Quimper - Flammende Bedrohung - Bernard Larhant - E-Book

Quimper - Flammende Bedrohung E-Book

Bernard Larhant

0,0

Beschreibung

Eine Bedrohung hängt über der Untersuchung...

Der Capitaine Paul Capitaine, Mitglied der Elysée-Sondereinsatzgruppe, muss sich disziplinarischen Maßnahmen beugen und wird in seine Geburtsstadt Quimper strafversetzt.
Bei der Rückkehr zu den Wurzeln seiner Kindheit wird seine Geduld jedoch hart auf die Probe gestellt. Von Anfang an geraten sein Vorgesetzter und er aneinander. Eine Ermittlung soll vorschnell abgeschlossen werden, und bei einem ungeklärten Brand in einem illegal besetzten Haus der Altstadt von Quimper sind Obdachlose zu Tode gekommen… Doch je heißer die Spur, desto mehr werden Paul Capitaine, der zum starrköpfigsten Schlag der Bretonen gehört, und alle, die ihm bei den Ermittlungen zur Hand gehen, konspirativ in die Zange genommen…

Genießen Sie den ersten Band der Ermittlungen des Capitaine Paul Capitaine !

AUSZUG

- […] Fast hätte ich unsere Nummer 007 mit seinem James-Bond-Girl vergessen. Da wäre noch die Geheimakte der drei Penner, die in ihrem selbst abgefackelten, besetzten Haus verbrannt sind. Tragt mir alle Informationen zusammen. Ich will die Ermittlung abschließen, der Gerichtsmediziner hat den Abschlussbericht bereits unterschrieben. Auf Fabiens Büro liegt der Polizeibericht der Blauen, die als erste an den Brandort gekommen sind. Ihr seht also, keine allzu komplizierte Aufgabe. Der Staatsanwalt erwartet, dass wir ihm in dieser Angelegenheit grünes Licht erteilen - dann wird die Sache ohne besonderes Ermittlungsverfahren abgeschlossen. Jetzt aber los, und ein bisschen dalli, dann können wir uns bald um andere Dinge kümmern. Noch Fragen? Keine,sehr gut! Dann an die Arbeit! Ach so, RMC, du bleibst natürlich hier vor deiner Maschine! Auch wenn du Videospiele spielst, ist mir das vollkommen wurscht, Hauptsache, du lässt uns in Ruhe!»
Wenn ich mich nicht im Griff gehabt hätte, hätte ich mit den Fäusten auf ihn losgehen können, so sehr ging mir das Gebärdenspiel dieses lächerlichen Zwergmatadors der Mordkommission inzwischen auf die Nerven. Aus diesem Grund war ich jedoch nicht hierher abbestellt worden!

ÜBER DEN AUTOR

Bernard LARHANT wurde 1955 in Quimper geboren und übt einen ganz besonderen Beruf aus: Er ist Worträtselerfinder. Während sein erster Roman in der südwestfranzösischen Aquitaine spielt, schreibt Bernard Larhant seither Bretagne-Krimis: der Capitaine de Police Paul Capitaine und seine Tochter Sarah ermitteln. Quimper - Flammende Bedrohung ist der erste Fall des schwungvollen Ermittler-Teams, das seinen Spürsinn bereits in zahlreichen Werken bewiesen hat. Bernard Larhant zählt zu den meist gelesenen Autoren der bretonischen Kriminalromane.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 325

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchumschlag

Buchtitel

Bernard Larhant ist der Autor von

Originaltitel : Quimper sur le gril

Der vorliegende Roman dient einzig dem Zweck der Unterhaltung. Sämtliche Ereignisse, sowie die Aussagen, Gefühle und das Verhalten der Protagonisten sind frei erfunden. Sie stehen in keinerlei Bezug zur Realität und wurden lediglich für die Romanhandlung erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen oder real existierenden Ereignissen wäre reiner Zufall.

Für Jean-Marie Larhant, meinen Großvater,

I

«Haben Sie diesen Artikel gelesen? Die Geschichte von demElysée-Polizisten, der sich als Maulwurf bei der Armee eingeschlichen hatte? Gelbe Karte! Seine Aufsässigkeit kam ihn wohl teuer zu stehen! Zu meiner Zeit verpasste man einem Querschädel, der sich dem Militär in den Weg stellte, eine gehörige Abreibung, bevor er überhaupt vor einem Militärgericht landete! Das ersparte derRépubliqueauch noch unnötige Kosten…».

Der Typ zu meiner rechten, der mich im TGV nach Quimper mit solchen Sprüchen nervte, sah mit seiner Meckifrisur aus wie ein pensionierter Berufssoldat, dessen fantasieloser Anzug den Gesamteindruck keineswegs angenehmer machte - selbst wenn heutzutage Kleider bekanntlich nicht mehr Leute machen. Er war in Vannes zugestiegen und starrte seither auf diesen Artikel in einem Wochenmagazin, das euphorisch einenCapitaine de PolicederElysée-Sondereinsatzgruppe in Fetzen riss. Er hatte mithilfe eines Unterseebootes nach geheimen Machenschaften der Armee gesucht.

Mein Reisebegleiter schwatzte weiter, machte sich jedoch darüber lustig, wie wenig ich mich für seine Anklagerede interessierte. In Gedanken näherte ich mich bereits dem Horizont, Quimper vor allen Dingen.

Mein Quimper, die Hauptstadt der Cornouaille und Präfektur des Finistère, die wie Rom auf sieben Hügeln gebaut wurde. Es ist eine stolze Stadt, die rund um die das Stadtbild so stark prägende Kathedrale und die vier klaren Wasserläufe auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückblicken kann. Quimper, für mich die Endstation und nahende Rückkehr zu den Wurzeln meiner Kindheit und Jugend, die mich zugleich in Panik und in Aufregung versetzte. Aus einer Laune heraus hatte ich mich ohne irgendeinen Zukunftsplan ins Unbekannte gestürzt. Meinen Eltern hatte ich kaum einen letzten Blick geschenkt, und war wie Sardou damals in seinem Lied einfach gegangen; ich liebte sie, aber ich verließ sie!

Dreißig Jahre später brachten mich die Umstände zu meinen Wurzeln zurück, und hartnäckige Zweifel plagten mich. Wie würde diese heißgeliebte Stadt mich überhaupt empfangen? In meiner selbstgewählten Exilperiode hatte ich sie schließlich kaum besucht. Ich wusste, dass ich mich auf Änderungen in meinem Leben gefasst machen musste, ich würde auch nicht ungeschoren davonkommen. Es wäre nicht das erste Mal, und mit Sicherheit auch nicht das letzte! Zumindest stellte ich mich gewissermaßen darauf ein, denn an jeder Form von Routine würde ich ohnehin zugrunde gehen… allerdings hatte ich absolut noch keine Lust, das Zeitliche zu segnen!

