir uns sehr, dass wir ab dieser Ausgabe Heike Knopp-Sullivan als dritte Herausgeberin an Bord begrüßen dürfen. Heike hat uns schon beim Korrektorat von Ausgabe 7 unterstützt und an Ausgabe 8 bereits voll als Herausgeberin mitgearbeitet. Wir sind sehr glücklich, sie als neues Teammitglied gewonnen zu haben und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit!
Zum anderen gibt es inzwischen neben einem Abo noch eine weitere Möglichkeit, Queer*Welten zu unterstützen: Wir haben uns einen Ko-Fi-Account eingerichtet. Ko-Fi ist eine Plattform, die die Möglichkeit bietet, einen einmaligen Betrag in voreingestellter Höhe (einfach oder mehrfach) zu überweisen – in etwa so, als würdet ihr uns eine Kanne Kaffee für die Redaktion spendieren oder uns ein Trinkgeld geben, weil ihr unsere Arbeit schätzt. Der voreingestellte Betrag von € 5,00 entspricht den monatlichen Kosten für unseren Webspace, also Website und Mailkonten, die uns als Herausgeber*innen entstehen. Wenn mehr als der Jahresbetrag zusammenkommt, wird am Ende des Jahres das Geld an die drei Herausgeber*innen ausgekehrt, die ansonsten keine Bezahlung erhalten. Ihr findet unsere Seite unter ko-fi.com/queerwelten Wir freuen uns über eure Unterstützung!
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Danke, dass ihr uns nach dem Wechsel des Ach Je Verlags zu Amrûn so einen guten Start verschafft habt. Viel Spaß mit der neuen Ausgabe!
Eure Queer*Welten-Redaktion
Lena, Judith und Heike
100-Wort-Geschichte
buchstäblich
Prof. sagt, wir könnten nicht an den Marginalien stehen, denn Marginalien, so weiß man, das seien die Ränder einer Seite;
und doch stehen wir hier,
seite an seite an seite an seite,
ein korpus, ein körper,
plural, dezentral,
unfassbar--fassbar nur
von den rändern aus.
Prof. sagt, wir könnten nicht an den Marginalien stehen;
doch hier stehen wir, an den rändern
einer seite, jeder seite,
und lassen das streichholz
fallen.
Das Feuer greift das Papier;
uns jedoch können die seiten,
an den marginalien,
nicht halten.
und wenn alles verbrannt sein wird, erheben wir uns mit aschetrunkenem gefieder:
buch
stäb
LICHT
Über Anna Zabini
annas lit-erratische streichhölzer & co. gibt es manchmal auf twitter (@anna_zabini), mehrfach in kurzprosa, oder einfach in romanform (#SanguenDaemonis).
Ritorna Vincitor
von Carolin Lüders
Inhaltshinweise
Trennung, Liebeskummer, magischer Energieentzug
Tags
Begeisterung für Musik/Oper, f/f
Mala trug das T-Shirt, das ihre Freundin ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, bevor sie an Silvester Schluss gemacht hatte. Das T-Shirt war blau gefärbt; dort, wo ihre Exfreundin es vor dem Färben geknotet hatte, musterten es weiße Ringe. Mala stellte sich vor, wie sie im Innenhof über einer Wanne gekniet hatte, von der der Geruch des Färbemittels aufstieg, draußen vor dem Fenster der Küche, in der sie beide zusammen Bratnudeln gegessen und über Musik geredet hatten.
Mala hatte das T-Shirt nicht aus Selbsthass angezogen. Sie trug es, um magische Kraft zu gewinnen. Denn die würde sie brauchen, falls es zum Kampf kam.
Sie stand in der U-Bahnstation Reinoldikirche und wartete auf Endohexen. Es war ihre Aufgabe als Exohexe und Wächterin, über den Waffenstillstand zwischen Endo- und Exohexen zu wachen, sicherzustellen, dass keine Endohexe gegen das Abkommen verstieß, das den jahrhundertelangen Krieg beendet hatte. Ein Krieg, der jederzeit wieder aufflammen konnte. Doch die Leute um sie herum, in ihre Handys vertieft, ahnten nichts von den Mächten, die um Vorherrschaft in der Welt rangen, genauso wie die Vögel nichts vom U-Bahnnetz ahnten. Sahen nicht mal die Auren, die um ihre eigenen Körper flackerten, leichte Beute für skrupellose Endohexen.
