Raben - Thomas Bugnyar - E-Book

Raben E-Book

Thomas Bugnyar

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Beschreibung

Sie sind bekannt für ihre verblüffende Intelligenz, für das clevere Benutzen von Werkzeugen und für ihr außergewöhnlich soziales Miteinander: Raben und Krähen faszinieren und begleiten Menschen seit jeher. Leben Kolkraben wirklich so streng in Zweierbeziehungen wie Ehepaare im Einfamilienhaus? Warum verlassen sie ein Gebiet, in dem es genug Nahrung gibt? Wie gelingt es ihnen, sich in andere hineinzuversetzen? Und welche Regeln prägen ihr komplexes Sozialsystem? Der international renommierte Rabenforscher Thomas Bugnyar räumt mit vielen Mythen und Schwarz-Weiß-Bildern auf. Als Verhaltens- und Kognitionsbiologe nimmt er uns mit auf eine Entdeckungsreise in das Leben, Denken und Fühlen der Raben. Wir lernen die Verhaltensweisen der Rabenvögel zu verstehen, aber auch: dass sie uns verstehen.

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Thomas Bugnyar

RABEN

Für meine Familiesowie Anna Vardaiund Karl Kral

Thomas Bugnyar

RABEN

Das Geheimnis ihrer erstaunlichen Intelligenz und sozialen Fähigkeiten

In Zusammenarbeit mit Patricia McAllister-Käfer

1„Raben sind auch nichts anderes als fliegende Affen“

Mein Weg in ein ganz spezielles Forschungsgebiet

2Raben verstehen mehr, als wir denken

Soziale Fähigkeiten und ausgeprägte Angst vor Neuem: Tiere mit starken Charakteren

3Allesfresser mit gewissen Vorlieben

Wann Raben zum Essen rufen -und was sie dabei sonst noch mitteilen

4Tarnen und Täuschen

Bluffen, Verstecken, Tricksen: Kreative Wege, Konkurrenten hinters Licht zu führen

5Der schwierige Blick in den Rabenkopf

Wie das „Denken“ der Tiere in Experimenten erforscht werden kann

6Von Vielfliegern und Dableibern

Satelliten-Monitoring gibt Einblicke in die Raumnutzung und Bewegungsmuster der Raben

7Komplexe Beziehungen

Was Raben voneinander wissen und wie strategisch sie das Wissen einsetzen

8Danke für die Information!

Rufe, Gesten, Blicke – Raben kommunizieren über vielfältige Wege

9Eine Frage der Persönlichkeit

Freundschaften, Intrigenspiele und Soap-Operas: Soziale Rollen und individuelle Eigenschaften

10Was wir von den Raben lernen können

Die Erforschung der Tiere bringt auch neue Erkenntnisse über die Welt der Menschen

„Raben sind auch nichts anderes als fliegende Affen“

Mein Weg in ein ganz spezielles Forschungsgebiet

Da stand ich also wieder mit Hugin, Munin, Wota und Kaflunk – und schüttelte den Kopf. Seit Wochen hatte ich jetzt schon mit den vier Rabengeschwistern für mein Dissertationsprojekt gearbeitet: Ich versteckte für sie kleine Filmdosen, wie sie in den Neunzigerjahren bei jedem, der fotografierte, herumkullerten, in der Voliere. Farblich hatte ich sie sauber markiert: rot, blau, gelb.

Raben lieben Käse. Deshalb hatte ich mir für dieses Experiment eine Käse-Regel überlegt: Montags steckte in allen rot markierten Döschen ein Stück Käse, dienstags in allen blauen und so weiter; die Dosen der jeweils anderen beiden Farben blieben für den Tag leer. Die Raben sollten lernen, dieser Käse-Regel zu folgen: Sie sollten also am Montag zuerst durch Versuch und Irrtum herausfinden, dass heute Rot die „richtige“ Farbe war, dass also heute die roten Döschen mit Käse gespickt waren, und dann gezielt nach allen roten suchen.

Aber die Vögel schienen einfach nicht zu verstehen, was ich von ihnen wollte. Vielleicht, weil ich anfangs selbst nicht so genau wusste, wie ich die Arbeit mit den Raben gestalten sollte und wie sie darauf reagieren würden: Es ist das Jahr 1996, ich bin ein junger, ambitionierter Student und zum ersten Mal für einen längeren Zeitraum an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im oberösterreichischen Grünau. Und ich bin als angehender Verhaltensbiologe – mit einer satten Portion Ehrgeiz – schließlich nicht nur hier, um mit den Raben zu spielen, ich möchte meine Dissertation durchführen. Es ist mir wichtig, dass die Vögel von Anfang an merken: Sie sollen mit mir arbeiten. Im Käseexperiment möchte ich herausfinden, wie gut die Raben lernen können, einer Regel zu folgen, und ob sie darüber hinaus imstande sind, das Wissen ihrer Artgenossen für sich zu nutzen.