Schließlich brachte mich die Stille in die Gegenwart zurück, in den Zug, der mich ins Exil führte und gleichzeitig pilgerte ich dorthin zurück, wo mein Leben angefangen hatte. Elefanten, sagt man, kehren immer dorthin zurück, wo sie geboren sind, um dort zu sterben. Ich jedoch erhoffte mir eine Auferstehung…

Mein Sitznachbar hatte seinen Monolog endlich beendet und blickte mich durch seine gescheckte Brille an, sein Blick verriet eine stumpfe Verlegenheit, bevor er das Portrait des Magazins mit meinem Gesicht verglich und seine Augen seltsam hin und her bewegte. Er hatte plötzlich erkannt, in welch übergroßes Fettnäpfchen er getreten war und versuchte schwerfällig, seinen Ausrutscher wieder gutzumachen - wie wenig heldenhafte Kritiker, die plötzlich im Boden versanken, wenn sie ihre Ideen vor dem Opfer ihrer Kritik vertreten mussten. Also so ziemlich das Letzte!

«Entschuldigen Sie», stotterte er, «ich wusste wirklich nicht… Na ja, wahrscheinlich hatten Sie einen guten Grund, so zu handeln! In diesem Artikel werden auch keine Einzelheiten zu den Fakten aufgeführt, die Ihnen vorgeworfen werden… und die Armee ist ja schließlich auch nicht immer unschuldig! Ganz zu schweigen von den Journalisten, die banale Kleinigkeiten wie wahnsinnig aufbauschen, nur damit sie etwas mehr Papier verkaufen…»

Solange es Dummköpfe gibt, dachte ich, die ihr Geschreibsel kaufen und ihre wenig fundierten Verdächtigungen glauben! Doch die Bemerkung verbiss ich mir. Ich hatte mich dafür entschieden, diese Meinungsverschiedenheit während meines Quimper-Aufenthalts meinen Vorgesetzten gegenüber niemals zu erwähnen. Es handelte sich schließlich um ein Militärgeheimnis! Und jetzt der totale Blackout!

Nun verschwand der Bursche regelrecht in seinem Sitz, und ich hörte nichts mehr von ihm bis Quimperlé. Als er aufstand, um aus dem Zug zu steigen, warf er mir mit zuckersüßen Worten zu: «Alles Gute für die Zukunft!», bevor er sich ein wenig verwirrt verdrückte und wie ein Gespenst bis zur Tür schlich.

Je mehr wir uns Quimper näherten, desto stärker verspürte ich einen wachsenden Kloß im Hals, ein beängstigendes Gefühl im Brustbereich machte sich breit und ich fühlte mich immer bedrückter. Ein so beklemmendes Gefühl hatte mich noch niemals zuvor befallen, auch nicht in den entscheidendsten Momenten der Sondermissionen, an denen ich teilgenommen hatte. Ein paar heftige Situationen kamen mir in den Sinn, das formt den menschlichen Charakter und bringt einen dazu, über die Vergänglichkeit unseres Lebens nachzudenken, über den Sinn von Pflichtbewusstsein, und über die gebrachten Opfer im Namen des Gehorsams seinen Vorgesetzten gegenüber.

Durch das Zugfenster erkannte ich endlich ein paar Landschaften: das unverwechselbare Jet-Tal - der kleine Fluss entlang der Eisenbahnschienen würde in Quimper in die breitere Odet fließen - saftig grüne Hügel und gepflegte Wäldchen. Mir fiel auf, dass an den abfallenden Hängen des linken Ufers mehr Häuser standen, die angenehm friedliche Atmosphäre hatte die Besitzer wohl für sich eingenommen. Wir näherten uns der Endstation. Jetzt kam die lange Anfahrt zu dem Bahnhof, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, ich, der unglückliche Sohn eines Bahnhofswärters, der täglich morgens vom ersten Zug nach Brest geweckt wurde. Der Ort ähnelte nicht im geringsten den Bildern, die ich mir in meinem Innersten davon bewahrt hatte, weder die Gebäude am Rande der Gleise, noch die Häuser in den umliegenden Hügeln, und am allerwenigsten, als der TGV am Bahnhof hielt! Der unvermeidliche Fortschritt, der den Reisenden helfen sollte, sich von einer Stadt zur anderen immer wieder zurechtzufinden, hatte sein Vereinheitlichungswerk verrichtet, und das sogar im Finistère, am Westzipfel Europas. Absolut nichts erschien mir vertraut, außer der Terrasse über dem Bahnhofsgebäude, auf der wir uns mit ein paar Kumpels großartige Fußballpartien geliefert hatten. Irgendwie hoffte ich, dass sie noch immer von der Schotterschicht bedeckt war, die schon so einige Knie ruiniert hatte. Wenn ein Ball über das Geländer fiel, kickten ihn uns die Busfahrer, die unten auf dem Platz friedlich diskutierten, mit einem gezielten Schuss wieder nach oben. Entweder drehte sich früher die Erde weniger schnell, oder die Menschen nahmen das Leben einfach gelassener…

Manchmal war es vorgekommen, dass eines der großen Wohnzimmerfenster der elterlichen Wohnung unserer Ungeschicklichkeit zum Opfer fiel, dann erschien jedes Mal meine Mutter und tobte mit Nachdruck. Unser Spiel wurde sofort unterbrochen und wir stolperten bedrückt ins Wohnzimmer. Meine Mutter war nie tief verärgert gewesen: Zehn Minuten später hatte sie bereits einen kleinen Imbiss für uns vorbereitet und rief uns zumGoûteran den Tisch!

Ich fühlte mich wie ausgelöscht, als hätte man mir „meine Erinnerungen gestohlen”. Auch der Busbahnhof war abgerissen worden; selbst die Toiletten, die wir jeden Morgen benutzt hatten, als die elterliche Wohnung einmal inklusive WC saniert wurde, waren der Modernisierung zum Opfer gefallen. Wir hatten warten müssen, bis es ruhig im Viertel wurde und erledigten still unser Geschäft. Morgens bemühten wir uns, früh aus dem Bahnhofsgebäude zu verschwinden, bevor die ersten Reisenden eintrafen… Wir stürzten uns in die Anonymität der Morgenfrische mit einer Klopapierrolle unter dem Arm oder gerüstet mit einem Handtuch und einem Stück Seife. Menschenskind, das waren Zeiten! Wenn wir unglücklicherweise einen Nachbarn trafen, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf, und wir beeilten uns, ihm den Grund unseres nächtlichen Ausflugs zu verraten…

Aber dasHôtel des Voyageursstand immer noch wie eh und je an seinem Platz dem Bahnhof gegenüber. Wieder sprang mich der Kloß im Hals an und ich musste mich räuspern. Rechts und links vom Hotel hatten frühere Hotelbesitzer den Platz scheinbar schon zugunsten von Banken, Cafés und Autovermietungen geräumt, oder waren wohl von Hotelketten aufgekauft worden. Dieses hier blieb im Angedenken an die Vergangenheit standfest, liebäugelte aber mit dem Takt der verrinnenden Zeit. Kaum renoviert und vielleicht nicht ganz so modern! Und Françoise? Wer weiß, vielleicht würde ja auch Françoise noch hier wohnen? Ich wagte es kaum, zu hoffen! Mit meinem dicken Rollenkoffer und durch das Gewicht meines Rucksacks etwas erdrückt schlängelte ich mich durch den Verkehr.

