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Ein Blick, einige wenige Sekunden. Der Puls rast, ohnmächtiges Verlangen durchströmt uns. Lust. Schon ist der Augenblick vorbei. Nicht die Gedanken, die kreisen noch lange, tagelang, wochenlang, um was sein könnte. Mordlust. Wie man es bewerkstelligen könne, das Gefühl der Lust zurück zu holen. Rache. Dann kommt er, dieser winzige Moment, der Visionen deutlich erscheinen lässt. Es wird wahr, das finale Erlebnis von Lust. In welcher Art auch immer. Tötungen von Menschen sind Verbrechen. Dennoch, manchem bisher unbescholtenem Bürger bereitet Mord aus Rache vermeintlich Macht. Bereitet Lust auf mehr. Immer mehr.
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Seitenzahl: 379
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H. Peter Duhm schreibt über sein aufregendes Leben und über Verbrechen aus der Nachkriegszeit. In seiner neuen Heimat, Elten, Ortsteil von Emmerich am Rhein schreibt und recherchiert er. Neue, interessante Themen lassen sich überall finden. Man muss sehen und hören können. Auch am Niederrhein, der ihn seit Jahren begeistert.
Sport und Arbeit haben ihn lebenslang motiviert, sich nicht unterkriegen zu lassen.
1942 in Hamburg geboren, überlebte er die Vernichtungsangriffe der britischen und amerikanischen Bombenangriffe. Das Trauma dieser Bombennächte blieb. Vielleicht ist er deshalb jahrzehntelang in der Modebranche tätig gewesen, weil er dort seine Kreativität und Reiselust, seinen Drang nach Neuem, insbesondere während der zahlreichen und ausgedehnten Auslandsreisen, die häufig zu asiatischen Bekleidungsherstellern führten, ausleben konnte. Der Hamburger Modemacher und Professor für Fashion-Management gab nie auf Neues zu entdecken.
Sein Schreibstil ist kurz und direkt, sein Auftreten überzeugend. In seinen weiteren Büchern vereint er sorgfältige Recherche und Tatsachen mit einem prägnanten Schreibstil.
Das zeichnet alle seine Bücher aus.
Er selbst bezeichnet diesen neuesten Roman als ein Feature, als eine Reportage.
Elten am Niederrhein im Juli 2020
In Hamburg werden im Jahre 1946 innerhalb von zwei Wochen vier uniformierte Leichen im Hafenbereich des alten Elbtunnels und in Teufelsbrück, also innerhalb des Bereichs des sogenannten Hamburger Fischmarkts, entdeckt. Die getöteten Soldaten der britischen Besatzungstruppen trugen einen niederen militärischen Rang. Einer von ihnen war jedoch ein untergeordneter Offizier. Da die äußerlichen, schweren Verletzungen der Toten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, wurde die Angelegenheit innerhalb der militärischen Zuständigkeit geregelt.
Die an der Untersuchung beteiligten hohen Offiziere veranlassten, dass die Taten ungesühnt blieben. In Mitten des Nachkriegschaos war die Sache seinerzeit schnell vergessen. Überall wurden Tote geborgen. Die Trümmer der zerstörten Stadt bargen so manche unbekannte Leiche. Hauptkommissar Gunnar Hansen wurde im Januar 2019 zu einem Toten im Teufelsbrücker Museumshafen in Hamburg gerufen. Die männliche Leiche hing mit dem Kopf nach unten an einer Duckdalbe, die von der Kaimauer leicht zu erreichen war. Mit einem Seil befestigt, dem leichten Auf und Ab der Wellen des grauen Hafenwassers folgend, schaukelte der Körper hin und her. Zwischen der Kaimauer und einem historischen Schlepper hing der Körper dicht über der Wasseroberfläche. Dr. Werner von Schimmelmann, als zuständiger Gerichtsmediziner, untersuchte den Toten Routine gemäß einige Zeit später in seinem Institut.
Sein Bericht löst Entsetzen aus.
Kurz darauf wird in der historischen Hamburger Speicherstadt eine männliche Leiche unter einem alten Kran, auf den Planken eines Arbeitsbootes liegend, gemeldet. Wieder keine offenen, auf den ersten Blick sichtbaren Verletzungen zu entdecken. Der Bericht des Gerichtsmediziners bringt erneut unglaubliche Grausamkeiten ans Tageslicht. Es stellt sich heraus, dass diese beiden Morde der Schlüssel zu einer Mordserie sind, die im Jahre 1946 ihren Anfang in Hamburg nahm. Es beginnt eine Zeitreise durch die Jahrzehnte in und um Hamburg. Anhand der Indizien und Hinweise stellt Frau Dr. Nicola Köhner, die biologische Anthropologin, Psychologin, mit ihrer Kollegin aus den USA, Vanessa Fagin, als von der Hamburger Mordkommission hinzugezogene Profilerin, ein Profil des vermeintlichen Täters zusammen. Diese Tötungsart klassifizierte sie später als Übertötung. Der erste tote Mann war gefoltert und misshandelt, mehrfach tödlich verletzt worden. Beide Profilerinnen gehen sogar so weit, den nächsten Mord in Hamburg, wieder im Hafengebiet, nach seiner Art der Ausführung, vorherzusagen. Es beginnt eine Jagd, ein Showdown, im Hafengebiet auf St. Pauli. Das Ergebnis des Puzzles aus den unterschiedlichsten Ermittlungen ist so überraschend, dass sogar Hauptkommissar Gunnar Hansen und das amerikanische FBI zugeben müssen, in die falsche Richtung recherchiert zu haben. Frauen denken eben anders als Männer. Auch bei Aufklärung von Mordfällen.
Letztendlich erleichtert, fällt den Kommissaren nur dieses Klischee ein.
Orte der Handlung:
Hamburg im Bereich des Hafengebietes auf der Stadtseite, von der Speicherstadt bis Teufelsbrück
Es ist der Bereich des Hamburger Fischmarktes.
Mit seinen Hafenkneipen, den Huren und Zuhältern, dem Straßenstrich und dem schnellen Sex im Taxi.
Hamburg und sein Polizeihochhaus, der Universitätsklinik, seinem pathologischen Institut, sowie der Rechtsmedizin.
Historischer Hintergrund:
Unaufgeklärte Todesfälle im Hamburger Nachkriegsgeschehen bilden den Hintergrund zu den nachfolgenden Verbrechen.
Zu dieser Zeit verübten Besatzungssoldaten, Flüchtlinge, ehemalige Häftlinge und heimatlose Soldaten Übergriffe auf Frauen. Auch und besonders in den Trümmern der zerbombten Häuser am Fischmarkt der Hansestadt und in den Katakomben im Elbehang, gegenüber dem alten Elbtunnel und in den Trümmern der Speicherstadt ereigneten sich diese Verbrechen.
Der Mord aus Leidenschaft beginnt hier.
Ein Blick, einige wenige Sekunden. Der Puls rast, ohnmächtiges Verlangen durchströmt uns. Schon ist der Augenblick wieder vorbei. Aber nicht die Gedanken, die kreisen noch lange, tagelang, wochenlang was sein könnte. Wie man es bewerkstelligen könne. Dann kommt er, dieser winzige Moment, als klar ist: Es wird wahr, das finale Erlebnis von Lust. In welcher Art auch immer. Tötungen von Menschen sind Verbrechen. Und dennoch, manchem bisher unbescholtenem Bürger bereitet Mord aus Rache Macht. Lust auf mehr...
Es ging ihm nicht gut. Er fühlte sich ehrlich gesagt richtig bescheiden. Ihm war übel, sehr übel sogar.
