Das Netzwerk der Neuen Rechten - Christian Fuchs - E-Book

Das Netzwerk der Neuen Rechten E-Book

Christian Fuchs

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Beschreibung

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist ein neues und einflussreiches rechtes Netzwerk aus Stiftungen, Vereinen, Medien und Kampagnen-Plattformen in Deutschland herangewachsen. Seit Jahren spüren Christian Fuchs und Paul Middelhoff ihm nach: seinen öffentlichen Seiten und denen, die im Dunkeln liegen. Dieser Report enthüllt zum ersten Mal das ganze Ausmaß und die ganze Breite des Milieus - seine ideologischen Grundlagen, seine führenden Köpfe, seine wichtigen Zeitschriften, Verlage, Internet-Plattformen, Aktionsformen, Stiftungen, Finanziers, Kontakte zur AfD, internationalen Verbindungen und Anschlüsse an die gesellschaftliche Mitte. Die Erkenntnisse sind alarmierend.

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Christian Fuchs • Paul Middelhoff

Das Netzwerk der Neuen Rechten

Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist ein neues und einflussreiches rechtes Netzwerk aus Stiftungen, Vereinen, Medien und Kampagnen-Plattformen in Deutschland herangewachsen. Seit Jahren spüren Christian Fuchs und Paul Middelhoff ihm nach: seinen öffentlichen Seiten und denen, die im Dunkeln liegen. Dieser Report enthüllt zum ersten Mal das ganze Ausmaß und die ganze Breite des Milieus – seine ideologischen Grundlagen, seine führenden Köpfe, seine wichtigen Zeitschriften, Verlage, Internet-Plattformen, Aktionsformen, Stiftungen, Finanziers, Kontakte zur AfD, internationalen Verbindungen und Anschlüsse an die gesellschaftliche Mitte. Die Erkenntnisse sind alarmierend.

 

Über Christian Fuchs • Paul Middelhoff

Christian Fuchs arbeitet für das Investigativ-Ressort der ZEIT. Zuvor hat er dem Rechercheverbund von NDR und Süddeutscher Zeitung angehört. Seit über einem Jahrzehnt beschäftigt er sich intensiv mit Rechtsextremismus. Er ist Gewinner des Reporterpreises, des RIAS-Preises sowie des Leuchtturms für besondere publizistische Leistungen und zählte bereits mehrfach zu den «Journalisten des Jahres». Bei Rowohlt erschienen von ihm gemeinsam mit John Goetz «Die Zelle» und der Bestseller «Geheimer Krieg».

 

Paul Middelhoff ist Investigativ-Reporter im Politik-Ressort der ZEIT. Nach der Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule berichtete er für ZEIT ONLINE aus Washington, D.C. Seit zwei Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der AfD und den Neuen Rechten. Das Medium Magazin wählte ihn zu den «30 unter 30»-Journalisten in Deutschland.

Prolog

Die Brunnenstraße in Berlin-Mitte an einem Dienstagmorgen im Sommer 2017: Frauen mit Kopftuch schieben Kinderwagen über den Gehweg, ein älterer Herr mit Schnurrbart betritt den Supermarkt «Qadir Food» auf der Straßenseite gegenüber. Dort gibt es den Fünf-Kilo-Sack Reis für 7,50 Euro und die Dose Kichererbsen für einen Euro. Der «Technogrill» ein paar Meter weiter macht nie zu, verkauft auch morgens um halb fünf noch Pide, Teigschiffchen mit Schafskäse und Lahmacun, türkische Pizzen mit Salat. So sieht es eigentlich fast überall aus im Nordwesten der Hauptstadt.

Vor anderthalb Jahren aber, am 17. Juni 2017, war hier nichts wie sonst.

Hunderte Polizisten in dicken Schutzanzügen haben sich entlang der Brunnenstraße aufgestellt, rund um den nahe gelegenen S-Bahnhof stehen hüfthohe Stahlgitter. Zwischen den Absperrungen warten knapp achthundert Demonstranten, die meisten von ihnen junge Männer, viele mit gegeltem Scheitel und ausrasiertem Nacken, manche tragen Sonnenbrille. Sie halten gelbe Fahnen in den Sommerhimmel, darauf das griechische Lambda-Zeichen in Schwarz, und brüllen, immer wieder: «Heimat, Freiheit, Tradition, Multikulti Endstation.» Dann laufen sie los, zwischen sechsstöckigen Wohnhäusern hindurch, am «Qadir Food» vorbei in Richtung Innenstadt.

An der Spitze des Zuges, auf der Ladefläche eines Lkw, steht Martin Sellner mit einem Mikro in der Hand. «Wir haben es all denen gezeigt, die geglaubt haben, dass das rote Berlin keinen Platz für Identitäre hat. Im Gegenteil: Genau hier gehören wir hin.» Ein paar Leute klatschen. Sellner ruft «Wir sind das Volk!», und die Demonstranten stimmen mit ein. Ihre Sprechchöre dringen die Brunnenstraße hinunter. «Wir sind das Volk!»

Die Identitäre Bewegung hat zur Demonstration aufgerufen. Es sind die Monate vor der Bundestagswahl. Deutschland diskutiert über den Familiennachzug syrischer Flüchtlinge, das Für und Wider des Baukindergeldes und den schwächelnden SPD-Kandidaten Martin Schulz. Sellner, der Kopf der Identitären im deutschsprachigen Raum, steht in dieser Zeit hier, mitten in Berlin, zwischen arabischen Konditoreien und türkischen Gemüseläden, und beschwört die Revolution von rechts.

Noch bevor die Demo begonnen hat, ist am Morgen auf der Internetseite des Berliner Tagesspiegels eine kurze Meldung online gegangen. Sie trägt die Überschrift: «Maas verurteilt Demonstration der Identitären Bewegung.» Der damalige SPD-Justizminister Heiko Maas lässt sich mit den Worten zitieren, Sellner und seine Kameraden seien «keine Bewegung», sondern «eine extrem radikale und rassistische Minderheit».

Tatsächlich haben die Identitären ihre Route durch Berlin ganz bewusst ausgewählt: mitten durch einen Stadtteil, in dem viele Menschen wohnen, deren Eltern und Großeltern nicht aus Deutschland stammen oder die selbst erst seit kurzem hier leben. Noch am Abend der Demo veröffentlichen die Aktivisten auf ihrer Facebook-Seite eine Meldung: «Die Identitäre Bewegung demonstrierte heute in Berlin-Wedding, einem Stadtteil, in dem der Anteil von Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund nahezu 84,5 Prozent beträgt. Hier manifestiert sich der Große Austausch, der von den Etablierten geleugnet, aber immer sichtbarer wird.» Zwar ist die Prozentzahl falsch (sie liegt bei 50 Prozent), auch findet die Demonstration gar nicht im Wedding, sondern im Ortsteil Gesundbrunnen statt. Den Identitären aber ist das scheinbar egal, sie inszenieren sich als Pioniere eines Kulturkampfs: gegen den Islam, gegen Zuwanderer und gegen ein Europa der offenen Grenzen.

