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Das Buch Radikaler Digitaler Humanismus ist ein Beitrag zur Moralphilosophie der digitalen Gesellschaft. Ausgehend vom Ansatz eines Radikalen Humanismus entwickelt Christian Fuchs einen Radikalen Digitalen Humanismus und argumentiert, dass wir diesen brauchen, um die multiplen Krisen besser zu verstehen und zu identifizieren, wie das Überleben der Menschheit und der Gesellschaft sichergestellt werden kann. Das Buch stellt folgende Fragen: Warum ist die radikal-humanistische Philosophie im heutigen digitalen Zeitalter wichtig? Wie kann der Radikale Humanismus uns helfen, kritisch zu verstehen, wie digitale Technologien die Gesellschaft und die Menschheit formen? Welche Art von Humanismus brauchen wir, um die Digitalisierung der Gesellschaft kritisch zu verstehen? Dieses Buch trägt zur Erneuerung der humanistischen Philosophie im digitalen Zeitalter bei.
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Seitenzahl: 321
utb 6352
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Christian Fuchs ist Professor für Mediensysteme und Medienorganisation an der Universität Paderborn, Deutschland. Er ist ein kritischer Theoretiker der Kommunikation, der digitalen Medien und der Gesellschaft. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift tripleC: Communication, Capitalism & Critique. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter die Bücher Grundlagen der Medienökonomie: Medien, Wirtschaft und Gesellschaft (2023), Der digitale Kapitalismus (2023) und Kommunikation und Kapitalismus: Eine kritische Theorie (2020).
Christian Fuchs
Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
Dieses Buch ist die deutsche Übersetzung des folgenden Buches:
Christian Fuchs. 2022. Digital Humanism: A Philosophy for 21st Century Digital Society. Emerald Publishing Limited.
Umschlagabbildung: © iStockphoto, wildpixel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage 2024
DOI: https://doi.org/10.36198/9783838563527
© UVK Verlag 2024
– Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.de
eMail: [email protected]
Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung
utb-Nr. 6352
ISBN 978-3-8252-6352-2 (Print)
ISBN 978-3-8463-6352-2 (ePub)
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1Einleitung
2Was ist (Radikaler) Humanismus?
2.1Einleitung
2.2Definitionen des Humanismus
2.3Die Transkulturalität des Humanismus
2.4Yuval Noah Hararis Kritik am Humanismus
2.5Was ist Radikaler Humanismus? Grundlagen des Radikalen Humanismus
2.6Vier Ansätze für einen Radikalen Humanismus: Karl Marx, Erich Fromm, Wang Ruoshui, David Harvey
2.7Schlussfolgerungen
3Was ist (Radikaler) Digitaler Humanismus?
3.1Einleitung
3.2Grundlagen des Digitalen Humanismus: Was ist Digitaler Humanismus?
3.3Grundlagen des Radikalen Digitalen Humanismus
3.4Einwände gegen den Digitalen Humanismus
3.5Schlussfolgerungen
4Die Dekolonisation der akademischen Welt: Eine radikal-humanistische Perspektive
4.1Einleitung
4.2Die Dekolonisation der Analyse der Medien, der Kommunikation und des Digitalen
4.3Was ist der (Neo-)Kolonialismus?
4.4Die (Ent-)Kolonialisierung der Wissenschaft: Eine radikal-humanistische und politisch-ökonomische Perspektive
4.5Schlussfolgerung: Vom Universitätskapitalismus hin zur gemeinwohlorientierten Universität
5Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) im digitalen Kapitalismus
5.1Einleitung
5.2Der Cyborg
5.3Roboter, KI und Ideologie im digitalen Kapitalismus
5.3.1Drei Ansätze zur Analyse von Technologie, Robotern und KI
5.3.2Roboter in Wirtschaft und Gesellschaft: Eine Kritik des technologischen Determinismus
5.3.3Roboter in Wirtschaft und Gesellschaft: Eine Kritik des Sozialkonstruktivismus
5.4Radikaler Humanismus, Computertechnik, Roboter
5.5Schlussfolgerungen
6Politische Diskurse über Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) in der EU, den USA und China
6.1Einleitung
6.2Die KI-Strategie der EU
6.3Donald Trumps KI-Strategie
6.4Chinas KI-Strategie
6.5Ein Vergleich der KI-Strategien der EU, der US-Regierung unter Trump und Chinas
6.6Schlussfolgerungen
7Nekropolitik, Tod und digitale Kommunikation im COVID-19-Kapitalismus
7.1Einleitung
7.2Tod und Sterben im Kapitalismus
7.3Kommunikation als Aspekt der Lebensqualität und der Sterbensqualität
7.3.1Ein Blick auf einige empirische Studien
7.3.2Theoretische Interpretation: Die Universalität der Kommunikation von der Wiege bis zur Bahre
7.4Sterben und Kommunikation in der COVID-19-Pandemie
7.4.1Sterben an COVID-19
7.4.2Digitale Kommunikation und das Sterben in der COVID-19-Pandemie
7.5Kapitalistische Nekromacht im COVID-Kapitalismus
7.5.1Was ist die kapitalistische Nekromacht?