Aber Hugin und Munin, Wota und Kaflunk schienen sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, welches Versuchsdesign ich mir überlegt hatte. Sie öffneten fleißig die kleinen Dosen, verspeisten den Käse, wenn sie darin ein Stück fanden, aber erkannten die Käse-Regel nicht. Ich versuchte immer wieder neue Anordnungen, kam fast jeden Tag mit einer neuen Annahme, warum der Versuch nicht klappte, zum Frühstück in der Forschungsstelle – bei den Kolleg*innen war das schon ein Running Gag. Es war zum Haareraufen.

Ich kam damals von der Primatologie zu den Raben. Für meine Diplomarbeit hatte ich mich davor mit jener Klasse von Tieren beschäftigt, zu der auch wir Menschen zählen, genauer gesagt: mit ihrer Kognition, also ihrem Wahrnehmen und Denken.

Nach einigen Jahren der Beschäftigung mit Weißbüscheläffchen und Löwenkopfäffchen hatte ich für meine Dissertation zuerst ein internationales Schimpansenprojekt im Auge. Das sich aber plötzlich zerschlug. Da fragte mich der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal, ob ich nicht in Grünau an Raben forschen wolle, eine Kohorte – jene rund um Hugin und Munin – sei frisch handaufgezogen. „Sind auch nix anderes als fliegende Affen“, sagte er schmunzelnd.

Von den Primaten also zu den Raben? Herausforderung angenommen!

Als ich dann tatsächlich mit den Raben zu arbeiten begann, stand ich zuerst also auch vor der Frage: Wie ticken diese Tiere? Wie kann ich mich ihnen verständlich machen? Langsam, schrittweise arbeitete ich mich vor. Und schließlich hatte ich auch im Käseexperiment die Anordnung gefunden, bei der die Raben konzentriert zu suchen schienen. Mit unerwarteten Wendungen allerdings: Kaum verzeichnete ich erste Erfolge, kaum klappte etwas wirklich so, wie ich es mir ausgedacht hatte, blieb mir auch schon der Mund offen stehen: Die Rabenbrüder Hugin und Munin hatten damit begonnen, einander auszutricksen – und mich obendrein. Eine Fähigkeit, die ich bisher nur Primaten zugetraut hatte.

Ich selbst hatte mich bis zu dem Zeitpunkt schon viel mit (Tier-)Psychologie auseinandergesetzt, insbesondere mit sozialem Lernen und Imitation. War es also vielleicht „wishful thinking“ meines eigenen Forschergeistes, dass ich die Intelligenz der Primaten nun auch in den Raben entdecken wollte? Nach dem Stand der damals aktuellen Forschung drängte sich die Frage auf: Warum, bitte, sollten Raben derart ausgereifte Fähigkeiten haben?

Einer der Rabenbrüder, Hugin, hatte die Käse-Regel nämlich offenbar recht früh in unserer Versuchsphase verstanden. Munin wiederum machte sich das Wissen seines Bruders zunutze und nahm ihm einfach die geöffnete Dose mit den Käsestücken weg. Woraufhin Hugin anfing, gezielt bei den falschen Dosen zu suchen, bis Munin ebenfalls die Käse-Regel lernte und ihm den Schwindel nicht mehr abnahm. Somit verstrickten sie einander in verschiedenste Manöver des Tarnens und Täuschens.

Was ich aus dieser Studie lernte: Raben sind begnadete Schwindler, die unglaublich gut aufeinander eingehen. Sie sind äußerst flexibel in ihrem Verhalten, lernen sehr schnell und können vielleicht sogar Zusammenhänge begreifen – darunter verstehen wir in der Kognitionsbiologie die Fähigkeit, nicht nur auswendig zu lernen, sondern über Problemstellungen auch nachzudenken.

Raben sind nicht einfach. Sie „challengen“ einen, wie man neudeutsch sagt, sie fordern einen heraus, stellen einen auf die Probe. Genau das reizte mich an ihnen – und tut es bis heute. Sagt mir jemand, etwas sei nicht möglich, zerbreche ich mir leidenschaftlich gern den Kopf darüber, wie ich meinen Zugang oder meine Methoden ändern könnte, um das Unerklärliche doch zu ergründen. Wie mir das bei den Raben schon gelungen ist, manchmal aber auch misslingt, wie die Raben immer wieder mein eigenes Denken auf den Kopf stellen, davon erzähle ich in diesem Buch. Es ist übrigens auch eine Geschichte des Staunens: Denn sosehr ich in all den Jahren versucht habe, Raben zu verstehen – am verblüffendsten fand ich stets die Situationen, in denen ich bemerkte: Sie verstehen mich.

