Radikal weg - Christian Pukelsheim - E-Book

Radikal weg E-Book

Christian Pukelsheim

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Beschreibung

Was passiert, wenn der Chef oder die Chefin eine Auszeit nimmt und die Angestellten auf sich allein gestellt sind? Was geschieht, wenn er oder sie selbst nicht mehr für Fragen erreichbar ist? Christian Pukelsheim erfüllte sich den Traum vieler Unternehmerinnen und Unternehmer: Er überließ den mittelständischen Solinger Scherenhersteller Robuso seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und segelte mit seiner Familie ein ganzes Jahr um die Welt. Der Unternehmensberater Michael Habighorst begleitete in dieser Zeit das Unternehmen in Solingen und stand den Angestellten mit Rat und Tat zur Seite. Er bekam aus nächster Nähe mit, was in einem Unternehmen passiert, wenn der Chef radikal weg ist. Christian Pukelsheim und Michael Habighorst beschreiben in diesem Buch die Herausforderungen für Unternehmer und Mitarbeiter, welche Vorbereitung notwendig ist und worauf unbedingt zu achten ist bei einer Auszeit. Dabei geben die Autoren Einblicke in ihre persönlichen Erlebnisse und erzählen direkt und schonungslos von den Erfolgen und Misserfolgen. Sie berichten jedoch nicht nur von den Höhen und Tiefen dieser Zeit, sondern ermöglichen auch anderen, aus ihren Erfahrungen zu lernen. Ohne auszuschmücken – einfach radikal ehrlich!

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Christian Pukelsheim und Michael Habighorst

Radikal weg

Christian PukelsheimMichael Habighorst

Radikal weg

Wenn der Chef ein Jahr Auszeit nimmt und das Unternehmen dennoch funktioniert

Mentoren-Media-Verlag

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage

© 2023 Mentoren-Media-Verlag,Königsberger Str. 16, 55218 Ingelheim am Rhein

Lektorat : Deniz S. Özdemir, MainzKorrektorat: Sarah Küper, MainzUmschlaggestaltung: Nadine Nagel, MainzUmschlagsfoto: Adobe Stock, Nr. 591849953 (sailboat on the sea with storm and big waves. generative ai)Satz und Layout: Deniz S. Özdemir, Mainz

Autorenfotos: Katrin Küllenberg, Solingen (C. Pukelsheim), Felix Groteloh, Freiburg im Breisgau (M. Habighorst)

Druck und Bindung: MCP, Marki, Polen

eISBN: 978-3-98641-088-9

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Sämtliche Inhalte in diesem Buch entsprechen nicht automatisch der Meinung und Ansicht des Mentoren-Media-Verlages.

www.mentoren-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Lutz LanghoffRadikal mutig

Intro der AutorenEine kleine Navigationshilfe für dieses Buch

Kapitel 1 Schlechtes WetterfensterEs hätte keinen ungünstigeren Zeitpunkt geben können

Kapitel 2 Over and outKommunikation? So wenig wie möglich!

Kapitel 3 Setzt die SegelWer ist denn hier jetzt verantwortlich?

Kapitel 4 Mann über BordKopflos in Solingen

Kapitel 5 Kurs liegt anWo geht’s hin?

Kapitel 6 Mayday, Mayday, Mayday»Wann müssen wir eigentlich Insolvenz anmelden?«

Kapitel 7 Schwere SeeDer größte Kunde ist weg

Kapitel 8 Leinen losVeränderung findet statt!

Kapitel 9 Segel reffen»Ich kann keine Nacht mehr schlafen!«

Kapitel 10 Der Anker hältWas ist uns wichtig?

Kapitel 11 Klar zur WendeWenn die Kultur am Boden liegt

Kapitel 12 Kurze rote HoseWar das Projekt erfolgreich?

OutroLass von dir hören!

Literaturempfehlungen

* Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern an einigen Textstellen nur eine grammatische Form der Personenbezeichnung verwendet. Sämtliche Angaben beziehen sich jedoch selbstverständlich auf Angehörige aller Geschlechter.

Vorwort von Lutz Langhoff

Radikal mutig

Mut ist eine der wunderbarsten Ressourcen im Leben – beruflich wie privat. Überall erlebe ich eine Sehnsucht nach mutigen Chefs und mutigen Mitarbeitern. Das Leitbild jedes zweiten Unternehmens spricht von Mut. Politiker fordern immer wieder Mut ein. Und eigentlich handelt jeder Blockbuster aus Hollywood ebenso von einer »Heldenreise«, in der ein Protagonist durch ein Tal der Tränen geht und sich dadurch weiterentwickelt.

Auch in diesem Buch ist jemand mutig. Radikal mutig, privat und beruflich. Christian Pukelsheim erfüllte sich einen Traum, wie ihn viele Unternehmer haben: einfach mal weg – ein ganzes Jahr mit der Familie auf Segeltörn. Aber im Kern geht es auf den folgenden Seiten nicht um seinen mutigen Schritt, sondern um die persönliche Entwicklung seiner Angestellten, die in dieser riesigen Lücke ihre persönliche Heldenreise erleben durften und auch »mussten«. Was passiert, wenn der Chef wirklich weg und selbst für Fragen nicht mehr erreichbar ist?

Jeder Leser und jede Leserin dürfte am Anfang zu dem Thema eigene Vorurteile und Ängste haben. Diese werden gleich mit einer überraschend positiven Aussage torpediert: Dem Unternehmen geht es nach der Abwesenheit des Chefs wirtschaftlich besser als zuvor. Dann folgt jedoch ein großes Aber. Denn es gibt auch Schattenseiten. Und im Blick auf Licht und Schatten liegt die große Stärke dieses Buchs: Hier werden die inneren Prozesse und Herausforderungen der Belegschaft so klar beschrieben, dass sie zum Greifen nahe sind. Das Buch berichtet teils sehr persönlich, was solch ein Jahr des »radikalen Wegseins« wirklich bedeutet. Einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen berichten, dass es das spannendste, herausforderndste und intensivste Berufsjahr ihres bisherigen Lebens gewesen sei. Sie räumen aber zugleich ein, dass sie die Verantwortung und die Herausforderungen häufig als Konfrontation mit ihrem inneren Schweinehund erlebt hätten. Alle durften somit ihre persönliche Heldenreise erleben, auch wenn diese sich wahrscheinlich in der damaligen Situation oft nicht so angefühlt hat.