Ich brauchte nicht lange, bis ich die Silhouette erkannte, die sich durch das Schaufenster abzeichnete. Es war ein Schock für uns beide. Die Hand auf die Empfangstheke gestützt, erstarrte sie wie eine Salzsäule. Ich öffnete die Tür, stellte meine Siebensachen ab, und küsste sie nach ein paar Schritten auf die Wange.

«Ein Heimkehrer!», sie verschluckte sich beinahe und rieb sich unbewusst ein Auge, «Paul Capitaine höchstpersönlich… Seit wann hast du mir eigentlich nicht mehr das geringste Lebenszeichen geschickt? Zwanzig Jahre, fünfundzwanzig vielleicht?»

«Dreißig!», antwortete ich und setzte zum Zeichen des Bedauerns eine betrübte Mine auf. «Aber du hast dich in dieser ganzen Zeit kein bisschen verändert, Françoise! Bildhübsch wie eh und je! Und zuverlässig wie immer an Ort und Stelle… Und deine Eltern, wie geht es ihnen jetzt?»

«Sie sind jetzt pensioniert und haben es sich inKerlevengemütlich gemacht», antwortete sie mit dieser sanften Stimme, die nostalgische Gefühle in mir weckte. «Und ich, ich hatte nicht wirklich eine Wahl! Eine Zeitlang habe ich ihnen geholfen, bis ich dann übernommen habe. Du siehst also, nichts Außergewöhnliches… Ein durchschnittliches Alltagsleben, während du durch die Welt fuhrst, um die Interessen unseres Landes zu verteidigen und seine Staatsangehörigen zu beschützen. Eigentlich sollte ich dir sogar dankbar sein: Während ich deine Heldentaten verfolgte, war ich schließlich auf meine Art auch auf Reisen…»

In wenigen Worten berichtete Françoise von ihrer gescheiterten Ehe, sie war erst zwanzig gewesen, und von ihren beiden Kindern, die sich in Paris niedergelassen hatten: Fabien strebte eine Beamtenkarriere im Dienste derRépubliquean und Floriane hegte den Wunsch, Schauspielerin zu werden, sie studierte Schauspielkunst amCours Florent. Nach ihrer Scheidung war Françoise wieder zu ihren Eltern zurückgekommen und übernahm nach und nach die Leitung des Hotels. Das Restaurant bekochte heute nur mehr die Halbpensions-Kunden, denen einfache Gerichte serviert wurden. Die Zimmer waren nicht neu hergerichtet worden, nur das Notwendigste, damit man den Normen entsprach und eine Kundschaft von Handwerkern, Vertretern und weniger betuchten Sommergästen zufriedenstellen konnte.

Ob sie mir wohl für einen Monat ein Zimmer vermieten würde, erkundigte ich mich. Nachdem sie mir versichert hatte, dass ich sogar das beste und ruhigste bekäme, nahm ihr Gesicht einen ernsteren Ausdruck an.

«Und du, Cap», befragte sie mich liebevoll, «du steckst wohl mitten in einer turbulenten Zeit, die ganze Presse ist voll davon… Ich möchte nicht drängen, nur wenn du darüber reden magst, du weißt schon, ich höre gerne zu! Ich könnte mir vorstellen, dass du nicht umsonst hierhergekommen bist… Dafür ist eine alte Freundin schließlich da! Weißt du noch, als du mir auf dem gemeinsamen Heimweg vom GymnasiumLa Tour d’Auvergnevon deinen ersten Liebesgeschichten erzählt hast? Du hast mir immer von den anderen Mädchen erzählt, bis du eines Tages gemerkt hast, dass ich auch eines bin…»

«Ich habe schon immer gern in der Ferne gesucht, was ich direkt vor Augen hatte», antwortete ich verdrossen. «Liebe, Glück, Gelassenheit… Ich erinnere mich gut daran, wie meine Freunde fanden, ich hätte echt Schwein, dass ich so viel Zeit mit der hübschesten Braut der Schule verbringen durfte, und ich, ich lachte nur dabei! Für mich warst du wie eine Schwester! Irgendwann begriff ich jedoch, was für ein Juwel ich jeden Tag an meiner Seite hatte… Weißt du, ich habe mehr als einmal an die Monate zurückgedacht, die wir von da an gemeinsam verbracht haben. Selbst heute verstehe ich noch nicht, weshalb ich dich sitzen lassen habe, warum ich alles hingeschmissen habe, um mich dann blindlings ins Abenteuer zu stürzen. Vermutlich war mir alles Offensichtliche zuwider, ein vorgezeichneter Weg, ein vorausbestimmtes Schicksal… Vielleicht bin ich ja deshalb Bulle geworden…»

«Du hast dich kein bisschen verändert!», erklärte sie, als hätte sie meine Rechtfertigungen überhört, um nun vollkommen in ihren Erinnerungen zu schwelgen. «Und siehst immer noch wie ein Sportler aus! Außerdem erkennt man im Voraus, wenn du gleich einen Witz reißt, wie früher, da verzieht sich nämlich sich der Mund… Aber die grauen Haare, Cap, die stehen dir echt gut…! Wenn du wüsstest, wie oft mir dieser Spitzname immer noch in den Sinn kommt! So, jetzt aber los, sonst schlagen wir hier noch Wurzeln…».

Françoise drehte sich diskret um und wischte eine Träne weg, dann half sie mir, meine Sachen aufs Zimmer zu bringen und zeigte mir das Hotel. In der elterlichen Wohnung hinter der Hotelrezeption bot sie mir ein Bier an. Hier lebte sie heute und erwartete nicht mehr vom Leben, als dass es möglichst friedlich verlief, ohne Krankheit, ohne Sorgen. Der erste Raum war das Wohnzimmer, daneben ein anderer zum Essen; ganz hinten führte noch eine Tür in einen dritten Raum, das war bestimmt ihr Schlafzimmer. Ihre Kinder meldeten sich selten und besuchten sie nur, wenn es ihnen ein wenig an Geld fehlte. Ihre eigenen Eltern stellten hohe Ansprüche, deshalb vermied sie Besuche und entging so wenigstens deren Forderungen und bitteren Vorwürfen. Eigentlich wäre sie gerne eine neue Beziehung eingegangen, verriet Françoise, fürchtete jedoch, dass es wieder nicht klappen würde. Sie schien ihr Selbstvertrauen verloren zu haben, und das Vertrauen in Männer wohl gleich mit!