Zur Demo am 17. Juni ist die Führung der selbsternannten Identitären Bewegung nach Berlin gereist. Neben Sellner, der seine Jugend im Kreis österreichischer Neonazis verbracht hat, ist auch Mario Müller dabei. Er hält den Zipfel eines Transparents, auf dem in großen Buchstaben «Zukunft für Europa» steht, die grünblau tätowierten Arme stecken in einem grauen T-Shirt. Wie Sellner ist auch Müller früher mit Neonazis um die Häuser gezogen, jungen Männern aus dem Umfeld der NPD. Er ist wegen Körperverletzung verurteilt, mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn liefen damals noch. Heute ist Müller der Kopf der Aktivisten in Halle an der Saale, dort hat die Gruppe ihr Hauptquartier.

Neben Müller läuft Daniel Fiß, früher war er Mitglied der NPD, heute beantwortet er die Presseanfragen der Identitären, ein unscheinbarer Kerl mit kurzen Haaren und blassem Gesicht. Melanie Schmitz ist da, Müllers Freundin, die auf YouTube Chansons veröffentlicht, in denen sie das Staatsversagen beim Terroranschlag vom Berliner Breitscheidplatz besingt, und die als rechte Influencerin Kampagnen gegen sexuelle Übergriffe durch Muslime startet. Alex «Malenki» Kleine und Philipp Thaler, die in ihrem gemeinsamen Video-Blog das vermeintliche Meinungsdiktat des politischen Establishments beklagen. Sie alle marschieren an diesem Tag gemeinsam durch die Brunnenstraße und brüllen den Anwohnern am «Technogrill» ihre Parolen entgegen.

Aber es sind nicht nur Identitäre, die da im Demozug mitlaufen. Auch Mitarbeiter von AfD-Politikern sind dabei. Auf dem Wagen, von dem aus Sellner die Menge anstachelt, steht hinter zwei großen Lautsprechern auch Lutz Bachmann am Laptop und legt Rap-Musik auf. Bachmann hatte über Jahre die Auftritte der Pegida-Bewegung in Dresden organisiert, auf seine Einladung waren damals mitunter mehr als 20000 Menschen in die Altstadt geströmt, um gegen die «Islamisierung des Abendlandes» zu demonstrieren. Nun gibt Bachmann auf der Identitären-Demo in Berlin den DJ, spielt Songs des rechten Rappers Komplott. Die Szene ist eng vernetzt.

Auch mehrere Beamte des Berliner Verfassungsschutzes sind im Juni 2017 vor Ort, als Zivilisten getarnt. Sie observieren, halten fest, wer angereist ist. Seit drei Jahren beobachtet der Nachrichtendienst die Identitäre Bewegung zu diesem Zeitpunkt schon. Müller, Sellner, Fiß und die anderen gelten als mögliche Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik. Die Identitären sind nicht nur hochmotivierte Polit-Aktivisten. Sondern Rechtsextreme unter Beobachtung des Geheimdienstes.

Ihre Demo aber kommt nicht weit. Mehr als tausend Gegendemonstranten schneiden ihr schon nach wenigen hundert Metern den Weg ab, mit Sitzblockaden an allen umliegenden Kreuzungen. Die Polizei lässt die Identitären nicht weiterziehen, man befürchte gewalttätige Zusammenstöße, heißt es. Am Straßenrand, hinter gepanzerten Einsatzkräften, versammeln sich nun die Leute aus dem Viertel, Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm, junge Männer mit getrimmten Bärten. Aus den Fenstern hängen Anwohner Türkei-Flaggen, Frauen schlagen mit Holzlöffeln auf Kochtöpfe, um den Lärm der Identitären zu übertönen. Irgendwann tritt ein junger, arabischstämmiger Mann vor, zieht seinen deutschen Personalausweis aus der Tasche, hält ihn den eingekesselten Identitären entgegen. «Und, was wollt ihr jetzt machen?», ruft er. Die Anwohner am Straßenrand johlen. Von Sellner und den anderen kommt keine Antwort. Wenig später löst sich die Demonstration auf.

Eigentlich wollten die Identitären bis zum Hauptbahnhof ziehen. Ihr Plan war, dass die Medien Bilder verbreiten, wie sie ein paar Meter vom Reichstag entfernt auftreten, ihre Agenda bis ins Herz der Hauptstadt tragen. Die Botschaft sollte sein: Die Identitären erobern Berlin. Doch daraus wird nichts. Die Berliner sind im Weg.

Gut drei Monate später gelingt einer anderen Gruppe, wozu die Identitären nicht in der Lage waren. Ende September zieht die Alternative für Deutschland (AfD) mit 12,6 Prozent in den Bundestag ein. 93 Abgeordnete aus ganz Deutschland richten kurz darauf ihre Büros in den Räumlichkeiten des Parlaments ein, mitten in Berlin. Sie bringen Referenten mit, wissenschaftliche Mitarbeiter und Berater. Und politische Ideen, denen auch Sellner, Müller und Fiß anhängen. Die AfD sitzt heute im Zentrum der Macht. Und sie ist eng verbunden mit einem politischen Milieu, das es so in Deutschland noch nie gab: der Neuen Rechten.

1. In Bewegung

«Das Milieu besteht aus Partei, Milieu-Medien, vorpolitischen Initiativen und aktivistischen Initiativen. Das ist wie bei einer fröhlichen Regatta, die Kriegsschiffe fahren nebeneinander her und man winkt sich von der Brücke aus zu.»

Götz Kubitschek, 2017

Etwas Neues entsteht

Alles begann am 30. August 2010. Damals veröffentlichte der SPD-Politiker und Ex-Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin sein Buch «Deutschland schafft sich ab». Es wurde das meistverkaufte Sachbuch des Jahrzehnts in der Bundesrepublik. Darin behauptet Sarrazin, dass Deutschland seine Zukunft durch ungesteuerte Migration aufs Spiel setzen würde. Muslimische Einwanderer nähmen stärker als andere den Sozialstaat in Anspruch, sie seien krimineller und fordernder, und keine andere Religion sei so anfällig für Diktatur und Terrorismus wie der Islam. Wissenschaftler und Politiker werfen Sarrazin Rassismus und Islamfeindlichkeit vor und beschuldigen ihn, Statistiken manipuliert und absichtlich falsch interpretiert zu haben. Am riesigen Erfolg des Buches änderte das nichts. In vielen Haushalten in Deutschland steht der rote Band heute in den Bücherregalen, 1,5-millionenfach. Sarrazin hatte angesprochen, was in Teilen der deutschen Gesellschaft wohl schon länger Konsens war. Frust über Einwanderer und Flüchtlinge hatte sich angestaut. Es brauchte nur jemanden, der diese Themen offen ansprach, um die Büchse der Pandora zu öffnen. Thilo Sarrazin vereinfachte, spitzte zu und benannte die angeblich Schuldigen: den Islam und die Ausländer, die sich nicht integrieren wollen. Götz Kubitschek, der Stratege der Neuen Rechten, sagte später über Sarrazin, er habe «unsere Themen nach oben gezogen».