Ich persönlich habe als Start-up-Berater bei vielen Erstgründern einen ähnlichen Prozess erlebt: Es verändert Menschen fundamental, wenn sie für ihre wirtschaftlichen Entscheidungen echte Konsequenzen spüren; wenn sie die volle Tragweite ihrer Handlungen zu verantworten haben. Dieser Prozess macht die meisten mutiger – und einige radikal mutig.

Der Unternehmer Christian Pukelsheim hat dieses Buch gemeinsam mit dem Unternehmensberater Michael Habighorst geschrieben. Dieser begleitete das Unternehmen über den Zeitraum dieses einen bedeutenden Jahres. Seine Erfahrungen und Beobachtungen im Unternehmen ergänzen die Erlebnisse des segelnden Chefs wunderbar, sodass der Unternehmer sowie die Mitarbeitenden gleich stark mit ihren Gedanken zu Wort kommen. Die drei unterschiedlichen Blickwinkel – der Plan des Unternehmers, das Erleben des Beraters und die nachträgliche Reflexion zusammen mit der Mitarbeiterschaft – machen das Buch so erkenntnisreich und wertvoll.

Für alle, die sich mit dem Thema Empowerment – Mitarbeitende richtig stark machen – auseinandersetzen, ist dies das Buch, um die Herausforderungen für die wahren Helden, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zu verstehen. Mich hat es gleich gepackt und fasziniert. Das darfst du, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt auch erleben!

Lutz Langhoff

Intro der Autoren

Eine kleine Navigationshilfe für dieses Buch

Jedes gute Buch hat eine Story und eine Botschaft. Dieses Buch hat genau genommen eine doppelte Story – zumindest eine Geschichte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven – und ganz sicher auch mehr als nur eine einzige Botschaft. Da ist zum einen die Story des Seglers von uns beiden, des Unternehmers. Er überließ den mittelständischen Solinger Scherenhersteller Robuso, den er in vierter Generation führt, für ein Jahr sich selbst, um mit seiner Familie durch die Karibik zu segeln. Weder per E-Mail noch per Telefon erreichbar. Radikal weg. Und zum anderen ist da die Geschichte des Beraters von uns beiden, der während dieses einen Jahres das Unternehmen in Solingen und seine Menschen begleitete. Der aus nächster Nähe mitbekam, was es im Alltag tatsächlich heißt, wenn der Chef radikal weg ist. Der Lösungen vorgeschlagen, aber nirgendwo eingegriffen hat. Und für den der Chef ebenso unerreichbar war wie für alle anderen. Wir hätten die beiden Perspektiven zu einer verschmelzen können. Wir hätten das eine Jahr aus unserem gemeinsamen Wissen von heute beschreiben können. Nach dem Motto: Hinterher ist man immer schlauer. Aber das wollten wir nicht.

Stattdessen haben wir uns in jedem Kapitel für eine mehrfache und zeitgebundene Perspektive entschieden. Im ersten Abschnitt wirst du, lieber Leser, liebe Leserin, stets lesen, wie die Familie Pukelsheim die Welt von ihrem Segelschiff, der Lady Blue, aus erlebte. Im zweiten Abschnitt wirst du dann fortwährend erfahren, was unterdessen – oder zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt – bei Robuso in Solingen geschah. Erst im dritten Abschnitt folgt anschließend immer unsere gemeinsame Synthese aus einer Perspektive nach dem Ende der Reise. Durch diese fast schon dokumentarische Herangehensweise wirst du einerseits als Leserin oder Leser ganz nah an die Geschehnisse herankommen. Gleichzeitig wirst du herausgefordert sein, deine eigenen Beobachtungen zu machen und eigene Schlüsse zu ziehen. Wir wollen dir nicht auf jeder Seite vorschreiben, wie du das Projekt »Ein Jahr ohne Chef« zu bewerten hast. Wenn du dich auf dieses Buch einlässt, wirst du dir dazu selbst eine Meinung bilden können. Schließlich betonen wir mit unserer Erzähltechnik auch, dass jede Beobachtung und Einschätzung von unserer Seite eine Momentaufnahme ist. In Unternehmen wie im Leben generell sind die Dinge ständig im Fluss.

Dieses Buch erzählt seine Ereignisse nicht chronologisch, denn das hätten wir langweilig gefunden. Es ist trotzdem so aufgebaut, dass sich dir die Timeline schnell erschließen wird. Von Kapitel zu Kapitel geht es mehr ins Detail, manchmal kommen wir auch auf Ereignisse erneut zurück, die in einem früheren Kapitel schon einmal Thema waren. Das klingt jetzt wahrscheinlich komplizierter, als es tatsächlich ist. Achte einfach auf die Datumsangaben in jeder Überschrift und es wird immer klar sein, aus welcher zeitlichen Perspektive und mit welchem Wissensstand einer von uns gerade schreibt. Statt chronologisch entlang der Story haben wir das Buch thematisch gegliedert. Jedes der zwölf Kapitel hat einen inhaltlichen Fokus. Die Stichworte dazu lauten: Timing, Kommunikation, Verantwortung, Führung, Ziele, Geld, Markt, Veränderung, Resilienz, Werte, Kultur und Erfolg. Die Segel-Story, mit der jedes Kapitel beginnt, ist insofern nie zufällig gewählt. Sie steht immer im Zusammenhang mit einem der genannten Themen. Mal liegt die Parallele für dich wahrscheinlich auf der Hand, mal ist die Verknüpfung etwas lockerer. In jedem Fall wird dich die Geschichte auf das zentrale Thema jedes Kapitels einstimmen – und hoffentlich auch gut unterhalten. Womit wir nicht behaupten wollen, dass die Unternehmensstorys im zweiten Teil jedes Kapitels weniger spannend wären. Auch da kannst du dich vielmehr auf einige Action gefasst machen!