Wie ich den Raben nahekomme

Sich mit Raben für wissenschaftliche Studien derart vertraut zu machen, das war Mitte der Neunzigerjahre neu. Davor hatten Forschende vor allem mit freilebenden Raben gearbeitet, am bekanntesten von ihnen ist Bernd Heinrich. Eigentlich spezialisiert auf Hummeln, war dem US-amerikanischen Zoologen deutscher Herkunft in Maine und Vermont, an der US-Ostküste nahe der kanadischen Grenze, etwas aufgefallen: Raben, die im tiefverschneiten Wald ein verendetes Tier fanden, machten andere Raben lauthals darauf aufmerksam. Heinrich beobachtete solche Schauspiele, während er stundenlang im Schnee lag. Ein – durch die Brille des Evolutionsbiologen betrachtet – eigenartiges Verhalten der Tiere: Warum sollten die Vögel in einer Situation, in der Nahrung ohnehin knapp war, teilen wollen?

Ich setzte mich mit Bernd in Verbindung und ging nach Abschluss meiner Dissertation 2001, unterstützt durch ein Erwin-Schrödinger-Auslandsstipendium, für zwei Jahre an die Universität Vermont. Zu dieser Zeit hatte er auch damit begonnen, Raben temporär in Volieren zu halten und ihnen erste kognitionswissenschaftliche Aufgaben zu stellen.

In Vermont zog ich gemeinsam mit meiner Kollegin Mareike Stöwe meine ersten Raben mit der Hand auf. Immer war eine/r von uns für die Pflege der Jungen, der/die andere für die Datenaufnahme zuständig. Bernd schaute uns beim Austüfteln unserer Versuchsdesigns immer belustigt zu. Es gefiel ihm sichtlich, was wir da alles ausprobierten, er war aber oft skeptisch, auf welchen Denksport sich die Raben dann auch wirklich einlassen würden.

Natürlich klappte auch nicht alles, aber dank unserer Arbeitsteilung waren Mareike und ich in diesen zwei Jahren wissenschaftlich extrem produktiv. Wir konnten eine große Anzahl an Studien unter standardisierten Bedingungen durchführen und diese in international angesehenen, wissenschaftlichen Journals unterbringen. Damit qualifizierte ich mich für weiteres Funding meiner Forschung – die Finanzierung, z. B. durch Stipendien, Stiftungen oder Sponsoren, ist stets eine der größten Sorgen eines Jung-Wissenschaftlers.

Ich kehrte nach Österreich zurück, um hier meine erste Arbeitsgruppe zur Erforschung der Rabenkognition aufzubauen. Dafür hatte ich bereits einige Studierende im Kopf, die sich für Raben zu interessieren und zu mir und Grünau zu passen schienen. Christian Schlögl wurde somit mein erster Masterstudent und später Dissertant – allerdings noch inoffiziell, weil ich zu der Zeit nicht habilitiert war, also keine Betreuungsbefugnis hatte. Matthias Loretto kam als ganz junger Student von der Universität Graz, um beim Rabenaufziehen zu helfen. Er schloss dann sein Bachelor-, Master- und Doktoratsstudium mit der Erforschung von Raben ab und arbeitet auch heute noch mit ihnen. Christine Schwab und Mareike Stöwe komplementierten unser Team: Christine war gerade dabei, ihre Dissertation zu planen, und Mareike arbeitete daran, ihre Dissertation abzuschließen. Ähnlich wie in den USA waren wir auch in dieser Zeit wissenschaftlich äußerst produktiv.

Nach einem weiteren einjährigen Auslandsaufenthalt an der schottischen St.-Andrews-Universität erhielt ich 2007 den prestigeträchtigen Start-Preis des Wissenschaftsfonds FWF für Nachwuchsforscher*innen. Ich konnte es zuerst gar nicht glauben – damit hatte ich quasi mein Ticket für ein Forscherleben gebucht: Der sehr gut dotierte Preis sicherte meine wissenschaftliche Arbeit für die nächsten sechs Jahre finanziell ab. Ich ließ mich also wieder in Österreich nieder und ganz auf meine Arbeit hier ein.

Mein Plan war, einerseits die Kognitionsstudien an zahmen Raben zu vertiefen. Andererseits wollte ich das Monitoring der Freilandraben in Grünau wieder aufnehmen und eine Langzeitstudie zu ihnen aufsetzen, die gegenwärtig immer noch läuft. Als ersten Schritt veränderten und vergrößerten wir die Volieren an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle. Allerdings bemerkte ich, dass hier manche Versuche nicht so umsetzbar waren, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es war schlicht nicht möglich, „Playback“-Experimente ungestört durchzuführen. In solchen Experimenten wird gemessen, wie ein Rabe auf eine vorgespielte Tonaufnahme reagiert. Unser Problem: Die freifliegenden Raben „redeten“ immer mit – das war zu viel der Rufe!