Bundesweit versammelten sich nun Menschen zu «Montagsmahnwachen». Und im Oktober 2014 brachte die bisher stille Angst vor einer «Islamisierung» erst nur einige hundert, nach zehn Wochen aber bereits 25000 Menschen auf die Straßen von Dresden. Die «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) machten den Protest zu einer Marke. In die Kritik an der Flüchtlingspolitik der Regierung mischten sich mit der Zeit immer mehr Pfiffe und «Merkel muss weg»-Rufe. Den Demonstranten ging es bald nicht mehr nur um das Thema Einwanderung, ihre Wut richtete sich jetzt auch gegen die Eliten in Wirtschaft, Politik und Medien. Diese Proteste und der nun öffentlich vorgetragene Vertrauensverlust in die demokratische Gesellschaft war der Moment, auf den die Strategen der Neuen Rechten bereits seit Beginn der zweitausender Jahre gewartet hatten. Endlich sprach das Land über seine Anliegen, sogar Familien aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft stritten jetzt über den Islam und die Zuwanderung aus Nahost. Die vergangenen fünfzig Jahre war die Republik stark von linken Idealen geprägt worden, von der Idee offener Grenzen, der Umweltbewegung, Emanzipation, antiautoritärer Erziehung und Feminismus. Es war ein Gesellschaftsbild, das aus dem Geist der 68er-Bewegung erwuchs. Schlug das Pendel jetzt zurück, waren die Proteste gegen die «linksgrünversifften Eliten» der Anfang eines politischen Rollbacks? Die Publizisten, Intellektuellen und Aktivisten der Neuen Rechten nahmen sich der Wut an, die Sarrazin und Pegida losgetreten hatten, und setzten sich an die Spitze der neuen «Bewegung». Heute beraten die Protagonisten der Szene die Führung der AfD, bilden den Nachwuchs der Identitären aus, helfen im Hintergrund, Demonstrationen zu organisieren, oder sitzen selbst als Abgeordnete in den Parlamenten.

Vor fünf Jahren hat die Neue Rechte ihr Thema gefunden: die Einwanderung von Muslimen. Die Rechten zeichnen sie in Zeitschriften und Blogs wahlweise als Bedrohung für die europäische Kultur oder als feindliche «Invasoren.» Diese dystopische Erzählung trifft auf Menschen mit zügelloser Wut, die sich kulturell abgehängt fühlen und Probleme haben, das Tempo der Moderne mitzuhalten. Darum versuchen Vordenker wie Kubitschek, AfD-Politiker wie Alexander Gauland und Publizisten wie Jürgen Elsässer, ihre Ideologie mit diesem emotionalen Thema zu verknüpfen. Kubitschek und seine rechten Mitstreiter arbeiten daran, dass sich das Land polarisiert. Sie wollen, dass sich Bürger der gesellschaftlichen Mitte entsolidarisieren. Die Benachteiligten werden gegeneinander ausgespielt, Hartz-IV-Empfänger gegen Geflüchtete. Die extremen Vertreter der Strömung wollen die aufgeheizte Stimmung in der Gesellschaft nutzen, um Unterstützer für den lange vorbereiteten «Sturz des Systems» hinter sich zu versammeln. Sie zielen auf die Verunsicherung und Zerbrechlichkeit der Gesellschaft, die sich seit Jahren abzeichnet. Aus dem Chaos soll die Revolte hervorgehen. Führende AfD-Politiker rufen die Beamten der Bundespolizei öffentlich dazu auf, an der deutschen Grenze Befehle zu verweigern. Andere sprechen offen davon, «das Regime loszuwerden». So wie Götz Kubitschek, der sich schon länger in einem «geistigen Bürgerkrieg» wähnt. Er wolle nicht am Diskurs teilnehmen, schrieb er einmal, «sondern die Beendigung der Party». Als ersten Schritt dahin brauche es einen «Riss», der durch die Gesellschaft geht, sagte Kubitschek ganz offen bei einer Veranstaltung 2018 in Dresden. «Ich bin strikt dafür, dass der Riss noch tiefer wird, dass die Sprache noch deutlicher wird.»

Diese Entwicklung beobachten wir schon seit längerem. Wir, das sind Christian Fuchs und Paul Middelhoff. Wir haben beide die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg besucht, heute arbeiten wir als Reporter bei der Wochenzeitung Die Zeit. Wir schauen dorthin, wo Extremisten die Demokratie gefährden und Unternehmen Skandale vertuschen wollen. Auf unseren Recherchen begegnen uns Islamisten, militante Tierrechtler, Steuerhinterzieher und christliche Fundamentalisten. Wir haben uns in den vergangenen Jahren mit großen Konzernen angelegt und Lobbyisten auf die Finger geschaut, die Auswirkungen der industriellen Massentierhaltung recherchiert und die deutsche Beteiligung am Drohnenkrieg der US-Regierung öffentlich gemacht. George Orwell soll einmal gesagt haben: «Journalismus ist, zu veröffentlichen, was andere nicht gedruckt sehen wollen: alles andere ist Öffentlichkeitsarbeit.» So sehen wir es auch.

Seit 2015 aber gibt es für uns ein zentrales Thema: den Aufstieg der Neuen Rechten, ihre Ideologien und Finanziers, ihre Kontakte in deutschen Parlamenten und ihre Verbindungen ins Ausland. Denn diese Szene ist kein kurzfristiges Phänomen. Zu erfolgreich ist die AfD bei Wahlen, zu gut vernetzt sind die Protagonisten des Milieus, als dass die Gefahr, die vom rechten Rand der Gesellschaft ausgeht, in den nächsten Jahren wieder verschwinden könnte. Seit drei Jahren nun wühlen wir uns durch interne Dokumente, werten WhatsApp-Chats aus und lesen interne Mails. Wir sprechen mit Köpfen der Neuen Rechten, besuchen ihre Demonstrationen und Reden, sitzen bei Parteitagen auf der Pressetribüne. Wir sind mit einem AfD-Politiker auf seiner Reise nach Serbien unterwegs, besuchen eine dubiose Werbeagentur in der Schweiz und begleiten Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon auf seiner Tour durch Europa. Nach jeder Reise und jedem Gespräch tragen wir unsere Erkenntnisse in ein gemeinsames Recherche-Dokument ein. Gründet sich ein neuer Verein, Thinktank oder Verlag, nimmt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen Aktivsten der Identitären auf, lädt die AfD-Fraktion im Bundestag Rechtsradikale zum Vortragsabend ein, schreiben wir das in unsere Akte Neue Rechte. Auf diese Weise ist eine Art Protokoll des Aufstiegs der «Bewegung» entstanden. Es enthält die gesammelten Erkenntnisse unserer Arbeit der vergangenen drei Jahre und gibt den Blick frei auf ein engmaschiges Netz am rechten Rand der Gesellschaft. Es ist eine Gegenkultur entstanden, in der militante Neonazis mit Bundestagsabgeordneten der AfD verbunden sind, und sie weitet sich rasant aus. In diesem Buch wollen wir teilen, was wir über die «patriotische Parallelgesellschaft» erfahren haben.

Jenseits von Springerstiefel und Bomberjacke

Oft werden wir gefragt, was denn eigentlich der Unterschied sei zwischen den alten Neonazis der achtziger und neunziger Jahre und den sogenannten Neuen Rechten? Die Antwort fällt oft länger aus als erhofft.

Wer von Neonazis spricht, meint die Kameradschaftsszene, die Freien Netze, Wehrsportlager und Parteien wie die NPD. Sie entstammen einer Subkultur, deren älteste Mitglieder den Nationalsozialismus noch selbst miterlebt haben. Unter ihnen sind Holocaust-Leugner, Antisemiten und militante Terroristen wie die Mitglieder des selbsternannten «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU). Sie bewundern Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Rudolf Heß. In den Sturmtruppen der SA sehen sie Helden der deutschen Geschichte, Uniformen und Waffen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verehren sie wie kultische Reliquien. Das Dritte Reich ist für sie Sehnsuchtsort und historischer Fixpunkt. Der deutschen Mehrheitsgesellschaft galt die Szene deshalb jahrzehntelang als extremistisch, ewig gestrig und überholt.

