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Queer*Welten ist ein halbjährlich erscheinendes queerfeministisches Science-Fiction- und Fantasy-Magazin, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kurzgeschichten, Gedichte, Illustrationen und Essaybeiträge zu veröffentlichen, die marginalisierte Erfahrungen und die Geschichten Marginalisierter in einem phantastischen Rahmen sichtbar machen. Außerdem beinhaltet es einen Queertalsbericht mit Rezensionen, Lesetipps, Veranstaltungshinweisen und mehr. In dieser Ausgabe: Auf See geblieben von Kaj Iden (Kurzgeschichte) toxArt von June Is (Kurzgeschichte) Vom Kinderkriegen von Gerit Virginia Ariel Gerlach (Kurzgeschichte) Schwache Anziehung von Helen Faust (Kurzgeschichte) Raya'sii: Die Legende von Raya von Jeannie Marschall (Kurzgeschichte) Von Mythpunk bis amazofuturismo: Warum Mikrogenres und Movements die Phantastik facettenreicher machen von Alessandra Reß (Essay) 12 Mini-Fiction Texte zum Thema Queer Merfolk in 9 Sätzen Autor*innen der 9-Satz-Texte: Jonathan Krupitza, Jeannie Marschall, Frank Reiss, kvmw, Anna Zabini, Laura May Strange, Liane Raposa, Emma Hogner, T. B. Persson, Lünn, Chris Balz, Jassi Etter
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Seitenzahl: 171
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Herausgeber*innen: Judith Vogt, Lena Richter, Heike Knopp-Sullivan
1. Auflage
© 2022 Ach je Verlag
ein Imprint des Amrûn Verlag, Traunstein
Layout: Judith Vogt
Coverillustration: C. F. Srebalus
Umschlaggestaltung im Verlag
Queer*Welten Logo: Milan Dangol (https://milandangol.de)
9783947720958 (TB)
9783947720965 (eBook)
Queer*Welten 9
Tags und Inhaltshinweise
Ihr findet vor jeder Kurzgeschichte Inhaltshinweise und Tags.
Die Tags dienen dazu, euch einen Überblick über die Themen der Kurzgeschichte zu geben – sie sind an Fanfictionportale wie Archive of Our Own angelehnt und geben Handlungselemente, Motive und Genrekategorisierungen wieder, damit ihr einschätzen könnt, was euch in der Geschichte erwartet.
Bei den Inhaltshinweisen versuchen wir, Elemente der Geschichte zu sammeln, von denen wir wissen, dass manche Lesenden sie lieber vermeiden würden oder vorgewarnt wären.
Die Listen sind in Zusammenarbeit mit den Autor*innen entstanden, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Feedback und Wünsche zu Tags und Inhaltshinweisen sind wir immer offen.
Vorwort
Liebe Leser*innen von Queer*Welten,
ihr haltet die 9. Ausgabe unseres Hefts in den Händen, und wie immer danken wir euch für eure Treue und Unterstützung. Wir freuen uns, dass wir euch diesmal eine Themenausgabe präsentieren können, vom Cover bis zu den Geschichten, Kurztexten und dem Essay: Es geht aufs Wasser, unters Wasser, zu Häfen und Raumhäfen, Inseln und Pirat*innen, und zu queerfeministischem Meeresvolk!
In dieser Ausgabe geht es in Auf See geblieben um das Schicksal einer Seefahrerin, deren Reise auch mit dem Tod nicht endete. Danach nimmt toxArt euch mit in eine Urban Fantasy-Geschichte rund um ein magisches Bild und das Rätsel einer Meerjungfrau. In Vom Kinderkriegen schreibt eine Person aus einer anderen Welt Briefe nach Zuhause und wirft einen ganz eigenen Blick auf die seltsamen Gepflogenheiten von uns Menschen. Schwache Anziehung hingegen ersetzt das Segelschiff durch eine Raumfahrt-Zollstation und stellt die Frage, wieviel eine Freundschaft überlebt, ehe sie zerbricht. Raya‘sii: Die Legende von Raya erzählt von seefahrenden Völkern und Gefahren in einer phantastischen Welt. Der Essay mit dem Titel Von Mythpunk bis amazofuturismo dreht sich dann um Movements und Mikrogenres, die die Phantastik beeinflussen und auch viele Genres mit Umwelt- und Klimaaspekten hervorgebracht haben.