„Mensch Happel“, brüllte er seinen jüngeren Kollegen kreideweiß an, „das Kopfsteinpflaster, fahr langsam. Meine Güte!“
Gunnar Hansen, Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission war am Dienstag vor zwei Tagen aus Gerlos, im österreichischen Zillertal, nach Hamburg zurückgekommen. Seine langjährige Freundin Marion hatte die ganze Strecke seinen Wagen gefahren, bis Hamburg. Nur zum Pinkeln hatte er sich aus dem Wagen von der Rückbank seines Audi A6 gequält. Diese Fahrt von immerhin eintausendzweihundert Kilometern werde er so leicht nicht vergessen, hatte er seinen Kollegen mitgeteilt. In seinem Büro erwartete man den Chef mit großer Anspannung. Fast täglich hatten sie telefoniert. Wenn sie ihrem Hauptkommissar nicht jeden Tag die Neuigkeiten entweder als SMS oder auf seine Mailbox sprachen, wurde er noch bissiger als sonst schon.
„Der Mann im Krankenhaus, sogar im Rollstuhl, die arme Marion. Ich kann mir das richtig vorstellen, so bissig und ungerecht, wie der Mann werden kann. Arme Marion, hoffentlich geht es Gunnar bald besser!“ Stefanie Gentz, die Mitarbeiterin im Büro K3, hatte ihren Oberkommissar Gerd Happel fragend angesehen.
Endlich war der Chefermittler zurück, wenn auch im Rollstuhl. Und sofort wieder einen Außentermin. „Solche Fahrt, mit dem Bein, prägt einen“, hatte er lächelnd hinzugefügt, wenn er überhaupt etwas von seinem Missgeschick im Urlaub erzählte.
Irgendwie war er Marion dankbar. Die Fahrt nach Hamburg, die Pflege in Österreich, ihre Fürsorge im Krankenhaus, ja selbst für ihre Hand, wenn diese ihn streichelte. Blumen wollte er ihr besorgen. Noch heute, Happel musste ihm dabei helfen.
Ausgerechnet am letzten Tag, ausgerechnet ihm musste das passieren. Er wusste, dass er gut Ski fahren konnte. Nur einen Schritt hatte er aus seinem Hotel, dem Jägerhof, gemacht. Andere Gäste, die bereits vor dem Haus entweder auf den Bus warteten oder zu ihren Fahrzeugen wollten, betrachteten den fliegenden Hamburger mit lautem Lachen: „Mensch Gunnar, fliegen können die Vögel besser...“
Erst als sich ihr Hamburger Kumpel nicht aufrichten konnte, sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an sein Bein fasste, packten zwei kräftige Männerhände zu, stellten ihn wieder auf die Füße. Vorsichtig balancierte er auf einem Bein Richtung Hoteleingang. Die neuen weiß-blauen Skischuhe gaben ihm zwar Halt. Trotzdem, unsicher setzte er einen Schritt vor den anderen. Eine dieser kleinen Eispfützen, die immer über Nacht entstanden, wenn es fror, war ihm zur Falle geworden.
Einen Handschuh hatte er verloren, suchend blickte er sich um. Als sich Hauptkommissar Gunnar Hansen den Schnee von seiner blauen, mit allerlei bunten Abzeichen versehenen Jacke schütteln wollte, riss ihn ein fürchterlicher Schmerz erneut auf den Boden. Im Fallen verschwammen die Lüftlmalereien an den Wänden um den Hoteleingang vor seinen Augen zu einem verwaschenen Farbnebel. Ein unglaublicher Eishauch durchfuhr den auf dem Rücken liegenden Mann. Sein Kopf lag in einem kleinen Hügel aus Schnee. Unwirkliche blasse Haut, geschlossene Augen, dieser vollkommen unbeweglich auf dem Rücken liegende Verletzte löste bei den vor dem Hotel wartenden Gästen Sprachlosigkeit aus, die alle morgendliche Fröhlichkeit wie eine unerwartete Lawine überdeckte.
Vom großen, bunt bemalten First-Class-Hotel Gaspingerhof, auf der anderen Straßenseite, drängten ebenfalls morgendliche Skifahrer über die verschneite, teilweise vereiste Dorfstraße.
„Deckt den Mann zu. Wir brauchen Decken, verdammt noch mal. Macht zu, holt Decken. In der Halle, schnell.“
Die Frau im rot-weiß-blauen Anorak schrie die herumstehenden Männer an. Aus dem Jägerhof stürmte Marion nach Draußen, sie hatte schnell eine ihrer Strickjacken übergeworfen, ihre leichten Fellhausschuhe versanken im Schnee. Zu ihrem immer noch auf dem Boden liegenden Freund gebeugt rief sie: „Gunnar, was ist los?“
Sie sah in die Runde. „Erst ist er ausgerutscht, dann nochmals hingefallen. Wir wissen auch nichts!“ Der Holländer und seine Frau sahen Marion an: „Wir müssen ihn warmhalten, wo sind die Decken?“
Aus dem Hoteleingang warf ihnen Christel, die Dame von der Rezeption, mehrere rote Decken, die sonst auf den Terrassenstühlen lagen, zu.
Die junge Frau verschwand sofort wieder im Haus. Sie schrie Männernamen in die Hotelhalle.
Einige Gäste, die ihren Morgenkaffee in der Lobby nahmen, drehten sich irritiert zur Eingangstür um.
Männer zogen ihre Augenbrauen hoch, Frauen stellten ihre Tassen vorsichtig zurück auf den Tisch. Sepp Ehammer, der Wirt und Inhaber des Hotels, stürmte mit großen Schritten aus dem Haus. Mit wuchtigen Armbewegungen bahnte er sich einen Weg zu seinem Gast Gunnar Hansen, der immer noch reglos im Schnee lag. Noch im Laufen riss er sich seine dicke, handgearbeitete Strickjacke vom Körper: „Hier, die ist warm, deckt ihn zu.“
Dabei riss er die Decken von Gunnars Körper. „Louis, die Trage. Schnell!“ Sepp Ehammer sah nur kurz hoch. Mit beiden Händen grub er sich kniend unter den Körper des leblosen Mannes, drehte ihn auf die Seite, riss seinem Hausmann Louis die Trage aus der Hand, schob diese an den Verletzten heran, packte ihn an der Schulter, um ihn auf die Notfalltrage zu ziehen. „Rein ins Haus, legt ihn an den Kamin. Und ihr bleibt draußen, wer auf sein Zimmer will, bitte gehen Sie durch den Seiteneingang.“ Ohne zu zögern, drängte er die umher stehenden Gäste zurück. Schnell griff er sich eine große Hand voll Schnee, rannte hinter Marion, Louis und einem Gast, der die Trage mit dem Verletzten bereits durch die Eingangstür bugsierte, her. „Ruf den Pfister an, der soll den Florian mitbringen und die Rettung.“ Neben der Trage hockend hatte er seine Anweisungen in Richtung Rezeption gerufen. Mit dem Schnee in der rechten Hand massierte er vorsichtig das Gesicht des Ohnmächtigen.
„Gunnar, hallo, aufwachen, alles wird gut. Gunnar!“
Plötzlich schüttelte der seinen Kopf: „Was ist denn? Mensch ist mir kalt.“ Er wischte sich mit einer Hand über die schneenassen Augen.
„Bleib liegen, nicht bewegen.“ „Was willst du denn, lass mich hoch.“
Hansen stützte sich auf seinen linken Arm, sah seine langjährige Freundin verwundert an: „Was habt ihr denn, ich bin hingefallen, na und? Hilf mir hoch, Sepp.“ Er streckte dem Hotelier seine rechte Hand entgegen.