Die Neue Rechte tritt anders auf. Die Strömung lehnt Hitler und seine Verbrechen ab, leugnet weder die Shoah noch die Konzentrationslager und gibt sich als Vertretung der «christlich-jüdischen abendländischen Tradition». Die Neurechten betonen die stolze, über tausendjährige Traditionslinie der Deutschen und wollen die deutsche Geschichte nicht auf die «schrecklichen zwölf Jahre» des Nationalsozialismus – einen «Vogelschiss der Geschichte», wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland sie in einer Rede nannte – reduziert wissen. Sie empfinden die Leistungen Martin Luthers, Johannes Gutenbergs und Johann Wolfgang von Goethes durch die Erwähnung der Nazi-Zeit geschmälert. Die Deutschen müssten endlich wieder stolz sein dürfen auf ihr Land und seine Geschichte. Die Bundesrepublik müsse endlich, drei Generationen nach den Verbrechen in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Buchenwald und Dachau, ihren «Schuldkult» überwinden, lautet eine gängige Forderung der Neuen Rechten. Deren Vertreter glauben, dass die Deutschen sich weltpolitisch unterjochen lassen würden, weil sie ihr Selbstbewusstsein, ihre Würde und ihre Souveränität gegenüber anderen Staaten geopfert hätten.

Die Uniform der jungen Avantgarde der Neuen Rechten besteht nicht mehr aus Bomberjacke, Springerstiefeln und Hakenkreuz-Symbolik. Sie tragen Stoffturnschuhe, Vollbart, Jutebeutel über der Schulter und einen veganen Burger in der Hand. Schon vor Jahren schrieb das US-Magazin Rolling Stone darum über den neuen deutschen Nazi-Hipster, den Nipster. Die Intellektuellen, die Politiker und Vordenker der Szene inszenieren sich hingegen als konservative Bewahrer der guten alten Zeit und halten deutsche Traditionen und Tugenden wie Fleiß, Recht und Ordnung hoch. Gern glorifizieren sie ihr Leben auf dem Land, verbringen ihre Freizeit im mythischen deutschen Wald. Das Hipster- und das Bewahrer-Image sollen davon ablenken, dass auch Mitglieder der Identitären Bewegung, der AfD oder aus neurechten Denkfabriken früher in völkischen Ausbildungs-Camps geschult wurden, dass sie Menschen verprügelt und gegen Minderheiten gehetzt haben. Viele Vertreter der Neo-Rechten haben ihre Wurzeln in alten Neonazi-Strukturen: Sie waren bei der NPD oder deren Nachwuchsorganisation, den Jungen Nationalisten, aktiv, gehörten den mittlerweile verbotenen Vereinen «Heimattreue Deutsche Jugend» oder «Wiking-Jugend» an, waren Mitglieder bei den Republikanern, der Freiheit, Pro Deutschland oder dem III. Weg. Einige von ihnen entstammen auch der gewaltbereiten Kameradschaftsszene. Die Vertreter der neuen Strömung wollen jedoch nichts mehr gemein haben mit dem Ausländer jagenden Skinhead mit Baseballschläger und Molotow-Cocktail aus den neunziger Jahren. Doch diese Selbstdarstellung als gewaltlose Szene trügt.

Das alte Neonazi-Milieu wandte sich ausnahmslos gegen alle Ausländer in Deutschland, besonders verhasst waren ihnen Menschen mit Wurzeln in der Türkei oder vom Balkan. Die Todesopfer der ersten rassistischen Anschläge nach der Wiedervereinigung in Mölln und Solingen waren türkische Einwanderer der ersten und zweiten Generation. Sie waren auch das Hauptziel der gefährlichsten Terrorgruppe nach der Wende, des «Nationalsozialistischen Untergrunds», der in 13 Jahren im Untergrund zehn Menschen tötete. Die Morde waren das Ergebnis der Überzeugung, dass die Menschen ausdrücklich ungleich sind. Diese Ansicht ist auch tief in der DNA des neurechten Denkens verwurzelt. Ungleichheit der Menschen wird als natürlich gegeben unterstellt und gilt als unveränderbar. Diese Überzeugung führt zur Abwertung des Fremden. Die Neuen Rechten richten ihren Hass jedoch nicht nur auf türkischstämmige Deutsche, sondern auf Muslime im Allgemeinen – und kaschieren diese Ablehnung mit dem Euphemismus «Islamkritik». Der biologische Rassismus der alten Neonazis hat sich weiterentwickelt zu einem kulturellen Nativismus, wie es die Extremismusforscherin Julia Ebner formuliert. Die Alten Rechten diskriminieren Menschen aufgrund einer vermeintlichen Rassenzugehörigkeit und sprechen ihnen das Recht ab, in Deutschland leben zu dürfen. Die Neuen Rechten sehen sich indes nicht als Fremdenfeinde, sondern inszenieren sich als Kämpfer für die in Deutschland geborene nationale Mehrheit.

Das Konzept dahinter nennen sie «Ethnopluralismus». Jedes Volk habe einen bestimmbaren Wesenskern und einen historisch zugewiesenen Raum. Staaten und Gesellschaften sollten darum «kulturell rein» sein, jede Ethnie in ihrem eigenen Staat leben. In Deutschland sei aus diesem Grund «kein authentischer Islam» möglich. Die Idee des «Ethnopluralismus» ist der Gegenentwurf zu einer multikulturellen Gesellschaft. Letztere bedroht in der Vorstellung der Neuen Rechten Identität, Tradition und Kultur. Es ist der alte rechte Inhalt im neuen Sound. Der stigmatisierte Begriff «Rasse» wird durch «Identität» ausgetauscht. Trotzdem ist das Konzept rassistisch und fremdenfeindlich, auch wenn die Ausgrenzung nicht mehr biologisch begründet wird. «Ethnopluralismus», zu Ende gedacht, läuft auf dieselbe alte Parole hinaus: «Ausländer raus!»

Neben dem neuen Antiislamismus ist auch der Antisemitismus in Teilen des neurechten Milieus weiterhin erkennbar. Hantieren die alten Rechten mit der kruden Vorstellung von einer «jüdischen Weltverschwörung», so kommt der neue Antisemitismus subtiler daher. Wenn der Chefredakteur des neurechten Compact-Magazins, Jürgen Elsässer, vom «internationalen Finanzkapital und seinen Kriegsbrandstiftern in Washington, London und Jerusalem» schreibt, verstehen seine Leser diese Anspielung auf den rassistischen Stereotyp des Juden als globalen Strippenzieher. Ähnlich arbeitet der Autor eines neurechten Portals, der behauptet, der US-Milliardär George Soros wolle Europa mit Flüchtlingen «überfluten» und diktiere die Asylpolitik der Europäischen Union. Soros ist ein amerikanischer Jude mit ungarischen Wurzeln, seit den neunziger Jahren unterstützt er mit Hilfe seiner Nichtregierungsorganisation Open Society Foundations zivilgesellschaftliche Initiativen auf der ganzen Welt. Das in dem Text erwähnte Strategiepapier hatte seine Stiftung gar nicht finanziell unterstützt. Die Implikation des Artikels ist klar antisemitisch: Ein reicher Jude steuert das Weltgeschehen.