Das bringt uns zu einem sensiblen Thema. Wir haben dieses Buch so ehrlich und authentisch wie möglich geschrieben. Da das Projekt nicht nur aus uns beiden Autoren besteht, sondern ebenso aus dem Robuso-Team mit Führungskräften und allen weiteren Beschäftigten sowie aus den Familienangehörigen auf dem Schiff, gewähren wir auch Einblicke in deren persönliche Erfahrung. Wir beschreiben, welche Höhen und Tiefen die Beteiligten während des einen Jahres erlebt haben. Wir schreiben über Erfolge und darüber, wie die Menschen sich weiterentwickelt haben. Aber wir schreiben auch über das, was schlaflose Nächte bereitet hat. Über Entscheidungen, die heute so nicht noch einmal getroffen werden würden. An keiner Stelle geht es uns darum, jemanden bloßzustellen. Wir beschreiben Situationen so, wie wir sie erlebt haben. Radikal ehrlich. Uns ist es wichtig, Einblicke in den Prozess zu gewähren und nicht nur das Ergebnis zu betrachten. Du hast als Leserin oder Leser nichts davon, wenn wir Dinge schönreden. Im Gegenteil: Erst wenn du erkennst, wie tief manche Täler waren, wirst du verstehen, warum hier alle am Ende über sich hinausgewachsen sind.

Genug der Vorrede – Leinen los!

Christian und Michael

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Schlechtes Wetterfenster

Es hätte keinen ungünstigeren Zeitpunkt geben können

Die Welt wird von einer Pandemie erschüttert, Schockwellen gehen durch den deutschen Mittelstand, und auch im eigenen Unternehmen läuft gerade einiges aus dem Ruder. Was sagt das Lehrbuch für Führungskräfte zu solchen Situationen? Na klar: Jetzt ist der Chef oder die Chefin gefragt. Führungsstärke demonstrieren, bitte! Dumm nur, wenn ein Chef schon lange insgeheim geplant hat, demnächst mal für ein Jahr segeln zu gehen und sich während dieser Zeit aus allem rauszuhalten. Lässt es sich verantworten, einen derart verwegenen Plan mitten im schönsten Durcheinander bekanntzugeben? Sollte man nicht auf ruhigere Zeiten warten? Auch, damit es nicht nach Flucht aussieht? Kann sein. Vielleicht gibt es heute in der Businesswelt aber keine günstigen Zeitpunkte mehr, weil alles durcheinander ist. Mal mehr, mal weniger. Dann gäbe es stets nur einen guten Zeitpunkt – das Jetzt.

Christian: A Coruña, Spanien, 5. Juli 2021

Auf dem Trockendock! Unsere Lady Blue, eine alte Contest 42 Ketch, liegt auf dem Trockendock der Werft in A Coruña. Dabei sollte sie längst im Wasser sein. Wir stehen hier mit drei kleinen Kindern sowie elf Umzugskisten und können nicht einziehen. Ich bin maßlos enttäuscht. Wie vereinbart sind wir heute nach Porto geflogen und von dort mit dem Mietwagen hierhergefahren. Jetzt diese Vollbremsung! Okay, theoretisch könnten wir auch in ein Boot auf dem Trockendock einziehen. Aber das ist natürlich viel zu gefährlich, zumal mit kleinen Kindern. Überall auf der Werft wird gearbeitet. Nachdem ich mich halbwegs wieder gefangen habe, ist meine erste Frage, warum uns die Werftleute nicht vorgewarnt haben. Sie sagen, sie hätten bis gestern noch die Hoffnung gehabt, ihren defekten Kran wieder flottzubekommen. Der habe nämlich buchstäblich ein Rad ab. Nun müssen sie auf einen Mechaniker warten, weil sie die Reparatur in Eigenregie nicht hinbekommen. Meine zweite Frage lautet: »Wann kommt der Mechaniker?« Darauf erhalte ich eine sehr spanische Antwort: »Mañana.« Demnächst.

Komisch, alle hier auf der Werft wirken tiefenentspannt. Auch Julia nimmt es anscheinend locker, und für unsere Kinder ist gerade sowieso alles aufregend. Nur ich bin genervt. Die volle Motivation, mit der ich heute Morgen aufgestanden bin, die Begeisterung selbst im strömenden Regen am Frankfurter Flughafen, meine Vorfreude, die mich von Kopf bis Fuß durchströmt hat, das alles ist erst einmal weg. Meine dritte Frage lautet, wie es jetzt weitergeht. Da kommt ein Verantwortlicher der Werft aus seinem Büro oberhalb der Docks und schlendert auf mich zu. »Wir haben für euch ein Hotelzimmer reserviert«, sagt er und lächelt verlegen. »Frühstück ist inklusive. Wir zahlen alles.« Die Sache ist ihm sichtlich peinlich. Andererseits habe ich das Gefühl, er denkt sich auch: Hey, jetzt entspannt euch mal! Ihr seid am Meer, andere machen hier Urlaub, wir zahlen euch ein nettes Hotel, also passt es doch. Kein Grund, sich aufzuregen. Leider schaffe ich es noch so gar nicht, mich zu entspannen. Mein Problem ist dabei nicht einmal, dass unsere 100 Kilo Gepäck in Umzugskisten alles andere als hotelkompatibel sind. Ich habe auch kein Problem mit einer kleinen Änderung unseres Zeitplans. Schließlich kommt es jetzt auf ein, zwei Tage nicht mehr an. Mein Problem ist, dass ich mir das alles anders vorgestellt habe.