Kaum bewegte er sein rechtes Bein, durchfuhr ihn ein solcher Schmerz, dass es ihn sofort wieder zurück auf die Trage warf.
„Mein Bein, was ist das denn. Ich komme nicht hoch, Mensch.“ Er betastete seinen Oberschenkel. „Warte, bleib ruhig liegen, die Rettung kommt gleich, dann sehen wir weiter.“ „Mir ist heiß, nimm die Jacke und die Decken weg. Ich will hoch.“ Erneut versuchte der Hamburger Hauptkommissar, sich zu erheben. Vergeblich, mit verzerrtem Gesicht, unter lautem Stöhnen fiel er zurück auf die Trage. In der Universitätsklinik für Orthopädie in Innsbruck stellte der Diensthabende Oberarzt den Abriss des rechten Quadrizeps fest. „Wissen Sie, so etwas haben selbst wir selten gehabt. “ „Was denn Doc?“, unterbrach Gunnar Hansen den Arzt. „Ihr Oberschenkelstrecker, ihr Oberschenkelmuskel ist vom Knie abgerissen.“ Der Arzt hielt das Röntgenbild gegen das Licht. Marion und ihr Freund sahen sich an: „Und weiter, was bedeutet das?“ „Schnellstmöglich operieren und einige Monate im Rollstuhl!“ „Na, prost, das geht gar nicht! Wann kann ich wieder laufen?“ „In vier Monaten, wenn sie so fragen. Ohne Operation nie wieder!“ Das hatte gesessen. Mit geschlossenen Augen sank der sonst so starke Hauptkommissar in sein Kissen zurück. „Sie müssen sich schnellstmöglich entscheiden. Operation hier oder bei Ihnen in Hamburg. Denken Sie an die Fahrt! In Ihrem Zustand kein Vergnügen. Es tut mir leid, bessere Nachrichten habe ich nicht. Überlegen und besprechen Sie das bis abends. Ich schaue wieder nach Ihnen. Bitte bleiben Sie möglichst ruhig liegen.“ Der Arzt sah seinen Patienten nachdenklich an: „Nehmen Sie die Krücken, wenn Sie zur Toilette gehen. Das Bein auf keinen Fall belasten oder beugen.“ Der Arzt wandte sich an Marion: „Bitte begleiten Sie Ihren Mann, wenn er aufsteht. Auf keinen Fall darf er das Bein belasten.“ Bereits an der Tür stehend drehte er sich nochmals um: „In ungefähr zwei Stunden komme ich noch einmal zu Ihnen. Dann sehen wir weiter. Jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus. “ Marion drehte sich zurück zum Fenster. Die weißen Berge im Hintergrund, wie über den weißen Dächern der verschneiten Stadt Innsbruck schwebend, verschwammen vor ihren Augen. Ihre innere Spannung löste sich, geräuschlos begann sie zu weinen. Tränen rannen ihr über das ungeschminkte Gesicht. Mit geschlossenen Augen, die Hände auf seiner Brust gefaltet, lief im Kopf von Hauptkommissar Gunnar Hansen ein düsterer, ungeordneter Videofilm, wie von einer Überwachungskamera aufgezeichnet, ab.
Ihr Urlaub war vorbei, das Kommissariat in Hamburg, seine Kollegen, Gesichter von Toten aus längst abgeschlossenen Kriminalfällen schoben sich geisterhaft zwischen seine Gedanken. Unsicherheit, weil er seinen Körper nicht mehr beherrschen konnte, löste eine Welle von ohnmächtiger Wut aus, vernebelte seinen Kopf. In diesem Augenblick konnte er einfach nicht klar denken.
Mit einer Hand riss er die Bettdecke von seinem Körper. Hitze wallte in ihm auf. „Was hast du, Gunnar?“ Marion legte ihre Hand auf seine Stirn. „Ruhig, wir kriegen das schon hin. Bleib ruhig liegen. Ich bleibe hier bei dir.“ Unwirsch wischte er ihre Hand aus seinem Gesicht. Er im Rollstuhl.
Lächerlich, hatte er gedacht, als er aus der Klinik in Innsbruck humpelte. Schon bald musste er sich aber eingestehen, dass er Hauptkommissar beim Hamburger Morddezernat war und nicht Arzt. Denn, eigentlich wusste er immer alles besser, nur dieses Mal, da ging es ihm schlechter und schlechter. Gegen Abend des dritten Tages war er froh, im geliehenen Rollstuhl zu sitzen und durch das Krankenhaus gefahren zu werden. Marion hatte ihn trotz seiner wirklich üblen Laune gepflegt. Hatte Zeitungen besorgt, hatte frische Blumen an sein Bett gestellt. Er war ungerecht, ungeduldig gewesen, hatte jetzt ein schlechtes Gewissen. Immer noch. Die Operation war so weit gut verlaufen. Das Bein hatte man zwischen zwei Halbschalen mit Klettverschlüssen fest eingeklemmt. Nur zum Duschen durfte er es frei abbrausen. Marion stützte ihn dabei, wenn er schwankte, hielt sie ihn mit beiden Händen aufrecht. Nur das Bein nicht bewegen, das hatte der Oberarzt sowohl seinem Patienten als auch Marion immer wieder deutlich, sehr deutlich sogar, erklärt.
„Da vorne ist es. Die Weißen von der Spurensicherung sind schon da. Wir sind spät dran“, bemerkte Gerd Happel und fuhr wieder über einen Bordstein. Der Rollstuhl schwankte gefährlich. Happel grinste, es machte Spaß, seinen Chef hilflos zu erleben. Dieses Energiebündel im Rollstuhl, seine Augen strahlten.
Sein Chef stöhnte. „Weiß ich, nerv’ mich jetzt nicht, du weißt, wie schwer es war, den blöden Sicherheits-Rollstuhl so früh morgens im Polizei-Hochhaus zu bekommen. Lass mich in Ruhe. Für die Arbeit muss ich das Ding doch benutzen, das weißt du doch.“ Selten hatte er schlechtere Laune gehabt. Zwei Polizisten kamen auf sie zu und erkannten grinsend den Chefermittler der Mordkommission Hamburgs.
„Sagen Sie bloß nichts“ rief Gerd Happel ihnen entgegen, „er ist kurz vorm Platzen.“ Nickend machte er die Kollegen auf seinen Chef aufmerksam. „Was ist los, was soll ich hier so früh?“ Gunnar Hansen schnauzte jeden erst einmal an. „Wer leitet die Untersuchung? Ich will einen Bericht, kurz bitte, und Happel, kümmere dich. Hilf mir hoch.“
„Küss die Hand, Herr Kommissar“, bemerkte der Kollege frech.