Sind die alten deutschen Neonazis größtenteils gesellschaftlich isoliert und haben sich mit ihrem Dasein als radikale Minderheit abgefunden, so streben die Neuen Rechten in die gesellschaftliche Mitte. Sie versuchen, auch jene Themen zu besetzen, die weite Teile der Alten Rechten ignoriert oder gar abgelehnt haben: Dazu zählt die ursprünglich linke Kapitalismuskritik oder die Ökologie («Umweltschutz ist Heimatschutz»). Die deutsche Szene ist damit Teil einer globalen Strömung, die auch die Alt-Right-Bewegung in den USA, den Bloc identitaire in Frankreich und die Casa Pound in Italien einschließt. Durch ihre internationalen Verbindungen sind sie besser organisiert und wirkmächtiger als die alten nationalistischen Rechtsextremen.

Zwischen der Bomberjacken-Welt der Alten Rechten und der Poloshirt-Welt der Neuen Rechten gibt es einige Schnittmengen. Beide Strömungen teilen die Vision eines absoluten Primats des Staates. Beide eint der Wunsch nach einem starken Mann an der Spitze, der das Land autoritär führt. Ihre Anhänger schauen voller Bewunderung auf Figuren wie Wladimir Putin oder Viktor Orbán. In der idealen Welt dieser Rechten gibt es keinen Widerspruch – sondern nur eine Meinung. Der Herrscher müsse diesen einen «Volkswillen» nur erkennen und ausführen. Diskussion und Debatte um das bessere Argument gelten als lästige Spielzeuge der Liberalen. Wenn erst einmal ein Volkstribun regiere, brauche es auch keine kritische Presse und politische Opposition mehr. Parlamentarismus und Parteiendemokratie sind in ihren Augen nur dekadenter Ballast.

Das Ziel der Neuen Rechten ist es, unsere pluralistische Demokratie ihrerseits wie eine Diktatur erscheinen zu lassen. So lässt sich die Bevölkerung zum «Widerstand» anstacheln. Die Szene streitet über die Frage, ob das derzeitige System nur reformiert oder gleich ganz abgeschafft werden müsse. Protokolle eines WhatsApp-Chats des AfD-Landesverbandes Sachsen-Anhalt, die 2017 geleakt wurden, offenbaren das fragwürdige Staatsverständnis eines Teils der Neuen Rechten: Nach der «Machtergreifung», so ist dort zu lesen, müsste «ein Gremium alle Redakteure und Journalisten überprüfen und sieben. Chefs sofort entlassen, volksfeindliche Medien verbieten.» In einem später bekannt gewordenen Nachrichtenverlauf auf Facebook formulierte es der damalige AfD-Landtagsabgeordnete Holger Arppe aus Mecklenburg-Vorpommern noch drastischer: «Wir müssen ganz friedlich und überlegt vorgehen, uns ggf. anpassen und dem Gegner Honig ums Maul schmieren, aber wenn wir endlich soweit sind, dann stellen wir sie alle an die Wand.» Parteilinie ist das zwar nicht. Aber es gibt zahlreiche Vertreter der Neuen Rechten, die so denken – bei der AfD, aber auch bei ihren Vorfeldorganisationen. Im Gegensatz zu Konservativen geht es ihnen nicht um Bewahrung, sondern um Zerstörung. Sie wollen die liberale Öffentlichkeit nicht erweitern, sie wollen sie abschaffen.

Dieses antidemokratische Denken stammt aus einem tiefen Unbehagen gegenüber der Aufklärung und den ständigen Veränderungen im postmodernen Alltag. Weil die Welt komplexer wird, sehnen sich die Anhänger der Neuen Rechten nach einfachen Lösungen, konstatieren die Publizisten Liane Bednarz und Christoph Giesa in ihrem Buch «Gefährliche Bürger». Und bekämpfen darum die offene Gesellschaft. Im Grunde wünschen sich weite Teile einen gern auch autoritär geführten Nationalstaat zurück, in dem alles seine Ordnung hat, die Effekte der Globalisierung eingehegt sind, niemand für die Emanzipation von Frauen und Homosexuellen streitet oder Gender-Debatten bei Quinoa-Salat und veganem Chai-Latte führt. Sie verklären die Vergangenheit und sehnen sich nach einem Deutschland, das es so nie gab. Eine Nation ohne Vielfalt, in dem alle Menschen einem dominanten, traditionsbewussten Lebensmodell folgen. Thomas Assheuer fasste es in der Zeit einmal treffend so zusammen: «Die Rechte träumt vom ethnisch homogenen Volk, vom organischen Staat und von seiner machtpolitischen Souveränität – ohne Rechtsgleichheit, ohne freie Gerichte, ohne Migranten, ohne ‹Vergangenheitsbewältigung› und ohne Einbettung in die Europäische Union.» Das käme einer kompletten Rückabwicklung aller Errungenschaften der modernen Gesellschaft gleich.

Alte und Neue Rechte verbindet auch ihre Ablehnung des Liberalismus und alternativer Lebensmodelle abseits der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Kernfamilie. Den «westlich-dekadenten Liberalismus» lehnen sie ab, weil Nationalstaat und Völker angeblich an ihm zugrunde gehen. Liberalismus habe Religionen und Vaterländer zerstört, «er war die Selbstauflösung der Menschheit», wie Arthur Moeller van den Bruck, ein Vertreter der «Konservativen Revolution» in den zwanziger Jahren, schrieb. Die aktuelle Generation der Rechtsdenker sieht es ähnlich. In der liberalen Gesellschaft gibt es keine absoluten Wahrheiten und viele Grautöne – aber eben keine radikalen Lösungen. Vereinfachung und ein Denken in Freund-Feind-Schemata sind hingegen die Grundlage rechtsradikalen Denkens. Darum ist ihnen die plurale Gesellschaft so verhasst. Ihr Ziel ist ein homogenes Kollektiv. Liberale Medien, Intellektuelle, Politiker und Künstler werden verhöhnt, weil sie angeblich nicht dem Volk dienen, nicht dem geistigen Wohl der Nation. Auf der Internetseite des «Seminars für rechte Metapolitik» heißt es: Um den Liberalismus zu überwinden, müsse sich «der rechte Akteur (…) im Volke bewegen wie der Fisch im Wasser, um das Fenster des Sagbaren erweitern zu können. Das ist das Konzept der Metapolitik.»

Metapolitik ist ein weiterer Kampfbegriff in der Neuen Rechten: Nicht allein die Parlamente sollen erobert werden, sondern auch die Zivilgesellschaft. Wer parteipolitisch noch ohne Einfluss ist, muss zuerst versuchen, das vorpolitische Feld der Kultur zu beackern. Für Götz Kubitschek beinhaltet das «den Bereich des Worts, des Gedankens, des Stils, der Bücher, Zeitschriften, Veranstaltungen, des Habituellen, der Aura». Mittels der Subkultur könnten «Informationen und Lebensgefühl durch ein ganzes Kapillarsystem» in die Mehrheitsgesellschaft «sickern», formulierte der neurechte Vordenker Karlheinz Weißmann. Die Neuen Rechten wollen den vorpolitischen Raum erobern und in viele gesellschaftliche Bereiche vordringen, um dort Plätze zu besetzen, die bisher nicht rechts waren: Parlament, Gewerkschaften, Kirchen, Bestsellerlisten und TV-Talkshows. Vor der Übernahme der Staatsgewalt steht die Eroberung der Kultur. Wenn dann das liberale System ins Wanken gerät, könne die rechte Saat auf fruchtbaren Boden fallen, schreibt Thomas Assheuer.