7.5.2Kapitalistische Nekromacht im Zeitalter von COVID-19
7.6Schlussfolgerungen
8Für einen Radikalen (Digitalen) Humanismus
8.1Sozialismus oder Barbarei, Humanismus oder Autoritarismus, Demokratie oder Faschismus
8.2Wir müssen das Kapital angemessen besteuern und die Interessen der Arbeiterklasse stärken
8.3Wir brauchen ein öffentlich-rechtliches Internet
8.4Wir brauchen einen Radikalen Humanismus
Bibliographie
Abb. 1.1Die Entwicklung der durchschnittlichen bereinigten Lohnquote in 21 Ländern
Abb. 5.1Visualisierung der drei Logiken in der Untersuchung von Technologie und Gesellschaft
Abb. 5.2Erwerbstätigkeit weltweit
Abb. 5.3Erwerbslosigkeit weltweit
Abb. 5.4Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Woche weltweit
Abb. 5.5Die Entwicklung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit pro Arbeitskraft
Abb. 5.6Die Entwicklung der weltweiten Produktivität
Abb. 6.1Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von China, der EU und den USA
Tab. 1.1Globale und regionale Daten für die Entwicklung der Lohnquote in Prozent des BIP
Tab. 4.1Die größten transnationalen digitalen Unternehmen der Welt
Tab. 4.2Am häufigsten im Web of Science zitierte Forschungseinrichtungen, 1980 ‒ 14. Juli 2021
Tab. 4.3Bruttobesuchsquote für den tertiären Bildungsbereich, Jahr 2019 (oder letztes verfügbares Jahr)
Tab. 4.4Bruttobesuchsquote für tertiäre Bildung, nach Wohlstandsquintilen, Jahr 2019 (oder letztes verfügbares Jahr)
Tab. 4.5Prozentualer Anteil der 25- bis 29-Jährigen, die eine mindestens vierjährige Hochschulausbildung abgeschlossen haben, letzte verfügbare Daten
Tab. 4.6Sozioökonomische (Un-)Gleichheit bei der Zulassung von Bachelorstudierenden im Vereinigten Königreich
Tab. 5.1Eine Typologie der Roboter
Tab. 5.2Ansätze zur Analyse der Beziehung zwischen Technologie und Gesellschaft
Tab. 7.1Prinzipien der Klassengesellschaften und des demokratischen Sozialismus
Das Buch Radikaler Digitaler Humanismus: Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist ein Beitrag zur Moralphilosophie der digitalen Gesellschaft. Es führt in den Ansatz des Radikalen Digitalen Humanismus ein und stellt folgende Fragen: Warum ist die humanistische Philosophie im heutigen digitalen Zeitalter wichtig? Wie kann der Humanismus uns helfen, kritisch zu verstehen, wie digitale Technologien die Gesellschaft und die Menschheit formen? Welche Art von Humanismus brauchen wir, um die Digitalisierung der Gesellschaft kritisch zu verstehen? Dieses Buch trägt zur Erneuerung der humanistischen Philosophie im digitalen Zeitalter bei.
Unsere heutige globale digitale Gesellschaft ist kein guter Ort zum Leben. Autoritarismus und Nationalismus sind in vielen Teilen der Welt starke Kräfte. Autoritarismus und Hass verbreiten ihre Ideologien ständig im Internet und über soziale Medien. Damit einher geht ein Angriff auf die Wahrheit und die Qualitätsmedien. Wir haben erlebt, wie Falschmeldungen Wahlergebnisse beeinflusst und den politischen Alltag dominiert haben. Es ist von einer postfaktischen Politik (Post-Truth) die Rede. Zu viele Menschen misstrauen Fakten, der Idee der Wahrheit, Expert:innen und Forschung. Sie glauben, dass die Wahrheit das ist, was sie als emotional beruhigend und ideologisch akzeptabel empfinden. Algorithmen schaffen und steuern Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit im Internet, was die Politik beeinflusst. In der algorithmischen Politik ist es undurchschaubar geworden, ob eine bestimmte Information, die online zirkuliert, von einem Menschen oder einem Roboter erstellt wurde. Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) formen und beeinflussen die Welt der Arbeit, des Konsums, der Freizeit, der Entscheidungsfindung, des Transports, der Produktion, des Gesundheitswesens, der Bildung, der Nachrichten und der Unterhaltung. Viele Menschen fragen sich, ob die menschliche Autonomie und Entscheidungsfindung durch KI-gesteuerte Roboter ersetzt werden kann und wird. Die digitale Überwachung ist allgegenwärtig. Sie wird sowohl von Regierungen als auch von kapitalistischen Unternehmen als Mittel der Kontrolle eingesetzt. Wir haben den Niedergang der Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter miterlebt. Nachrichten und Informationen müssen kurz, oberflächlich und unterhaltsam sein, um ein beachtliches Publikum zu erreichen. Die Öffentlichkeit ist in Mikroöffentlichkeiten, Filterblasen und Echokammern aufgespalten, so dass die Menschen nicht mehr in der Lage sind, miteinander zu reden. Rechtsextremist:innen lenken den Hass online gegen Migrant:innen, Flüchtlinge, Feminist:innen, Sozialist:innen, Liberale, Expert:innen und Qualitätsmedien. Die Öffentlichkeit ist stark polarisiert. Infolgedessen neigen viele Menschen dazu, andere Menschen in den Kategorien von Freund und Feind zu sehen. Digitale Technologien prägen auch die Kriegsführung. Die digitale Kriegsführung hat die zerstörerischen Fähigkeiten der Militärtechnologien erweitert und intensiviert. Die enormen Mengen an Elektronikabfällen und die Versorgung digitaler Technologien mit Energie aus fossilen Brennstoffen und Kernenergie haben zur Umweltkrise und zu Umweltrisiken beigetragen. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie anfällig die Menschheit für Viren und Gesundheitskrisen ist. Während der Pandemie waren die Menschen gezwungen, ihr Leben online neu zu organisieren, um zu überleben, was zu neuen Ungleichheiten und Problemen geführt hat.
Die Menschheit und die Gesellschaft befinden sich in einer großen Krise. Die Digitalisierung wirkt als Vermittler der Krise der Menschheit und der Gesellschaft. Wie wird die Gesellschaft in zehn, zwanzig und fünfzig Jahren aussehen? Wird es die Gesellschaft und die Menschheit noch geben? Oder werden sie am Ende stehen? Wird die Gesellschaft durch Kriege, Umweltkatastrophen und eskalierende Krisen zerstört worden sein? Werden neue Faschismen entstanden sein, die die Menschheit versklaven? Werden wir in einer Barbarei leben, in der die Reichen die Menschheit beherrschen und andere nach Belieben töten und behandeln? Oder wird eine alternative Gesellschaftsordnung entstanden sein, die Frieden, Wohlstand, Glück, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Nachhaltigkeit für alle garantiert? Wir kennen die Antwort auf diese Fragen nicht, aber es ist wichtig, dass wir darüber nachdenken, was die Menschheit in die Situation gebracht hat, in der sie sich jetzt befindet, und welche Wege es aus dieser Krise der Menschheit gibt.
Der Kapitalismus basiert auf dem Gegensatz zwischen individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Die Aufklärung und die Französische Revolution förderten die Idee der Menschenrechte, zu denen auch politische Rechte und das Recht des Einzelnen gehören, so viel Eigentum und Kapital zu besitzen, wie er oder sie anhäufen kann. Das kapitalistische Eigentum ersetzte die feudale Grundherrschaft. Mit den neu geschaffenen Freiheiten entstanden auch neue Formen der Herrschaft wie Lohnarbeit und kapitalistische Monopole. Die individuelle Freiheit des Eigentums untergräbt das Versprechen der Aufklärung, Gleichheit und Solidarität als universelle Rechte zu verwirklichen. Die kapitalistische Gesellschaft untergräbt die soziale Freiheit. Die kapitalistische Gesellschaft beruht auf dem, was die kritischen Theoretiker Max Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung nennen. Der Kapitalismus bringt die Tendenz zur „Selbstzerstörung der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno 1969/2014, 18) mit sich, so dass es ein Potenzial der „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei“ (22) gibt.