“Lass bloß dein Österreichisch stecken, wegen eurer Scheißberge ist mein Bein im Eimer.“ Happel stützte ihn. Mit einer Krücke humpelnd erreichten sie die Kaimauer. „Lass mich los“, Gunnar Hansen beugte sich, so gut er konnte, an der Duckdalbe vorbei, hielt sich mit einer Hand am rissigen, braunen Holz fest und sah in die Tiefe. Den Rollstuhl hielt Gerd Happel krampfhaft fest. Dort hing der Tote, über den Holzplanken des alten, holländischen Fischerbootes im Museumshafen. Die Füße hatte jemand mit einem Seil zusammengebunden, das um den verrosteten Eisenpoller auf der Ufermauer geschlungen und verknotet worden war. Das lose Ende des Seils berührte hüpfend die graue, ölig schillernde Wasseroberfläche, die sich im Wellengang der Elbe leicht auf und ab bewegte. Ein helles, kleinkariertes Jackett hing dem Toten über dem Kopf. Das sandfarbene, glänzende Futter spiegelte sich zitternd im unruhigen Wasser. Die dunkelgrüne Cordhose war über die gut geformten Waden hochgerutscht. Die scharfe Bügelfalte ließ die Hose scharfkantig, wie einen Blasebalg wirken. Seine seidig glänzenden, knielangen Socken passten farblich zum Futter des Sakkos. Etwas Haut vom linken Bein schimmerte zwischen Hose und Socke hervor, weißlila, zu blass, zu wenig behaart, irgendwie fraulich, dachte Hansen. Einer der Schuhe dümpelte im Wasser mit den Wellen auf und ab, der andere steckte auf den Zehen des rechten Fußes. Rotbraune Slipper mit Bommeln. Elegant, fuhr es dem Hauptkommissar durch den Kopf. Die Arme baumelten seltsam lose auf dem Wasser hin und her, so als gehörten sie nicht zum Körper. Mit den Wellen und dem Boot hin und her schwingend, vereinigten sie sich mit dem Spiegelbild des Sakkofutters im Hafenwasser. Sein Körper bewegte sich im Rhythmus des Wellengangs der Elbe. Immer dann, wenn eine Welle zurück an die Kaimauer schwappte, fuhr durch den alten Kahn ein Ruck. Der Tote bewegte sich dann unwirklich steif, wie gefroren, etwas hin und her.
Der schwimmende Schuh wollte sich nicht entfernen. Er kam zu seinem toten Besitzer immer wieder zurück. Eigentümlich dachte Happel. Als wüsste der Schuh, dass er zu jemandem gehört. „Ich will die Fotos sehen“, schnaubte Hansen mehr zu sich selbst. „Hast du die Taucher angerufen? Wo sind die Zeugen, wer hat ihn gefunden? Lass' sie alle in den Wagen kommen. Ich kann nicht mehr stehen.“ Er drehte sich nochmals um: “... und keiner holt in rauf“, schrie er hinter sich. „Erst will ich die Fotos sehen! Mach zu Happel, bewege dich doch einmal etwas flotter. Dein Wiener Schmäh geht mir auf den Senkel. Hast du Schimmel angerufen? Meine Güte, wo sind die Fotos? Mensch Happel! Hast du immer noch nicht gemerkt, dass ich nicht herumtoben kann?“ Hansen, der sonst so durchtrainierte Kripomann, blieb stehen. Er schnappte nach Luft. Seine Lungen füllten sich langsam mit der frischen Hamburger Hafenluft.
Endlich spürte er ihn wieder, diesen Geruch nach Hafen, nach Meer und Fischmarkt. Trotz seiner Schmerzen im rechten Bein, zog sich ein Lächeln um seinen Mund. „Ruf Steffi an, sie soll die Vermisstenliste der letzten Tage nach Männern durchforsten. Wo sind die Fotos?“ Den ganzen Weg über das holprige Kopfsteinpflaster zurück zum Polizeibus schimpfte der Kommissar leise vor sich hin. Er ärgerte sich zu sehr über sich selbst. Und dann waren da noch die Schmerzen, wie immer, wenn er krank war, wollte er seine Behinderung nicht zur Kenntnis nehmen. Aber man sah an seinem blassen, fast bläulichen Gesicht, dass er sich quälte. Als Happel seinen Chef aus dem Rollstuhl hob, schrie der auf. Das Bein bereitete offensichtlich ungewöhnlich starke Schmerzen.
Mit dem Hintern zuerst zwang Hansen sich in den Polizeikombi.
Das kranke Bein kann ausgestreckt auf dem Sitz liegen, fuhr es ihm fast glücklich durch den Kopf. „Darf ich jetzt mal die Fotos sehen?“
Ein Polizist reichte ihm die Nikon-Digital Kamera. Im Display war bereits das erste Foto eingeblendet. Happel lachte in sein Handy. Steffi, ihre junge, attraktive Polizeisekretärin, hatte wohl soeben vom Pech ihres Chefs im Skiurlaub erfahren und eine schmutzige Bemerkung gemacht. Happel sah zu seinem Chef herüber. So wie viele Menschen, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben. Die Taucher solle sie anfordern und Dr. von Schimmelmann, den Chef der Hamburger Gerichtsmedizin, anrufen. Happel gab ihr telefonisch auf, was sein Chef angeordnet hatte.
Auf den Fotos war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Von oben waren mehrere Fotos aus den unterschiedlichsten Richtungen und Höhen gemacht worden. Vom gegenüberliegenden Boot hatte der Polizist den Toten, die Kaimauer und die Duckdalbe in verschiedenen Zoom-Einstellungen fotografiert. Alle Bilder erschienen klar und sehr deutlich auf dem kleinen Bildschirm. „Lass ihn rauf ziehen“, stöhnte Hansen und schrie gleichzeitig.
“Happel schläfst du? Lass ihn rauf ziehen. Ich will sein Gesicht sehen. Wo ist der, der ihn entdeckt hat?“ „Der wartet draußen. Er ist heute Morgen mit dem Rad an der anderen Seite des Hafenbeckens vorbeigefahren und sah was Komisches hier liegen.“ „Schick ihn rein und rede mit der Spurensicherung. Wegen eventueller Fundstücke oder irgendwelcher Besonderheiten. Mach die Tür von draußen zu. Und beweg dich. Schick den Mann rein.
Und, lass den da drüben rauf ziehen. Hol mich hier in fünf Minuten ab. Leg den Toten vorsichtig auf das Ufer. Vorsichtig habe ich gesagt. Ich will das Gesicht sehen. Und sorge dafür, dass niemand etwas anfasst.“
Gunnar Hansen war jetzt schon erschöpft. Trotz des kalten Morgens schwitze er. Sein Körper wehrte sich gegen seine Arbeit.
Ein Mann in mittlerem Alter, ungefähr vierzig, schätzte er aus den Augenwinkeln, trat händeringend an den Polizeitransporter heran. Die Kapuze seines hellgrauen Sweatshirts hatte er über den Kopf gezogen.
UCLA war in großen Lettern vorn aufgedruckt. Schon leicht verblasst, ist schon viel gewaschen worden. Grinsend öffnete der Hauptkommissar die Schiebetür von Innen. Die Nase fiel ihm sofort auf. Die Nase des Mannes leuchtete rot angelaufen aus einem grauen, frierenden Gesicht. In seiner dünnen schwarzen Jogginghose fror der Mann offensichtlich entsetzlich. „Setzen Sie sich“, brummte Hansen, er hatte sich vorgenommen freundlich zu sein. „Erzählen Sie mal, was los war!“
„Ach wissen Sie, ich fahre hier jeden Morgen von Blankenese bis zum Fischmarkt und zurück. Außer wenn es schneit und zu stark regnet. Heute stand ein LKW von Holsten Bier quer, wollte wohl wenden. Ich musste vom Rad und blickte auf die Elbe.
Gegenüber an der Kaimauer sah ich, bei dem Kahn da, einen Mann hängen. Mein Rad steht da drüben an der Mauer. Als ich dann runter blickte, sah ich ihn da unbeweglich hängen, nur leicht schaukeln. Ich bin dann sofort einige Schritte zurück gegangen. Mein Rad hatte ich stehen lassen. Hier mit diesem Handy habe ich dann die Polizei angerufen. Können Sie nachprüfen.“ Hansen winkte ab. „Ist schon gut. Wann war das?“ Der Mann fummelte an seinem Handy, drückte verschiedene Tasten, es piepte mehrfach. „Um 7.48 Uhr, sehen sie mal. Notruf um 7.48 Uhr. Hier im Display.“ „Danke, lassen sie das meinen Assistenten nochmals sehen.“ Haben Sie jemanden bemerkt, ist Ihnen etwas aufgefallen, war irgendetwas anders als sonst hier in der Ecke.“
„Nee, eigentlich war alles so wie immer. Bis auf den Bierwagen, der kommt unregelmäßig. Meistens zwei Mal die Woche.“ Hansen fingerte in seiner Jackentasche herum und zog seine Visitenkarte heraus. „Ich schreibe Ihnen noch den Namen meines Assistenten und meiner Mitarbeiterin auf. Fällt Ihnen noch was ein, melden Sie sich bitte. Geben Sie bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer meinem Assistenten. Übrigens, ich bin Hauptkommissar Gunnar Hansen.