Mala zog das T-Shirt zurecht, streichelte den glatten Stoff, berührte den Anhänger an ihrem Hals: ein halbes Herz. Kühles Metall, dessen Kanten sich nachdrücklich in ihre Fingerkuppen bohrten; es kribbelte, pulsierte vor Magie, strahlte durch Malas Hand in ihren Körper aus. Eigentlich waren es Zwillingsketten gewesen, die ein ganzes Herz bildeten, wenn man sie aneinanderlegte. Was ihre Exfreundin wohl mit ihrer Hälfte gemacht hatte? Vielleicht hatte sie sie auf dem Flohmarkt verscherbelt, vielleicht lag die andere Hälfte jetzt in der Halsgrube einer anderen Frau; vielleicht hatte sie sie weggeworfen, vielleicht ruhte ein halbes Herz am Grund einer Müllkippe.
Malas Gedanken kehrten aus der Tiefe zurück, als sie sah, wie die Auren in Aufruhr gerieten. Sie flackerten hell und kräuselten sich wie Kerzenflammen in einem Luftzug. Einzelne Flämmchen lösten sich von den Auren, ohne dass die Menschen es merkten, züngelten in Richtung der Rolltreppen und flossen unter den Händen ahnungsloser Fahrgäste das gummibezogene Geländer aufwärts, bis sie sich um die Person sammelten, die am oberen Ende der Rolltreppe erschien: eine hochgewachsene Frau mit schwarzen Haaren und einem weißen Mantel. Gelassen stand sie da und ließ sich nach unten tragen, reagierte kaum auf die Flammen, die um sie schwirrten wie ein Schwarm hungriger Mücken. Schließlich zuckte ihre Hand unmerklich, worauf die Flammen in die Handfläche sprangen und den Ärmel hinaufkrochen. Diese Frau, eine Endohexe, nährte sich von fremden Emotionen, so wie Mala als Exohexe Kraft aus ihren eigenen Erinnerungen zog. Der Unterschied war, dass die Endohexe anderen schadete – mit dem Shirt schadete Mala sich höchstens selbst.
Das Fließband trug die Endohexe zum Ende der Rolltreppe, wo ihre weißen, mehrere Zentimeter hohen Pfennigabsätze mit einem Klicken die Fliesen der Station berührten. Klackend ging sie auf Mala zu. Mala holte Luft. Ihre Hände schwitzten. Sie musste die Nichtmagischen gegen den Zugriff der Endohexe verteidigen. Mit einem süffisanten Lächeln, das für einen Sekundenbruchteil auf ihren rotgeschminkten Lippen aufblitzte, stöckelte die Frau an Mala vorbei. Sie wusste, dass Mala nicht eingreifen konnte, solange sie nichts tat, was gegen das Abkommen verstieß. Ein paar oberflächliche Gefühle aus den Leuten herauszuziehen war noch kein Verstoß. Mala starrte ihr hinterher, genauso wie eine Gruppe feixender junger Männer mit Sidecuts, deren Grinsen wenig später verschwand. Sie würden sich schlapp und gleichgültig fühlen und nicht wissen, warum. Hatten sie Glück, gab es sich nach ein paar Tagen wieder; hatten sie Pech, konnte das, was sie gerade verloren hatten, der letzte Gefühlstropfen sein, der das Fass leerte und sie mit einer Depression zurückließ. Aber der Weißgekleideten war das egal, und Mala hasste sie dafür.
Sie folgte der Frau mit einigen Metern Abstand. Die ausgelatschten Chucks, die sie noch in der Schulzeit während langweiliger Französischstunden mit ihrer damals besten Freundin bekritzelt hatte, quietschten. Der Frau musste bewusst sein, dass Mala ihr folgte. Mala machte sich nicht die Mühe, sich zu verstecken, im Gegenteil, ihre Präsenz sollte die Endohexe von Schandtaten abhalten. Die U-Bahn kam und die Endohexe stieg ein, schnell zwängte sich auch Mala durch die sich schließenden Türen. Eine so gut gekleidete Frau wie die Endohexe war in der U-Bahn ein seltener Anblick, man hätte sie eher in einem teuren Auto verortet. Aber für eine wie sie bildeten die öffentlichen Verkehrsmittel ein Festmahl – so viele Menschen auf engem Raum, aus denen sie Kraft ziehen konnte! Kraft, die sie dann für welche Untaten auch immer gebrauchen würde. Natürlich ließ sie sich nicht auf einem der speckigen Sitze nieder, musste ja schließlich ihren weißen Mantel schonen. Stattdessen hielt sie sich in lässiger Pose an einer Stange fest und blickte über die Köpfe der Leute hinweg. Ihre schwarzen Augen trafen Malas und sie lächelte wieder. Sofort blickte Mala beiseite und aus dem Fenster, hinter dem Leitungen und Sicherungskästen vorbeihuschten, kurz von der U-Bahnbeleuchtung aus der Dunkelheit gerissen.