Von der Beste-Freunde-Gruppe aus unserer Jugend war nur mehr einer übrig geblieben, sie trafen sich hin und wieder. Und Ronan Feunteun, inzwischen Journalist beiOuest-France, grüßte sie zerstreut, wenn sie sich zufällig begegneten. Ihre Worte waren voller Nostalgie, als wäre ihr Leben mit der Scheidung zu Ende gewesen. Vielleicht sogar früher, nämlich als ich ihr offenbarte, dass ich alles hinschmeißen und ein Leben weit weg von Quimper führen würde. Dabei hatte sie nicht das Geringste damit zu tun. Mein einziges Ziel war es, der Familie und einer vorgezeichneten Zukunft zu entgehen.

Françoise schien mir mein Verschwinden jedoch nicht mehr übel zu nehmen und hatte ihre fürsorgliche und beruhigende Sanftheit auch über die Jahre nicht verloren. Aus ihrer inneren Stärke heraus blickte sie anscheinend über Probleme hinweg, obwohl sie sich garantiert wie wir alle damit herumschlagen musste. Sie hatte nicht mal eine Erklärung verlangt, doch ich schuldete ihr eine. Sonst würde es schwierig werden, wieder einen Draht zueinander zu bekommen, das Leben hatte uns verändert:

«Weißt du, wenn wir uns so unterhalten, spüre ich echt einen Kloß im Hals! Es tut mir so leid, Françoise! Was habe ich denn aus meinem Leben gemacht? Ich habe meinem Land immer selbstlos gedient, und letztendlich wirft man mich raus wie einen Aussätzigen… Eine Welt, in der lange Jahre ordnungsgemäßen Berufslebens im Handumdrehen durch eine einzige - in den Augen einiger weniger - tadelnswerte Handlung ausgelöscht werden können, und das widert mich an! Deine Vorgesetzten, die dich am Vortag bis in den Himmel lobten, lassen dich ohne jegliche Gewissensbisse fallen, deine Bekannten drehen sich weg, damit sie nicht auch etwas abbekommen. Sogar der Badezimmerspiegel hält inne, bevor er dir ein anderes Bild von dir selbst zeigt! Das bisschen Menschlichkeit in deinen Augen gibt mir wenigstens das Gefühl, dass ich noch irgendjemandem etwas bedeute!»

«Deine Mutter ist gestorben, aber deinen Vater hast du ja noch!», hielt Françoise meinem Gefühlsausbruch entgegen. «Und deine Schwester arbeitet im Krankenhaus in Quimper, wenn ich mich recht erinnere… Du bist in deinem Hundeleben nicht allein!»

«Mein Vater redet nicht mehr mit mir seit dem Tag, an dem ich für meine erste Mission ins Ausland fuhr, er wollte, dass ich ihm in der Trauerzeit beistehe. Und meine Schwester Colette macht mir deswegen auch heute noch Vorwürfe! Sie können einfach nicht verstehen, dass ich einen Befehl ausführen musste… Ich bin aber nicht gekommen, weil ich dir mit meinem Gemütszustand die Laune verderben wollte… Ich bin nach Quimper versetzt worden, du brauchst mich aber nur einen Monat lang zu ertragen, das ist alles!»

Später am Abend stand mir der Sinn nach einem Spaziergang durch die Straßen der Stadt. Die Sonntagabende an der Odet waren schon immer ruhig. Am Quai Dupleix, dessen Straßenbau ich als Kind miterlebt hatte, fuhren weit weniger Autos vorbei; Die Stadt gehörte den Fußgängern, die friedlich den Fluss entlang spazierten oder einen Moment vor ein paar beleuchteten Schaufenstern stehen blieben. DiePlace Saint-Corentinwar nicht mehr dieselbe und die restaurierte Kathedrale erstrahlte besonders in der Abendsonne in neuem Glanz. Die Geschäfte, die mir als Kind gefallen hatten, waren fast alle verschwunden. Ich versuchte, mich an Erinnerungen festzuhalten, doch eine nach der anderen versank im Unbekannten. Die Metzgerei war jetzt ein Laden für Kunsthandwerk aus dem Ausland, im Luxushotel übernachteten keine Gäste mehr, das Sportgeschäft, an dessen Schaufenster die Spielerliste fürs nächste Fußballspiel desStade Quimpéroisausgehängt worden war, bot nunmehr Aktionsartikel für einen Mobilfunkprovider an…

Ich ging auch amCommissariatvorbei, in dem ich den befristeten Arbeitsplatz in meiner Heimatstadt einnehmen sollte, aufgebrummt als Strafmission von meinen Vorgesetzten. Nur einmal war ich drin gewesen, ich hatte eine Brieftasche abgegeben, die ich auf dem Weg zur Sporthalle gefunden hatte. Mein Vater hatte mir aufgetragen, sie insCommissariatzu bringen. Kurze Zeit später stolzierte ich mit den Dankessprüchen der Polizisten wieder heraus.

Der Wachpolizist erkannte mich nicht. Wie sollte er auch? Er war unter dreißig… Wer in dieser Stadt erinnerte sich überhaupt noch an mich, obwohl ich hier die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte? Nur die fleißigen Fernsehzuschauer der Nachrichtenmagazine mit einem guten Personengedächtnis vielleicht: doch die würden wohl keine Lust haben, mich näher kennenzulernen! Vielleicht hatte mich die Wache doch identifiziert, er zog die Augenbrauen zusammen und stellte fest, dass ich die Fassade desCommissariatsausführlich betrachtete, also setzte ich ein gleichgültiges Lächeln auf.

Die meisten Gebäude hatten sich im Großen und Ganzen nicht erheblich verändert, die Menschen jedoch sehr! Würden sie mir freundlich oder abweisend begegnen? Würde ich über die Vorfälle berichten müssen, die mich hergeführt hatten oder würden sie mich in Frieden lassen? Würde ich dort Verbündete finden oder feindlich Gesinnte? Hunderte von Fragen quälten mich, als ich den Weg Richtung Steir-Einmündung in die Odet einschlug. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick aufsBretagne, die Brasserie, in der wir uns sonntagvormittags immer mit den Fußballkumpels getroffen hatten, dann zogen wir alle zusammen ab zum Spiel in eine der Ortschaften desFinistère. Nach dem Spiel warteten wir dort die Ergebnisse des Tages ab, wir wollten wissen, wie die gegnerischen Mannschaften desStade Quimpéroisabgeschnitten hatten, lange vorTélé-Footmit Saccomano oder einem anderen. Ich war überrascht, dass es geschlossen hatte, selbst dieBrasseriehatte also dem Machtkampf mit der Zeit nicht standgehalten.