Die Dialektik der Aufklärung kann im Kapitalismus zu einem Punkt führen, „wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert“ (Adorno 1975, 376) und in „irrationale[n] Ausbrüche[n]“ (Adorno 2006, 24) resultiert. Es kommt dann zur Destruktion „des rationalen Denkens, so daß das, was dann nach dieser Destruktion am Schluß übrigbleibt, der Antiaufklärung und dem Irrationalismus nur allzu gut in den Kram“ (Adorno 2008, 171-172).
Der Kapitalismus hat das Potenzial, Auschwitz zu produzieren. Auschwitz zeigt, dass die „Widervernunft des totalitären Kapitalismus […] zur Ausrottung der Menschen treibt“ (Horkheimer und Adorno 1969/2014, 78-79). Der Kapitalismus verspricht, den Humanismus voranzubringen, hat aber gleichzeitig ein zerstörerisches und faschistisches Potenzial. Die Tatsache, dass der Kapitalismus den Humanismus verspricht, ihn aber in Wirklichkeit untergräbt, sollte uns nicht dazu veranlassen, den Humanismus, die Moderne und den Universalismus zu verwerfen – wie es viele Postmoderne getan haben –, sondern für die Überwindung ihres partikularistischen Charakters zu argumentieren und zu kämpfen und den Humanismus, die Moderne und den Universalismus zu generalisieren, damit alle Menschen Vorteile davon haben. Adorno schreibt in diesem Zusammenhang, dass die Dialektik der Aufklärung nicht die Notwendigkeit impliziert, die Aufklärung abzuschaffen, sondern sie vielmehr vollständig zu realisieren: „diese Wundmale, die die Aufklärung hinterläßt“, sind „zugleich auch stets die Momente […], in denen Aufklärung selber als eine noch partielle, als nicht aufgeklärt genug gewissermaßen sich erweist, und daß nur dadurch, daß man ihr Prinzip konsequent weiterverfolgt, diese Wunden vielleicht geheilt werden können“ (Adorno 2015, 266).
Die kapitalistische Produktion ist nicht einfach ein Wirtschaftsmodell, sondern eine politische Ökonomie. Das bedeutet, dass Klassenkämpfe, Gesetze und Politiken den spezifischen Charakter der kapitalistischen Wirtschaft und die Verteilung der Macht in ihr prägen. Wie viel (Un-)Gleichheit und soziale (Un-)Gerechtigkeit es gibt, ist eine politisch-ökonomische Frage.
In den 1970er Jahren entstand das Modell des neoliberalen Kapitalismus, das sich zu einer globalen politischen Ökonomie entwickelte. Es basiert auf der Stärkung der Privateigentümer:innen des Kapitals, des Finanzkapitals und der transnationalen Unternehmen gegenüber den Arbeitenden, den Armen, den Arbeitslosen und den Gewerkschaften. Zu seinen Merkmalen gehören die Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Dienstleistungen und Gemeingüter, die globale Auslagerung von Arbeit durch transnationale Unternehmen, die Entstehung von prekärer Arbeit, die Schaffung von digitalem Kapital, die Finanzialisierung der Wirtschaft, hochriskante Finanzderivate und niedrige Steuern für Unternehmen und Reiche. Der Neoliberalismus ist Akkumulation durch Enteignung (Harvey 2003):
„Die Akkumulation durch Enteignung erhielt nach 1973 eine immer herausragendere Bedeutung, teilweise als Kompensation für die in der erweiterten Reproduktion entstehenden chronischen Probleme der Überakkumulation. Hauptvehikel dieser Entwicklung war die Finanzialisierung und die effektive Abstimmung eines internationalen Finanzsystems – größtenteils auf Geheiß der USA –, das bestimmten Gebieten oder auch ganzen Ländern von Zeit zu Zeit alles von leichten bis hin zu brutalen Entwertungsrunden und der Akkumulation durch Enteignung auferlegen konnte. Doch auch die Öffnung neuer Länder für die kapitalistische Entwicklung und kapitalistische Formen des Marktverhaltens spielte eine Rolle, ebenso wie die ursprüngliche Akkumulation in den Ländern, die sich anschickten, aktiv im globalen Kapitalismus mitzuspielen (Südkorea, Taiwan und jetzt, noch dramatischer, China). All das erforderte nicht nur die Finanzialisierung und einen freizügigeren Handel, sondern auch eine radikal neue Herangehensweise beim Einsatz der Staatsmacht, die ja immer ein zentraler Akteur bei der Akkumulation durch Enteignung ist. Das Aufkommen der neoliberalen Theorie und der mit ihr verbundenen Politik der Privatisierung symbolisierte einen großen Teil dieser Verlagerung“ (Harvey 2003, 154-155).
Der Neoliberalismus verschärfte die sozioökonomischen Ungleichheiten, so dass die Reichen und die Konzerne einen immer größeren Anteil des weltweiten Reichtums kontrollierten und die Arbeitenden und andere einen immer geringeren Anteil. Im Neoliberalismus erreichte der Antagonismus zwischen individuellem Privatkapital und sozialer Gerechtigkeit einen neuen Höhepunkt. Prekäres Leben, prekäre Arbeit und die ungleiche Verteilung des Reichtums nahmen deutlich zu (Piketty 2014). Das Kapital kolonisierte immer größere Teile und Bereiche des Lebens. Kapitalistische Profitinteressen wurden über humane Interessen und Menschen gestellt. Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, Austerität und Prekarität, Profit und Mensch vertieften sich.
Abbildung 1.1 zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen bereinigten Lohnquote für 21 Länder. Die Lohnquote ist der Anteil der Gesamtlöhne am Bruttoinlandsprodukt. Ich habe die Daten für alle Länder verwendet, für die Daten verfügbar waren. Die Lohnquote zeigt die Wirtschaftskraft der Arbeit im Verhältnis zum Kapital. Eine höhere Lohnquote bedeutet, dass der Anteil des Kapitals am BIP geringer ist und umgekehrt. Die Lohnquote war für diese Länder auf jährlicher Basis verfügbar. Ich habe den Durchschnitt aller Länder für jedes Jahr berechnet.