Deshalb kam eine weitere große Volierenanlage mit Platz für etwa zwei Dutzend Raben am niederösterreichischen Haidlhof, nahe Bad Vöslau, als zweites Standbein unserer Rabenforschung dazu. Hier, an der gemeinsamen Forschungsstation von Universität Wien und Veterinärmedizinischer Universität Wien, liegt unser Fokus auf Raben in Volieren, mit denen wir langfristig arbeiten. Sie fragen sich vielleicht, warum es überhaupt notwendig ist, die Vögel einzusperren, wenn wir sie doch auch so beobachten und ihnen Aufgaben stellen könnten? Ich will versuchen, das anhand eines Beispiels zu erläutern.

Forschende auf der ganzen Welt haben folgende Bilder in Bezug auf Kolkraben – und um diese Art wird es in diesem Buch hauptsächlich gehen: Die Tiere leben entweder in Paaren, haben als solche ein fixiertes Territorium und brüten gemeinsam. Ein bisschen kann man sich das vorstellen wie bei uns Menschen: monogame Partnerschaften mit Kindern, Einfamilienhaus und Garten. Oder aber sie rotten sich als jugendliche Raben zu größeren, sogenannten Nichtbrütergruppen zusammen, ziehen vagabundierend in der Gegend herum, bis sie dann im Alter von drei Jahren geschlechtsreif werden und sich ebenfalls eine Partnerin oder einen Partner suchen.

Jungraben kurz vor dem Ausfliegen:

Laggie (vorne links im Bild oben, erkennbar am weißen Ring mit schwarzem X) wird von Miriam Sima mit der Hand gefüttert. Die meisten anderen Jungvögel sind bereits satt. Das Futter besteht aus einer Mischung aus Hackfleisch, Eiern und Mineralstoffen. Unten: Typisch für Jungraben sind ihre blauen Augen und der breite Schnabel mit knalliger, rosaroter Innenseite. Im Bild zu sehen sind Helios und Cassandros, bereits voll befiedert im Alter von 4-5 Wochen.

Dieses Bild ist nicht falsch. Allerdings gibt es da ein Problem mit den Details: In der längerfristigen Beobachtung freilebender Raben ergibt sich ein vielfältigeres Bild, es ist lebendiger und fluider.

Rund ein Drittel der Raben in den Nichtbrütergruppen ist nämlich viel älter. Es handelt sich um Tiere, die sich entweder noch gar nicht verpartnert haben oder aber verwitwet sind und sich nun – plötzlich allein – wieder einer Gruppe anschließen. (Über)lebt es sich im Verband der Gruppe etwa einfacher? Zudem gibt es auch innerhalb der Nichtbrütergruppen sehr enge Zweier-Beziehungen, die aber nicht so langlebig sind wie bei den Brutpaaren. Ist es zu zweit vielleicht einfacher, sich in der Rangordnung der Gruppe hinaufzuarbeiten? Die meisten Männchen verbünden sich mit einem Weibchen, andere hingegen mit einem anderen Männchen; praktisch nie geht ein Weibchen mit einem anderen Weibchen eine intensive Beziehung ein. Warum schließen sie solche Bündnisse und wie passt das zu ihrer vagabundierenden Lebensweise?

Wir sehen somit – teils unerwartete – Verhaltensmuster bei freilebenden Raben, korrelative Zusammenhänge, die wir aus wiederholten Beobachtungen herleiten können. Sie sind zwar ein wichtiger erster Schritt, erlauben aber keine kausalen Erklärungen. Zudem finden sich über Raben viele „Anekdoten“. Als Anekdote gilt in der Wissenschaft jeder Einzelfall, der manchmal einfach purer Zufall ist. Wir Menschen täten gut daran, im Moment einer solchen Beobachtung – ob bei Tieren oder in anderen Situationen – kurz innezuhalten, ohne uns verlocken zu lassen, aufgrund eines Einzelfalls gleich einen Schluss zu ziehen. Denn solche unmittelbaren Schlussfolgerungen führen meistens bloß zu Vorurteilen, Mythen und Verschwörungstheorien. Bei Raben ist das etwa der Mythos der „Todesvögel“, der bloß deshalb entstand, weil sie als Aasfresser einen Blick dafür entwickelt haben, wann ein Beutetier dem Tod nahe ist, und es deshalb auf seinen letzten Kilometern verfolgen. Solche und andere Mythen gibt es über Raben schon mehr als genug.

Für mich als Wissenschaftler hingegen werfen Beobachtungen wie die oben geschilderten zuallererst Fragen auf: Was finde ich zu einer beobachteten „Besonderheit“, wie es miteinander verbündete Männchen sind, bereits in der Literatur? Bei Wissenschaftlern, die bereits vor mir Kolkraben beobachteten, wie Konrad Lorenz, Eberhard Gwinner oder Bernd Heinrich? Was wurde von diesen Forschern vielleicht nur als Nebenaspekt erwähnt? Wie könnte ich das entsprechende Verhalten, das mich interessiert, untersuchen oder gar experimentell nachweisen, welche Denkprozesse dahinterstecken? Wie kann ich zum Beispiel verstehen, welche Rolle Verbündungen in den Ranghierarchien in Rabengruppen spielen?

