Radikale Selbstfürsorge. Jetzt! - Svenja Gräfen - E-Book

Radikale Selbstfürsorge. Jetzt! E-Book

Svenja Gräfen

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Beschreibung

Svenja Gräfen hielt Self-Care lange für egoistisch, unsolidarisch und allem voran für ein falsches Versprechen der milliardenschweren Wellness-Industrie. Höchste Zeit für ein Update: Denn eigentlich ist Selbstfürsorge weder Produkt noch Luxus, sondern zugänglich für jede*n und eine Basis, um auch für andere da sein zu können. In diesem Buch erzählt die Autorin von eigenen Strategien und Erfahrungen. Sie macht deutlich, warum Self-Care gerade jetzt so wichtig ist – und weshalb Selbstfürsorge und Feminismus einander nicht widersprechen, sondern sogar zusammengehören.

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Seitenzahl: 169

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INHALTSVERZEICHNIS

Warum dieses Buch

Wozu Selbstfürsorge?

Unter Druck und am Rand der Verzweiflung

Anfangen

Neue Standards: Fühl Gefühle!

Sprache und Gedanken

Stress

Kontrolle und das Ungewisse

Schlaf, Erholung und Pausen

Zeit, Geduld und Prokrastination

Grenzen

Meditation, Achtsamkeit und Yoga

Selbstfürsorge und Feminismus

Eine Liste

Glossar

Nachweise und Anmerkungen

Dank

Warum dieses Buch

2020 – puh, oder?

Ganz egal, in welcher Situation du diesen Satz von dir gibst – mit hundertprozentiger Sicherheit wird er auf allergrößtes Verständnis stoßen – auch wenn 2021 bislang nicht wirklich ein Upgrade darstellt. Jedenfalls: Keine Ahnung, wie es dir ging, aber ich hatte damals im Vorhinein irgendwie ein ganz gutes Gefühl für das Jahr 2020. Und dann passierte, nun ja, 2020. Die zerstörerischen Waldbrände in Australien. Der rassistische Anschlag in Hanau, bei dem neun Personen ermordet wurden. Geflüchtete Menschen, die in überfüllten Camps unter absolut katastrophalen Bedingungen an den Außengrenzen der Europäischen Union zum Ausharren gezwungen sind. COVID-19, eine globale Pandemie, die – Stand April 2021 – mehr als drei Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Lockdown und Kontaktbeschränkungen als Gegenmaßnahmen und damit einhergehend Kurzarbeit, Veranstaltungsverbote und Existenzängste, so viele Existenzängste – und dazu auch gleich noch das Ausbleiben angemessener Hilfen, etwa für Selbstständige und Künstler*innen. Großdemonstrationen von Verschwörungsideolog*innen und Nazis. Die gewaltsame Ermordung von George Floyd und Breonna Taylor in den USA. Die absolute Notwendigkeit der Black-Lives-Matter-Demonstrationen, parallel dazu noch weiter zunehmende Polizeigewalt, Ausnahmezustand in diversen US-amerikanischen Städten, und nicht nur dort. Belarus. Polen. Die Explosion im Hafen von Beirut. Der Krieg um Bergkarabach. Islamistischer Terror in Frankreich, in Dresden, in Wien. Waldbrände in den USA. Die Präsidentschaftswahl in den USA. Das Erdbeben in der Ägäis.

Also nicht dass vorher alles super gewesen wäre – nicht einmal annähernd. Auch 2019 und zuvor hatten wir schon ein riesiges Problem mit strukturellem Rassismus, Antisemitismus und rechtem Terror. Auch vorher schon gab es Klimakatastrophen verschiedenster Art. Auch vorher schon lebten wir in einer zutiefst ungerechten, patriarchalen, hetero- und cisnormativen, klassistischen und ableistischen Gesellschaft. Oh, und da wäre ja noch die Sache mit dem Kapitalismus.

Das Jahr 2020 hat wie ein Brennglas verschärft und vergrößert, was zuvor schon im Argen lag: die soziale Ungleichheit, die sich unter anderem im Bildungssystem bemerkbar macht. Die Problematik traditioneller Rollenbilder und der Geringschätzung von Sorgearbeit, die immensen Herausforderungen, mit denen Alleinerziehende zu kämpfen haben. Die Bedingungen, unter denen Pflegekräfte arbeiten müssen oder Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Angriffe auf feministische Errungenschaften wie etwa das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Die Folgen von Fake News und der ungehinderten Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Weiße1 Privilegien und verinnerlichter sowie institutioneller Rassismus. Die analogen Folgen von Hass im Netz und digitaler Gewalt. Antidemokratische und faschistische Tendenzen weltweit, sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in der Politik. Und nein, leider ist es nicht so, als würde ein Jahreswechsel allein etwas daran ändern: Auch 2021 sind wir noch mit alldem konfrontiert.