Abbildung 1.1: Die Entwicklung der durchschnittlichen bereinigten Lohnquote in 21 LändernLänder: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, USA, Vereinigtes Königreich
Tabelle 1.1: Globale und regionale Daten für die Entwicklung der Lohnquote in Prozent des BIP, Datenquelle: International Labour Organization
Zwischen 1960 und Mitte der 1970er Jahre stieg die Lohnquote, was die zunehmende Bedeutung des Wohlfahrtsstaates, die Macht der Gewerkschaften und die Rolle der Kämpfe der Arbeiterklasse widerspiegelt. Im Jahr 1975 erreichte die durchschnittliche Lohnquote einen Höchststand von 64,1%. Der anschließende Aufstieg des Neoliberalismus brachte Lohndrückerei und die Umverteilung der Einkommen von der Arbeit zum Kapital mit sich. Im Jahr 2000 sank die durchschnittliche Lohnquote auf 55,2%. Im Jahr 2022 lag sie mit 53,1% auf dem niedrigsten Stand in dem 62 Jahre umfassenden Analysezeitraum. „Der Anteil des Arbeitseinkommens ist in vielen Volkswirtschaften, sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern, seit den 1980er Jahren gesunken, während der Gewinnanteil entsprechend gestiegen ist. Die Hauptursache dafür ist die Lohndrückerei aufgrund der Schwächung der Arbeitsmarkteinrichtungen, die verhindert hat, dass die Löhne mit dem Anstieg der Produktivität und in vielen Fällen auch der Lebenshaltungskosten Schritt halten“1 (UNCTAD 2020, 65). Tabelle 1.1 zeigt Daten zur Entwicklung der Lohnquote auf globaler Ebene sowie auf verschiedenen regionalen und organisatorischen Ebenen. In dem erfassten Zeitraum blieb die Lohnquote entweder sehr niedrig (Afrika, Lateinamerika) oder sie ging weiter zurück. Auf globaler Ebene sank sie von 53,7% auf 51,4% im Jahr 2017.
Der Kapitalismus befindet sich in der Krise. Im Jahr 2008 explodierten die Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus in einer neuen Weltwirtschaftskrise. Die vorherrschende Reaktion der Politik war keine Kehrtwende, sondern mehr vom Gleichen, eine Verschärfung des Neoliberalismus, die als Austeritätspolitik bekannt wurde. Das Kapital wurde auf Kosten der Arbeitnehmer und der menschlichen Interessen wieder fit gemacht. Der Neoliberalismus schwächte die organisierte Arbeiterbewegung und ihre Fähigkeit, Klassenkämpfe zu führen. Die linke Bewegung wurde durch ständige antisozialistische Angriffe geschwächt. Immer mehr Menschen hatten genug. Sie waren auf der Suche nach Alternativen. Rechtsautoritäre Kräfte mobilisierten, indem sie Feindseligkeiten gegen Minderheiten lenkten und sich der Freund-Feind-Ideologie bedienten. Trump, Brexit und der Aufstieg rechtsautoritärer Kräfte, die die Demokratie bedrohen, waren die Folge. Die negative Dialektik des Neoliberalismus entlud sich im Aufkommen neuer Nationalismen, rechtsautoritärer Kräfte, des Rassismus und neuer Faschismen, die die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse von den eigentlichen kapitalistischen Ursachen des sozialen Elends ablenken.
Während im Kapitalismus im Allgemeinen das Kapital über den Menschen dominiert, ein Widerspruch, der sich im neoliberalen Kapitalismus noch verschärft hat, ist eine neue Form des autoritären Kapitalismus entstanden, in dem das digitale Kapital über den Menschen und die menschlichen Interessen dominiert. Das digitale Kapital, das in Form der Hardwareindustrie, der Softwareindustrie, Big Data, sozialen Medien, gezielter Werbung, Cloud Computing, dem Internet der Dinge, Algorithmen, Überwachungssystemen und vielem mehr organisiert ist, beherrscht nun das tägliche Leben. Dies hat nationalistischen, rassistischen und faschistischen Gruppierungen, autoritären Strukturen, der Polarisierung und Fragmentierung sowie Strukturen des Misstrauens gegenüber Expert:innen, Wissenschaft, Bildung und Qualitätsnachrichten Auftrieb verschafft und ihnen eine Plattform geboten. Die Realität des neoliberalen Kapitalismus hat zu einer Bedrohung der Demokratie und zum Aufkommen neuer Formen des Antihumanismus geführt. Die Gesellschaft befindet sich heute an einer Weggabelung zwischen Humanismus und Barbarei. Nur wenn sich eine breite Koalition fortschrittlicher Kräfte gegen Faschismus und Zerstörung zusammenschließt und eine Front bildet, die für den Humanismus kämpft, kann der Abstieg in die Barbarei verhindert werden. Der Humanismus ist eine wichtige praktische Kraft, um die heutige Menschheit vor dem Abstieg in die Barbarei zu bewahren.
Dieses Buch liefert einen Beitrag zur Moralphilosophie der digitalen Gesellschaft. Es stellt die Frage: Wie kann der Humanismus uns helfen, kritisch zu verstehen, wie digitale Technologien die Gesellschaft und die Menschheit formen?
Um eine Antwort auf diese übergreifende Frage zu geben, stellt das Buch den Ansatz des Digitalen Humanismus vor. Es bietet eine allgemeine Einführung in den Digitalen Humanismus und vertritt eine bestimmte Version des Digitalen Humanismus, die ich als Radikalen Digitalen Humanismus bezeichne. Das Buch Radikaler Digitaler Humanismus: Eine Philosophie für die digitale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bietet eine Einführung in den Humanismus im digitalen Zeitalter. Es analysiert, was die Dekolonisierung der Wissenschaft und die Erforschung des Digitalen, der Medien und der Kommunikation bedeutet, welche Rolle Roboter, Automatisierung und künstliche Intelligenz im digitalen Kapitalismus spielen und wie die Kommunikation bezüglich Tods und Sterben durch digitale Technologien, kapitalistische Nekromacht und digitalen Kapitalismus vermittelt wurde. Gegliedert in sechs Kapitel, eine Einleitung und eine Schlussfolgerung, wird die Hauptfrage in weitere Fragen unterteilt, die in diesem Buch behandelt werden:
Kapitel 2: Was ist (Radikaler) Humanismus?
Kapitel 3: Was ist (Radikaler) Digitaler Humanismus?
Kapitel 4: Was bedeutet es, die akademische Welt und das Erforschen von Medien, Kommunikation und dem Digitalen zu enkolonialisieren? Wie kann die akademische Welt auf fortschrittliche Weise verändert werden?
Kapitel 5: Wie können wir die Auswirkungen von Robotern und Künstlicher Intelligenz (KI) auf das Alltagsleben auf der Basis des Radikalen Humanismus verstehen und theoretisieren?