Rufen Sie mich an, falls Ihnen was Wichtiges einfällt. Und jetzt helfen Sie mir hier raus. Bitte vorsichtig.“ Er quälte sich hoch, der Radfahrer stützte ihn mit sehr festem Griff, was Hansen schmerzlich an seinem Oberarmmuskel fühlte. Noch mehr blaue Flecke brauche ich nicht auch noch, dachte er und lächelte den Mann trotzdem freundlich an.
Er hatte schmale, blutleere Lippen. „Das ist mein Rollstuhl. Da muss ich rein. Schöner Schiet, was?“ „Happel“, schrie Hansen über den kleinen Platz, der Radfahrer schob ihn bereits seinem herbeieilenden Assistenten entgegen. „Ist er oben?“ grunzte er. Zum Radfahrer gewandt: „Schönen Dank fürs Schieben, vergessen Sie ihr Fahrrad nicht und anrufen, wenn Ihnen noch was einfällt. Wo ist das Rad übrigens?“ „Dort drüben, auf dem Rasen vor dem Restaurant.“ Die Polizisten haben es dort hingelegt.
„Dürfen wir ein paar Fotos von dem Rad machen?“ Hansen war jetzt ganz zahm. „Happel mach’ ein paar Aufnahmen, von allen Seiten. Und dann kommst du schnellstens wieder her. Mach zu!“
Langsam rollte er schwankend zur Kaimauer. Das Anschieben mit den Händen über die seitlichen Antriebsräder kostete Kraft. Das waren unbekannte Bewegungen, langsam wurde ihm kalt. Die Leiche war mit einem weißen Tuch abgedeckt. Elbwasser bildete glitzernde Pfützen auf schmutzig grauem Kopfsteinpflaster. Ein Polizist hob das Tuch über der Leiche leicht an und zog es bis zum Ende der Trage zurück. Vor ihm lag ein Mann mit friedlichem Gesicht. Er war mittleren Alters.
Völlig entspannt. Die Augen waren nicht hervorgequollen, kein Blut in der Nase. Über der Stirn, gerade unter dem Haaransatz verlief ein dunkler Ring verfärbter Haut, der hat einen Hut oder Mütze getragen, sofort kam dem Hauptkommissar dieser Gedanke. „Habt ihr seinen Hut oder seine Mütze gefunden?“ Hansen rief dem nächsten Beamten der Spurensicherung auch noch zu: “Wenn nicht, lass die Taucher danach suchen. Und sucht nochmals die Wasserlinie an der Kaimauer und um die Schiffe herum, ab. Irgendwo muss das Ding schwimmen. Wir suchen seinen Hut oder seine Mütze.“ Weiß-lila Haut, kein Bart, hellgraue verworrene Haare klebten eng am Kopf, vom blauen Hemd mit dem weißen Kragen standen zwei Knöpfe offen. Er trug eine dünne, silbrige Halskette mit einem komischen Kreuz. Nachdenklich sah Hansen auf den Toten herunter. Die Distanz aus dem Rollstuhl auf den Toten war ihm unheimlich. Er war jetzt sehr viel näher am Tod dran als sonst, wenn er sich stehend die Leichen betrachtete. Fast konnte er jede Pore, jedes Körperhaar sehen. Es fröstelte ihn. Die Haut ist zu weiß, fast blau oder lila, irgendwie ekelig, ging es ihm durch den Kopf. Der musste bereits tot gewesen sein, bevor er hier hingelegt wurde. Das beige karierte Jackett hatte braune Lederflicken auf den Ellenbogen. Ein Kugelschreiber steckte in der Brusttasche.
„Wo ist der zweite Schuh?“ Hansen blickte hoch. Ein Mann in weißem Overall der Spurensicherung schwenkte einen durchsichtigen Plastikbeutel. Ein schwarzer Krokodilledergürtel hielt die Cordhose des Mannes geschlossen. Die Hosenbeine waren hochgerutscht, saßen fast in den Kniekehlen. Vom über Kopf hängen, dachte Hansen. Die langen, in sich gemusterten, beigefarbenen Socken erschienen ihm ungewöhnlich. Knielange Socken sind bei uns unüblich, murmelte er mehr zu sich selbst.
„Habt ihr Fotos gemacht?“ Der Kollege im weißen Overall nickte bestätigend, hielt seine Kamera zur Bestätigung in die Höhe.
Oberkommissar Gerd Happel eilte zurück.
„Habe kurz ein Protokoll von dem Radfahrer aufgenommen, mit Anschrift und Telefonnummer. Den Fotos von seinem Fahrrad hat er zugestimmt.“ Hansen sah ihn an. „Lass den Toten zu Schimmel in die Rechtsmedizin bringen. Er soll mich anrufen. Schimmel ist immer noch nicht da. Wo ist denn Jens Basedow? Der Mann vergisst noch mal seinen Arsch. Wenn du den nicht.“ „Da hinten kommt sein Wagen, musste wohl erst seine Alte in die Stadt fahren!“ Happel unterbrach seinen Chef und zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung Hamburg. „Erst soll er sich den Mann hier ansehen. Jetzt will ich zurück. Sag den Kollegen, sie sollen alles abgesperrt lassen, bis die Taucher fertig sind. Auch auf das Schiff gegenüber darf niemand. Sag den Weißen sie sollen auch dort mögliche Spuren sichern. Bei der Durchsuchung der Leiche musst du dabei sein. Lass dir das nicht entgehen. Bring mich erst ins Auto. Schieb mich bloß vorsichtig. Bei dem Kopfsteinpflaster. Ich will Basedow nicht treffen, mach du das und pass auf. Hoffentlich bist du schon richtig wach!“ Lächelnd griff Hansen zu den Seitenrädern seines Rollstuhls. Mit kräftigen Armbewegungen rollte er sich zum Polizeibus. Bis zum Bericht von Dr. Werner von Schimmelmann, dem Leiter der forensischen Pathologie in Hamburg, gab es nicht mehr viel zu tun. Berichte mussten geschrieben werden, Formulare waren auszufüllen.
„Gerd, soll das machen, ich bestimmt nicht,“ brummte Hansen. Für ihn stand nur fest, dass sich niemand selbst an den Füßen fesselt und sich die Kaimauer im Hamburger Museumshafen herunterstürzt, um sich zu töten. Muss wohl Ebbe gewesen sein. Das Schiff lag dann tief im Wasser. Wenn er darauf gefallen ist... Warum eigentlich nicht, dachte er und stellte die Heizung des VW-Passat auf volle Touren. Sein Bein tat weh. Es war ein blöder Tag. Wenigstens warm wollte er es haben.