Dieses Konzept der «kulturellen Hegemonie» basiert auf den Ideen, die der italienische Marxist Antonio Gramsci in den dreißiger Jahren in seinen «Gefängnisheften» entworfen hat. Die Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft wird seiner Meinung nach nicht nur durch die Staatsgewalt etabliert, sondern auch durch den Konsens der Zivilgesellschaft. Während der Staat für die Unterdrückung zuständig ist, braucht es ein Korrektiv aus Popkultur und Massenmedien, das dagegenhält. Herrschende Klasse versus Volk. Die Veränderung der öffentlichen Meinung sei darum die Grundbedingung, um später die Gesellschaftsordnung zu verändern. Schlüsselrollen in diesem Prozess übernähmen vor allem Publizisten, Schriftsteller, Wissenschaftler sowie Kulturschaffende der nichtherrschenden Klasse. In dieser Rolle sieht sich die Neue Rechte: als unterdrückte Klasse, die endlich Dominanz erringen will.

Das eigentlich linke Theoriegebilde klingt wie eine Blaupause für viele der aktuellen Initiativen der Neuen Rechten. Es sind die Herausgeber von Zeitschriften, Verleger und Autoren, die den Ton in der Szene angeben. Der Kern ihrer Arbeit besteht im Verfassen und Veröffentlichen politischer Theorie. Aktivisten der Szene erwecken das Konzept der «kulturellen Hegemonie» zum Leben, in dem sie versuchen, jede Nische der Gesellschaft mit einem «patriotischen» Gegenangebot zu besetzen: Mit einer neugegründeten Arbeitervertretung drängen sie in die Betriebe. Mit rechter Rap-Musik gegen «Überfremdung» wollen sie in die Kinderzimmer und Musikcharts. Und die Trollarmee im Internet bekämpft politische Gegner in den sozialen Medien, um die Debatten im Netz zu bestimmen. Die Szene betreibt eigene Modelabels und Verlage. Mit Arcadi gibt es ein neurechtes Hipstermagazin, sogar eine eigene Biermarke ist auf dem Markt, das «Pils Identitär».

All die vielfältigen Versuche, die «kulturelle Hegemonie» zu erringen, verweisen auf ein grundlegendes Problem bei der Beschäftigung mit der Strömung, die wir als «Neue Rechte» bezeichnen. Denn: Die Neue Rechte gibt es eigentlich nicht. Einige Neue Rechte lehnen den Begriff sogar ab. Und tatsächlich ist es schwierig, AfD-Abgeordnete, erzkonservative Christen, radikale Publizisten und gewaltbereite Identitäre unter einem einzigen Sammelbegriff zusammenzufassen. Die Zuschreibung Neue Rechte aber hat den Vorteil, dass sie eine Entwicklung in der Gesellschaft benennt, die es so im Nachkriegsdeutschland noch nie gegeben hat: ein gewaltiges Bündnis am rechten Rand, das kein Dasein in der Schmuddelecke mehr führt, sondern die Gesellschaft im Kern verändert – flankiert von einer stetig wachsenden Partei, die es innerhalb von nur fünf Jahren in alle Landesparlamente und in den Deutschen Bundestag geschafft hat.

Und trotzdem herrscht in der Szene ein großer Binnenpluralismus: Das Milieu reicht von ultrakonservativen Marktliberalen bis hin zu völkischen Antisemiten, von Radikallibertären bis hin zu verschwörungstheoretischen Rechtspopulisten. Es gibt Nationalrevolutionäre, Muslim-Hasser, soziale Nationalisten, Nationalkonservative und paneuropäisch-soziale Kapitalismuskritiker. Wieder andere verstehen sich als weiße Suprematisten – eine rassistische Ideologie, die auf der vermeintlichen Überlegenheit der weißen Rasse basiert. Manchmal widersprechen sich die Konzepte und Lebenseinstellungen sogar. Den Begriff «Neue Rechte» benutzen darum auch wir kritisch. Wir haben uns dennoch für ihn entschieden, denn es ist dasselbe Leitbild, das die Szene eint: der Hass auf den Islam, die Kritik an Parteien und Eliten und die Sehnsucht nach einem starken Staat und einer homogenen, dezidiert-deutschen Kultur. Zeitschriften, Bücherreihen oder Debatten-Veranstaltungen sind zentrale Elemente des Wirkens der Neuen Rechten. Wir wollen der Diversität der Szene damit Rechnung tragen, indem wir die Orte, die entscheidenden Personen und ihre Netzwerke in diesem Buch vorstellen. Auf einer Reise zum rechten Rand der Republik.

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Die Wurzeln der Neuen Rechten sehen Autoren wie Volker Weiß im Jahr 1950. Damals erschien das Buch «Konservative Revolution», das vom Schweizer Publizisten Armin Mohler herausgegeben wurde. Mohler versammelte darin rechte Denker der zwanziger und dreißiger Jahre wie den Antisemiten und Rassenideologen Hans F.K. Günther, aber auch konservative Gegner Adolf Hitlers und Antidemokraten wie Ernst Jünger und Carl Schmitt. Besonders der Staatsrechtler Schmitt zählt zu den wichtigsten Inspirationsquellen der Neuen Rechten. Der Antisemit war 1932 maßgeblich an der Umwandlung der Weimarer Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem beteiligt. Von ihm stammen Gedanken über die Besetzung des «Vorraums der Macht» durch ein Elitennetzwerk. Intellektuelle «Partisanen» sollten den Feind durch Nadelstiche so lange reizen, bis die Zeit reif ist zur Übernahme der entscheidenden Stellen des Staates. Herausgeber Mohler wollte die Autoren der «Konservativen Revolution» nach dem Ende des Dritten Reichs rehabilitieren, sie vom Stigma des Nationalsozialismus befreien und so wieder gesellschaftsfähig machen. Tatsächlich gilt sein Buch bis heute als Grundlagenwerk fast aller neurechten Publizisten – und Mohler als der Begründer der Neuen Rechten. Zwei seiner Schüler, Karlheinz Weißmann und Götz Kubitschek, gehören heute zu den maßgeblichen Strippenziehern im neurechten Netz. Als Mohler 2003 in München starb, hielt Kubitschek die Grabrede.

In den sechziger Jahren entstanden aus völkischen Jugendorganisationen heraus erste neurechte Zeitschriften wie Fragmente und Junges Forum. In der ersten Ausgabe des Forums aus dem Jahr 1964 taucht auch erstmals der Begriff auf, der heute die Szene prägt: «Erste Nummer des ersten Blattes der Neuen Rechten». Sie wollten anders sein als die Altnazis und stammten doch aus ihren Reihen: Wilfried von Oven, ehemaliger Pressereferent von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, gab den Ton vor. In seiner Zeitung hieß es 1973: «Wir müssen unsere Aussagen so gestalten, dass sie nicht mehr ins Klischee der ‹Ewiggestrigen› passen (…) Der Sinn der Aussage muss freilich der gleiche bleiben.» Auch Mitglieder von Burschenschaften wie der Münchner Danubia wandten sich von den NS-orientierten Deutschnationalen ab. Die jungen Neurechten fuhren lieber zu Gleichgesinnten ins Zeltlager nach Frankreich. Hier bildete sich parallel zur linken 68er-Bewegung die «Nouvelle Droite», die Neue Rechte, um den Vordenker Alain de Benoist heraus. Die französische Strömung prägt die Theoriebildung der europäischen Neurechten bis heute.