Kapitel 6: Wie sehen die KI-Strategien der EU, der USA unter Donald Trump und Chinas aus?
Kapitel 7: Welche Rolle spielt die kommunikative Vermittlung von Tod und Sterben in der kapitalistischen Gesellschaft? Wie hat sich die Kommunikation mit sterbenden Angehörigen durch die COVID-19-Pandemie verändert? Welche Rolle haben digitale Technologien und der Kapitalismus in diesem Zusammenhang gespielt?
Kapitel 2 trägt den Titel „Was ist (Radikaler) Humanismus?“. Das Kapitel erörtert Definitionen des Humanismus. Es fasst diese Definitionen zusammen, um ein philosophisches Verständnis des Humanismus zu entwickeln. Dieses Verständnis hat epistemologische, ontologische und axiologische Dimensionen. Das Kapitel weist darauf hin, dass der Humanismus kulturübergreifend ist. Gängige Einwände gegen den Humanismus werden anhand der Werke des Historikers Yuval Noah Harari diskutiert. Auf der Grundlage des allgemeinen Verständnisses von Humanismus wird der Ansatz des Radikalen Humanismus vorgestellt. Der Radikale Humanismus ist eine besondere Form des Humanismus. Seine erkenntnistheoretischen, ontologischen und axiologischen Aspekte werden skizziert. Das Kapitel diskutiert vier Beispiele für Ansätze des Radikalen Humanismus (Karl Marx, Erich Fromm, Wang Ruoshui, David Harvey).
Der Titel von Kapitel 3 lautet „Was ist (Radikaler) Digitaler Humanismus?“ Es wird argumentiert, dass der Digitale Humanismus eine Philosophie ist, die für die Analyse des digitalen Zeitalters geeignet ist und spezifische epistemologische, ontologische und axiologische Dimensionen aufweist. Außerdem wird eine spezifische Version des Digitalen Humanismus vorgestellt, nämlich der Radikale Digitale Humanismus. Es wird argumentiert, dass wir die Zusammenarbeit aller Humanismen fördern müssen, um den Aufstieg neuer Faschismen im digitalen Zeitalter zu verhindern. Das Kapitel erörtert auch Einwände gegen den Digitalen Humanismus und geht auf diese ein.
Kapitel 4 trägt den Titel „Die Dekolonisierung der akademischen Welt: Eine radikalhumanistische Perspektive“. Es reflektiert über Forderungen und Prozesse der Dekolonisierung des akademischen Feldes der Medien- und Kommunikationswissenschaften. Es fragt: Was bedeutet es, die akademische Welt und das Erforschen von Medien, Kommunikation und dem Digitalen zu dekolonisieren? Wie kann die akademische Welt auf fortschrittliche Weise verändert werden? Das Kapitel nimmt eine radikalhumanistische und politisch-ökonomische Perspektive auf die Dekolonisierung ein, was bedeutet, dass es sich dafür interessiert, wie Kapitalismus, Macht und materielle Aspekte der Wissenschaft wie Ressourcen, Geld, Infrastrukturen, Zeit, Raum, Arbeitsbedingungen und die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse die Möglichkeiten und Realitäten von Forschung und Lehre gestalten. Kapitel 4 unterstreicht die Bedeutung der Definition des (Neo-)Kolonialismus als Grundlage von Debatten über Dekolonisierung und beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen und Definitionen der (Neo-)Kolonisation. Es wird aufgezeigt, wie materielle Kräfte und die politische Ökonomie die Universität und die akademische Wissensproduktion prägen und negativ beeinträchtigen. Das Kapitel bietet Perspektiven für konkrete Schritte, die unternommen werden können und sollten, um die kapitalistische und kolonialisierte Universität zu überwinden und ein gemeinwohlorientiertes Universitäts- und Wissenschaftssystem zu schaffen.
Der Titel von Kapitel 5 lautet „Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) im digitalen Kapitalismus“. Das Kapitel fragt: Wie können wir die Auswirkungen von Robotern und Künstlicher Intelligenz auf das Alltagsleben auf der Grundlage des Radikalen Humanismus verstehen und theoretisieren? Wie können Henri Lefebvres Ideen genutzt werden, um den ideologischen Charakter zeitgenössischer Darstellungen der Auswirkungen von Robotern und KI auf die Gesellschaft aufzudecken? Es befasst sich mit eher unbekannten Werken des Radikalen Humanisten Henri Lefebvre zur Soziologie und Philosophie der Technologie wie Vers le cybernanthrope (Auf dem Weg zum Kybernanthropen). Es werden die Grundlagen eines Lefebvre’schen, dialektischen, radikal-humanistischen Ansatzes für die Soziologie und Philosophie der Technik vorgestellt. Das Kapitel führt in Lefebvres Begriff des Kybernanthropen ein und setzt ihn in Relation zu Robotern und KI in der heutigen Gesellschaft. Auf der Grundlage von Lefebvres Kritik an der Kybernanthropie entwickelt Kapitel 5 die Grundlagen der Ideologiekritik an Robotern und KI im digitalen Kapitalismus. Es diskutiert Beispiele für technologiedeterministisches und sozialkonstruktivistisches Denken im Kontext von Robotik, KI und Cyborgs und plädiert für einen alternativen, Lefebvre‘schen, dialektischen Ansatz. Das Kapitel verortet den Humanismus im Kontext von Computern, KI und Robotik. In Kapitel 5 wird ein Radikaler Humanismus nach Lefebvre entwickelt, indem Analysen von KI und Robotern im Posthumanismus, Transhumanismus, techno-deterministischen Ansätzen, Ansätzen der sozialen Konstruktion von Technologie, Techno-Optimismus, Techno-Pessimismus, Akzelerationismus, der Massenarbeitslosigkeitshypothese und Spike Jonzes Film Her vorgenommen werden. Das Kapitel zeigt, dass die wichtigste Lehre, die wir aus der radikal-humanistischen Techniksoziologie und Henri Lefebvres Werken über Technik ziehen können, darin besteht, dass der Radikale Humanismus dazu beiträgt, Technologien für die Vielen und nicht für die Wenigen zu schaffen und zu erhalten. Diese Erkenntnis ist auch im Zeitalter des digitalen Kapitalismus, der intelligenten Roboter und der Künstlichen Intelligenz von großer Bedeutung.