Sie erreichten die Station Stadtgarten, wo die Frau ausstieg. Mala folgte ihr. Kaum merklich zuckte ihr Gesicht, als sie Mala beim Abbiegen bemerkte, aber sie ging ungerührt weiter. Vielleicht hoffte sie, dass Mala irgendwann die Lust verlor und sich trollte. Aber da kannte sie sie schlecht: Mala würde ihr die ganze Nacht folgen, wenn es sein musste, auch wenn sie morgen übermüdet in der Vorlesung sitzen würde. Sie rechnete ohnehin nicht mehr mit guten Noten. Vielleicht würde sie das Studium auch abbrechen, es war egal. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Seit sie vor einigen Jahren ihre Fähigkeiten entdeckt hatte und in den Zirkel aufgenommen worden war, verbrachte sie die meisten Abende und Wochenenden mit Training und Patrouille. Mala hätte zu wenig Zeit für sie, hatte sich ihre Exfreundin beschwert. Natürlich hatte Mala ihr nicht die Wahrheit darüber sagen dürfen, was sie machte. Diese Nichtmagischen verstanden einfach nicht, was auf dem Spiel stand. Durften es nicht verstehen, um keine Panik auszulösen, neue Hexenverfolgungen, oder gar die Ausbeutung der Magie durch Unternehmen und Militär.
Die Frau fuhr mit der Rolltreppe nach oben und stöckelte über die Straße zur Oper. Mala schüttelte den Kopf. Sicher war die Oper mit ihren Emotionen ein gefundenes Fressen, aber musste es ausgerechnet ein Ort sein, wo Mala mit ihren ollen Klamotten nicht reinpassen würde? Andererseits war die Oper auch ein Gebäude, in dem Mala Kraft ziehen konnte, schließlich hatte ihre Ex sie beim ersten Date in die Oper geschleppt. Der Türsteher als letztes Hindernis musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, ließ sie aber durch. Die alten Leute in ihren Anzügen und Kostümen, die das Foyer füllten, rümpften die Nasen. Wenn ihr wüsstet, wer euch beschützt!
Schnell drängte sich Mala durch die Menge zur Abendkasse und ergatterte eine der letzten Studi-Karten. Fidelio. Ein Stück über die Macht der Liebe und der Treue, Mala könnte kotzen. Schnell suchte sie dann in der Menge nach der Frau. Da war sie, das Weiß des Mantels blitzte zwischen den vorherrschenden dunklen Farben hindurch. Sie lehnte lässig an einem Stehtisch vor der Theke, bereits ein Sektglas in der Hand. Mala erreichte sie und wollte in einiger Entfernung auf den Beginn des Stücks warten, da winkte ihr die Frau zu. Mala erstarrte. Was konnte eine Endohexe von ihr wollen? Sie sollte eigentlich nicht mit ihr sprechen, doch die Neugierde siegte.
„Hallo, auch was zu trinken?“
Mala schüttelte den Kopf.
„Oder eine Bretzel?“
Mala verschränkte die Arme und schwieg. Die Frau musterte sie von Kopf bis Fuß. „Interessantes Outfit für die Oper. Finde ich gut.“
Mala zuckte die Schultern. Auf Provokationen ging sie nicht ein. Der Gong ertönte. Die Endohexe sagte lächelnd: „Oh, es geht los. Viel Spaß!“
Die Endohexe ließ ihr Glas auf dem Tisch stehen und ging zum Logenaufgang, während Mala ins Parkett trottete. Ihre Wangen glühten.
Als sie den Geruch nach Staub, Parfüm und Kunstnebel des Opernsaals einatmete, das aufgekratzte Getuschel um sich herum hörte und den weichen dunkelroten Samtsitz unter sich spürte, erinnerte sie sich an das erste Date mit ihrer Damals-noch-nicht-Freundin. Die Aufführung, die sie gesehen hatten, eine Sammlung berühmter Lieder aus verschiedenen Opern, hatte Ritorna Vincitor geheißen. Kehre als Sieger zurück. Nach einem Satz, den Aida zu ihrem Geliebten Radamès spricht, als dieser gegen ihren eigenen Vater in den Krieg zieht. Mala hatte niemanden, zu dem oder der sie zurückkehren konnte, siegreich oder nicht.