In den siebziger Jahren setzte ein regelrechter Hype um die Neue Rechte ein, einige Strömungen bezeichneten sich nun selbst so, NPD-Dissidenten gründeten etwa die «Aktion Neue Rechte». In dieser Zeit veröffentlichte Armin Mohler regelmäßig in Caspar von Schrenck-Notzings Zweimonatsschrift Criticón, die zum Sprachrohr eines bewusst antiliberalen, demokratiekritischen Konservatismus wurde, wie Gideon Botsch schreibt. Zwar wurde die Zeitschrift später eingestellt, die Arbeit von Schrenck-Notzing aber wirkt bis heute nach. Eine von ihm gegründete Stiftung betreibt heute die «Bibliothek des Konservatismus» in Berlin, vergibt den wichtigsten Journalistenpreis des neurechten Milieus und unterstützt wissenschaftliche Arbeiten.

Auch wenn die Dynamik der Neuen Rechten in den achtziger Jahren erlahmte, überlebte ein kleines Netzwerk aus Zeitschriften, Seminaren, Salons, Burschenschaften und Denkfabriken, dessen Köpfe stetig weiter arbeiteten. Einige Neue Rechte gingen zu den Republikanern. Auch die bereits 1983 gegründete Wochenzeitung Junge Freiheit stand anfangs den Republikanern nahe. Mit der Wiedervereinigung gerieten die Denker vorerst in den Hintergrund, die rechte Szene wurde von gewaltbereiten Neonazis und nationalistischen Parteien dominiert. Sie nutzen die aufgeheizte Stimmung und das Chaos in den neuen Bundesländern, um Jugendliche um sich zu scharen.

Der harte nationalistische Rechtsextremismus auf der Straße war für sie attraktiver als Mohlers Theorien. Mit NPD, DVU und Republikanern zogen rechtsextreme Parteien in die Landesparlamente ein. Neonazis griffen Ausländer und Andersdenkende an und beherrschten ganze Stadtteile und Regionen. Seit der Wende starben 169 Menschen durch rechtsextreme Gewalt. Die Neue Rechte konnte in diesem Umfeld schlecht reüssieren, fand keinen Anschluss an bürgerliche Schichten und arbeitete weiter im Hintergrund.

Im Jahr 2000 gründen Weißmann und Kubitschek die bis heute einflussreiche neurechte Denkfabrik, das Institut für Staatspolitik (IfS) im hessischen Bad Vilbel. Es sind die ersten Versuche des rechtsintellektuellen Milieus, in der breiten Öffentlichkeit für ihre Zwecke zu werben. Sieben Jahre später macht Kubitschek zuerst als Guerilla-Aktivist auf sich aufmerksam, als er mit der sogenannten «Konservativ-Subversiven Aktion» (KSA) einen Kongress linker Studenten, eine Lesung von Günter Grass und Veranstaltungen von Grünen und CDU stört – seine KSA ist eine Vorläuferin der Identitären Bewegung. Die große Zeitenwende im Auftreten der Szene folgt mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Seit diesem Tag hat die Neue Rechte einen neuen Feind: den Islam. Hass auf Zuwanderer und rassistische Einstellungen lassen sich nun mit Hilfe der Angst vor einer «Islamisierung» und der «Invasion islamistischer Terroristen» kaschieren, stellt Julia Ebner in ihrer Studie «Wut» fest.

Die Strategien der Neo-Rechten

Einen entscheidenden Teil ihrer Arbeit sehen die Neuen Rechten in der «Kulturrevolution von rechts». Um die «kulturelle Hegemonie» in Deutschland zu erlangen, sollen die unterschiedlichen rechten Kräfte im Land zusammenarbeiten. In einer Rede gibt Philip Stein, ein junger Verleger des Milieus, den Kurs der Bewegung vor: «Was wir schaffen müssen, ist eine Mosaik-Rechte. Wir müssen es schaffen, nicht nur auf das Parlament zu setzen, nicht nur auf Kultur zu setzen. Das war der Fehler der letzten Jahre in der Bundesrepublik.» Der vorpolitische Raum und der parlamentarische Arm in Form der AfD müssten zusammenarbeiten wie Standbein und Spielbein, sagt Stein – nur so gelinge es, die Gesellschaft zu verändern. Für dieses Ziel nutzt die Neue Rechte verschiedene Taktiken. Drei grundlegende Strategien sind entscheidend.

Die wichtigste Strategie der Neuen Rechten ist die Diskursverschiebung. Begrifflichkeiten werden in den Szene-Medien, auf Protestbühnen und in den Theoriezirkeln erdacht und sollen im nächsten Schritt über etablierte Medien und Politiker in die Mehrheitsgesellschaft getragen werden. «Vom Cicero über Achse des Guten bis hin zur Jungen Freiheit findet über viele Pfade ein reger Ideenschmuggel ins Zentrum der Meinungsmacht statt», schreibt der Identitäre Martin Sellner. Bereits heute ist es der neurechten Strömung auf diese Weise subtil gelungen, neue Worte zu etablieren oder wiederzubeleben. Einige Beispiele: In seinem Interviewbuch «Nie zweimal in denselben Fluss» spricht Björn Höcke, der AfD-Landeschef von Thüringen, vom «bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch». Auch eine Politikerin der CDU verbreite diese Verschwörungsideologie an ihre Anhänger. Die Theorie des «großen Austauschs» stammt aus dem Aufsatz des französischen Neurechten Renaud Camus mit dem Titel «Der Große Austausch oder: Die Auflösung der Völker» aus dem Jahr 2011. Camus behauptet darin, die Regierungen würden bewusst das eigene Volk durch Migranten austauschen, um es auszulöschen. Die deutsche Übersetzung des Werks erschien in einem Sammelband im Antaios Verlag von Höckes engem Weggefährten Götz Kubitschek.

Ein anderes Beispiel ist Armin Mohlers «Konservative Revolution». Der Ausdruck war lange nur Teilnehmern rechter Theoriezirkel geläufig, 1993 wird er von der Jungen Freiheit aus der Mottenkiste der Geschichte geholt, um mit dem Spruch «Jedes Abo eine konservative Revolution» neue Leser zu gewinnen. 2011 stellt Kubitschek die Sommerakademie seines Instituts für Staatspolitik unter dieses Motto und macht es zum Titelthema seiner Zeitschrift Sezession. Im Januar 2018 erreicht der Begriff dann die große politische Bühne. In einem Gastbeitrag in der Welt fordert der ehemalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) eine «konservative Revolution der Bürger» – ohne auf die Herkunft des Terminus zu verweisen. Dobrindt hatte zuvor auch bereits die Formulierung «Anti-Abschiebe-Industrie» genutzt. Den sehr ähnlichen Begriff «Asylindustrie» hatte vier Jahre zuvor die Pegida-Mitgründerin Kathrin Oertel in ihren Reden bei den Großdemonstrationen in Umlauf gebracht, im Jahr darauf erschien ein gleichnamiges Buch im rechten Kopp-Verlag.