Und damit hört die Themenausgabe noch nicht auf: Wir haben nämlich in einer thematisch passenden Sonderausschreibung wieder Mikro-Fiktion gesucht, diesmal unter dem Thema Queer Merfolk. Für die 9. Ausgabe waren Kurztexte mit exakt neun Sätzen gefordert. Auch diesmal haben wir dazu so viele Einsendungen erhalten, dass wir es schwer hatten, eine Auswahl zu treffen. Zwölf Texte haben es in die Ausgabe geschafft und bieten noch mehr Spannendes, Rebellisches, Melancholisches und Radikales zum Thema Meeresvolk.
Wie gefestigt das popkulturelle und vorherrschende Bild von Meerjungfrauen (deren Name ja schon Bände spricht) ist, zeigt gerade aktuell die unsägliche Debatte um die Disney-Realverfilmung von Arielle, in der die titelgebende Meerjungfrau von einer Schwarzen Frau gespielt wird. Mal wieder werden Gründe an den Haaren herbeigezogen, um sich in rassistischen Ausfällen zu ergehen oder die zu große „Wokeness“ (des Disneykonzerns, of all companies) zu kritisieren. Ob der Film, dessen Hauptrollenbesetzung wir natürlich super finden, dann auch noch mehr tun wird, um die Geschichte anders und neu zu erzählen, in der eine junge Frau ihre Stimme verlieren muss, um ihrem Geliebten nahekommen zu können, wird sich zeigen. In jedem Fall bietet Meeresvolk viel Potenzial für neue, queere, feministische Interpretationen. Meerfrauen müssen nicht immer schön, dünn und schweigend sein, ihre Sidekicks nicht immer lustige Fische und Meerestiere. Meerwesen können düster und stark sein, können das Herz von Landbewohner*innen gewinnen, ohne dafür zurückstecken zu müssen. Vielleicht sind sie den Menschen nicht einmal optisch ähnlich, vielleicht ist die Schwärze, durch die sie schwimmen, die des Weltalls statt der Tiefsee. Auf jeden Fall sind sie ein Teil der Phantastik, der sich für progressive Neuinterpretation anbietet, und wir freuen uns, dass wir dazu viele tolle Texte präsentieren können.
Seit der letzten Ausgabe durften wir übrigens mehrfach über unsere Arbeit berichten, nämlich auf den Tübinger Tolkientagen (die Aufzeichnung gibt es auf dem YouTube-Kanal des Verein der Freunde Myras), in einem Artikel auf Queer.de und im Podcast Literatunnat – schaut und hört gern rein, wenn ihr ein bisschen hinter die Kulissen blicken wollt.
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Eure Queer*Welten-Redaktion
Lena, Judith und Heike
Queer Merfolk
Requiem auf Sand
Inhaltshinweise
Tod, Beeinflussung
Als der Sirenengesang blechern aus den Boxen schepperte und XX Æ A-XIII aus dem Lernschlaf riss, zickten die Instrumente intuitiv herum. Mit einem Fluch auf den Lippen schreckte sie hoch, doch das Lied hatte bereits in ihrem Herzen geankert, sodass die Empath-Steuerung – stets auf dem Kurs, den Ihr Herz begehrt – die Landung eingeleitet hatte, um XX Æ A-XIII ans plötzlich entdeckte Ziel ihrer Sehnsucht zu bringen.
Die Sonnensegel barsten beim Eintritt in die Atmosphäre, der Hitzeschild fiel aus und ließ den Quarzglasbug verglühen.