Sie erinnerte sich weniger an das Stück als an die Präsenz ihrer Fastfreundin neben ihr, an den süßen Duft ihrer Haarspülung, an das Lächeln auf ihren weichen Lippen, die Wärme, die ihr Arm abstrahlte. Danach waren sie in ein Café gegangen und hatten bis spät in die Nacht hinein geredet, immer neue Themen gefunden, und später an der Bushaltestelle hatte sie einen Arm um Mala gelegt. Während Mala sich an diese Dinge erinnerte, spürte sie, wie Kraft in ihr hochstieg, sie mit einem Kribbeln erfüllte.
Sie drehte den Kopf zur Loge, wo der Afro der Frau zwischen den weißen Haaren der alten Leute herausstach. Gebannt starrte die Endohexe zur Bühne, nickte im Takt der Musik, wobei ihre Lippen sich bewegten, als würde sie den Text mitsprechen. War sie vielleicht tatsächlich eine Opernliebhaberin? Nach ihrer Ex hatte Mala keine andere Frau mehr getroffen, die Oper mochte. Aber sicher war diese Endohexe doch bloß hier, um Gefühle aufzusaugen.
In der Pause hielt sich Mala von der Unbekannten fern, und diese machte auch keine Anstalten, Mala erneut heranzuwinken.
Während der zweiten Hälfte versuchte Mala, auch etwas von der Musik zu genießen, und dabei dennoch die Endohexe im Auge zu behalten. Die Handlung spitzte sich zu; und die Frau reagierte auf alles. Sie verzog schmerzvoll das Gesicht, als der böse Pizarro den gefangenen Florestan erstechen wollte, riss überrascht die Augen auf, als Leonore sich dazwischen warf und sich als Florestans Frau zu erkennen gab, und strahlte aufgelöst, als das wiedervereinte Paar ein Duett sang. Doch denen, die auf der Bühne sangen, würden eben diese Gefühle gerade abhandenkommen. Vielleicht würden sie nie wieder eine Aufführung so ausdrucksvoll gestalten können wie diese hier.
Aber auch Mala empfand die Handlung mit, und diese Gefühle verdrängten beinahe die Erinnerung ans erste Date, als so viel Hoffnung und Magie in der Luft lag. Sie musste sich darauf besinnen: Ritorna Vincitor. Doch dieser Moment war vergangen.
Sie hatte gehört, dass das Gehirn Erinnerungen jedes Mal veränderte, wenn es sie aufrief. Auch ihre Erinnerung an das Date würde nach diesem Abend nicht mehr dieselbe sein. Würde sie an Kraft verlieren? Würden Details verschwimmen oder andere hinzukommen, die es gar nicht gegeben hatte?
Es war die große Crux der Exohexen, dass die Menge der Magie, die sie aus einer Erinnerung ziehen konnten, mit jedem Aufruf abnahm. Der Zerfall war exponentiell.
Schließlich war das Stück vorbei. Applaus, stehende Ovationen, dann das Gedränge zum Ausgang. Mala schlängelte sich durch die Menge, um ihre Gegnerin nicht zu verlieren. Doch die ließ sich Zeit, schlenderte scheinbar in Gedanken versunken vor sich hin, knabberte noch ein paar Auren an. Als sie die Oper endlich verließ und Mala ihr folgte, stand sie draußen vor der Tür und wartete auf sie. „Und, wie hat es dir gefallen?“
War sie jetzt ernsthaft zu Smalltalk aufgelegt? Mala zuckte mit den Schultern. „Es war okay.“
„Okay? Also ich fand den Gesang super, besonders die weibliche Hauptrolle.“
Widerwillig entgegnete Mala: „Die Inszenierung war mir zu modern.“
„Wirklich?“
„Ja, ich mag es, in eine alte Zeit einzutauchen, mit den passenden Kostümen, Kulissen und so.“
„Das kann auch interessant sein, aber wenn die Ausstattung minimalistischer ist, finde ich es universaler. Als wäre es etwas, das auch uns heute passieren könnte.“
Mala stellte fest, dass sie es vermisst hatte, über Oper zu reden, mit einer Person, die über ein gewisses Niveau verfügte. Deshalb, und weil die Abendluft langsam kühl wurde und sich die Härchen auf ihren nackten Armen aufstellten, schlug sie nicht sofort aus, als die Frau fragte, ob sie sich noch irgendwo setzen wolle. Eigentlich war das ein No-Go. Was, wenn jemand aus Malas Zirkel sie sah? Andererseits: Auf diese Weise konnte sie die Endohexe unter Kontrolle behalten, und sie konnte einen Ort auswählen, wo sie im Vorteil war. Sie nickte und zupfte an ihrem T-Shirt. „Ich kenne ein gutes Café.“