Als sein Assistent wenig später die Tür des Wagens öffnete, war er bereits eingenickt. Hansen war kaputt, ausgelaugt, fertig. Als er hoch- schreckte, brummte er nur: „Fahr mich bitte nach Eppendorf. Ich will zur Untersuchung ins Krankenhaus. Marion hat hoffentlich heute Morgen einen Termin bei Meyer-Klimt gemacht. Er soll sich die Röntgenbilder und mein Bein ansehen. Tu mir den Gefallen und warte im UKE. (Universitäts-Krankenhaus-Eppendorf in Hamburg)
Geht das?“ Happel hob die Augenbrauen, sein Chef musste wirklich leiden. Woher kam sonst diese Freundlichkeit. Er nickte. Sie besprachen das, was sie eben gesehen hatten. Als Hauptkommissar gab er schnell einige Anweisung. Der Mitarbeiter verhielt sich kollegial. „Auf den Bericht der Rechtsmedizin bin ich gespannt. Kannst du den Radfahrer überprüfen, hat er noch was gesagt?“ „Nee, scheint ok zu sein. Ist ein Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule, Elbchaussee. Sein Unterricht beginnt immer um 9.00 Uhr. Da hat er Zeit, täglich seine Runde mit dem Rad zu fahren.“ “Überprüfe ihn trotzdem und lass dir alle Bilder im Großformat von der Spurensicherung geben. Ich habe ein ganz komisches Gefühl. Keine Würgemale, keine Blutungen, Kopf nicht verletzt, gut gekleidet. Irgendetwas stimmt nicht. Es passt etwas nicht zusammen. Und tun mir den Gefallen, schreib du den Bericht, sag denen im Büro ich sei krank, und ... ich sei zuhause erreichbar.“ Gerd Happel wartete auf dem Parkplatz der Orthopädie, auf dem Gelände der Universitätsklinik Hamburg. Im Stadtteil Eppendorf, auf dem Krankenhausgelände, war immer viel los, auch schon früh am Morgen. Er betrachtete die einfahrenden Krankenwagen, sah den humpelnden Menschen nach und konnte sich nicht vorstellen, wo so viele Gipsverbände und geschiente Beine, Arme und Gehhilfen herkamen. Alle Passanten schienen hier Knochenbrüche zu haben. Vom Morgen hatte er noch die BILD Zeitung in seinem Mantel. Jetzt konnte er endlich die Sportberichte lesen. Bei den Bildern von den Ski-Abfahrtsläufen in Kitzbühel musste er an seinen Chef denken und grinsen. Eigentlich war mit dem Bein alles in Ordnung. Die Österreicher hatten eine gute Arbeit geleistet. Perfekt gemacht, bemerkte der leitende Oberarzt. „Es war richtig von Ihnen, sich sofort operieren zu lassen. Nur die weite Fahrt nach Hamburg hätten Sie nicht machen sollen. Sie brauchen Ruhe. Bleiben Sie eine, besser zwei Wochen zu Hause. Bleiben Sie im Bett, Mann, neben einem Schock, den Sie zu verarbeiten haben, können Probleme im Bein auftreten. Es kann sich Wasser im Knie bilden. Legen sie das Bein etwas hoch. Und täglich brauchen Sie eine Spritze gegen Thrombose. Kann die Ihnen jemand geben? Oder können Sie das selbst?“ Der Arzt sah ihm direkt in die Augen. „Ich zeige Ihnen wie das geht. Kein Problem. Machen Sie sich mal am Bauch frei.“ Der Arzt gab dem Hauptkommissar die Spritze ins Bauchfett. Er hatte es leicht als Falte mit der linken Hand zusammengedrückt. Nichts war zu merken. „Das mache ich selber, geben Sie mir bitte das Rezept.“ Er musste sich auf eine Rollbahre umbetten lassen. Die herbeieilende Krankenschwester stützte ihn. Als er seitlich auf der Kante saß, lehnte er sich weit zurück und versuchte mit dem gesunden Bein das verletzte anzuheben. Die Schwester hob sein Bein mit hoch. Tränen traten ihm in die Augen. Seine Lippen waren weiß. Er hatte heftige Schmerzen. Ganz vorsichtig schob die Schwester ein Kissen unter das Bein. Mit rotem Kopf blickte er die junge Frau an, vor Anstrengung und Schmerz hatte er sich ein ganz klein wenig in die Hose gepinkelt. Sicher war ein kleiner Fleck auf seiner, weiß-blaugestreiften Boxershorts zu sehen. „Der Krankenwagen kommt gleich, wir bringen Sie nach Hause.“ Die Schwester lächelte ihn warmherzig an. Sie hatte ein asiatisch, rundes Gesicht, mit kleinen Schlitzaugen.
Sie war wohl Koreanerin. Was für zarte Hände sie hat, dachte er, als sie ihm den Arm an die Seite legte und ihn zudeckte. Als sie ging, blickte er ihr nachdenklich hinterher. Dann fummelte er sein Handy aus der Hose, die die nette Schwester an seine Seite gelegt hatte, sorgsam und adrett zusammengefaltet. Er stöhnte dabei leise. Das Bein schmerzte bei jeder Bewegung. Zuerst rief er seinen Assistenten auf dessen Handy an, berichtete ihm kurz über das Gespräch mit dem Arzt. „Ruf bitte Marion an, ich komme mit dem Krankenwagen nach Hause. Ich bin jetzt in Station 3/1 Orthopädie im UKE. Eine Woche bin ich zuhause und du berichtest mir täglich. Danke erst mal. Und fahr bitte ohne mich los.“ Er hängte auf. Plötzlich war er zu müde zum Reden, er war völlig fertig. Lediglich seinen Chef im Präsidium informierte er kurz über seine Situation. Als ihn die Krankenfahrer in sein Schlafzimmer trugen, war er erleichtert. So wie Kranke erleichtert sind, wenn sie endlich im eigenen Bett liegen. Er war erschrocken von diesem Gefühl. Marion hatte das Bett schon aufgeschlagen die braun-beige Kamelhaarwolldecke von ALDI lag zusammengerollt der Länge nach auf seiner Seite. Er lächelte. Marion half ihm aus seinen Sachen, zog ihm ein weites weißes Sweatshirt über, die weiten Boxershorts behielt er an. Hansen blickte hinüber zu den Fahrern des Krankenwagens, die in seiner Schlafzimmertür warteten. „Und“ fragte er, „was noch? Habt ihr den Rollstuhl?“ „Wir warten, bis Sie liegen“ grinsten der Lange, der andere zeigte aufs Bett. „Schön hinlegen und zudecken. Und, duschen ist nicht, vorerst nicht. Lassen Sie sich waschen Kommissar,“ grinste einer der Fahrer. „Kann auch ganz schön sein.“ „Raus“, grunzte Hansen, der Hamburger Hauptkommissar angestrengt lächelnd: „Und besten Dank für die Fahrt.“ „Gerne Chef und gute Besserung“, kam prompt die Antwort. „Du schläfst jetzt erst einmal“, bestimmte Marion Krohn entschlossen, als er sich endlich in dem Bett richtig hingelegt hatte.