XX Æ A-XIII rettete sich mit der Notfallkapsel auf den fremden Planeten und landete unweit der singenden Sirene, deren weißes, ausgeblichenes Haar sich in der flimmernden Luft auf und ab bewegte, und die das schönste Gesicht besaß, das XX Æ A-XIII auf all ihren Forschungsreisen gesehen hatte.
„Was willst du von mir?“, flüsterte sie. „Ich kann dich nicht zurück ans Meer bringen, mein Schiff ist abgestürzt und dein Planet versan-“
„Ich weiß“, sang die Sirene und breitete die Arme aus. „Ich will nur nicht allein sterben.“
Das Lied war wie ein Widerhaken in ihrem Herzen und so hatte XX Æ A-XIII keine andere Wahl, als über die bleichen Knochen im Sand zu laufen und sich in die Arme der Sirene zu werfen, um ihr letztes Geheimnis im Universum zu erforschen.
Über Emma Hogner
Emma Hogner schreibt Phantastik, Science-Fiction und Romance. Im Netz ist sie als @schreibratte unterwegs, v. a. auf Twitter und Instagram.
Queer Merfolk
Der Sprung
Natürlich ist sie gesprungen, Iolanthe, aber nicht wegen Phaon oder irgendeines Mannes. Und auch nicht in ihren Tod, sondern in ihre Arme. Vielleicht ist der Irrtum entstanden, weil jemand die Nereide nur flüchtiger als ich gesehen hat. Sie hat kürzeres Haar und breitere Schultern, als sich die Leute das bei ihresgleichen gemeinhin vorstellen.
Wie viele aus ihrem Gefolge war ich damals ein bisschen in unsere große Dichterin verschossen und schlich ihr nachts einmal zum Strand nach, um sie vielleicht beim Baden zu sehen. Stattdessen sah ich, wie aus schäumender Gischt ein meergrüner Hippokamp auftauchte und diese Nereide von seinem Rücken glitt. Sie war nicht einmal ganz aus der Brandung getreten, als eine strahlende Sappho ihren Barbiton fallen ließ und sich ihr um den Hals warf wie ein junges Mädchen.
Ich habe sie einmal nach ihr gefragt, als wir miteinander allein waren. „Hippothoe“, flüsterte sie mir ihren Namen mit einem beinahe ironischen Lächeln zu, „wird mich mit sich nehmen, sobald sie dazu den Segen ihrer Eltern, ihres Bruders und ihrer neunundneunzig Schwestern hat.“
Über Chris Balz
Chris hat mehr Ausgaben von Sherlock Holmes und Good Omens als nachvollziehbar und geht allgemein ohne Buch nicht vor die Tür. Instagram: @auntieterror
Auf See geblieben
von Kaj Iden
Inhaltshinweise
Ertrinken, Kampf, Tod, Blut, ableistische Sprache
Tags
Queeres Seeleutsgarn, chaotische Wahlfamilie, Liebe wider die Umstände, Meereswesen
Soven erinnerte sich noch gut an ihren Tod. Sie hatte den berüchtigten Schiffsfriedhof nicht gefürchtet. Das Unwetter war ohne Vorwarnung aufgezogen. Die Wellen hatten den Rumpf gegen die Felsen geworfen. Sie war über Bord gegangen. Das Wasser hatte ihre Lungen verbrannt. Es war schlagartig vorüber gewesen. Für ihre Überheblichkeit hatte der Ertrinkende ihr Leben gefordert.
Doch durch die Tore des Todes geschritten war sie nicht. Die See war aus Sturm gemacht.
„Träumst du von daheim?“, fragte ein Seemann mit sonnenverbrannter Haut und gebleichtem Haar in Sovens Gedanken. Diese Veränderungen waren im Leben geschehen, denn unter den Ozean gelangte kein einziger Lichtstrahl.