Warum um Himmels willen also ein Buch über Selbstfürsorge, gerade jetzt? Wo es doch im vergangenen Jahr ohnehin schon so viele Forderungen gegeben hat, wie man sich bitte zu fühlen und zu verhalten hat. Nach dem Motto: Begreife die Krise als Chance! Nutze den Lockdown als längst überfällige Pause, in der du endlich mal abschalten kannst! Oder nein, besser wäre, du lernst eine neue Sprache. Oder baust endlich körperliche Fitness auf. Oder schreibst ein Buch! Oder du entwickelst dich persönlich weiter und tauchst am Ende als dein Höheres Selbst auf! Oder tust endlich genau das, was du seit zig Jahren schon aufschiebst. Außerdem sollst du bei alldem natürlich total gelassen bleiben – auch mit drei Kindern im Homeoffice, auch als Teil einer Risikogruppe, auch in Kurzarbeit oder nach dem Verlust deines Jobs. Auf jeden Fall aber sollst du auch spenden – für deine zwangsweise geschlossenen Lieblingsrestaurants, deine Lieblingskünstler*innen, denen die Bühne fehlt, und für die Seenotrettung. Und oh! Du sollst definitiv auch demonstrieren! Dich gegen Rassismus einsetzen, auch gegen deinen eigenen. Dich äußern! Stellung beziehen! Jetzt umso lauter sein, wenn du wirklich etwas verändern willst!

Es gab immer wieder Momente und Phasen, in denen ich mich gefragt habe, was ich mir eigentlich einbilde. Ein Buch über Self-Care. Jetzt. Ernsthaft? Was soll das bringen? Und wem soll das etwas nützen? Wer bin ich überhaupt, mir anzumaßen, über dieses Thema zu schreiben?

Ich hatte viel Angst und Wut und Ungewissheit in mir, habe gehadert und gezweifelt und zwischendurch alles weit weggeschoben. Aber letztlich habe ich dann doch wieder das Dokument auf meinem Laptop geöffnet. In mein Notizbuch geschaut. Und festgestellt: Gerade weil alles so ungeheuer verstärkt und superlativ ist, weil die Umstände so dermaßen ungünstig sind, ist auch Selbstfürsorge umso relevanter geworden. Jetzt erst recht – denn Selbstfürsorge, radikale Selbstfürsorge, ist nötig, um zu überleben, dabei nicht durchzudrehen und auch weiterhin dafür kämpfen zu können, dass sich etwas verändert. Weil gesellschaftlicher Wandel nur dann stattfinden kann, wenn wir lernen, auf möglichst nachhaltige Weise auch für uns selbst zu sorgen.

Dieses Buch ist kein Glücksversprechen, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung und kein Ersatz für ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung. Ich möchte dir keine neuartige Wundermethode präsentieren, dank der es dir nie wieder schlecht gehen wird, und ich will dich auch nicht mit »Mach immer das!«- und »Tu niemals dies!«-Ratschlägen bevormunden.

Ich bin keine Ärztin, ich bin weder Expertin für mentale Gesundheit noch Achtsamkeitscoach – sondern in erster Linie eine Person, die selbst nach Wegen sucht, um innerhalb unserer Gesellschaft mit all diesen strukturellen Ungerechtigkeiten zu existieren, und zwar auf eine feministische und solidarische Art. In den vergangenen Jahren habe ich viel recherchiert, gelesen und ausprobiert, ich habe eine ganze Menge dazu- und mich selbst besser kennengelernt (und bin noch immer dabei). Und ich bin eben auch Autorin. Schreiben ist die für mich beste Art zu reflektieren, festzuhalten, mir Dinge zu erklären und mich anderen mitzuteilen – und genau das möchte ich mit diesem Buch tun: etwas teilen, in der Hoffnung, dass es dich vielleicht inspiriert.