Genau hier kommen unsere Volieren-Raben ins Spiel: Mit ihnen können wir die Rangordnung experimentell überprüfen, die Wichtigkeit von Faktoren wie Partnerschaften und Verbündungen auf die Rangposition testen und Auswirkungen von Änderungen in der Gruppenstruktur sofort erkennen. Das war beispielsweise an unserer Räbin Astrid, zwölf Jahre alt, gut zu beobachten: Gemeinsam mit ihrem Partner Horst stand sie am Haidlhof sehr hoch im Ranking, bis er plötzlich starb. Nun ist Astrid die Letzte in der Rangfolge. Diese Ergebnisse aus relativ konstanten Volierenbedingungen vergleichen wir wiederum mit Beobachtungen im Freiland. Dadurch haben wir erkannt: Auch freilebende Raben haben eine strikte Rangordnung, abhängig von ihren jeweiligen Partnerschaften und abhängig von ihrem Alter, aber nahezu unabhängig davon, wie stark oder weniger stark einzelne Tiere herumziehen.

Astrid beim Brüten.

Das führt sogleich zur nächsten Frage: Verstehen Raben auch die Beziehungen innerhalb der Nachbarsgruppen oder beschränkt sich ihr Wissen um die Rangbeziehungen auf ihre eigene Gruppe? Diese Frage haben wir mit Rabengruppen untersucht, die nebeneinander gehalten wurden – und einander somit beobachten, aber nicht miteinander raufen konnten. Anschließend haben wir ihr soziales Wissen über Rangbeziehungen mittels Playback-Experimenten getestet. Denn die sogenannte Reproduzierbarkeit eines Ergebnisses, dass also Versuche unter gleichen Bedingungen wiederholt zum selben Ergebnis kommen, ist ein wichtiges Kriterium für die Glaubwürdigkeit von Forschungsarbeit. In diesem Fall bestätigten die Experimente unsere Vermutung: Raben wissen tatsächlich über Rangbeziehungen anderer Raben Bescheid.

Für mich als Rabenforscher zeigen diese Ergebnisse: Es braucht beides. Es braucht das Beobachten im Freiland, das heutzutage auch technisch, zum Beispiel durch das Positionsbestimmungssystem GPS, unterstützt wird. Es ist wichtig, damit uns Muster im Verhalten der Tiere überhaupt erst einmal auffallen und um diese Muster beschreiben zu können – auch, wie die Muster von Faktoren in der Umgebung beeinflusst werden. Unsere Forschung muss schließlich auch ökologisch valide sein. Das bedeutet, dass sie auch in größeren Zusammenhängen oder Betrachtungen ganzer Ökosysteme Sinn ergeben muss. Im Freiland bekommen wir also Hinweise darauf, welche Probleme wilde Raben haben und was ihr Leben ausmacht.

Schläfriger Jungrabe:

Kurz nach dem Ausfliegen sind Jungraben bereits sehr aktiv, ermüden aber auch rasch. Sie schlafen dann auch mal auf der Schulter der Aufzieher ein, wie hier Thea bei Matthias.

Rabenvoliere im Cumberland Wildpark:

Diese richtungsweisende Voliere wurde Mitte der 1990er Jahre mit dem Ziel gebaut, Kolkraben nicht nur einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sondern auch experimentell mit ihnen arbeiten zu können.

Wenn es dann aber darum geht, zu hinterfragen, was Raben wissen und erkennen können, wird es im Freiland schwierig. Dann brauchen wir die abgesicherten und kontrollierbaren Bedingungen des „Laborversuchs“. Dieser findet bei unseren Raben aber praktisch nie wirklich in einem „Labor“ statt, sondern bezieht sich eher auf die Haltungsbedingungen in der Voliere. Beim Beobachten von freilebenden Raben weiß ich nie, ob nicht vielleicht gerade Artgenossen zuschauen; ich weiß also nie, ob ihr Verhalten vielleicht gerade von anderen beeinflusst wird. Unter Versuchsbedingungen trennen wir die Volieren-Raben deshalb jeweils für ein paar Minuten von den anderen. Wir rufen sie dazu bei ihrem Namen in ein Trainingsabteil ohne Sichtkontakt zu ihren Gefährten. Sind die Tiere daran nicht gewöhnt, würden sie unter solchen Umständen nicht mitmachen – weil sie extrem nervös darauf reagieren, ihre Artgenossen nicht zu sehen. Wir trainieren sie daher darauf von klein auf, sonst klappen die Versuche später nicht.