Ich bog ab zur Markthalle, dabei fiel mir der Abend ein, an dem ich auf dem Nachhauseweg vom Strand mitansehen musste, wie die Flammen meterhoch aus dem alten überdachten Marktplatz züngelten und die ganze Stadt gespenstisch erhellten. Die Straßen ringsum waren zu Fußgängerzonen geworden und weckten eine Menge süßer oder bitterer Erinnerungen. Die Abendfrische machte sich bemerkbar, also machte ich mich auf den Rückweg zum Bahnhof. Den Weg kannten meine Beine in- und auswendig,Rue du Frout,Rue des Réguairesund dann die Hecke entlang, die die Gleise vom Bahnhofsparkplatz trennten. Vom vordersten Strauch rupfte ich gewöhnlich zehn schwarze Beeren ab. Dann kickte ich eine davon weg, und wenn es ein guter Tag war, eine zweite, genau da, wo die erste liegen geblieben war. Zehn Beeren reichten aus, um den ganzen Weg bis zu unserem großen Haus an den Gleisen hinter mich zu bringen. Zu dieser Zeit war es unkompliziert für Kinder, den Weg von der Schule bis nach Hause zu überbrücken… Als ich noch ganz in Gedanken die Straße zum Hotel überquerte, hätte mich fast ein Schwarm Motorräder umgefahren, die sich, kaum war die Ampel grün geworden, volle Pulle reinlegten. Andere Zeiten, andere Geschwindigkeiten!

Montagmorgen,CommissariatQuimper,Rue Théodore Le Hars. Ich hatte bereits einen zügigen Fußmarsch hinter mir und erklomm nun die Treppe, die zur Mordkommission im ersten Stock führte. Ich wurde erwartet. In einem großen Saal war die ganze Truppe bereits versammelt, und als sie mich reinkommen sahen, trat mir der Älteste entgegen und lächelte höhnisch. Das verhieß nichts Gutes. Die anderen drehten sich mit einem Ruck um und musterten mich von Kopf bis Fuß.

«Ach, da ist ja der Cowboy des Präsidenten!», rief der Älteste und streckte mir die Hand zum Gruß hin. «Unser Geschenk der République! Commandant Vendelli, dein neuer Chef! Ich zeig’ dir gleichmal, wo’s lang geht, mein lieber Herr Capitaine Paul Capitaine! Ich bin hier der Chef! Ich gebe die Befehle, und die werden gefälligst ausgeführt! Wer persönliche Initiativen ergreift, den mache ich fertig! Wer mich sucht, der findet mich gewöhnlich! Du siehst also, wenn du funktionierst, dann bekommen wir auch kein Problem miteinander!»

Sein Zwei-Tage-Bart gab ihm den Anschein eines wenig sympathischen, abgebrühten Haudegens. Ich vernahm seine verrauchte Stimme, begleitet von einem unangenehmen, von Tabakhauch durchdrungenen Mundgeruch; er hatte den Ton eines lausigen Küstenschiffkapitäns! Hätte er sich unbeliebt machen wollen, wäre das ein guter Anfang gewesen! Mit seinem bis zum Hals anliegenden schwarzen Pullover und seiner Jeans besaß er rein gar nichts von einem Brigadeführer, von denen ich schon mehrere hatte kennenlernen können. Sein rotbraunes Haar war kaum länger als der Bart; sein gedrungener Körperbau erinnerte an eine Kommandotruppe, nur der rundliche Bauch ließ Zweifel daran aufkommen. Hatte er sich womöglich zu oft in den Cafés der Stadt hinter einem prickelnden Bier versteckt? Er stellte sein Team vor:

«Das ist Fabien Quesnoy», erklärte er stolz und legte seine Hand auf die Schulter eines jungen, knapp dreißigjährigen blonden Mannes. «Mein Teamkollege, den ich gerade ausbilde, der wird mal richtig gut! Der hier ist derCapitaineHervé Fouilloux, seriöser Mitarbeiter, diskret und effizient, genau wie es sein soll! Soll heißen: befehlshörig und allergisch gegen eitle Einzelgänger. Das istLieutenantCarole Mortier, sie würde mir weniger auf die Nerven gehen, wenn ihre persönlichen Probleme endlich einmal geklärt wären. Zurzeit aber schwankt ihre Arbeit je nach Gemütszustand.

Das ist Mario Capello, Ermittlungsbeamter, aber Experte, wenn es darum geht, Mädchen aufzureißen. Er kommt aus Marseille…

Und das ist unser Polacken-Girl, sie ist noch nicht lange da und steckt nach der Polizeischule Cannes-Écluse mitten in ihrer ersten Berufserfahrung. Auf dem Papier weiß sie alles, aber wenn sie auf den nächstbesten Judas trifft, kippt sie um als hätte sie gerade mal die Erstkommunion hinter sich gebracht.»

«Den jüngsten Richtlinien der Generalverwaltung nach», meldete ich mich zu Wort, «ist Polacken-Girl ein abwertender Begriff mit rassistischem Hintergrund, genauso wie Neger, Schwuchtel,BougnouloderBicotbei Zuwanderern aus den Maghreb-Staaten,Youpinfür Juden und so weiter… Deswegen würde ich Sie bitten,Commandant, stellen Sie mir doch bitte die neue Kollegin mit ihrem Namen vor!»

«Mein Name ist Sarah Nowak», die junge Frau kam auf mich zu, «und es ist mir eine Ehre, einen Polizisten kennenlernen zu dürfen, der Ihre Erfahrung besitzt. Sie müssen wissen, dass Sie auf der Polizeischule ein Beispiel für uns sind, vor allem seit Ihrer Rolle als Unterhändler in der Geiselaffäre von Beirut und Ihrem Eingriff…»

«Ende der Komplimente!», unterbrach Vendelli trocken und ein wenig irritiert. «Es sollte doch nicht in Vergessenheit geraten, dass derCapitainePaul Capitaine einen Monat lang hierher strafversetzt wurde, nämlich wegen einer kürzlich vorgefallenen Pflichtverweigerung. Mit einem weißen Ritter oder einem unbesiegbaren Helden kann man ihn also auf keinen Fall vergleichen, selbst wenn eine gewisse slawische Schönheit ihn gerne so sehen würde… Sag mal, nannten sie dich vorher eigentlich Lieutenant Paul Lieutenant?» Fabien Quesnoy lachte schallend und war mit dem Galgenhumor seines Chefs zufrieden. Die anderen verzogen nur den Mund. Vendellis Blick schweifte zur Eingangstür hinüber, in der eine dunkelhäutige Schönheit mit einem hübschen Gesicht erschien, dreiviertel versteckt unter einem dicken Schal.