Irgendwann spät am Abend, die Kinder schlafen schon, Julia schreibt Tagebuch auf dem Laptop, schaue ich gedankenverloren aus dem Hotelfenster. Ich muss an Robuso denken, mein Unternehmen in Solingen, und wie ich es zurückgelassen habe. Nicht allein unsere Ankunft hier in Spanien hatte ich mir anders vorgestellt, sondern auch, wie ich meinen Leuten das Unternehmen übergebe. Als Julia und ich 2016 beschlossen hatten, mit der Familie für ein Jahr segeln zu gehen und meine Firma während dieser Zeit sich selbst steuern zu lassen, hatte ich die Absicht, ein gesundes Unternehmen mit möglichst viel Stabilität zu hinterlassen. Schließlich würde die Unsicherheit im Unternehmen durch den Weggang des Inhabers und Geschäftsführers schon groß genug sein. Da braucht niemand auch noch offene Baustellen. Aber es ist anders gekommen, ganz anders. Einen ungünstigeren Zeitpunkt, mich als Chef auszuklinken, hätte es nicht geben können.

Sieht so etwa ein kerngesundes und stabiles Unternehmen aus?

Inzwischen ist es Nacht in A Coruña, aber ich kann noch nicht schlafen. Durch das geöffnete Fenster höre ich, wie noch einige Urlauber aus den Bars der Stadt ins Hotel zurückkehren. Dann ist es plötzlich ganz still. So still wie unmittelbar vor meiner kurzen Ansprache bei der Versammlung in der Produktionshalle im April 2020. Damals war ich emotional überwältigt, es liefen mir Tränen durchs Gesicht. Ich konnte kaum glauben, dass mein Lebenstraum endlich wahr werden würde. Meine Rede dauerte nur sieben Minuten. Danach hatte ich es allen gesagt, endlich war es raus. Eigentlich hätte ich die Reise schon einen Monat früher ankündigen wollen, aber dann kamen die Pandemie und der erste Lockdown. Im April waren wir bei Robuso schon in Kurzarbeit. Als ich dann nach acht Jahren die erste große Versammlung der Belegschaft mit Anwesenheitspflicht ankündigte, meinten wohl einige, sie bräuchten nur noch eins und eins zusammenzuzählen: Jobs würden wegfallen oder gar das Unternehmen verkauft werden. Einer der Führungskräfte fragte mich noch kurz vor der Versammlung, ob ich ihm nicht wenigstens einen Tipp geben könne, um was es gehen werde. Nein, sagte ich. Abwarten. Dabei hätte ich alle Spekulationen leicht entkräften können, denn es war nichts dran. In der Versammlung sollte es einzig und allein um den großen Traum von Julia und mir gehen, auf einem alten Zweimaster den Atlantik zu überqueren und mit der Familie ein Jahr lang durch die Karibik zu segeln. Ich schwieg bis zur letzten Minute, weil ich den großen Moment nicht kaputtmachen wollte. Gleichzeitig hatte ich auch Schiss. Ich rechnete mit Unverständnis, Kopfschütteln, vielleicht sogar Wut seitens der Belegschaft. Ausgerechnet jetzt wollte der Chef über eine Auszeit sprechen! Wo Europa gerade durch das Coronavirus und die von der Politik beschlossenen Maßnahmen in die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten schlitterte.

Dabei war Corona nur das Tüpfelchen auf dem zweiten »i« in »schlechtes Timing«. Mein ursprünglicher Plan, bis zu meiner Abreise für möglichst viel Stabilität zu sorgen, ging zu dem Zeitpunkt schon längst nicht mehr auf. Das Durcheinander begann schon längst, als ich nacheinander zwei weitere alteingesessene Solinger Scherenhersteller übernommen hatte, erst NTS und dann Stancanelli. Diese mussten nun mitsamt ihrer Mitarbeiterschaft mühsam in unser Unternehmen integriert werden. Dabei waren die beiden Übernahmen nicht etwa aus einer Laune heraus erfolgt, sondern weil sich der Wind auf unseren Märkten gefährlich gedreht hatte und wir dadurch gezwungen gewesen waren, uns kurzfristig anders aufzustellen. Jahrelang waren Scheren für die Rotorblattfertigung bei Windkraftanlagen für uns der Zukunftsmarkt schlechthin gewesen – doch dann hatte die Politik begonnen, die Windkraft infrage zu stellen. Okay, hatte ich mir gesagt, wenn zukünftig in Deutschland keine Windräder mehr produziert werden sollen, verkaufen wir eben mehr Scheren an Frisöre.

Der Kurswechsel machte Sinn, bedeutete aber bereits genau die Unruhe, die ich hatte vermeiden wollen. Hinzu kam, dass Stancanelli zum Zeitpunkt des Kaufs aus zwei älteren Herren bestanden hatte, die ihr gesamtes Know-how in ihren Köpfen herumtrugen. Arbeitspläne? Brauchten die noch nie. Computer? Handwerk kommt von Hand. Bei NTS, der ersten meiner Übernahmen, war die Integration nicht ganz so herausfordernd, aber immer noch anspruchsvoll genug. Schließlich hatte sich kurz vor meiner Abreise gezeigt, dass wir kurzfristig auch noch ein neues ERP-System benötigten. Eine Umstellung der IT ist natürlich das Letzte, das Stabilität ins Unternehmen bringt. Aber es führte kaum ein Weg daran vorbei. Wir hatten uns entschieden, stärker als bisher auf E-Commerce zu setzen und planten bereits mit dem zusätzlichen Umsatz. Das alte System hätte eine automatisierte E-Commerce-Anbindung nicht mehr hergegeben. So gesehen waren wir zu der Einführung eines neuen Systems gezwungen gewesen, obwohl wir gewusst hatten, dass das Produktionsmodul nicht so komfortabel wie im alten System zu bedienen sein würde.