Das ist also der entscheidende Punkt, warum die Volieren-Raben so wichtig für unsere Forschung sind: Nur mit ihrer Hilfe können wir Menschen erkennen, was Raben leisten können; allerdings müssen wir ihnen zuvor beibringen, mit uns zu arbeiten. Für unsere etwa zwei Dutzend Volieren-Raben bedeutet das auch Abwechslung: Sie bekommen in einem Trainingsabteil Denkaufgaben gestellt und dann eine Belohnung dafür. Wir Menschen tragen die Verantwortung, die Tiere so zu halten, dass sie ein möglichst natürliches Verhalten beibehalten können.

Raben als Trickser: Warum wir Sozialverhalten und Intelligenz parallel erforschen

An einem kalten, grauen Jännertag drehe ich wie etwa ein Mal pro Woche meine Begrüßungstour über das Gelände am Haidlhof. Hier leben etwa zwei Dutzend Raben, und jede Brutsaison kommen einige Küken dazu. Nobel und George, das erste Paar vorn, fliegen sofort auf eine der vordersten Sitzstangen in ihrer Voliere, als sie mich kommen sehen. Beide holen sich einen Leckerbissen durchs Gitter bei mir ab: Unsere Raben tun fast alles für ein Stück Frolic, Hunde-Trockenfutter in Ringform. Die zwei geben kurz einen relativ leisen Ruf von sich, von dem ich weiß, dass er der Begrüßung dient. Dann plustern sie sich auf. Mir ist auch kalt, ich setze meine dicke Wollhaube auf.

Aus der Gruppenvoliere ist lautes Gekrächz zu hören, wer wird da geärgert? Als ich mich neugierig nähere, ist auch die Aufmerksamkeit dieser Gruppe schnell bei mir – und den Leckerlis. Ich achte darauf, die Rangfolge zu beachten, und stecke jedem Vogel einen der kleinen Futterringe durchs Gitter. Sie nehmen ihn in den Schnabel und fliegen wieder weg. Einzelne versuchen ihr Glück gleich noch einmal und stellen sich wieder hinten an. Das Bemerkenswerte dabei: Keiner der Vögel frisst sofort. Die Beute wird zuerst im Kehlsack verstaut, denn die Raben haben noch einiges damit vor.

Raben sind Trickser. Manchmal könnte man fast glauben, die „Beute“, die sie machen, ist nicht einfach Futter, sondern Mittel zu einem höheren Zweck. Unseren Volieren-Raben scheint es weniger ums Fressen zu gehen, als darum, Fressen zu verstecken und Verstecke anderer Artgenossen zu entdecken. Damit beschäftigen sich unsere Raben – und auch alle anderen im Freiland! – mit Hingabe. Besucherinnen und Besucher, die in die Voliere kommen, weisen wir gern darauf hin, weder Essbares noch Handy oder Schlüssel in offenen Taschen oder Hosentaschen mit hineinzunehmen – die Raben sind geschickt, Dinge zu entwenden. Meistens passiert das ganz unbemerkt.

Thomas Bugnyar und Nobel

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Volieren am Haidlhof.

Die Volierenanlage in der Nähe von Bad Vöslau, ein Kooperationsprojekt zwischen Universität Wien und Veterinarmedizinischer Universität Wien, wurde speziell für Kognitionsstudien an Rabenvögeln und Papageien entworfen.

Wir nutzen die Vorliebe der Tiere für diese Versteckspiele in unserer Forschung, um dabei mehr über ihre kognitive Leistung herauszufinden. Diese Arbeit mit den Raben haben wir ihrem – und unserem – Lebensrhythmus angepasst: Immer von Herbst bis Mitte Februar – im Wintersemester – arbeiten wir an kognitionswissenschaftlichen Versuchen. Für die Raben bedeutet das: Denksport. In dieser Zeit lässt es sich mit den Tieren angenehm arbeiten. Mit Winterende steigt dann aber der Testosteronspiegel. Das bedeutet, dass die Raben schnell abgelenkt sind und sich nicht so gut auf die ihnen gestellten Aufgaben konzentrieren können. Von Februar/März bis zum Juli legen wir unseren Fokus deshalb auf Untersuchungen von Sozial- und Familienleben der Vögel: In diesen Monaten sind sie mit Nestbau, Brüten und schließlich der Aufzucht des Nachwuchses beschäftigt.

Dieser Jahresrhythmus ist auch stark von meinem Forschungsinteresse geprägt: Mich interessiert die soziale Intelligenz der Tiere, also wie Sozialverhalten und kognitive Leistungsfähigkeit miteinander verflochten sind. Deshalb reichen mir isolierte, kognitionswissenschaftliche Experimente unter streng kontrollierbaren Bedingungen im Labor nicht aus. Es braucht zwar als Basis den Überblick: Was können Raben wahrnehmen und begreifen? Aber diese Erkenntnis wird für mich erst in der Anwendung spannend: Wie setzen die Tiere dieses Wissen in ihrem Alltag, im Familienleben, im größeren Sozialverband, beim Futterverstecken ein? Diese eine Art, wissenschaftlich zu arbeiten, ist für mich ohne die andere nicht aussagekräftig.