«Na, und das ist der letzte Klotz am Bein in unserem Team!», rief Vendelli. «Woran liegt es denn heute Morgen, RMC? Hat der Wecker nicht geklingelt? Oder war es das Auto, das nicht angesprungen ist? Oder vielleicht eine rote Ampel, die partout nicht grün werden wollte? Oder vielleicht nur eine heiße Nacht mit einem gut gebauten Schwarzen von deiner Insel?»

Die junge Frau von den Antillen erklärte nur, dass ihre Nachbarin Streit mit ihrem Mann gehabt hatte und dass sie die beiden hätte trennen müssen, versprach aber, dass sie die verlorene Zeit am Abend nachholen würde. DerCommandantstellte sie nun doch vor: Die Ermittlungsbeamtin Rose-Marie Cortot, genannt RMC wie der gleichnamige Radiosender Radio Monte-Carlo, war IT-Spezialistin und seit zwei Monaten in Quimper. Ihre Aufgabe war es, ein neues System zum Recherchieren und Auffinden von Verdächtigen aufzubauen, das an eine nationale Liste angebunden war. Sie blieb also grundsätzlich im Büro. Ihr Chef behauptete, sie wäre völlig verloren, wenn sie ihre Maschine nicht hätte und könnte nicht einmal eine Waffe gebrauchen, ohne dabei einen Teamkollegen zu verletzen…

Ich hatte gerade mal zehn Minuten mit diesem Team verbracht und erkannte, in welch angespanntem Klima ich während meiner einmonatigen Strafversetzung stecken würde. Nun hatte ich einen Überblick: Ich hatte einen Eindruck von jedem Teammitglied bekommen, und Vendellis abfällige Bemerkungen und wie jeder darauf reagierte, hatten dazu beigetragen, ihre Persönlichkeiten einschätzen zu können.

Der junge Fabien Quesnoy schien seinen Chef und Partner grenzenlos anzuhimmeln, während dessen Erniedrigung oder höhnender Spott über andere ihm Spaß zu bereiten schien. Ein echter Macho-Lehrling, wenn es nicht sogar schlimmer kommen könnte, denn falls er eine Zukunft als Folterknecht anderer anvisierte, hatte er wohl den bestmöglichen Lehrer aufgestöbert.

Hervé Fouilloux schien deren Sexismus nicht zu teilen, fand ich, er hielt sich offenbar nur zurück, um nicht in einen aussichtslosen Konflikt mit seinem Vorgesetzten zu geraten. Er schien überlegt zu handeln und einen scharfen Verstand zu besitzen, dürfte also ein guter Polizeibeamter sein, wenn nicht eine krankhafte Schüchternheit ihn daran hinderte, frei zu agieren.

Carole Mortier, kurze braune Haare und wohl an die vierzig Jahre alt, schien wie Hervé Fouilloux etwas überempfindlich zu sein und hielt sich zurück, damit sie in Gegenwart ihrer Partner nicht Gift und Galle spuckte. Sie schien fortwährend die Zähne zusammenzubeißen, ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht war angespannt; die Herausforderungen des Lebens waren wohl nicht unbemerkt an ihr vorbeigegangen. Ohne zu wissen wie ich es anstellen sollte, verspürte ich das Bedürfnis, ihr irgendwie zu Hilfe kommen.

Mario Capello war ein echter Latin Lover: volle schwarze Haare, hellblaue Augen, modische Klamotten und das gewisse etwas, mit dem er wohl alle Mädels verführte… Vendellis rassistische Anspielungen hatten ihn ganz und gar nicht zum Lachen gebracht, er hatte meinen Einwänden zugunsten von Sarah Nowak mit dem Blick sogar zugestimmt. Vielleicht gefiel ihm die hübsche Blondine mit dem scharfen Verstand ja, sie hatte etwas entschieden Romantisches, einen grundaufrichtigen Blick und ein ewig jugendliches Gesicht. Vielleicht würde sie besser zu Modemagazinen passen als zu Polizeiaktionen! Von nun an hielt sie sich stets in meiner Nähe auf, als würde sie meinen väterlichen Schutz suchen. Sie hätte tatsächlich meine Tochter sein können! Etwa fünfundzwanzig musste sie sein, und ich über zweiundzwanzig Jahre älter…

In diesem Augenblick spürte ich so stark wie nie zuvor, wie die Zeit vergangen war. Wenn man wie ich in den Tag hinein lebte und wie im Sport ein Spiel nach dem anderen spielte, vergisst man leicht, dass die Zeit in der Sanduhr läuft. Jedes Sandkorn ähnelt zwar dem anderen, ist aber, wenn man genauer hinschaut, nicht ganz dasselbe… Die Jahre waren vergangen und das Wasser floss immer noch unter Brücken und Stegen durch, auch das der Odet.

Genau in diesem Moment wurde es mir schwindelig. Der Vorteil meines Berufes bestand darin, dass ich mich mehr als andere gegen Aggressivität wappnen musste, ob sie nun von den Vorgesetzten kam oder von Gegnern, die ich hatte neutralisieren müssen, Waffenhändler und Seelenverkäufer, Terroristen jeder Art, wahnsinnige Autonomisten oder getreue Untergebene eines Diktators in irgendeiner Bananenrepublik. Humor war für mich jederzeit ein rettender Zufluchtsort gewesen, eine philosophische Lebenshaltung, mithilfe derer man jede explosive Lage entschärfen und Ruhe bewahren konnte. In manch einer zugespitzten Lage hätte ich leicht komplett durchdrehen können.

DerCommandant, dem ich mich nun unterordnen musste, hatte versucht, mich am Tag meiner Ankunft zu einem Fehltritt zu bewegen. Sicher wollte er nur seine Autorität in der Gruppe bewahren und mich ein für alle Mal bei den Kollegen bloßstellen. Bei seinem letzten Macho-Übergriff hatte er es auf die junge Frau von den Antillen abgesehen, und mir platzte beinahe der Kragen:

«Ich habe noch nie verstanden, wie Frauen es fertig gebracht haben, Polizeibeamtinnen zu werden, und noch dazu Verantwortung zu übernehmen!», kommentierte er und blickte bösartig in die Runde. «Vielleicht für Parkuhren, aber doch nicht bei der Mordkommission! Noch dazu schickt man uns Zouk-Tänzerinnen, die kaum von der Kokospalme heruntergestiegen sind! Bald haben wir hier keine Brigade mehr, sondern einen Zoo!»