„Die Krücken nehme ich mit, der Rollstuhl steht im Flur. Wenn du was willst, musst du rufen. Du bleibst im Bett.“ Irgendwie wirkt er klein und hilflos. Blass ist er. Die ganze Urlaubsbräune ist weg, dachte sie und sah ihn liebevoll an. Die Wolldecke schob sie sehr vorsichtig unter dem verletzten Bein zurecht. „Das Telefon bleibt bei mir, wenn was Wichtiges ist, wecke ich dich.“ Rückwärts schlich sie auf Zehenspitzen hinaus. Sie liebt mich, dachte er und schlief sofort ein. Als Oberkommissar Gerd Happel das Büro im Polizeihochhaus betrat, stürmte ihm Stefanie Gentz aufgeregt entgegen. Als Sekretärin war sie über alles und jedes informiert. „Wo ist Gunnar, er soll sofort zu Schimmel in die Rechtsmedizin kommen“, ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Der hat was entdeckt, was wichtig für euren Toten von heute Morgen ist. Er sagt, es sei wirklich wichtig.“ „Lass mich erst einmal sitzen. Seit sechs Uhr früh bin ich auf den Beinen. Gestern war unser Hauptkommissar super schlecht drauf, alles tat ihm weh. Hast du schon gehört?“ „Ja, Marion hat mir von seinem Pech erzählt.“ „Er liegt im Bett und schläft.“ Stefanie drehte sich um und sah auf die große Wandkarte von Hamburg. Den Fundort der Leiche hatte sie bereits mit einem leuchtend roten Fähnchen markiert. Als sich der Oberkommissar erschöpft in seinen Bürostuhl fallen ließ, bemerkte er den Umschlag von der Spurensicherung auf Hansens Schreibtisch. „Wahrscheinlich die Fotos“, dachte er. „Hast du die Taucher angerufen, waren die schon am Fundort?“ „Weiß ich nicht“, antwortete Steffi, „angerufen hatte ich so um neun Uhr. Soll ich mal nachfragen?“ „Lass man, die werden sich schon melden.“ „Was ist mit den Tagesberichten, soll ich dir die Formulare geben?“ Mit hochgezogenen Brauen sah Happel sie an. „Ist schon vergessen“, lachte Steffi. „Erzähl lieber, was du weißt, dann kann ich die Berichte schnell in den Computer geben, wenn du zu Schimmel in die Rechtsmedizin fährst. Kaffee habe ich dir schon hingestellt, in der Thermoskanne, muss noch heiß sein.“ Freundlich lächelte er sie an. „Irgendwann muss ich mit ihr ins Bett, irgendwann“, dachte er und sah auf ihre langen Beine in den verwaschenen Jeans. Er mochte junge Frauen in Jeans und weißen Turnschuhen. Auf lange Beine fuhr er ab. Ihr weißes Sweatshirt fand er auch gut. Den Aufdruck hatte er heute schon einmal gesehen, ging es ihm durch den Kopf. UCLA, University of California, Los Angeles. Bei dem Radfahrer, dem Lehrer aus Blankenese, jetzt wusste er, wo dieses Sweatshirt in seinem Kopf gespeichert war. Stefanie kam zurück und hatte die Anweisungen für die Pathologie bereits in der Hand. „Ich habe die große Untersuchung eingetragen, DNA-Analyse, Sperma und so weiter. Gunnar will das meistens so haben. Das weißt du ja.“ „Spermaproben, wie kommst du denn darauf?“ „Er ist männlich.“ „Hat man oft bei Männern, dass sie männlich sind“, meinte er sarkastisch. Sofort tat es ihm leid. „Entschuldigung“ murmelte er. „War nicht so gemeint.“ „Spermaprobe finde ich wichtig“, erwiderte Steffi. „Er kann doch schwul sein!“ Darauf war ihr Kollege wohl nicht gekommen. Nachdenklich sah er aus dem Fenster. „Wer springt schon selbst mit dem Kopf nach unten in den Hafen auf einen Museumskahn“, murmelte er vor sich hin. „Gibt es was Interessantes in der Vermisstenliste?“ Er sah zu seiner Kollegin auf. Ihr Pferdeschwanz wippte hin und her. Sie kam sehr erotisch daher schreitend direkt auf ihn zu. „Hier, hier ist die Liste. Keiner passt ins Schema. Alle entweder viel älter, Rentner oder kleine Jungs, die weg sind.“ „Pass auf“, antwortete er und sah sie lächelnd an. „Ich setze mich jetzt an den PC und gebe schnell das Opferprofil ein, soviel wie uns bisher bekannt ist. Wenn ich später hinüber fahre zu Schimmel, scannst du bitte die Fotos direkt vom Chip ein. Dann haben wir alles up-to-date und können die Ergebnisse der Mediziner und der Spurensicherung hinzufügen. Morgen bringe ich Gunnar dann die CD mit den Einzelheiten. Der kann doch nicht ruhig liegen. Einverstanden?“ Stefanie wusste, dass ihr Kollege immer besonders eifrig tat, wenn der Chef nicht im Hause war. „Willst du Punkte sammeln? Machen wir, ich helfe dir“, sie lachte. Die Spurensicherung rief an, jemand solle wegen der Durchsuchung des Toten rüberkommen. Fünfzehn Minuten später war Oberkommissar Gerd Happel, der Wiener in Hamburg, unterwegs. Den Rechtsdoktor, wie er ihn nannte, Dr. Werner von Schimmelmann hatte er angerufen. Der eröffnete ihm am Telefon, dass er noch Zeit, mindestens zwei Tage bräuchte, aber schon jetzt könne er sagen, dass es ein ganz ungewöhnlicher Todesfall sei. Die Leiche sei aber immer noch nicht von der Spurensicherung freigegeben worden. Der Chef der Hamburger Rechtsmedizin habe sich den Toten nur oberflächlich betrachten können. Immer diese verschwommenen, vagen Andeutungen der Ärzte, dachte Happel und bedankte sich. Er versprach gegen Abend vorbeizukommen. Aus Innsbruck war Gerd Happel nach Wien gegangen. Nach und nach hatte er sich dort in das System der Wiener Kripo eingearbeitet. Vieles gefiel ihm gar nicht. Oft waren die Hierarchien dort viel zu verkrustet. Zu viel Wiener Schmäh und „Küss die Hand“, wie er sich ausdrückte. Von der Vernetzung der EDV-Systeme in Deutschland, von der guten technischen Ausstattung dort, hatte er immer geschwärmt. Alle deutschen Fachmagazine der Kriminologie las er regelmäßig. Er wollte nach Deutschland. Entweder nach Berlin oder Hamburg. Die Bayern lagen ihm nicht. Die waren ihm zu ähnlich. Er wollte Kontrast, wollte Power. Die norddeutschen Macher, die preußischen Pragmatiker lagen ihm, die redeten nicht viel, die machten.
So einfach war das.
Und dann, dann war da der Urlaub in Gerlos. Seine Schwester hatte ins Sporthotel Alpina hineingeheiratet. Sein neuer Schwager war ein super Typ. Sensationelles Hotel, mit Wellness-Bereich, eigener Skischule und bestem Essen. Deutsche und Holländer kamen jeden Winter.
Super Frauen, hatte er nach den ersten Wochenenden festgestellt. Immer gute Stimmung und er konnte bei seiner Schwester kostenlos wohnen. Da er aus Wien stammte, war auch ein Treffen mit den Eltern immer mal wieder drin. Die machten im Hotel ihrer Tochter ebenfalls zwei Mal im Jahr Urlaub. Die Besuche in diesem Hotel veränderten ihn. Seine Kleidung war viel moderner geworden. Er trug jetzt Boss-Anzüge und Schuhe von Reiter, er hatte viel abgenommen, ging ins Hotel eigene Fitnesscenter. In Wien merkte er an den Reaktionen der Mädels auf der Kärntnerstraße, dass er sich verändert hatte. Seine Schwester meinte, die neue Frisur stehe ihm sehr gut. Irgendwann traf er Gunnar Hansen im Hotel in Gerlos.
Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass ein Hauptkommissar aus Hamburg im Hause Urlaub mache. Der sei ein ziemlich wilder Hund im Schnee, wie sie meinte. Die beiden Männer hatten sich angefreundet und irgendwann war er in Hamburg gelandet.