So war am Ende eine Lage entstanden, für die mir 2016 selbst im Worst-Case-Szenario die Fantasie gefehlt hätte: Markt eingebrochen, neue Strategie, zwei Übernahmen, neues ERP-System und dann auch noch Corona inklusive Kurzarbeit. Das volle Krisenprogramm also. Darf ein Chef wie ich in solch einer Situation ankündigen, demnächst mal für ein Jahr segeln zu gehen? Sieht das nicht wie Flucht aus, wie feiges Wegrennen? Auf mich allein gestellt, wäre ich wahrscheinlich vor meinen eigenen Zweifeln eingeknickt. Doch sowohl meine Frau als auch mein damaliger Coach überzeugten mich, an meinem Projekt festzuhalten und es auch mitten in der Angst und Unsicherheit der ersten Coronawelle anzukündigen. Der Zeitpunkt war zwar denkbar ungünstig, aber wer wusste, ob es noch einmal einen besseren geben würde. Also stellte ich mich vor die versammelte Belegschaft und hielt meine Rede.

Die Welt dreht durch – aber diese Leute werden es schaffen!

Die Produktionshalle war fast zur Hälfte leergeräumt, weil demnächst der Umzug der Produktion von NTS zu Robuso anstand. Zwischen den verbliebenen Werkbänken und Schleifmaschinen stand die versammelte Mannschaft in Abständen von mindestens anderthalb Metern. Alle trugen medizinische Masken, aber ihre Blicke und die Körpersprache verrieten mir, was in den Menschen vorging. Als klar wurde, dass ich »nur« mal für ein Jahr segeln gehen würde und niemand entlassen werden sollte, spürte ich eine Riesenerleichterung in der Halle. Ich sah in strahlende Augenpaare und konnte sogar durch die Masken hindurch Menschen lächeln sehen – zumindest kam es mir so vor. Eine große Last fiel von mir ab. Und gleich im nächsten Augenblick breitete sich ein tiefes Gefühl des Vertrauens in mir aus. Ich spürte Vertrauen in jeden einzelnen Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin. Mir wurde klar: Die schaffen das! Die Welt dreht gerade komplett durch, aber diese 20 Männer und Frauen können es! Ich kann das Unternehmen, das mein Uropa Julius 1919 gegründet hatte, getrost in ihre Hände legen. Nach meiner Ansprache kamen einige aus der Belegschaft auf mich zu und versicherten mir, dass sie mich nicht enttäuschen würden. »Wir schaffen das – wenn du es uns zutraust«, sagte einer zu mir. Einer aus dem Vertrieb meinte, er freue sich total für mich, dass ich mir meinen Lebenstraum erfüllen würde. Es waren sehr emotionale Momente und es lag schon ein Hauch von Abschied in der Luft – obwohl bis zum Beginn der Reise noch mehr als ein Jahr Zeit war. Ein Jahr, in dem ich nun mit offenem Visier durch das Unternehmen laufen würde. Denn alle wussten jetzt, was auf sie zukam.

Es ist ein strahlend sonniger Morgen an der galicischen Küste. Ich habe meinen Frust losgelassen und finde mich damit ab, dass wir im Hotel frühstücken und nicht auf dem Boot. Am Ende verbringen wir drei Nächte in Hotelbetten, dann ist der Kran repariert und unsere Lady Blue im Wasser. Am 14. Juli legen wir schließlich in A Coruña ab – und damit doch noch an genau dem Tag, den ich mir für den Beginn unserer Reise ausgesucht habe. Der 14. Juli ist der französische Unabhängigkeitstag. Unabhängig zu sein ist genau das, was ich mir jetzt für ein ganzes Jahr wünsche. So unabhängig wie noch nie in meinem Leben. Ich fühle mich entspannt und glücklich. Am ersten Tag segeln wir gerade mal zwei Stunden, aber das ist mir nicht wichtig. Hauptsache unterwegs. Tags darauf entdecken wir nur wenige Meilen nordöstlich von A Coruña einen Traumstrand und beschließen, dort erst einmal zu ankern.

Michael: Solingen, 15. Juli 2021

Keine zwei Stunden bin ich zum allmonatlichen Workshop bei Robuso, da ist mir klar, dass das Fass hier schon überläuft. Ich sehe in frustrierte und angespannte Gesichter. Ein Schleifer aus der Produktion, der mich bisher immer freudig begrüßt hat, blickt jetzt nur kurz auf, nickt einmal müde und wendet sich dann wieder seinem Werkstück zu. Na, dann geht’s hier ja direkt zur Sache, denke ich. Mein Besuch kommt gerade rechtzeitig. Einmal im Monat fahre ich ab jetzt von Freiburg nach Solingen und bleibe für zwei Tage im Unternehmen. So ist es mit Christian vereinbart. Was mein Auftrag ist und was nicht, ist mit allen klar abgestimmt: Ich bin nicht hier, um meine Meinung zum Besten zu geben oder den Leuten zu erzählen, wie ich an ihrer Stelle ihre Probleme lösen würde. Sondern ich bin hier, um die Selbststeuerung des Unternehmens bestmöglich zu fördern. Ich entscheide nichts und dränge auch niemanden in eine bestimmte Richtung. Ich will mit meinem Wissen und meiner Erfahrung dabei unterstützen, die beste Lösung zu erarbeiten.