„Tyrmar, du bist wahrlich der einzige, der Springfluts Palast als Heim bezeichnen würde.“
„Es ist der Heimathafen unserer schönen Temarist.“ Seine Finger liebkosten den gräulichen Großmast des Segelschiffs. „Und sind wir nicht alle ein Teil von ihr?“
Brivat ging, wie üblich grummelnd, an ihnen vorbei. „Wir sind nicht Teil von ihr, die Temarist ist unsere verfluchte Kapitänin.“
„Kurs hart backbord!“ Der Mann mit den Korkenzieherlocken grinste aus dem Ausguck herunter, als wäre er ein Spross der Wahnsinnigen Göttin. „Zeigen wir diesen Fischflossen, was ein Einlaufmanöver ist!“ Er schob das Fernrohr zusammen. Es fehlte lediglich das piratische Arrh.
„Hat Valenos nun endgültig den Verstand verloren?“, fragte Soven.
Tyrmar bemerkte hinter vorgehaltener Hand: „Ist es möglich, etwas zu verlieren, was nie besessen worden ist?“
„Stimmt schon.“ Soven zuckte mit den Schultern.
„Klarmachen zur Wende!“, brüllte Nury durch ihr Gespräch. Sel legte die Hände ans Steuerrad.
„Die meinen das tatsächlich ernst.“
Tyrmars Worte waren kaum vom Meer fortgerissen worden, da legte das Schiff sich bereits schräg. Bug und Masten schnitten schneller als zuvor durchs Wasser. Segel blähten sich unter der Strömung auf. Holz ächzte.
„Nicht die Segel streichen, Tem“, beschwor Soven das Schiff.
Sie griff nach einem Tauende und ließ sich von ihm in die Takelage aus Wurzelgeflecht ziehen. Aus den Wurzeln wuchsen die Segel, purpurne Blätter mit einem Kraken darauf. Sie kam nicht umhin, diese Schönheit ein weiteres Mal zu bewundern. In einem vorherigen Leben musste das Schiff der prächtigste aller Bäume gewesen sein. Die Temarist stimmte mit einem Läuten der Schiffsglocke zu.
Auf ihrem Posten angekommen wurde Soven zu einem Glied in der Ankerkette aus vierzehn toten Seeleuten. Die Temarist segelte, als hätte sie nichts zu verlieren. Das hatten sie alle nicht mehr. Das Heck glitt über die Strömung hinaus. Das Schiff sackte abrupt ab. Die Segel erschlafften. Sie sanken.
In der Wassersphäre gab es keinen Grund, dieser Ozean war endlos. Sie würden für den Rest der Ewigkeit sinken, wenn sie vom Kurs abkämen.
„Wir werden den Strom verfehlen“, prophezeite Brivat düster. Feuerhexen wie sie an Bord waren eine miese Idee.
Das Schiff näherte sich der tieferen Strömung. Das Fallen dauerte weiter an.
„Soven!“, schrie Tyrmar.
„Noch nicht.“
Zwar hatte Tyrmar erkannt, dass der Kurs falsch war, aber ihm fehlte nach wie vor das Vertrauen in etwas Entscheidendes: die Temarist.
„Setz das Segel!“
„Warte.“
Handelte sie zu früh, würde das Schiff bersten und die Besatzung in alle Richtungen davontreiben. Unter Rufen erreichten sie eine bedrohlich Schlagseite. Das war ihr Zeichen.
Mit um den Arm gewickeltem Seil nahm Soven Anlauf und sprang in die Tiefe. Durch ihr Gewicht wurde das obere Segel gehisst. Wie eine Baumkrone legte es sich über die Masten der Temarist. Einige Blätter streiften den Strom. Es erinnerte Soven an ein Totentuch.
Auf einmal blähte sich das ganze Segel auf. Ein Ruck ging durchs Schiff. Sie bekamen Auftrieb. Ein freudiges Beben ließ sie vorwärts schießen, auf ein Korallenriff zu.
Angeblich wuchs dieses Gebilde auf dem Leib eines monströsen Kraken. Gewaltig genug war es, um einer Stadt Platz zu bieten. Die Gebäude erstrahlten in allen erdenklichen Farben, ebenso Tiere und Pflanzen. Im Mittelpunkt ragte das Seeschloss mit seinen spitzen Türmen auf. An seinen Pforten ging die Temarist vor Anker, dank der Gnade des Ertrinkenden in einem Stück.