Meine Perspektive ist die einer weißen, bisexuellen cis2 Frau, die ohne körperliche Beeinträchtigung lebt – ich bin also in vielerlei Hinsicht privilegiert. Obgleich ich auch bestimmte Diskriminierungserfahrungen mache und kenne, bin ich nicht von strukturellem Rassismus, Transfeindlichkeit oder Ableismus betroffen und möchte mir dementsprechend nicht anmaßen, darüber zu schreiben oder so zu tun, als wüsste ich, wie sich das anfühlt. Allerdings will ich auch nicht den Eindruck erwecken, dass die Selbstfürsorge, um die es mir geht, etwas Exklusives für Menschen mit bestimmten Privilegien sei – so ist es nämlich ganz und gar nicht. Es geht mir um eine radikale, ermächtigende Art der Selbstfürsorge, die so zugänglich wie möglich ist und von der nicht bloß du und ich als Individuen profitieren, sondern letztlich wir alle als Kollektiv.

Wozu Selbstfürsorge?

Der Begriff »Selbstfürsorge« ruft in der Regel ein riesiges Spektrum an Reaktionen hervor: Von entnervtem Augenrollen über wutschnaubendes Kopfschütteln bis hin zu verklärtem Lächeln ist alles dabei. Selbstfürsorge gilt, genauso wie Selbstliebe – ein weiteres Buzzword –, als egoistisch, narzisstisch, als realitätsfernes Erste-Welt-Problem, als überflüssiger Quatsch oder esoterischer Humbug. Auch ich habe lange Zeit bei dem Wort entnervt die Augen verdreht – denn ganz ehrlich, es mag ja vieles geben, das ich noch lernen kann und muss, aber ich werd’s ja wohl gerade noch so hinkriegen, mich um mich selbst zu kümmern. Schaut doch her, ich bin immerhin sehr lebendig, offensichtlich kann ich atmen, also hört mir auf mit diesem Achtsamkeits-Blabla.

Ich hielt Self-Care für unpolitisch, unsolidarisch, antifeministisch und obendrein für ziemlich gefährlich. Ich meine: Es gibt Dinge, die lassen sich nicht mal eben wegatmen oder durch die richtige Meditationstechnik in etwas Positives transformieren. Und mit einer Gesichtsmaske, egal wie klärend sie sein mag, werde ich auch nicht das Patriarchat abwaschen.

Wenn ich mir selbst etwas Gutes tun wollte, gönnte ich mir eine riesige Pizza, ganze Tafeln Schokolade, Zigaretten in rauen Mengen und Alkohol. Mich nach einer stressigen Woche, einer ätzenden Onlinediskussion oder schlechten Nachrichten mit meinen Freund*innen zu betrinken, war meine favorisierte Bewältigungsstrategie, meine sichere Bank, und außerdem machten es alle anderen doch genauso. Ich nahm hin und kokettierte sogar damit, dass ich manchmal so sehr im Schreiben oder in Arbeit versunken war, dass ich – hahaha! – vergaß zu trinken und zu essen. Mir irgendwann hangry und zittrig Falafel zu bestellen, war eher die Regel als die Ausnahme, und oftmals war das dann auch das erste und einzige Mal, dass ich an diesem Tag die Wohnung verließ.

Auch wenn ich vorher schon viel Zeit am Smartphone, auf Facebook, Twitter und Instagram verbracht habe – als ich selbst anfing, mich auf Social Media zu politischen und feministischen Themen zu äußern, erreichte das noch mal ein völlig anderes Level. Es passierte ja auch ständig was Neues! Hier ein Skandal, da schon wieder eine Endlosdiskussion, dort eine Horrornachricht. Und dazu immer der Druck, mich möglichst schnell und allumfassend zu äußern und zu positionieren, dem Hass und den Trollen etwas entgegenzusetzen, meine Stimme und meine Privilegien bestmöglich einzusetzen. Ich las, so viel ich konnte; meist mehrere Bücher gleichzeitig und dazu sämtliche auffindbaren Blogposts und Artikel über Misogynie, Queerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Ableismus. Ich tauschte mich zu all diesen Themen aus, mit Kolleg*innen, Freund*innen, mit meinem Partner oder mit fremden Menschen im Internet. Waren wir uns uneinig, wurde es laut und emotional. Waren wir uns einig, wurde es ebenfalls laut und emotional – wegen all der Uneinig- und Ungerechtigkeiten, denen wir sonst so begegneten.