Er war froh, diesen neuen Job bekommen zu haben. In seiner kleinen Wohnung in Eimsbüttel fühlte er sich wohl. Hamburg war eine Weltstadt, das merkte er sofort an seinem neuen Arbeitsplatz. Hier ging es voran, mit modernsten kriminologischen Mitteln wurde hier wie selbstverständlich gearbeitet. Und die Hamburger Mädel mochten seinen Dialekt.
Als er den Raum der Spurensicherung betrat, sah er sofort die gesamte Bekleidung des Toten, ausgebreitet auf weißem, feucht gewordenem Papier, auf schwarzweiß gefliestem Boden liegen. Dr. Jens Basedow hatte einen vorläufigen Bericht geschrieben und druckte ihn gerade aus. „Wollen Sie eine Kopie mehr für Ihren Chef?“ „Besser sie geben mir alles als CD mit. Dann kann ich es gleich in unserem PC übernehmen.“
„Ich hatte doch extra darum gebeten, bei der Bearbeitung der Bekleidung dabei zu sein!“ „Ihr Chef ist doch krank, da haben wir angefangen. Worauf sollten wir denn warten? Der Seitenhieb auf ihn saß. Basedow grinste. „Tut mir leid, war nicht so gemeint. OK, ich brenne eben die CD.
Setzen Sie sich an den freien Schreibtisch, es gibt einiges zu besprechen.“ Dr. Jens Basedow galt als Außenseiter, als sarkastischer, herrischer Typ, der nur durch seinen Vorgesetzten, Dr. Werner von Schimmelmann, zu einem anständigen Umgang mit der Polizei gebracht werden konnte.
Die Schuhe, Socken, Wäsche waren in Papierbeuteln einzeln sortiert worden, um zu verhindern, dass serologische Spuren, wie Körperflüssigkeiten, Blut, Schweiß, Sperma, verschimmeln. Die Armbanduhr des Toten, die Halskette, der Kugelschreiber alles gesondert eingetütet, nummeriert und mit allen Daten versehen, lagen bereit für die Asservatenkammer. Dr. Basedow setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches. „Also“, begann er, „lassen Sie mich mal kurz zusammenfassen.
Alles was der Tote an sich, bei sich, mit sich trug, stammt überwiegend aus England. Das Sakko stammt laut Etikett aus Manchester, die Hose ebenfalls, vom gleichen Herrenausstatter. Das Hemd von Arrows, USA, es hat kein gesondertes Einzelhandelsetikett. Er hatte eine deutsche Fliegeruhr von Kienzle am Handgelenk. Ziemlich antikes Modell. Der Kugelschreiber“, er hob den Beutel hoch, “wird von Britisch Airways auf deren Flügen verteilt. Die Wäsche haben wir noch nicht analysiert. Schimmel will sie unbedingt zuerst sehen. Merkwürdig sind die Schuhe, es sind italienische Todd-Slipper. Sehr teuer.
Wir müssen sie noch genauer untersuchen. Die stammen aus einem Laden an der Oxfordstreet. Die orthopädischen Einlagen sind seltsam, von einem USA-Versandhandel für Einlegesohlen. Aber sie passen nicht genau in die Schuhe. Sind mindestens zwei Nummern zu klein, wenn nicht mehr.“ „Papiere?“ fragte Happel dazwischen.
„Nichts, kein Geld, keine Papiere, keine Münzen, nichts. Kein Fetzen Papier.“ „Haben die Taucher was gefunden?“ „Nichts, gar nichts. Nur, dass an der Fundstelle keine Strömung ist, das konnten sie bestätigen. Nur leichter Wellenschlag. Immer. Nie Strömung. Hängt mit dem Museumshafen zusammen.“ „Hier“, fuhr Dr. Basedow fort, „hier, das haben wir auch noch. Er war in der linken Brustwarze gepierct. Hier mit diesem kleinen Edelstahlring.“ Er hielt einen kleinen Plastikbeutel hoch.
„Kann es sein, dass er schwul war?“ Happel hatte ganz plötzlich so einen Einfall. „Kann ich nicht sagen, fragen sie Schimmelmann. Ich bin nachher in der Pathologie drüben. Wollen wir uns dort zusammensetzen?“ „Was ist mit einem Hut oder Mütze?“
„Nichts gefunden, den ganzen Hafen und das Elbufer haben wir abgesucht. Es ist keine Strömung da.“
„Gut, treffen wir uns bei Dr. von Schimmelmann“, meinte Happel.
„Sagen Sie mir auf meinem Handy Bescheid. Ich fahre dann sofort in die Rechtsmedizin rüber, ich will unbedingt Schimmel noch sehen. Schön, wenn Sie auch da sind. Kann ich die CD haben?“ „Auch ja, selbstverständlich, ich beschrifte sie noch kurz.“ „Hier ist meine Karte, die Handy Nummer steht darauf. Rufen sie mich doch bitte kurz vor dem Treffen an. Dann sind wir alle gleichzeitig da.“ Nach einer Stunde war Happel wieder draußen. Er fuhr an der Musikhalle vorbei, das Unilever Hochhaus links leuchtete in seinem hellen Türkis. Wie immer, dichter Verkehr am Gänsemarkt, er bog verkehrswidrig nach links ab. Ein frierender Verkehrspolizist sah verdutzt hinter ihm her. Gerd Happel hob grüßend die Hand. Er parkte immer hinter der Staatsoper, immer hier in der Gegend. Auch abends, wenn Kino im UfA-Palast angesagt war. Mit seiner Visitenkarte und der polizeilichen Haltekelle hinter der Windschutzscheibe war er der König der Falschparker. Im >Brötchen<, im Verkaufsraum der Stadtbäckerei, hatte er Lust auf Mettbrötchen mit Zwiebeln und eines mit Roastbeef und Gelee.
Irgendwie pervers dachte er. Rohes Fleisch und fast roher Braten.
Aus Wien kannte er so etwas nicht. Aber es schmeckte ihm. Langsam wurde er Hamburger. Stefanie hatte alles so vorbereitet, dass er nur noch unterschreiben musste. Alle Formulare lagen in der Unterschriftenmappe auf seinem Schreibtisch. Das Handy legte er neben die schwarze Halogenleuchte. Gunnar hatte noch nicht angerufen, das war ein sicheres Zeichen, dass es ihm schlecht ging. Oder Marion macht den Meister Propper und passt wie Kommissar Rex auf. Er lächelte über seine eigene Gedankenkreativität. Mit dem PC-Programm NERO brannte er als erstes eine Kopie der CD von der Spurensicherung. Er übertrug alle Einzelheiten in das bisherige Opferprofil, die Bilder fand er in Photoshop und übertrug sie ebenfalls ins Profilprogramm. Langsam legte sich ein Netz von Informationen über den Toten vom Museumshafen. Als er alles geprüft, verändert, neu geordnet hatte, als er zufrieden mit der Anordnung von Bildern und Text war, als eigentlich nichts mehr hinzuzufügen war, vergab er eine neue Bearbeitungsnummer und ein Passwort. Damit war dieser Vorgang im Computer erfasst und geordnet. Das Passwort „Museumshafen“ schrieb er auf einen Zettel mit dem Vermerk, dass es sich um den Vorgang des männlichen Toten von Hamburg Teufelsbrück handelt.
Eine Notiz bekam Stefanie, eine machte er für seinen Chef. Als er alles nochmals auf seinem PC zusammengefasst und gebrannt hatte, klebte er den gelben Post-it-Zettel mit dem Passwort auf die CD-Hülle.
Die CD steckte er in seine Sakko-Innentasche. Gerd Happel sah erst auf sein Handy, dann auf die große Bahnhofsuhr an der Wand.
Halb fünf war es schon, wo blieb der Anruf aus der Rechtsmedizin.