Am meisten werden mich die drei Führungskräfte brauchen, denen Christian vor seiner Abreise noch Prokura erteilt hat. Da sind Jörg, der Finanzer, Stephan, der Vertriebschef, und Roman, der Produktionsleiter und jüngste der drei Zuständigen. Sie alle befinden sich in einer neuen und für sie noch ungewohnten Rolle, denn sie tragen nun Verantwortung für das gesamte Unternehmen. Roman hat sich innerhalb der letzten Jahre von der Werkbank zur Führungskraft hochgearbeitet und ist auf einmal – dank Christians Lösung für die Zeit seiner Abwesenheit – sogar Mitglied der Geschäftsleitung. Roman ist es auch, dem die Arbeit jetzt schon am meisten über den Kopf wächst. Als ich mir etwas Zeit für ihn nehme und ihm aktiv zuhöre, sagt er irgendwann: »Ich kann nicht mehr.« Das hat nachvollziehbare Gründe.

Die Umstellung auf das neue ERP-System lief am Anfang richtig gut und vor allem in einem Wahnsinnstempo. Die meisten Unternehmen bereiten sich ein bis zwei Jahre darauf vor, bei so etwas den Schalter umzulegen. Hier ging alles innerhalb weniger Monate über die Bühne. Doch bereits vor Christians Abreise zeichnete sich ab, dass es doch nicht so einfach werden würde. Seit er weg ist, läuft gar nichts mehr rund. Das höre ich schon im ersten Workshop mit den drei Prokuristen. Bereits von den eigenen Robuso-Daten muss viel mehr händisch ins neue System eingepflegt werden, als ursprünglich erhofft. Richtig Stress machen die Unternehmenskäufe, besonders Stancanelli, wo bis zur Übernahme durch Christian nichts dokumentiert war, geschweige denn digitalisiert. Artikelnummern, Produktnamen, Arbeitsabläufe – das alles wird gerade zum ersten Mal systematisch erfasst.

Inzwischen ist es darauf hinausgelaufen, dass sämtliche Arbeitspläne neu erstellt werden müssen. Bei insgesamt 800 Produkten der Marken Robuso, NTS und Stancanelli sind das 800 Arbeitspläne. Die zu schreiben bleibt an Roman hängen, weil es sonst keiner kann. Das ist auch der Grund, warum er jetzt schon völlig fertig ist. Während der regulären Arbeitszeit ist so etwas natürlich nicht zu schaffen, sondern nur abends, nachts und an den Wochenenden. Hier sieht man ein typisches Phänomen des Mittelstands mit unter 100 Beschäftigten: Da ist der Chef oder die Chefin nicht allein Führungskraft, sondern immer mal wieder auch eine Arbeitskraft. Das gilt vor allem, wenn die Not groß ist. Bei Robuso ist Christian de facto auch stellvertretender Produktionsleiter. Er ist der Einzige, der Roman mit 800 Arbeitsplänen helfen könnte. Aber Christian ist weg, segeln.

Wer sich von Einwänden leiten lässt, kann sein Projekt vergessen

Ursprünglich kam ich als Berater für Lean Management und Agilität zu Robuso. Das Ziel war, Prozesse und Abläufe zu optimieren. So stand ich eines Tages mit Christian in der Produktionshalle in Solingen und verschaffte mir einen ersten Überblick. Berater heißt in der Produktion meist nicht schwarze E-Klasse und Brioni-Anzug. Schon gar nicht bei mir. Ich fahre Bahn, trage Hoodie und duze alle. Wenn ich neben einer Maschine stehe und den Leuten bei der Arbeit zusehe, erinnert mich das oft an meinen eigenen Werdegang: zunächst eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, dann das Studium des Maschinenbaus. Also weiß ich noch, wie es ist, mit dreckigen Fingern in der Halle zu stehen und »von oben« gesagt zu bekommen, was man als Nächstes machen soll. Wenn ich heute mit Führungskräften spreche, erinnere ich mich auch oft daran, dass ich einige Jahre als Projektmanager in einer Sandwichposition gearbeitet habe. Schließlich bin ich im Gespräch mit Unternehmern und Unternehmerinnen ebenfalls ziemlich schnell im Film, da ich eine Zeit lang selbst geschäftsführender Gesellschafter eines innovativen Unternehmens gewesen bin. So viel an dieser Stelle einmal kurz zu mir. Durch den besagten Background wird sicherlich klar, warum ich sofort begeistert war, als Christian mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, ihn bei einem ungewöhnlichen Projekt zu unterstützen. Das war um den Jahreswechsel 2019/2020, also noch bevor er die Belegschaft informierte. Da brachte er mich einmal mit dem Auto zum Bahnhof, begleitete mich noch bis zum Bahnsteig und offenbarte mir dabei, was er plante. Ganz bewusst wolle er kein Interimsmanagement, erzählte er, sondern setze voll auf Selbststeuerung. Dabei solle jedoch jemand seine drei Führungskräfte und die Belegschaft als Ratgebender und Mentor unterstützen. Ob ich diese Rolle übernehmen könne? Wir würden dafür einen passenden Rahmen finden, etwa monatliche Workshops. Doch wieso wandte sich Christian an mich, den Prozessoptimierer? Weil ich das auch bin, aber bei Weitem nicht nur. Gerade in Deutschland wissen viele nicht, dass es in der Lean-Denkweise um viel mehr geht, als Durchlaufzeiten zu verkürzen und Verschwendung zu vermeiden. Lean Management in seiner ursprünglichen, von Toyota entwickelten Form ist ein ganzheitlicher Ansatz, der auch Führung, Organisationsentwicklung und Werte berührt. In den vergangenen Jahren habe ich oft bei Prozessen und Abläufen angefangen und war kurze Zeit später mit den Unternehmern und Unternehmerinnen über kulturelle Themen im Dialog. So war es auch hier. Und was Christian seit 2013, als er die Führung bei Robuso übernommen hatte, bereits kulturell bewegen konnte, gefiel mir total gut.