Der Titel von Kapitel 6 lautet „Politische Diskurse über Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) in der EU, den USA und China“. Das Kapitel fragt: Wie sehen die KI-Strategien der EU, der USA unter Donald Trump und Chinas aus? Es führt eine kritische politische Diskursanalyse aus einer radikal-humanistischen Perspektive durch. Es wird analysiert, welche Art von Ideologien wir in den KI-Strategien der Europäischen Union, der USA unter Donald Trump und Chinas finden können. Die Analyse zeigt, dass sich KI und Robotik in einem digitalen Technologiewettlauf befinden, der auf einen internationalen politisch-ökonomischen Wettlauf um die Akkumulation politisch-ökonomischer Macht hindeutet.
Der Titel von Kapitel 7 lautet „Nekromacht, Tod und digitale Kommunikation im Covid-19-Kapitalismus:“. Es geht darin um die kommunikative Vermittlung von Tod und Sterben in der kapitalistischen Gesellschaft. Das Kapitel stellt die Frage: Welche Rolle spielt die Kommunikation von Tod und Sterben in der kapitalistischen Gesellschaft? Wie hat sich die Kommunikation mit sterbenden Angehörigen durch die COVID-19-Pandemie verändert? Welche Rolle haben die digitalen Technologien und der Kapitalismus in diesem Zusammenhang gespielt?
Das Kapitel ist eine Reflexion über die digitale Vermittlung von Tod und Sterben in der COVID-19-Pandemie aus einer radikal-humanistischen Perspektive der Kritik der Politischen Ökonomie. Es analysiert Tod und Sterben im Kapitalismus, diskutiert einige grundlegende theoretische Erkenntnisse über die Rolle von Tod und Sterben im Kapitalismus, stellt empirische Studien über Tod und Sterben in der Gesellschaft vor, gibt eine theoretische Interpretation dieser empirischen Erkenntnisse, stellt einige empirische Studien über Tod und Sterben in der Gesellschaft und die COVID-19-Pandemie vor und interpretiert deren Ergebnisse aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive.
In kapitalistischen Gesellschaften sind Tod und Sterben Tabuthemen und werden versteckt, unsichtbar gemacht und institutionalisiert. Die COVID-19-Pandemie hatte widersprüchliche Auswirkungen auf die Rolle des Todes in der Gesellschaft. Es ist ein menschliches, kulturelles und gesellschaftliches Allgemeinwissen, dass Menschen im Kreise ihrer Liebsten sterben wollen. Die vorgestellten empirischen Studien bestätigen die Erkenntnisse der Philosophen Kwasi Wiredu und Jürgen Habermas, dass Menschen von der Wiege bis zur Bahre grundsätzlich soziale und kommunikative Wesen sind. Der Wunsch, auf soziale Weise zu sterben, ergibt sich aus der sozialen und kommunikativen Natur des Menschen. Im Kapitalismus weicht die Realität des Sterbens vom Ideal des Sterbens ab. Der Kapitalismus verbirgt, individualisiert, macht unsichtbar und institutionalisiert Tod und Sterben.
Aufbauend auf den Arbeiten des politischen Theoretikers und Philosophen Achille Mbembe und des Philosophen und Soziologen Erich Fromm führt das Kapitel den Begriff der kapitalistischen Nekromacht ein. Es wird gezeigt, wie die COVID-19-Pandemie in vielen Fällen die soziale und kommunikative Natur der Menschen zerstörte und wie die kapitalistische Nekromacht unnötige Überschuss-Tote schuf und den Kontext der digitalen Vermittlung der Kommunikation mit sterbenden Angehörigen in der Pandemie bildete.
Kapitel 8 („Für einen Radikalen (Digitalen) Humanismus“) bildet den Abschluss des Buches. Es fasst die Gesamtargumente zusammen, plädiert für einen Radikalen Humanismus und einen Radikalen Digitalen Humanismus und macht Vorschläge, wie diese Ansätze in der Gesellschaft gefördert werden können.
1 Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.
Zusammenfassung
Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage: Was ist Humanismus? Es beschäftigt sich mit Definitionen des Humanismus. Es fasst diese Definitionen zusammen, um ein philosophisches Verständnis des Humanismus zu entwickeln. Dieses Verständnis hat epistemologische, ontologische und axiologische Dimensionen. Das Kapitel weist darauf hin, dass der Humanismus transkulturell ist. Häufige Einwände gegen den Humanismus werden anhand der Werke des Historikers Yuval Noah Harari diskutiert. Auf der Grundlage des allgemeinen Verständnisses von Humanismus wird der Ansatz des radikalen Humanismus vorgestellt. Der radikale Humanismus ist eine besondere Form des Humanismus. Seine erkenntnistheoretischen, ontologischen und axiologischen Aspekte werden vorgestellt. Das Kapitel erörtert vier beispielhafte Ansätze des radikalen Humanismus (Karl Marx, Erich Fromm, Wang Ruoshui, David Harvey).
Schlüsselbegriffe: Humanismus, Radikaler Humanismus, Sozialistischer Humanismus, Ethik, Philosophie, Moralphilosophie
Die heutige Gesellschaft sieht sich mit vielen Problemen konfrontiert, die durch digitale Technologien hervorgerufen werden. Zu diesen Problemen gehören beispielsweise die digitale Überwachung, die Macht und die Steuervermeidungsstrategien transnationaler digitaler Konzerne, die digitale Kriegsführung, der digitale Faschismus, der digitale Autoritarismus, Rassismus und Hetze im Internet, Elektroschrott und eine nicht nachhaltige digitale Wirtschaft, die Ausbeutung prekärer digitaler Arbeitskräfte, digitale Diktaturen, digitale Ungleichheiten und Klüfte, die Prekarisierung des menschlichen Lebens durch die digitale Automatisierung, Angriffe auf Qualitätsmedien und die Idee der Wahrheit und der Nachrichten selbst („Post-Truth-Gesellschaft“, „Fake News“), etc. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Unmenschlichkeit das zentrale Problem der gegenwärtigen digitalen Gesellschaften ist. Der digitale Humanismus bietet einen philosophischen Ansatz, der es uns ermöglicht, Wissen zu schaffen, das die Bewältigung der globalen Probleme der digitalen Gesellschaft unterstützt.
Der Ansatz des Digitalen Humanismus wird in Kapitel 3 vorgestellt und in den folgenden Kapiteln dieses Buches auf verschiedene Themen angewandt.