Auch wenn Raben es lieben, uns zu überlisten – einmal im Jahr müssen wir die Raben „austricksen“: Nachdem im Frühjahr das Nest gebaut und die Eier gelegt sind, klettert jemand aus dem Team zur Brutnische hinauf und manipuliert das Gelege. Die Brutgröße von üblicherweise sechs Eiern verringern wir auf entweder zwei oder vier, um kleinere und größere Familien zum standardisierten Vergleich zur Verfügung zu haben. Unter den Bedingungen im Freiland werden Eier oder Jungtiere schließlich auch von anderen Tieren – am häufigsten von Uhu oder Marder – gefressen.

Und wenn dann die Küken geschlüpft sind: Wie erforschen wir ihr Verhalten und das ihrer Eltern? In der täglichen Praxis wird so eine abstrakte Fragestellung in mehrere Forschungsfragen aufgedröselt, zum Beispiel: Verhalten sich die Elternvögel zueinander anders, je nachdem, ob sie viele oder wenige Junge haben? Dahinter steht die Annahme: Mehrere Junge bedeuten einen größeren Aufwand und die Elternvögel sind zeitlich mehr eingebunden. Untersucht wird dann eine Fragestellung, die sich gleichermaßen auf menschliche Elternbeziehungen umlegen ließe: Welche Auswirkungen hat der Nachwuchs auf die Paarbeziehung der Eltern?

Wir messen, ob die Beziehung der Elterntiere intensiver oder vernachlässigt wird, wenn sie weniger Zeit füreinander haben. Wie oft kraulen sie einander, wie oft teilen sie ihr Futter? Erste Erkenntnisse zeigen: Wenn der Stress in puncto Kindererziehung steigt, investiert das Elternpaar mehr in die Partnerschaft – weil es sich offenbar evolutionär so entwickelt hat. Der Stress wäre wahrscheinlich noch höher, würde ein Partner abspringen. So ist es bei den Raben. Sie sind soziale Tiere, die monogam leben. Ohne das grob verallgemeinern zu wollen – aber diese Gemeinsamkeiten teilen sich auch mit den Menschen.

Mitte Juli die jungen Raben sind dann in einem Alter, in dem sie auch im Freiland bereits ohne Eltern unterwegs wären, kommen die Jungtiere aller Familien zusammen in eine neue Voliere, ohne Eltern. Hier stellt sich für uns eine weitere Forschungsfrage: Wie agieren Raben aus Kleinfamilien im Vergleich zu jenen aus Großfamilien? Erwartbar wäre ein Unterschied zwischen Einzelkindern und jenen Raben, die mit mehreren Geschwistern aufgewachsen sind. In Kleinfamilien sollte weniger Konkurrenzdruck herrschen bei weniger Kontaktmöglichkeiten – dafür sollten die sozialen Bindungen tiefer sein. Das würde bedeuten, dass Raben aus größeren Familien flexibler wären, sich in größeren Gruppen dann auch besser zurechtfinden. Aber zur Frage, wie die „Kinderstube“ die kleinen Raben fürs weitere Leben prägt, ist noch vieles offen. Dies wird uns in den kommenden Jahren sicherlich noch näher beschäftigen.

Unser gemeinsamer Vorfahre war ein Kriechtier

Wenn es um Denk- und Entscheidungsprozesse verschiedener Lebewesen geht, sind die Meinungen manchmal recht eingefahren: Auf der einen Seite stehen „die Tiere“, die immer noch als „instinktgetrieben“ gelten. Ihnen attestieren viele, dass sie assoziativ dazulernen können – also Reize verknüpfen im Sinne des Pawlow’schen Hundes: Immer, wenn die Glocke läutet, gibt’s Futter. Auf der anderen Seite sehen wir die Menschen mit ihrer breitgefächerten Intelligenz und der Möglichkeit, ihre Fähigkeiten miteinander zu kombinieren, als das Nonplusultra auf dieser Erde.

Was man bei so einer Betrachtungsweise gern aus den Augen verliert: Wir Menschen sind auch nichts anderes als eine Tierart unter vielen. Warum sollten wir uns als Primaten von anderen so sehr unterscheiden?

Ich bin durchaus von der menschlichen Einzigartigkeit überzeugt, sehe unsere Fähigkeiten aber nicht im Kontrast zu jenen von Tieren, sondern in einer unterschiedlichen Ausprägung. Im Lauf der vergangenen rund fünfzig Jahre stellte sich nämlich heraus: Sobald wir uns eine vermeintlich „typisch menschliche“ Fähigkeit in der Forschung näher anschauen, sie in einzelne Aspekte aufdröseln, finden wir sie auch bei anderen Tieren! Singvögel sind etwa sehr gut im vokalen Lernen. Die meisten Primaten wiederum können zwar nicht lernen, Laute so spezifisch zu artikulieren, aber sie können sehr wohl ihre Bedeutungen lernen. Was den Mensch zum Menschen macht, ist, dass wir in der Lage sind, solche Fähigkeiten miteinander zu kombinieren: Wir können sprechen lernen und das Gesprochene verstehen.