An meine spontane Reaktion auf dem Bahnsteig in Solingen kann ich mich noch gut erinnern: »Das ist ja ein voll geiles Projekt!«, platzte es aus mir heraus. Ich fand Christians Plan ausgesprochen mutig, sich ein ganzes Jahr lang konsequent zurückzuziehen und sein Unternehmen sich selbst steuern zu lassen. Das wollte ich unbedingt miterleben. Da ich das Unternehmen zu dem Zeitpunkt schon ein wenig kannte, hatte ich nicht die geringste Sorge, dass das Projekt schiefgehen könnte. Mir war klar, dass es für die Belegschaft eine große Veränderung bedeuten würde, besonders für den Führungskreis. Aber da müssten die drei durch und sie würden es am Ende auch schaffen. Habe ich mich jemals gefragt, ob es ein günstiger Zeitpunkt für Christians Projekt war oder ob es besser gewesen wäre, er hätte es verschoben? Nein, diese Frage stellte sich mir nicht. Es gibt einfach selten den idealen Zeitpunkt, und wenn man ein mutiges Projekt zu lange hinauszögert, macht man es am Ende kaputt. Auch da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen: Vor ein paar Jahren fuhr ich mit dem Fahrrad allein von Freiburg zum Nordkap und zurück. Das sind 9.149 Kilometer. Meine Tour plante und organisierte ich nach den Lean-Prinzipien, um damit zu demonstrieren, wie universell anwendbar sie sind. Ich habe darüber ein Buch geschrieben und halte dazu bis heute Vorträge vor Businesspublikum. Manchmal werde ich im Anschluss an einen Vortrag gefragt: »Bist du wirklich so naiv losgefahren?« Nein, es war nicht naiv. Ich war gut vorbereitet und habe mir die Tour zugetraut. Die äußeren Bedingungen waren zu der Zeit denkbar schlecht – es war einer der regenreichsten Sommer seit Jahren – und ich sah nicht jedes Problem voraus. Trotzdem finde ich es heute noch richtig, dass ich einfach losgefahren bin und nicht auf einen vermeintlich günstigeren Zeitpunkt gewartet habe. 80 Prozent der Einwände gegen ein mutiges Projekt existieren nur in unseren Köpfen und handeln von Dingen, die niemals eintreten werden. Wenn ich mich davon leiten lasse, fange ich nie an. Dann kann ich mein Projekt vergessen.

Wenn ein Perfektionist den Mut zur Lücke aufbringen soll

Die Stimmung bei Robuso ist miserabel, da gibt es nichts zu beschönigen. »Eine Scheißzeit ist das«, höre ich von einem in der Produktion. Ein anderer sagt: »Augen zu und durch. Das machen wir jetzt und dann ist es okay.« Niemand hat so richtig Lust auf die neue Situation. Bei den Führungskräften glaube ich dennoch, dass ihnen klar ist, welche Chance für ihre Karriere sie hier gerade bekommen. In einem Jahr wird bei allen im Lebenslauf stehen, dass sie ein Unternehmen geleitet haben und nicht lediglich einen Bereich. Doch im Moment überlagert der Frust alles. Ich passe mich der Stimmung an und halte den Ball flach. Das Letzte, was die Leute hier jetzt brauchen, sind Motivationssprüche. Auch will niemand einen Externen, der noch zusätzlich Druck macht. Ich höre allen zu und lade die drei Verantwortlichen hier und da zu einem Perspektivwechsel ein, der sie mental stärkt. Bei Roman versuche ich konkret, seine Erwartung an ein perfektes neues ERP-System zu dämpfen. Das kann es in der aktuellen Situation nicht geben. Es wäre ein zu hoher Preis, sich an der IT aufzureiben und seine Handlungsfähigkeit als Produktionsleiter zu verlieren. Ich mache ihm Mut zur Lücke. Oder ich versuche es zumindest. Ich merke, wie schwer es ihm fällt, seine hohen Ansprüche an sich selbst und an die Qualität des ERP-Systems zu reduzieren.

Schließlich ist Roman bereit, Abstriche zu machen. Pragmatisch schlage ich vor, bei den Arbeitsplänen die Zeitangaben für jeden einzelnen Arbeitsschritt erst einmal wegzulassen. Diese müssen alle händisch gemessen und ins ERP-System eingetragen werden. Bei 800 Produkten und Tausenden von Arbeitsschritten ein Riesenaufwand. Klar braucht man die Daten für eine vernünftige Planung. Auch wird es später große Probleme geben, Statistiken zu erstellen, wenn diese Infos fehlen. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass es keinen unmittelbaren Schaden anrichten kann, wenn man diese Felder erst einmal freilässt. Auch die beiden anderen Prokuristen sind mit dieser Adhoc-Maßnahme schließlich einverstanden und bereit, die Konsequenzen zu tragen. Es ist ein vertretbarer Weg, um Roman so weit zu entlasten, dass er als Produktionsleiter wieder seine Arbeit machen kann.

Ein Jahr lang werde ich keinerlei Kontakt zu Christian haben. Auch das ist so abgesprochen. Doch heute ist der 15. Juli und ich weiß, dass er gestern mit seiner Familie lossegeln wollte. Ich hoffe, dass es geklappt hat, und wünsche allen auf dem Boot eine unvergessliche Zeit.

