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Ranulf O Hale 020: Die Rechnung wird mit Blut bezahlt
Charlotte Engmann:
"Fast alles wird nach dem Gesetz mit Blut gereinigt, und ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung."
(Hebräer 9,22)
Ein Käfig, den keine lebende Seele zu öffnen vermag – in diese tödliche Falle lockt die Hexe Snezhana den Exorzisten Ranulf O'Hale, ehe sie in die Nacht entflieht. Schon sieht der Dämonenjäger einer Zukunft als geheimes Zootier des Vatikans entgegen, als er sich des einen Verbündeten entsinnt, der den Zauberspruch zu brechen vermag: Der Vampir Michail Vladescu hat seine Seele längst verloren.
Gemeinsam machen die Gefährten, die keine Freunde sein dürften, Jagd auf die schwarze Hexe von Bruchhausen. Im Altenberger Märchenwald weist ihnen eine Baba Jaga den Weg nach Polen, doch die Warnung vor der Übermacht des Feindes verhallt ungehört.
Zum Hauptquartier wird Schloss Drachenburg, wo Ranulf das eine oder andere düstere Geheimnis seines Gastgebers erfährt: Wie dieser in Wien einen berühmten Komponisten zu dessen und in Aachen das Bahkauv zum eigenen Schaden traf; wie er den eisigen Winter in Russland überstand, und wieso der äußerlich so harte Karpate eine ganz weiche Stelle in seinem Herzen besitzt, wenn es gilt, Kinder vor Schaden zu bewahren.
Charlotte Engmann konnte schon zahlreiche Fantasy- und Horrorfreunde mit ihren Geschichten begeistern. Ein Dutzend Einzeltitel und über dreißig Kurzgeschichten wurden bislang veröffentlicht; weitere Werke sind in Planung. Mit "Die Rechnung wird mit Blut bezahlt" legt sie eine weitere Sammlung mit Geschichten über das ungleiche Gespann von Vampir und Exorzist vor; die ersten gemeinsamen Abenteuer schildert der Band "Für eine Handvoll Seele" (In Nomine Sanguinis I).
_Bücher um Ranulf O'Hale - Exorzist - haben einen Umfang von zirka 250 Seiten und sind auch in der Printversion verfügbar: hary.li/rohbrliste001.htm
Impressum:
ISSN 1861-6054
Copyright by HARY-PRODUCTION * Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken * Telefon: 06332-481150 * Hary-Production.de * eMail: [email protected]
Redaktion: Thorsten Grewe.
Covergestaltung und Titelbild: Thorsten Grewe.
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von
Charlotte Engmann
ISSN 1861–6054
ROH 020
© dieses Bandes: Charlotte Engmann und
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary–Production.
Ranulf O'Hale, Shoshanna, Alvino Vladiscini, Monsignore Müllerstein © Thorsten Grewe
Monsignore Finistra © Simon Rhys Beck
Kardinal Malpertuis, Mordechaj Mistelczwyg © Alain Meesschaert
Redaktion, Lektorat, Titelbild und Illustration: Thorsten Grewe
Bruchhausen, 2010
Voller Zorn rüttelte Ranulf O'Hale an den Gitterstäben seines Käfigs. Er konnte es nicht fassen! Diese miese kleine Teufelshexe hatte ihn überlistet, ihn, den Meisterexorzisten, den erfolgreichsten Dämonenjäger des Vatikans, den Schrecken aller Albtraumgeschöpfe! Wie ein blutiger Anfänger war er ihr in die Falle gegangen, und jetzt steckte er in einem Gefängnis, das keine lebende Seele zu öffnen vermochte.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit einem scharfen Auge für das Übernatürliche hatte der Pfarrer von Bruchhausen die merkwürdigen Vorkommnisse in seiner Gemeinde bemerkt und ohne zu zögern die richtigen Stellen innerhalb der Kirche alarmiert. Daraufhin hatte Kardinal Malpertuis seinen hochgeschätzten, höchst ungeliebten Meisterexorzisten kontaktiert, und Ranulf O'Hale war ein weiteres Mal nach Deutschland gereist. In dem schönen Städtchen Bruchhausen, das von einer weiträumigen Terrasse aus das Rheintal überschaute, stieß er auf die Machenschaften einer bösen Hexe und verfolgte sie bis zu ihrem Unterschlupf in einem alten, verlassenen Kupferbergwerk. Er stellte sie in einem erbitterten Zweikampf, doch gerade, als er zum vernichtenden Schlag ausholen wollte, gab sie ihm einen unerwartet heftigen Stoß. Er stolperte rückwärts und stürzte direkt in den Käfig, in dem das Teufelsweib ihre unglücklichen Opfer gefangen zu halten pflegte. Ehe er sich versah, hatte die Hexe die Tür mit einem einfachen, aber immens wirkungsvollen Zauberspruch verschlossen und war hohnlachend entschwunden.