Es blieb unerwartet still. Bei seinem letzten Satz hatte er mich so provozierend angestarrt, dass ich ihm einen vernichtenden Blick zuwarf, so lange, bis er von mir abließ und sich einem anderen Kollegen zuwandte.

Er entschuldigte die Abwesenheit von Hauptkommissar Chantre, der wieder einmal gesundheitlich verhindert war und der ihm wie gewohnt bei den laufenden Ermittlungen diese Woche freie Hand ließ.

Nachdem er endlich alle vorgestellt hatte, machte sich Gilles Vendelli daran, die Teamstrategie offenzulegen. Seinem Team wandte er sich auf dieselbe energisch autoritäre Art und Weise zu, die seine Leute genau dorthin brachte, wo er sie haben wollte.

«Wir haben dringende Verpflichtungen: Die Leiche des stellvertretenden Bürgermeisters wurde amChemin du Halagegefunden, am alten Treidelweg kurz vor dem HafenCorniguel. Dank Fabiens Voruntersuchung können wir die Persönlichkeit des Opfers bereits einschätzen: Marc Bénédetti war ein Umweltschützer und homosexuell. Er lebte mit einem gewissen Julien Torcy zusammen, den ich persönlich befragt habe. Länger brauchen wir nicht zu suchen, die Sache ist klar - er ist der Täter; ich habe ihn bereits in Gewahrsam genommen. Da haben nur Schwule miteinander abgerechnet. Wie soll man verstehen, was so hirnrissige Typen überhaupt im Kopf haben!»

«Commandant», unterbrach ich ihn und spürte, wie der Zorn in mir hoch stieg, «ich bin mir nicht sicher, ob Sie diese Sprachmittel bewusst einsetzen, um mich auf die Palme zu bringen, aber man sollte über Homosexuelle nicht so sprechen! Diese Ausdrücke sind erniedrigend und eines Polizeidienstleiters nicht würdig! Auch Ihre Schlussfolgerungen in diesem Fall erscheinen mir ziemlich überstürzt! Ich hätte gern von einem handfesten Beweis gehört und nicht urteilende Worte gegen eine Person, nur weil sie anders lebt als die meisten.»

«Mit Fabien knöpfen wir uns Torcy noch ein wenig vor und bohren nach weiteren Informationen», fuhr er fort, ohne sich im Geringsten um meine Einwände zu kümmern. «Dann schauen wir bei der Sekretärin des Umweltschützers in der Stadtverwaltung vorbei. Hervé und Mario, ihr übernehmt die Nachbarschaftsermittlung der beiden Typen, ich will konkrete Beweise für ihre Streitgründe, Zeugenberichte zu ihrem ausschweifenden Leben, Zoff und Ehekrach… Carole, du gehst zu Bénédetti nach Hause und untersuchst alles bis ins kleinste Detail, auch den Schriftwechsel. Und bring’ jedes Papier von Interesse mit, das du dort auftreiben kannst. Die Untersuchung wird sicher den ganzen Tag dauern, dann kannst du abends gleich deine Tochter abholen, wenn du fertig bist! Siehst du, meine Süße, ich bin gar nicht so barbarisch, wie du glaubst! Fast hätte ich unsere Nummer 007 mit seinem James-Bond-Girl vergessen. Da wäre noch die Geheimakte der drei Penner, die in ihrem selbst abgefackelten, besetzten Haus verbrannt sind. Tragt mir alle Informationen zusammen. Ich will die Ermittlung abschließen, der Gerichtsmediziner hat den Abschlussbericht bereits unterschrieben. Auf Fabiens Büro liegt der Polizeibericht der Blauen, die als erste an den Brandort gekommen sind. Ihr seht also, keine allzu komplizierte Aufgabe. Der Staatsanwalt erwartet, dass wir ihm in dieser Angelegenheit grünes Licht erteilen - dann wird die Sache ohne besonderes Ermittlungsverfahren abgeschlossen. Jetzt aber los, und ein bisschen dalli, dann können wir uns bald um andere Dinge kümmern. Noch Fragen? Keine, sehr gut! Dann an die Arbeit! Ach so, RMC, du bleibst natürlich hier vor deiner Maschine! Auch wenn du Videospiele spielst, ist mir das vollkommen wurscht, Hauptsache, du lässt uns in Ruhe!»

Wenn ich mich nicht im Griff gehabt hätte, hätte ich mit den Fäusten auf ihn losgehen können, so sehr ging mir das Gebärdenspiel dieses lächerlichen Zwergmatadors der Mordkommission inzwischen auf die Nerven. Aus diesem Grund war ich jedoch nicht hierher abbestellt worden!

Wir verließen das Commissariat, Sarah an meiner Seite folgte mir wie ein Schatten. Endlich war die Luft rein und wir hatten ein wenig Freiraum. Ich ging in Richtung Odet und bot meiner Partnerin an, unsere Zusammenarbeit gebührend mit einer Tasse Espresso zu feiern und uns dabei ein wenig kennenzulernen. Sie erklärte sich gerne einverstanden und öffnete die Eingangstür des gegenüberliegenden BistrosColibri, in dem sie scheinbar des Öfteren verkehrte. Der Chef küsste sie gleich auf die Wangen, und während sie mir erklärte, dass sie ein möbliertes Zimmer im ersten Stock habe, setzte sie sich zielstrebig an einen Tisch hinten im Saal. Der Wirt kam, um die Bestellung aufzunehmen, und sie stellte mich vor:

«Das ist derCapitainePaul Capitaine!», verriet sie nicht wenig stolz. «Er kommt aus Paris, wo ein paar Leute vom Militär ihn mit einer unsauberen Sache behelligen wollen; ich bin mir aber sicher, dass er mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun hat! Er bleibt einen Monat lang in Quimper bei uns in der Abteilung, und ich hoffe schwer, dass ich bis dahin seine Teampartnerin bleiben darf. Ich weiß schon jetzt, dass ich von ihm eine Menge für meinen Beruf lernen kann, und ich…» Die angehende Polizistin wurde in ihrem Loblied unterbrochen.

Die Wirtin tauchte auf, den Vorhang zwischen Küche und Tresen hatte sie beiseitegeschoben. Eine große Rothaarige erschien, ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.

«Cap! Du bist es wirklich, und es ist nicht mal ein Traum!», rief sie laut mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. «Isabelle… Früher mal Isabelle Derrien. Isabelle Confort heiße ich jetzt… Meine Eltern hatten den Tabakwarenladen gegenüber vom Bahnhof… Sag jetzt nicht, dass du vergessen hast, wer ich bin, sonst wäre ich tatsächlich beleidigt!»