Christian und Michael: Düsseldorf, 10. November 2022

Ab sofort treffen wir uns mehrmals im Monat in Düsseldorf zu einem Rückblick auf die zwölf wichtigsten Themen des Projekts. Direkt im ersten Gespräch sind wir uns einig, dass es keinen ungünstigeren Zeitpunkt dafür hätte geben können – und es trotzdem überhaupt keinen Grund gab, es zu verschieben. Das klingt paradox, ist aber im Ganzen die wichtigste Erkenntnis zum Timing. Klar gibt es günstige und weniger günstige Zeitfenster für praktisch jedes große Vorhaben. Der Punkt ist, dass du erst sicher weißt, wie günstig der Wind ist, wenn es tatsächlich losgeht. Manchmal weißt du es auch erst im Nachhinein. Wir könnten uns zum Beispiel jetzt, im November, vornehmen, am 14. Juli kommenden Jahres ein nächstes großes Ding zu starten. Keiner von uns kann heute schon wissen, wie die Welt dann aussehen wird. Genauso gut könnten wir uns für den Vatertag oder Totensonntag entscheiden. Es macht keinen wesentlichen Unterschied. Wenn die Bedingungen günstig sind, haben wir eben Glück gehabt. Und wenn nicht, müssen wir uns mehr anstrengen und Lösungen finden. Letzteres kann sogar Vorteile haben, weil man dann nicht übermütig wird und später auftauchende Schwierigkeiten einen nicht mehr so leicht aus dem Konzept bringen.

Warum betonen wir die Erkenntnis so sehr, dass es letztlich nicht den günstigen Zeitpunkt geben kann? Sie ist konträr zu dem, was wir in Unternehmen häufig wahrnehmen. Da gibt es nach wie vor geradezu eine Sehnsucht nach dem idealen Zeitpunkt für Großprojekte, Fusionen und Übernahmen oder Übergaben an die Nachfolgegeneration, kurz: alles, was nicht alltäglich und mit größeren Risiken behaftet ist. Wenn du selbst ein Unternehmen führst, kennst du das vielleicht auch von dir. Es ist absolut verständlich, denn die meisten von uns sind kulturell so geprägt. Wir wollen alles möglichst genau planen, wollen Dinge vorausberechnen, Szenarien durchspielen, sämtliche Kennzahlen vorliegen haben und so weiter. Oft machen wir uns damit aber auch nur etwas vor. Wir verwechseln das angenehme Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, mit tatsächlicher Kontrolle. Warum also das übertriebene Bedürfnis nach Kontrolle nicht gleich loslassen? Warum nicht akzeptieren, dass sich keine idealen Zeitpunkte definieren und keine optimalen Bedingungen herstellen lassen? Es gibt schließlich auch nicht den bestmöglichen Zeitpunkt, zu heiraten oder Kinder zu kriegen. Damit müssen wir leben.

Es werden nie alle von etwas begeistert sein – na und?

Mit etwas innerem Abstand betrachtet, lässt sich auch mal hinterfragen, was einen günstigen Zeitpunkt überhaupt ausmacht. Und für wen es ein günstiger Zeitpunkt ist – und natürlich nach welchen Kriterien? Kurzfristig oder auf längere Sicht? Viele Situationen sind ambivalent. Selbst was zunächst sehr negativ erscheint, kann sich später als neutral oder positiv herausstellen. Das Paradebeispiel innerhalb der Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist die Versammlung bei Robuso im April 2020. Erst einmal sah das aus wie der denkbar schlechteste Zeitpunkt für die Ankündigung, dass der Chef das Unternehmen ein Jahr sich selbst überlassen würde. Corona und die beschlossenen Maßnahmen trafen die mittelständische Wirtschaft hart. Bei Robuso gab es Kurzarbeit. Alle machten sich Sorgen. Doch dann entpuppte sich das Timing geradezu als Glücksfall. Die Mitarbeiterschaft rechnete bereits mit dem Schlimmsten, sodass sie die Ankündigung, was wirklich geplant war, mit großer Erleichterung aufnahm. Viele reagierten positiv, unterstützend. Niemand äußerte Kritik. Das war vorher weder absehbar noch zu beeinflussen gewesen.

Die schlechte Stimmung kam später, als es dann wirklich losging mit der Selbststeuerung und die Probleme sich gleich am Anfang bereits häuften. Aber auch dabei blieb es nicht, so viel können wir an dieser Stelle schon mal verraten. Wenn wir heute im Unternehmen Gespräche führen, dann zeigt sich: Gerade unter denjenigen, die sich im Sommer 2021 extrem schwertaten, sind einige total stolz auf das, was sie zu der Zeit geschafft haben, was sie lernen durften und wie sie sich weiterentwickeln konnten. Es ist nun mal nicht so, dass alle immer sofort begeistert sind, wenn größere Veränderungen anstehen. Es gilt, die Komfortzone zu verlassen und sich weiterzuentwickeln. Auf jeder Reise ins Unbekannte gibt es Durchhänger. Entscheidend ist, welche Entwicklung angestoßen wird und wohin sie führt – betriebswirtschaftlich, organisatorisch, kulturell und für die einzelnen Betroffenen auch persönlich. Wichtig ist dabei nur, die Betroffenen niemals alleinzulassen.

Heute fragen wir uns manchmal, was denn ohne die Reise anders gewesen wäre. Eine außergewöhnliche Situation lädt Menschen ein, alles Mögliche darauf zu projizieren. So heißt es schnell: »Wenn der Chef jetzt hier wäre, dann …« Aber es ist ja nicht so, dass es in Anwesenheit des Chefs bei Robuso keine Probleme gegeben hätte. Das neue ERP-System hätte so oder so implementiert werden müssen. Die Abreise als Stichtag sorgte zunächst sogar dafür, mit der Sache nicht mehr lange zu fackeln und die Basics in Rekordzeit auf die Reihe zu bekommen. Die Tücke steckte dann wie so oft im Detail. Doch für alles fanden sich schließlich Lösungen.

Die Bedingungen können wir fast nie ändern, uns selbst immer

Heißt das also, dass du nichts machen kannst, weil es günstige Zeitfenster sowieso nicht gibt? Doch, du kannst dich innerlich gut vorbereiten! Wenn sich äußere Bedingungen zunehmend weniger beeinflussen lassen, dann werden innere Klarheit und mentale Stärke umso wichtiger. Das ist für uns die zweite große Erkenntnis zum Thema Timing