Irgendwann – zu der Zeit arbeitete ich eigentlich gerade an meinem zweiten Roman – fragte ich mich, ob ich überhaupt noch schreiben sollte. Ich war sowieso oft viel zu fahrig, durcheinander und abgelenkt dazu, kam nicht so richtig in einen Fluss. Der größte Faktor war aber, dass ich nicht mehr wusste, warum ich überhaupt schrieb. Was und wem das etwas bringen sollte. Selbst meine aktivistischen Tätigkeiten brachten ja nicht sonderlich viel. Klar, vielleicht erreichte ich eine kleine Anzahl an Leuten, aber am großen Ganzen änderte ich leider: nichts. Gar nichts.

Kurz nach den rassistischen Angriffen auf People of Color in Chemnitz im Jahr 2018 saß ich, weit entfernt vom Ort des Geschehens, im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums an einem Schreibtisch in Schleswig-Holstein, vor dem Fenster ein schöner Spätsommertag, und checkte im Minutentakt soziale Medien und Nachrichten. Dabei kam ich mir total blöd vor. Gab es nicht viel Wichtigeres für mich zu tun, als hier zu sitzen und – erfolglos – zu versuchen zu schreiben? Die verdammte Demokratie verteidigen zum Beispiel, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln? Jeder Versuch, mich auf mein Manuskript zu fokussieren, fühlte sich an wie ein Augenverschließen, ein bewusstes Wegschauen, und alles, was ich schrieb, kam mir nichtig und unbedeutend vor.

Wann immer ich in dieser Zeit über Begriffe wie Achtsamkeit oder Selbstfürsorge stolperte, konnte ich nicht anders, als zynisch zu werden. Ja, genau, die richtige Morgenroutine wird es ganz bestimmt richten. Und was soll ich? Ach so, einfach ein bisschen dankbarer sein, na klar, fuck you.

Mir ging es nicht gut. Ich wollte irgendwas verändern, verbessern, aber ich wusste einfach nicht so genau, was – und vor allem, wie. Also machte ich zunächst einfach weiter wie bisher. Ich schrieb voller Zweifel und mit einem miesen Gefühl im Bauch meinen Roman fertig. Heulte regelmäßig Freund*innen übers Telefon voll. Hatte Angst und fühlte mich permanent ausgelaugt. Kaufte mir zur Beruhigung Lavendelöl und hasste mich selbst dafür noch ein bisschen mehr, so eine bist du jetzt, oh mein Gott, Lavendelöl. Ich versuchte trotzdem, mich so viel wie möglich online zu äußern, auf die Perspektiven und Inhalte marginalisierter Personen aufmerksam zu machen. Ich führte weiter Diskussionen und wunderte mich regelmäßig über Kopf- und Bauchschmerzen, bis mir auffiel, dass ich zu wenig gegessen oder kaum Wasser getrunken hatte. Und zur Belohnung für das ganze Leid gab es dann und wann Alkohol, Prost, auf dass die Welt wirklich bald untergeht, denn ganz ehrlich, das wäre vermutlich für alle das Beste!

Im Kontrast zu diesem Nihilismus klingt alles rund ums Thema Selbstfürsorge so ein bisschen – ich weiß auch nicht, ignorant und irgendwie uncool. Und da ist so viel Imperativ! »Liebe dich selbst!«, »Sei gut zu dir!«, »Sei dankbar!«, »Sei achtsam bei jedem Bissen Mittagessen!«, »Zieh dich warm genug an!«. Ja, Mama. Ich konnte nichts dagegen tun, bei bevormundenden Sätzen auf Motivationspostkarten sträubte sich in mir einfach irgendwas. Und nichts in mir hatte sonderlich Bock, sich von pathetischen Sprüchen in pinkfarbenen Büchlein diktieren zu lassen, wie ich mich zu fühlen und zu verhalten habe. Dem Ganzen haftet so was Verzweifeltes an. Letzte Hoffnung: Schnörkelschrift. Wie schon gesagt – mein Lavendelöl-Kauf sorgte primär dafür, dass ich mich selbst noch mehr hasste und als lächerlich empfand. So schwach war ich also, dass ich so etwas nötig hatte! Als Nächstes würde ich dann bestimmt die Engel zu Hilfe rufen.