Kaum war Soven den anderen aufs Riff gefolgt, trat Valenos zu ihr. Seine Haut zerfloss fast im Dunkel des Wassers. Sie mussten in einem ähnlichen Alter den Tod gefunden haben. Beide viel zu jung.
„Grandios gesegelt, Matrosin.“
Brivat stapfte kopfschüttelnd vorbei. „Dieses Schiff schafft mich. Und seine Besatzung!“
Die Wachen, die Fischschwänze anstelle von Beinen hatten, ließen sie ungerührt passieren.
„Königin Springflut erwartet Euch.“
666
Die Tore wurden aufgestoßen. Der Thronsaal, der sich vor ihnen öffnete, war allein durch seine schiere Größe beachtlich. Zwischen den Säulen standen Tribünen für den versammelten Hof. Am anderen Ende führten fünfzig Stufen zu einem Thron hinauf. Dort saß Springflut.
Als Soven zum ersten Mal vor der Königin gekniet hatte, war sie gerade gestorben und sollte als Verfluchte auf der Temarist anheuern. Fünfzig Jahre an Bord konnten sich wie eine Ewigkeit anfühlen, ihr Dienst jedoch war in Bälde erfüllt. Ihre nächste Begegnung würde die letzte sein und sie aus ihrem Dienst entlassen.
Springflut wedelte ungeduldig mit der Hand. „Tretet vor.“
Einige versetzten Nury einen Stoß. Sel hatte beim Würfeln verloren und musste nun die Neugierde der Königin befriedigen.
Springflut lehnte sich auf dem Thron vor. „Was kannst du mir aus der Welt der Sterblichen berichten? Kämpfen sie erneut ihre sinnlosen Kriege?“
Nury begann mit serl Ausführungen. Während der dritten Wiederholung einer Geschichte über vom Himmel geschossene Drachen brach der Hof im Einklang mit seinem Oberhaupt in gestelztes Gelächter aus. Hinter sich spürte Soven eine Bewegung im Wasser.
„Wollen wir dieser ermüdenden Langeweile entfliehen?“, flüsterte eine vertraute Stimme.
„Wird Ihre Majestät nicht wütend werden?“
„Was soll sie tun? Dich ein zweites Mal ertränken?“
„Sie könnte meinen Vertrag für nichtig erklären.“ Eine grausige Vorstellung.
„Diese Macht besitzt einzig der Ertrinkende.“
Sie wandte sich zur Sprecherin um. Vanah war wie alle hier eine Morja, eine Bewohnerin des Meeres. Dennoch unterschied sie etwas von den anderen. Die bläuliche Haut schien glänzender, das grünliche Haar schwereloser, die Flosse schillernder. Ihr Anblick berauschte Soven. Zusammen verließen sie das Schloss.
In den Gärten hielt ihr Vanah eine Hand hin. „Komm.“
Zögernd ergriff Soven sie. Die Berührung der Morja war sanft wie die Gischt. Sie zog sie mit sich hinauf. Vanah schwamm beinahe so schnell wie die Temarist. Ein Fischschwarm stob empört vor ihnen auseinander. Sie stiegen höher und höher, bis zu einer Klippe aus Korallen, die über der Stadt thronte.
Nachdem sie sich auf die Kante gesetzt hatten, ließen sie ihre Beine und Flosse im Wasser baumeln. Soven kam nicht aus dem Staunen heraus. Auf diese Weise hat sie das Riff nie zuvor betrachtet.
„Was für eine Aussicht.“
„Nicht wahr?“ Vanah lächelte sie an. „Meine tapfere Seefahrerin.“
Verlegen senkte Soven den Kopf. Trotz all der Zeit bereitete ihr dieses Lächeln jedes Mal Herzklopfen. Eine Tote sollte das nicht empfinden. Eine Tote sollte vieles nicht.