Kognition als Leitgedanke meiner wissenschaftlichen Arbeit

Schon von klein auf liebte ich es, Tiere zu beobachten. Meine Mutter erzählte mir: Wenn wir bei einer Weide standen, konnte ich ihr innerhalb kürzester Zeit erklären, welche Kuh welche Pflanzen am liebsten frisst. Wie Tiere auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren, war offenbar schon früh mein Interesse – und ist es bis heute geblieben.

Ich studierte also zunächst Biologie und dann Zoologie und entwickelte mich schließlich in Richtung jenes Faches, das wir heute als Verhaltensbiologie – oder Ethologie – bezeichnen. Diese splittet sich in mehrere Fachbereiche auf. Die Verhaltensökologie geht etwa der Frage nach: Was ist die Funktion bzw. der Anpassungswert von bestimmten Verhaltensweisen? Die Verhaltensphysiologie hingegen fragt: Auf welchen Mechanismen beruhen Verhaltensweisen? In meiner Forschung bevorzuge ich einen ganzheitlichen Ansatz, weil mich beides interessiert – sowohl ökologische als auch mechanistische Fragen. Zudem habe ich noch eine weitere mechanistische Schiene integriert – die Kognitionsbiologie: Was nehmen Tiere wahr, wie verarbeiten sie Information, woran erinnern sie sich, wie denken sie? An der Universität Wien habe ich als frischgebackener Professor für „kognitive Ethologie“ mit meinen Kollegen Tecumseh Fitch und Ludwig Huber das Department für Kognitionsbiologie mitbegründet. Vor zwei Jahren haben wir uns mit Kolleg*innen aus der Verhaltensbiologie in einem übergreifenden Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie zusammengeschlossen.

Mit diesem biologischen Hintergrund ist es für mich unwahrscheinlich, dass menschliche kognitive Fähigkeiten „aus dem Nichts“ kommen, vielmehr sollte es eine evolutionäre Basis dafür geben. Diese Fähigkeiten müssen sich aufgrund der Bedingungen, unter denen wir leben, über lange Zeiträume entwickelt haben. Dieser evolutionäre Grundgedanke leitet meine Arbeit zur Erforschung tierischer Intelligenz.

Es gibt prinzipiell zwei Zugänge zur Erforschung von Tieren – und viele Variationen dazwischen: Ein Ansatz ist, durch die wissenschaftliche Arbeit am Tier direkt etwas über uns Menschen herauszufinden, wie beim klassischen medizinisch-pharmazeutischen Tierversuch, bei dem man etwa Medikamente erst an Mäusen testet, bevor sie Menschen verabreicht werden. Der andere Ansatz erforscht Tiere um der Tiere willen – auch ganz ohne unmittelbaren Bezug zum Menschen.

Ich verfolge mit meiner Forschung eher zweiteren Ansatz. Wobei darin schon auch die Frage mitklingt, inwieweit das Verhalten bzw. die kognitiven Leistungen von bestimmten Tieren Auskünfte über uns Menschen geben können. Bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, ist das intuitiv nachvollziehbar: Wenn etwa Schimpansen, Bonobos und Menschen bestimmte Fähigkeiten zeigen, andere Affenarten aber nicht, liegt es nahe, dass diese Fähigkeiten auf einen gemeinsamen Vorfahren der Menschenaffenarten zurückgehen.

Aber wie argumentiert man dann bei Raben? Im Fall von Vogel und Mensch handelt es sich beim letzten gemeinsamen Vorfahren um ein Kriechtier, das vor über 300 Millionen Jahren lebte. Von ihm ausgehend haben sich im Laufe der Evolution aufgrund unterschiedlicher Anforderungen und Lebensbedingungen jeweils unterschiedliche Merkmale und Fähigkeiten herausgebildet und immer weiter ausdifferenziert. Andere hingegen sind gleich geblieben oder, noch interessanter, haben sich einander wieder angeglichen.

Solche Phänomene der Ähnlichkeit werden als Konvergenz bezeichnet, ein wichtiger Fachbegriff der Evolutionsbiologie. Wie aber kam es zu Konvergenzen, welche „Umformung“ von Körpern, von Verhalten oder kognitiven Leistungen hat im Laufe der vergangenen Jahrmillionen unabhängig voneinander – zum Beispiel bei Raben und Menschen – stattgefunden – und trotzdem zu einem ähnlichen Ergebnis geführt. Und warum? Als Biologe formuliere ich diese Frage folgendermaßen: Welche unterschiedlichen oder ähnlichen „Selektionsdrücke“ – zum Beispiel Einflüsse aus der Umwelt oder durch das soziale Umfeld – haben hier gewirkt, auf Raben wie auf Menschen?