Von meiner grundsätzlichen Abneigung gegenüber aufgezwungener Lebensfreude mal abgesehen verstand (und verstehe!) ich mich selbst ja schließlich auch als Feministin. Als Person mit einer politischen Haltung, die mit der gesellschaftlichen Gesamtsituation nicht einverstanden ist. Der es trotz all der sie umgebenden Hoffnungslosigkeit wichtig ist, dass sich etwas verändert. Und irgendwie brachte mich das zur Annahme, dass es vielleicht ja auch ganz einfach dazugehörte, dass ich mich schlecht fühlte. Ja, gut möglich, dass ich einfach immer ein bisschen verzweifelt und ängstlich und wütend zu sein hatte, um überhaupt weiterkämpfen zu können! Vielleicht war genau das der Motor. Es muss mir schlecht gehen, damit ich meine Lage und die Zustände um mich herum stetig verbessern kann. Oder anders: Bloß aufgrund meiner Existenz habe ich halt einfach nicht das Recht dazu, mich gut oder auch nur okay zu fühlen. Und wenn es gerade mal nicht um mich selbst geht, sondern um Menschen, die weniger privilegiert sind als ich – nun ja, dann wird es noch komplizierter, denn streng genommen habe ich da das Gefühl, mich nicht beschweren, nicht leiden zu dürfen, da es mir doch vergleichsweise echt okay geht. Genauso wenig darf ich mich aber glücklich oder okay fühlen, weil es anderen eben vergleichsweise viel schlimmer geht.

Und schließlich will ich doch solidarisch sein, eine Verbündete im Kampf gegen Diskriminierung, Unterdrückung und strukturelle Gewalt! Ich will die Probleme ansprechen, die Zustände hinterfragen, ich will doch etwas beitragen, zumindest ein winziges bisschen dafür sorgen, dass die Welt ein sicherer Ort für alle wird. Und das passt eben nicht zusammen mit so wohliger Me-Time in Schnörkelschrift, richtig? Solange sich das nicht alle Menschen herausnehmen können, steht es logischerweise auch mir nicht zu.

Es müssen also zuerst mal mindestens Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus zerschlagen werden. Relativ viel zu tun, bevor ich mich offiziell besser fühlen darf. Relativ viel Belastung auch auf so einem einzigen Paar Schultern, oder? Ich fühlte mich ein bisschen wie in Die unendliche Geschichte, als dem Krieger Atréju – der noch ein Kind ist – gesagt wird, dass nur er allein die Kindliche Kaiserin und das ganze Land Phantásien retten kann – und muss, weil sonst nämlich alle sterben, und – ach ja! – leider gibt es weder Tipps noch irgendwelche Anhaltspunkte, wie er am besten an die Sache rangeht, bloß all seine Waffen abgeben muss er zuvor.3 Na, versuch nach einer solchen Aufgabenstellung doch mal, in Ruhe und ohne Schuldgefühle einen Tee zu trinken.

Um das gleich wieder aufzulösen, große Überraschung: Ich bin nicht Atréju! Und du auch nicht. Niemand ist Atréju. Diese Tatsache stellt überhaupt nicht infrage, dass wir uns natürlich weiterhin dafür einsetzen müssen, dass sich etwas verändert in unserer Gesellschaft und auf der Welt – womöglich lauter und stärker und mehr als je zuvor. Aber wir können und dürfen uns derweil auch um uns selbst kümmern. Ganz ehrlich, ich finde, wir müssen sogar – auch und gerade, um solidarisch mit anderen sein zu können.

Was mich angeht, ist es definitiv nicht so, dass ich eines Morgens aufgewacht bin und dachte: Mensch, vielleicht ist das alles ja doch kein Unsinn, ab heute geht’s los mit Self-Care, von nun an schenk ich mir Liebe, ein Lächeln und ein selbst gekochtes Mittagessen! Vielmehr bin ich schleichend in einen Prozess hineingeraten, von dem ich gar nicht mehr genau sagen kann, wie und wann er losgetreten wurde. Vielleicht während eines Gesprächs, vielleicht hab ich etwas gelesen, vielleicht bin ich zufällig auf etwas gestoßen, was ich in dem Moment gebraucht habe. Ein Anstoß, ein Schubser in die richtige Richtung. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt alles fest im Griff habe – nicht einmal annähernd. Ich wurde weder erleuchtet, noch atme ich goldenes Licht, und ich befinde mich auch nicht in einem grinsenden Dauerzustand der Freude und Leichtigkeit – unter anderem weil es diesen Dauerzustand überhaupt gar nicht gibt.