„Darf ich dich küssen?“
„Ich …“ Soven seufzte. „Die Frage kommt fünfzig Jahre zu spät.“
Allzu oft hatte sie die wie zäher Honig dahinfließende Zeit an diesem Ort verwünscht. Jetzt wünschte sie, der Fortlauf der Dinge würde endgültig erstarren. Leider blieb die Zeit ihre erbitterte Gegenspielerin.
Sie sah die Morja wieder an. „Du wirst noch lange leben, und ich bin tot.“
„Dafür wirkst du erstaunlich lebendig.“
„Der Zauber der Temarist. Sobald mein Vertrag erfüllt ist, wird mich dieses zweite Leben verlassen und ich werde durch die Tore des Todes schreiten.“
Obgleich sie sich darüber hätte freuen müssen, hörte sie den Klang ihrer eigenen Verzweiflung.
Vanah strich ihr liebevoll über die Wange. „Das Meer trägt unsere Tränen fort, nicht aber unseren Schmerz.“ Sie glitt von der Klippe. Ihr Haar bauschte sich wie Seetang um sie herum auf. „Darum nennen sie euch die Verfluchten.“
Zu ebenjenen Verfluchten kehrte Soven zurück. Sie saßen unter Deck der Temarist beisammen und spielten Karten oder musizierten, wenn auch nicht sonderlich gut. Mit verschränkten Armen lehnte sie sich an einen Balken. Es war ihr eine Ehre, an der Seite dieser Leute ihren Dienst getan zu haben.
„Bald übergebe ich sie in deine Obhut, Tem.“
Das Schiff knarzte zustimmend. Die See war aus Kummer gemacht.
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Der Tag von Sovens letzter Fahrt als Verfluchte an Bord der Temarist war gekommen. Nur eine Kurierfahrt durch die Wassersphäre, eine ruhige Reise vor ihrer ewigen Ruhe. Ehe sie aufbrachen, verabschiedete Vanah sie am Hafen. Die Morja trug Muscheln auf der Haut, und Perlenketten schmückten ihren Schwanz. Nicht, dass sie Schmuck nötig gehabt hätte.
Mit einem Mal wurde Soven das Herz schwer, als würde ein ganzer Ozean darauf lasten. Was hatte der Ertrinkende damit bezweckt, dass er die Strömungen sie zueinander hatte treiben lassen? Verdammter Urdämon!
„Ich erhielt keine Antwort auf meine Frage.“
Sie wich Vanahs Blick aus. Die hob ihr Kinn an, behutsam wie eine Brise in den Segeln. „Was betrübt dich, Soven?“
„Kommen Menschen und Morja an denselben Ort, wenn sie sterben? Werden wir zumindest im Tode vereint sein?“
„Viele Verfluchte suchten im Wechselspiel der Gezeiten nach Wissen über die jenseitigen Gestade, und scheiterten. Ist es dein Wunsch, dorthin weiterzuziehen?“
„Meine fünfzig Jahre sind um. Ich muss gehen.“ Obwohl ihr Herz anderes ersehnte. „Ich unterzeichnete den Vertrag meinem Seelenheil zuliebe, weil ich ein schlechter Mensch war.“
Die Morja zwirbelte eine Strähne von Sovens Haar um ihre Finger. Das grässliche Rot wirkte wunderschön neben dem Blau und Grün.
„Königin Springflut hat mir von einem Vertrag erzählt, dem allerersten.“ Vanahs Stimme überschlug sich vor Aufregung. „Die Temarist war nicht immer eine bloße Botin des Hofes. Einst diente sie als Anlaufstelle für Verständigung und Aussöhnung unter den Welten, geschlossen vom ersten Verfluchten und dem Ertrinkenden höchstselbst. Du könntest zu einer Friedensbringerin werden, das wäre gewiss gut für dein Seelenheil. Soven, wenn du vor Auslaufen deines Vertrages diesen ersten aller Verträge unterzeichnest, bleiben wir zusammen.“
Vanah peitschte mit ihrer Flosse durchs Wasser. Sie hoffte beharrlich. Dagegen hatte Soven längst alle Hoffnung davonwaschen lassen. Die folgenden Worte sprach sie mehr für ihre Geliebte denn für sich.