Um die Frage zu beantworten, was Digitaler Humanismus ist, müssen wir zunächst eine Antwort auf die Frage geben: Was ist Humanismus? In diesem Kapitel werden Definitionen des Humanismus erörtert (Abschnitt 2.2). Es fasst diese Definitionen zusammen, um ein philosophisches Verständnis des Humanismus zu vermitteln. Der Humanismus hat eine epistemologische, eine ontologische und eine axiologische Dimension. Das Kapitel weist darauf hin, dass der Humanismus transkulturell ist (Abschnitt 2.3). Häufige Einwände gegen den Humanismus werden anhand der Werke des Historikers Yuval Noah Harari diskutiert (Abschnitt 2.4). Ausgehend vom allgemeinen Verständnis des Humanismus wird der Ansatz des Radikalen Humanismus vorgestellt, indem die erkenntnistheoretischen, ontologischen und axiologischen Dimensionen erörtert (Abschnitt 2.5) und vier beispielhafte Ansätze vorgestellt werden (Abschnitt 2.6: Karl Marx, Erich Fromm, Wang Ruoshui, David Harvey).
Werfen wir einen Blick auf einige Definitionen und Charakterisierungen des Humanismus aus der wissenschaftlichen Literatur, die sich mit der Frage „Was ist Humanismus?“ beschäftigt hat.
Humanismus bezeichnet „Lebensansätze – und die Vertreter dieser Ansätze –, die sich durch die Wertschätzung des Menschen und der menschlichen Kultur im Gegensatz zur Wertschätzung von Göttern und Religion sowie durch die Bejahung der Wirksamkeit der menschlichen Vernunft bei der Anwendung von Beweisen im Gegensatz zu Theismus, theologischer Spekulation und Offenbarung auszeichnen“2 (Copson 2015, 2).
Der Humanismus ist ein „Gedankensystem“, das sich auf die „großen Fragen“ der Welt konzentriert und sich dabei auf Wissenschaft und Vernunft als „unschätzbare Werkzeuge, die wir in allen Bereichen des Lebens anwenden können und sollten“3, stützt (Law 2011, 6, 1).
Der Humanismus ist eine Weltanschauung, die betont, dass „die Dinge, die wir im menschlichen Leben schätzen, keine Illusion sind; dass wir als Menschen aus unseren eigenen Ressourcen die gemeinsamen moralischen Werte finden können, die wir brauchen, um zusammenzuleben, und die Mittel, um ein sinnvolles und erfülltes Leben für uns selbst zu schaffen; und dass die Ablehnung des religiösen Glaubens kein Grund zur Verzweiflung sein muss“4 (Norman 2004, 24-25).
Der Humanismus ist „eine Philosophie oder eine Reihe von Überzeugungen, die davon ausgehen, dass der Mensch ein System der Moral durch seine eigenen Überlegungen und nicht durch den Glauben an ein göttliches Wesen erreicht“5 (Andrews 2010, 91).
„Vom vierzehnten Jahrhundert bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts bedeutete Humanismus im Wesentlichen: (1) ein Bildungsprogramm, das sich auf die klassischen Autoren stützte und sich auf das Studium der Grammatik, der Rhetorik, der Geschichte, der Poesie und der Moralphilosophie konzentrierte; (2) ein Bekenntnis zur Perspektive, zu den Interessen und zur Zentralität der menschlichen Person; (3) ein Glaube an die Vernunft und die Autonomie als grundlegende Aspekte der menschlichen Existenz; (4) ein Glaube, dass die Vernunft, der Skeptizismus und die wissenschaftliche Methode die einzigen angemessenen Instrumente für die Entdeckung der Wahrheit und die Strukturierung der menschlichen Gemeinschaft sind; (5) ein Glaube, dass die Grundlagen für Ethik und Gesellschaft in der Autonomie und der moralischen Gleichheit zu finden sind. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird der Humanismus zusätzlich zu den oben genannten Aspekten durch die Art und Weise definiert, in der bestimmte Aspekte der humanistischen Kernüberzeugungen wie die Einzigartigkeit des Menschen, die wissenschaftliche Methode, die Vernunft und die Autonomie in philosophischen Systemen wie dem Existentialismus, dem Marxismus und dem Pragmatismus verwendet wurden“6 (Luik 1998).
„Humanismus ist eine demokratische und ethische Lebenshaltung, die betont, dass der Mensch das Recht und die Verantwortung hat, seinem eigenen Leben Sinn und Gestalt zu geben. Er steht für den Aufbau einer humaneren Gesellschaft durch eine Ethik, die auf menschlichen und anderen natürlichen Werten im Geiste der Vernunft und der freien Forschung durch menschliche Fähigkeiten beruht. Er ist nicht theistisch und akzeptiert keine übernatürlichen Sichtweisen der Realität“7 (Humanists International 2020).
„Der Begriff ‚Humanismus‘ fand Eingang in das philosophische Vokabular durch die studia humanitatis, die mit der Ausrichtung der Renaissance-Bildung auf die klassische Kultur im Gegensatz zur christlichen Schrift verbunden war. Im späten 19. Jahrhundert etablierte er sich als Oberbegriff für alle Denkrichtungen, die die zentrale Stellung des Menschen oder der menschlichen Gattung in der Ordnung der Natur betonen. Heutzutage ist der Humanismus in der englischsprachigen Welt mehr oder weniger ein Synonym für Atheismus oder säkularen Rationalismus“8 (Soper 2005, 167).
Der Humanismus „stellt den Menschen, im Gegensatz zu Gott, in den Mittelpunkt des Universums. Obwohl die Konzentration auf die menschliche Natur und das menschliche Leben letztlich auf das antike griechische Denken zurückgeht, hat der Humanismus im modernen Sinne mit seinem anthropozentrischen Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der ungehinderten menschlichen Vernunft und seiner säkularen Überzeugung, dass das menschliche Schicksal ganz in den Händen des Menschen liegt, seine Wurzeln in der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts“9 (Kraye 2006, 477).
Der Humanismus ist ein philosophischer Ansatz, der die aktiven und transformativen Fähigkeiten des Menschen in der Gesellschaft und der sozialen Welt hervorhebt. Als Philosophie hat er erkenntnistheoretische, ontologische und axiologische (ethische, moralische) Dimensionen. Erkenntnistheorie bedeutet, dass man zu verstehen versucht, wie Menschen die Welt verstehen und Wissen über sie schaffen. Es geht um das Verstehen des Verstehens. Ontologie ist die Lehre davon, wie die Welt aussieht. Es geht darum, die Welt und das Sein zu verstehen. Axiologie (Ethik) ist die Moralphilosophie, die sich mit den moralischen Grundlagen der Gesellschaft, moralischen Prinzipien und moralischen Praktiken befasst. In der Ethik geht es darum zu verstehen, was gut und was schlecht ist. Wenn wir die oben genannten Charakterisierungen des Humanismus zusammenfassen, können wir die folgenden grundlegenden Definitionen für diese drei Dimensionen des Humanismus als Philosophie geben:
Die Epistemologie des Humanismus
Der Mensch ist in der Lage, seine Vernunft einzusetzen, um Wissen über die Welt zu erlangen, wozu auch die Nutzung und Entwicklung der Wissenschaft gehört. Humanist:innen fragen kritisch nach dem Zustand der Welt. Kritisches Denken ist Teil des humanistischen Ansatzes.