Die Medien spielen bei der Etablierung dieser politisch eindeutig konnotierten Begriffe eine entscheidende Rolle. Nutzen sie die Termini, transportieren sie peu à peu das ihnen anhaftende Gedankengut und tragen es in die Mitte der Gesellschaft. Der Mitteldeutsche Rundfunk kündigte 2018 zum Beispiel eine Talkshow mit dem Titel «Die Krise der Altparteien, der Erfolg der AfD» an. Auch der Focus nutzte den Begriff «Altparteien», um bei Twitter auf einen Text aufmerksam zu machen. Das Wort jedoch ist vorbelastet, bereits Joseph Goebbels nutzte es, um die NSDAP von den anderen Parteien abzugrenzen. Siebzig Jahre später verwendet auch die AfD den Begriff, um sich als Partei neuen Typs gegen die Etablierten zu positionieren. Einige AfD-Politiker sprechen außerdem von «Lebensraum», auch das ein Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus.

«Altparteien» und «Lebensraum» sind noch nicht fester Bestandteil des kollektiven Wortschatzes geworden. Andere Ausdrücke schon. Mit dem Wort «Lügenpresse» werden meist Qualitätsmedien beschimpft. Es entstammt den Sprechchören der Pegida-Demonstranten.

Kampfbegriffe der Neuen Rechten werden so schleichend mehrheitsfähig. Der twitternde Starpianst Igor Levit spricht in diesem Zusammenhang von «Konsensverschiebung»: Je weniger Menschen kommen, umso aggressiver behauptet die Neue Rechte die «Masseneinwanderung». Rechte Begriffe wie Obergrenze oder Forderungen wie die Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts würden heute bereits von der großen Mehrheit unhinterfragt als selbstverständlich hingenommen. Einer Minderheit kann es so gelingen, dass mit ihren «toxischen Interventionen das zivilisatorische Niveau einer ganzen Gesellschaft perforiert» wird, sagt der Soziologe Harald Welzer.

AfD-Politiker im Bundestag und in Landtagen sind ein wichtiges Sprachrohr und Teil der Diskursverschiebungsstrategie der Neuen Rechten. Sie stehen mehr in der Öffentlichkeit und sind bekannter als die «Vordenker». Durch ihre Präsenz im Parlament und Auftritte in Talkshows bringen sie die Ideen und Konzepte der Theoretiker in die breite Gesellschaft. Die Intelligenzija der Szene nennt das eine «Vergrößerung des Resonanzraums». Die Politiker infiltrieren die bürgerliche Mitte und verändern den Diskurs. Durch das stete Wiederholen von Ausdrücken stumpft die Wahrnehmung ihrer rechten Aufladung nach und nach ab, es entstehen Abnutzungseffekte. Irgendwann sinkt die Sensibilität, die Begriffe diffundieren in die Gesellschaft und setzen sich fest. Über die sozialen Netzwerke werden die Aussagen verbreitet. Beliebt sind Best-of-Zusammenschnitte von AfD-Reden, die auf Facebook tausendfach geteilt werden und so Hunderttausende Nutzer erreichen, wenn sie eine breite virale Wirkung entfalten können. Wurde die Partei vor wenigen Jahren noch als rechtsradikal und fremdenfeindlich kritisiert, wenn sie mit Ausdrücken wie «Asyl-Tourismus» oder «Anti-Abschiebe-Industrie» provozierte, so nutzen 2018 bereits der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und der Berliner CSU-Landesgruppen-Chef Alexander Dobrindt diese Termini. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur freute sich der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland darüber, dass seine Partei damit die «Grenzen des Sagbaren» verschoben habe.

Die Begriffe, die seine Partei verwendet, kommen aus den Denkfabriken der Neuen Rechten. Das kündigte der Vordenker der Szene, Götz Kubitschek, im März 2016 sogar ganz offen an: Am Abend einer für die AfD erfolgreichen Landtagswahl sagte er auf der Wahlparty in eine Fernsehkamera, die AfD werde nun «sehr gerne den ein oder anderen Begriff, das ein oder andere Thema, die ein oder andere aufbereitete Expertise aus unseren Projekten übernehmen und politisch umsetzen».

Für AfD-Abgeordnete sind die Rednerpulte im Bundestag und in den Landtagen nicht nur eine Bühne, um den Diskurs zu verschieben, sie nutzen auch andere Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie. Zum Beispiel stellen sie Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung und die Regierungen der Länder. Eigentlich ist das ein Mittel der Opposition, um die Regierung zu kontrollieren. Die AfD benutzt das Verfahren aber auch, um Themen auf die Agenda zu bringen – denn die Antworten müssen teilweise in öffentlicher Sitzung im Parlament vorgetragen werden. So fragte die AfD: «Wie viele Sinti und Roma leben in Sachsen?» Zum einen wollte der Abgeordnete damit durchsetzen, dass Sinti und Roma überhaupt gezählt werden, zum anderen wollte er konkret wissen, wie viele Schüler dieser Bevölkerungsgruppe die Schulpflicht einhalten. Damit nimmt die AfD Bezug auf ein rassistisches Stereotyp, wonach Roma bildungsfern sein sollen. Die Partei verbindet die Wahrnehmung von Sinti und Roma in der Öffentlichkeit mit ihrem gezielten Spin. Zur Vorbereitung für solche Anfragen greift die AfD auch auf die Expertise von radikalen Aktivisten außerhalb der Partei zurück. Philip Stein vom rechten Verein Ein Prozent bestätigt uns, dass er bereits Material für eine Anfrage zum Thema «linke Förderstrukturen» für die Partei recherchiert hat.

Eine andere Methode der AfD ist es, neutrale Statistiken oder Meldungen aufzugreifen und mit Ideologie aufzuladen. Das ehemalige AfD-Mitglied Franziska Schreiber beschreibt die Taktik in ihrem Buch «Inside AfD» anschaulich an Beispielen. Sie war verantwortlich für Pressemitteilungen des Parteinachwuchses, der Jungen Alternative. Egal, ob es eine neue Umfrage über Ängste von Frauen gab oder Nachrichten über Schwarzarbeit und sogar die Vorstellung einer neuen Stechmückenfalle – jede Stellungnahme der AfD-Jugend, jedes Posting auf Facebook zu diesen Themen handelte am Ende doch wieder von Flüchtlingen und kriminellen Ausländern. Dies zeige, «dass sich wirklich jede Neuigkeit irgendwie mit Asylbewerbern in Verbindung bringen lässt», schreibt Schreiber. Ziel ist es, den Widerspruch zum System aufzuzeigen und ein öffentliches Zerrbild von Kriminalität und Chaos zu verbreiten. Durch das Fluten der Medienkanäle mit solchen Verzerrungen, Nonsens und Falschmeldungen soll die Glaubwürdigkeit der Medien angegriffen werden. Und durch das ständige Wiederholen sollen Vorurteile und Stereotypen aufgebaut und verfestigt werden. Diese «Gehirnwäsche» habe Angst und Ausländerfeindlichkeit produziert, resümiert die ehemalige AfD-Strategin.