Ich habe aber zum Beispiel verstanden, dass ich nicht nur nicht Atréju bin, sondern dass das auch niemand von mir verlangt. Dass es nicht meine Aufgabe ist, die ganze Welt zu stabilisieren – aber dass ich dennoch einen Teil dazu beitragen kann, indem ich zunächst mich selbst stabilisiere, um dann wiederum anderen bei diesem ganzen Stabilisierungsprozess helfen zu können. Noch mal kurz zurück zu Die unendliche Geschichte: Am Ende ist ja auch Atréju nicht allein. Nie allein gewesen! Die ganze Zeit über war da eben auch Bastian. Aber: Hätte Bastian Atréju in seiner durch und durch beschissenen Lage ausschließlich bemitleidet und sich seinetwegen bloß schlecht gefühlt – Phantásien wäre untergegangen! Glücklicherweise hat Bastian aber rechtzeitig gecheckt, dass er sich bloß einen neuen Namen für die Kindliche Kaiserin auszudenken braucht, um Atréju zu helfen und Phantásien zu retten.

So einfach ist es natürlich in der Realität nicht, aber ich will sagen: Es ist keine Solidarität, wenn wir uns schlecht fühlen, weil es anderen schlecht(er) geht. Es ist nicht konstruktiv und ändert exakt nichts am Unrecht in dieser Welt, wenn wir uns bloß in unseren Schmerz und Kummer über dieses Unrecht hineinsteigern – so verständlich das Verlangen danach manchmal auch sein mag, bei all der vermeintlichen Macht- und Hoffnungslosigkeit, die uns ständig vermittelt wird. Bei allem, was Tag für Tag so geschieht. Wenn du deswegen aber meinst, dich nicht um dich selbst kümmern und keine Freude mehr empfinden zu dürfen oder es nicht verdient zu haben, dich besser zu fühlen – dann gibt das all dem Unrecht, all dem Schlimmen, das ja ohnehin bereits existiert, bloß noch mehr Raum und noch mehr Macht. Nämlich die Macht über dich. Und das wiederum raubt dir die Hoffnung und hält dich letztlich davon ab, aktiv zu werden, dich mit anderen zu verbünden und tatsächlich Veränderung anzustoßen.

Nicht falsch verstehen: Es ist natürlich vollkommen nachvollziehbar, sich angesichts aller Tatsachen und Katastrophen dieser Welt hin und wieder hoffnungslos zu fühlen, verzweifelt und wütend zu sein. All diese Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung (mehr dazu übrigens im entsprechenden Kapitel) und sollten auch tatsächlich gefühlt werden.

Es ist total verständlich, dass es dich fassungslos und traurig macht, wenn dir eine Person, die weniger privilegiert ist als du, von Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen erzählt – aber es hilft niemandem weiter, wenn du dich als Folge davon von deiner Fassungslosigkeit beherrschen lässt. Denn die Person, die sich dir anvertraut hat, soll ja nicht auch noch zusätzlich die Aufgabe bekommen, deine Emotionen zu verarbeiten. Ich habe das ein paarmal erlebt, wenn Menschen von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichtet haben. Besonders cis Männer sind dann oft bestürzt und fassungslos. Anteilnahme ist natürlich erst mal schön und meist auch gut gemeint, es ist aber schlichtweg keine Solidarität, so sehr in Empörung zu versinken, dass sich daraufhin der Fokus verschiebt – und es auf einmal darum geht, diejenigen zu trösten, von denen sich eigentlich Unterstützung gewünscht wurde.

Darum geht es im Übrigen auch, wenn gesagt wird, dass Rassismus das Problem weißer Menschen ist – denn genau das ist es! Menschen mit weißen Privilegien müssen Verantwortung übernehmen und diese Arbeit erledigen. Es reicht nicht aus, sich über rassistische Polizeigewalt zu empören oder Rechtsextremismus ganz furchtbar zu finden – es gilt, sich mit dem eigenen, verinnerlichten Rassismus auseinanderzusetzen und ihn zu verlernen. Natürlich muss Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zugehört werden, aber es kann und darf nicht ihre Aufgabe sein, permanent weiße Tränen wegzuwischen – auch dann nicht, wenn es vermeintlich antirassistische Tränen sind, denn »natürlich bin ich auch gegen Nazis!«. Mit dieser Einstellung lässt sich sicherlich arbeiten, aber sie allein genügt einfach nicht, und sie macht noch keine Solidarität. Oder wie es Beth Pickens so treffend formuliert: »Anger isn’t action and misery isn’t solidarity.«4 (»Wut ist keine Handlung, und Elend ist keine Solidarität.«)

Solidarisch ist es zuzuhören, ernst zu nehmen, bereit zu sein, dazuzulernen und an dir selbst zu arbeiten. Nicht nur zu zeigen, dass du da bist, sondern tatsächlich da zu sein.