Die Ontologie des Humanismus
Das menschliche Verhalten und die Gesellschaft werden nicht von Gott, Religion, Ideologie oder anderen Autoritäten bestimmt. Die Menschen konstituieren durch ihre Handlungen, sozialen Beziehungen und sozialen Verbindungen die Gesellschaft.
Die Axiologie des Humanismus
Der Mensch hat die Fähigkeit und die moralische Verantwortung, eine gute, humane Gesellschaft zu erschaffen. Humanist:innen sind überzeugt, dass es möglich ist, dass Menschen handeln, um die Gesellschaft und die Lebensbedingungen der Menschheit zu verbessern.
Einer der Kritikpunkte am Humanismus ist, dass er eine liberale, eurozentrische Ideologie sei. Die Gefahr solcher Ansichten besteht darin, dass sie uns erlauben, die positiven und wichtigen Aspekte des Humanismus, wie das Engagement für Demokratie, das gute Leben und die Menschenrechte für alle, leicht als Eurozentrismus abzutun, der zur Rechtfertigung von Autoritarismus und Diktaturen benutzt werden kann. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich der Humanismus in vielen Teilen der Welt entwickelt hat. Die Behauptung, der Humanismus sei eurozentrisch, ist falsch.
Im afrikanischen Denken hat der Humanismus eine wichtige Rolle gespielt. „Lange bevor sich die Europäer vor etwas mehr als drei Jahrhunderten in Südafrika niederließen, hatten die einheimischen afrikanischen Völker bereits weit entwickelte philosophische Ansichten über den Wert des Menschen und über wünschenswerte Gemeinschaftsbeziehungen. Der Geist des Humanismus – in der Zulu-Sprache ubuntu (Menschlichkeit) und in der Sotho-Sprache botho genannt – prägte das Denken und das tägliche Leben unserer Völker. Humanismus und kommunale Traditionen förderten gemeinsam harmonische soziale Beziehungen“10 (Manogsuthu G Buthelezi, zitiert in: More 2004, 156).
„Botho, hunhu, ubuntu ist das zentrale Konzept der gesellschaftlichen und politischen Organisation in der afrikanischen Philosophie, insbesondere bei den Bantusprachigen Völkern. Es besteht aus den Prinzipien des Teilens und der gegenseitigen Fürsorge. […] Mit dieser Begründung schlagen wir vor, dass es richtiger ist, von afrikanischer Menschlichkeit zu sprechen als von afrikanischem Humanismus. […] Zwei Thesen, die in fast allen einheimischen afrikanischen Sprachen zu finden sind, sollen hier diskutiert werden. Die erste lautet: Motho ke motho ka batho und die zweite: Feta kgomo o tshware motho. […] Der erste Aphorismus besagt, dass Menschsein bedeutet, die eigene Menschlichkeit zu bekräftigen, indem man die Menschlichkeit der anderen anerkennt und auf dieser Grundlage humane, respektvolle Beziehungen zu ihnen aufbaut. Dementsprechend ist es ubuntu, das die Kernbedeutung des Aphorismus ausmacht: Motho ke motho ka batho. […] Der zweite Aphorismus (Feta kgomo o tshware motho) bedeutet, dass man sich, wenn man vor der entscheidenden Wahl zwischen Reichtum und der Erhaltung des Lebens eines anderen Menschen steht, für die Erhaltung des Lebens entscheiden sollte“11 (Ramose 2003, 643-644).
Es gibt auch lateinamerikanische Versionen des Humanismus. Zu den frühen lateinamerikanischen humanistischen Denker:innen gehörten Juan de Zumárraga (1468-1548) und Sor Juana Inés de la Cruz (1651-1695) (Gracia und Vargas 2018). de la Cruz forderte die religiöse Vorherrschaft der Frauen heraus (siehe Nuccetelli 2020, 29-35). Denker wie François-Dominique Toussaint Louverture (1743-1893) und José Martí (1854-1895) traten für Antikolonialismus und antikoloniale Befreiungskämpfe ein und ließen sich vom Rationalismus, den Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution leiten (Gracia und Vargas 2018; James 1963; Nuccetelli 2020, Kapitel 6). José Carlos Mariátegui (1895-1930) war ein peruanischer Marxist und sozialistischer Humanist. Er betonte die Bedeutung des Klassenkampfes und dass die „Ethik des Sozialismus im Klassenkampf entsteht“12 (Mariátegui 1930; siehe auch die in Mariátegui 2011 zusammengestellten Aufsätze).
Der Humanismus hat auch in der asiatischen Philosophie eine wichtige Rolle gespielt. In Indien haben die antike Philosophie der Cārvāka und die Vedas Materialismus und Atheismus sowie die Grundlagen des Humanismus gefördert (Chatterjee und Datta 2007, Kapitel II; Fowler J 2015; Rao 2017). In China entwickelte sich das humanistische Denken als Teil von Philosophien wie Konfuzianismus, Mohismus, Taoismus, Legalismus und Zen-Buddhismus (Fowler M 2015; Guying 2018, Kapitel 6; Meinert 2010; Tu 2003). Hier einige Beispiele für den chinesischen Humanismus. „Konfuzius war ein ‚moralischer Humanist‘, weil er seine Ideen auf Moralpsychologie, Handlungstheorie und Tugendethik gründete“13 (Fung 2009, 270). „Die frühen konfuzianischen Denker arbeiteten auf eine humanistische Regierung hin, die die Bedürfnisse des Volkes als erste Priorität ansah“14 (Lai 2008, 47). „Gelegentlich wählt Mozi einen eher humanistischen Ansatz und appelliert an die Sorge des Himmels für die gesamte Menschheit. In dieser Argumentation ändert sich das Profil des Himmels entsprechend, von einer transzendentalen moralischen Autorität zu einem liebenden Akteur, der sich um das persönliche Wohlergehen eines jeden Menschen kümmert“15 (Lai 2008, 65). Der konfuzianische Philosoph Mencius betonte, dass „der Mensch von Natur aus gut ist“16 (Lai 2008, 36).
Der Zen-Buddhismus wurde als eine humanistische Philosophie interpretiert, die darauf abzielt, die Befreiung von Gefangenschaft und Erleuchtung (Satori) zu fördern (Suzuki, Fromm und De Martino 1971):