„Und wo ist dieser Vertrag?“
Plötzlich stoppten die Bewegungen der Flosse. Die Morja wand sich ähnlich einem Fisch am Haken. Es bereitete Soven Qualen, sie derart bekümmert zu sehen. Das alles hätte nie passieren dürfen.
„Er ging verloren.“ Sie straffte die Schultern. „Was nicht bedeuten muss, dass …“
„Vanah.“ Soven verschränkt ihre Hände miteinander. „Was wir hatten, war ein wundervoller Traum. Doch nun ist es an der Zeit aufzuwachen. Schwester Schnitter kann nicht betrogen werden. Der Tod holt sich, was ihm gehört.“
„Wie das Meer.“
„Ich gehöre dem Ertrinkenden, seit mein Körper in der Welt der Sterblichen zerschellt ist und er mir diesen gab.“
„Trotzdem willst du mich verlassen, meine tapfere Seefahrerin.“
Sie wusste nicht, ob Vanah weinte, ihre sonst sinnliche Stimme war rau. Deshalb legte sie ihre eigene Stirn an die der Morja.
„Ich liebe dich, Vanah. Aber ich muss gehen.“ Sovens Hand strich ein letztes Mal durch grünes Haar. Dann riss sie sich los. „Mögen die Strömungen dich stets recht geleiten.“
„Sie geleiteten mich zu dir. Ich liebe dich!“, schrie Vanah ihr nach.
Ihre Lippen bebten, sie sah nicht zurück. Soven ließ die königlichen Wachen und das Seeschloss hinter sich, und damit ihr Herz. Wie viele Tode konnte ein Mensch sterben? Bald würde sie es herausfinden. Wasser riss die Beweise ihrer Pein mit sich. Die See war aus Tränen gemacht.
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Die Leinen wurden losgemacht. Kaum war Soven an Bord, stachen die Riemen in den Ozean. Sie mussten rudern, bis sie das buntschillernde Korallenriff verlassen hatten. Die Strömung fing sie auf. Purpurne Blätter flatterten. Die Temarist segelte wieder.
Nury setzte einen Kurs, der Soven nicht vertraut war. Sie ließ sel gewähren, da sie die Neugierde kannte, die sel antrieb. Erst, als die Gewässer besonders finster und die Kreaturen um sie herum größer wurden, stieg sie zum Steuerrad hinauf. Ihr war ebenso bekannt, dass serl Neugierde tödlich sein konnte.
„Wohin führst du uns, Nury?“
„Das ist eine Abkürzung.“
„Eine Abkürzung wohin?“
Soven entdeckte es in serl Augen. Sie waren nicht nur Verfluchte, sie, die rastlosen Seelen, waren auch Reisende. Soven fühlte sich nicht bereit für das Ende ihres Wegs.
In diesem Moment stieg Brivat zur ihr aufs Achterdeck. „Das Meer fühlt sich unruhig an.“
„Ist das ein Hexengefühl?“
Ein Seitenblick traf sie. „Es ist sie.“
Nicht das noch. Bedauerlicherweise hatte Brivat sich jedoch nie geirrt. Soven verließ ihren Platz am Heck und nahm die linke der beiden Treppen.
„Auf eure Posten! Die Perlenräuberin ist nah!“
Mit der Ruhe war es vorüber. Chaos brach aus. Die untoten Seeleute schwammen hektisch durcheinander. Außenstehende hätten sicherlich befunden, es gäbe dabei keinen Plan.
„Was geht hier vor?“, fragte Valenos. Als neuestes Besatzungsmitglied war ihm eine solche Begegnung bisher erspart geblieben.
„Lebende aus der Sterblichen Welt, die hinter der Temarist her sind, um in sämtlichen Welten zu plündern und zu stehlen.“
„Wie meinen?“
„Du bist in einer Seeschlacht umgekommen, richtig?“
„Es war vielmehr ein Schlachtfest.“