«Wie könnte man je seinen ersten Schwarm vergessen?», seufzte ich, wobei ein paar Bilder aus dieser Zeit vor meinem geistigen Auge aufstiegen. «Mein Alter hat sich immer gewundert, weshalb es mich so oft zum Tabakhändler von gegenüber zog! Ich habe mich immer eifrig darum bemüht, meiner Mutter ihreRoyale Mentholholen zu dürfen… Dabei wollte ich nurdichsehen und bin vor Angst fast im Boden versunken, ich traute mich nicht einmal, dich anzusprechen! Ach je, du warst eben drei Jahre älter, und ich war schon immer schüchtern hübschen Mädchen gegenüber…» Jetzt kam sie ganz hinter dem Bartresen hervor und umarmte mich herzlich. Ihrem Mann erklärte sie mit treffenden Worten, dass ich ihr beigebracht hätte, eine Menge angenehmer Dinge im Leben zu genießen. Er machte sich nichts daraus und streckte mir die Hand entgegen als wäre ich ein alter Freund. Isabelle starrte mich unentwegt an und ihre scheinbare Faszination brachte mich fast in Verlegenheit. Ich erinnerte mich an ein paar bedeutungsvolle intime Momente und musste fast fürchten, mir stünde die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Jean-Luc entspannte die Atmosphäre und bestand darauf, dass die beiden Espressos auf seine Rechnung gingen, der Willkommenstrunk des Hauses!

Als wir an unserem Tisch saßen, klärte mich Sarah über den Fall auf, den man uns zugeteilt hatte. Der vorläufige Bericht der diensthabenden Polizeibeamten unterstützte Vendellis These. Drei verkohlte Körper waren hinter einer Tür zusammengekauert aufgefunden worden, in einem illegal besetzten Haus in der Altstadt von Quimper. Vor Ort waren Reste von Zigarettenstummeln gefunden worden und dutzende von leeren Flaschen… Ein unglücklicher Unfall, bei dem in extrem prekärer Lage lebende Menschen zu Tode gekommen waren, so wie es in ganz Frankreich immer wieder vorkommt!

Der Brand hatte gleich bei derPlace au Beurrestattgefunden, mit seinen Fachwerkfassaden aus dem 17. Jahrhundert ein typischer Platz für die Altstadt von Quimper. Den Namen «Butter-Platz» hatte er aus der Zeit, als die Bauern hier ihre Winterbutter verkauften, sie war natürlich gesalzen wie jede bretonische Butter und deshalb länger haltbar. Heute befindet sich im Erdgeschoss beinahe jeden Hauses auf dem Platz eine Crêperie – nicht schlecht, fand ich, so konnte man immerhin die bretonischen Traditionen pflegen und gleichzeitig Touristen und Einheimischen leckere Crêpes mit gesalzener Butter servieren.

Ich verband eine Menge Kindheitserinnerungen mit dem Platz: Auf dem Schulweg zurEcole Jules Ferryoben links in derRue du Lycéekamen wir manchmal im Winter einfach die Straße nicht hoch, wenn sie teilweise gefroren war. Das majestätische Eingangstor desCollège La Tour d’Auvergneihr gegenüber hatte uns als Kinder schwer beeindruckt.

Um in die Altstadt auf der rechten Seite des Flusses zu gelangen, mussten Sarah und ich die Odet überqueren. Gleich zu Fuß hinüberzugehen erschien mir die beste Lösung, schließlich wäre es möglich, dass uns ein paar Indizien ins Auge fallen würden, die den Ermittlern entgangen waren. Wir überquerten also eine der elf blumengeschmückten Fußgängerbrücken über den laut Émile Zola «schönsten Fluss Frankreichs» - sicher wegen der auf- und ablaufenden Flut des Küstenflusses, der die Landschaft stets neu gestaltete. Wir hielten auf denJardin de l’Évêchézu, auf die dicken Festungsmauern aus dem fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert und zogen eilig an der KathedraleSaint-Corentinvorbei, ohne den geringsten Blick auf die Spitztürme in der Höhe zu werfen, die so löchrig waren wie Buchweizen-Crêpes.

Unterwegs reihte die angehende Polizistin tausend Fragen aneinander, fiel mir jedoch bei meinen Ausführungen immer wieder ins Wort, weil ihr schon eine neue Frage einfiel. Sie wollte alles über meine Karriere wissen und erzählte von ihren polnischen Wurzeln. Sie war in Danzig geboren; ihre Mutter hatte fürSolidarnoscgekämpft und war dafür gestorben, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Einer dieser verantwortungsscheuen Feiglinge, die verschwanden, wenn sich die Konsequenzen ihres Handelns zeigten… Ein in Frankreich lebender Teil ihrer Familie hatte sie aufgenommen und aufgezogen. Für ihr Studium hatte sie verschiedene Aufnahmeprüfungen gemacht, auch die für die Polizeischule, die sie inzwischen erfolgreich abgeschlossen hatte. Und am Ende ihres Praktikums würde sie ihrLieutenant-Abzeichen bekommen!

Ich war noch nie besonders sentimental, oder besser, ich hatte schon immer versucht, mit meinen innersten Gefühlen zurückzuhalten, sie zu vertuschen, vor allem im Umgang mit Arbeitskollegen. Die unerfahrene Sarah strahlte eine tiefe Unbekümmertheit aus, kombiniert mit einer Suche nach der absoluten Wahrheit, und mir wurde klar, dass ich mich würde beugen müssen: sie brauchte einen Bezugspunkt, ein Idol, ihr fehlte offensichtlich ein Vater… In ihrem Frage- und Erzählrausch wagte Sarah einen Vorstoß, öffnete mir rührend ihr Herz und bedauerte es in der darauffolgenden Minute, als wäre sie ein unbeholfenes Kätzchen, das sich tapsig annähert in der Hoffnung, adoptiert zu werden.

Wir näherten uns dem Tatort. Ihre Fragen müsse sie sich für später aufheben, meinte ich, damit wir uns zunächst auf die Details konzentrieren könnten und ihr scharfer Ermittlungssinn geweckt werde. Auch bei den überspanntesten Überlegungen konnte man auf ein ausschlaggebendes Beweismittel stoßen… Sie wunderte sich, dass ich trotz meiner großen Erfahrung ihre Hilfe zu brauchen schien, wo sie doch gerade erst die Polizeischule abgeschlossen hatte. Ich lächelte, mit ihrer offenherzigen Naivität hatte sie mich entwaffnet. Nachdem ich versucht hatte, ihr klarzumachen, dass ich bei meinen üblichen Missionen meist ganz andere Aufgaben zu bewältigen hatte, zückte ich noch eine letzte Karte: Die Arbeit könne ich ihr zwar vormachen, das sei jedoch die beste Garantie dafür, keinerlei Fortschritte zu machen.