»Keine lebende Seele wird dich aus diesem Käfig befreien können!«, gellten ihre Abschiedsworte noch in seinem Ohr.
Mit einem wütenden Knurren ließ Ranulf die Stäbe los und sank gegen die Gitterwand in seinem Rücken. Die widerspenstige weiße Locke fiel ihm in die Stirn, und unwirsch strich er sie in den ansonsten schwarzen Schopf zurück. Gab es denn wirklich keinen Ausweg? War er wahrhaft dazu verdammt, in diesem Bergwerksstollen elendig zu verhungern und zu verdursten?
Er ließ seinen Blick durch das Versteck der Hexe wandern. Das warme Licht des Herbstnachmittags fiel durch den schlotartigen Luftschacht, durch den das Teufelsweib auf seinem Besen entflohen war, und beleuchtete die grausige Szenerie. Ein Einsturz, ausgelöst durch den heftigen Kampf zwischen Exorzist und Teufelshexe, versiegelte den Stollen, der Ranulf zu dem Versteck geführt hatte. Ein altersschwaches Bett, ein Tisch mit drei Stühlen und ein Regal mit Vorräten hätten der Behausung einen Hauch von Wohnlichkeit verliehen, wäre da nicht die grausige Wanddekoration gewesen, die Ranulf schier den Magen umdrehte.
»Herr, erbarme dich«, murmelte er voller Mitleid mit den Opfern der schwarzen Hexe. Er senkte den Blick auf seine gefalteten Hände und sprach ein leises Gebet, ehe er resignierend seufzte. Es half alles nichts. Er zog das Smartphone aus seinem Designerjackett und prüfte den Empfang. Er musste jemanden anrufen, der ihn hier herausholte. Aber wen? Der Pfarrer von Bruchhausen wusste zwar ungefähr, wo er hingegangen war, aber der konnte höchstens die Polizei und Feuerwehr zu Ranulfs Rettung schicken. Oder sollte er Kardinal Malpertuis anrufen? Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken, als er sich vorstellte, wie ihn die Leute des Kardinals mitsamt des Käfigs in den Vatikan brachten, wo er den Rest seines Lebens als persönliches Zootier von Malpertuis oder Monsignore Finistra fristen mochte.
»Gott bewahre!«, entfuhr es ihm. Nein, das war keine Lösung. Aber wenn ihm die Männer der Kirche nicht helfen konnten, dann vielleicht jemand anders? Im Laufe seines Lebens hatte er so vielen Leuten beigestanden, da musste sich doch einer finden, der ihm noch einen Gefallen schuldig war. Er runzelte die Stirn. Keine lebende Seele wird dich aus diesem Käfig befreien können, hatte die Hexe gesagt. Ein raubtierhaftes Grinsen legte sich auf Ranulfs Lippen. Keine lebende Seele – da kannte er doch jemanden, auf den diese Beschreibung passte. Jemand, der ganz in der Nähe wohnte und ihm einen entsprechenden Gefallen schuldig war.
*
Michail pfiff anerkennend durch die Zähne. Seine Mitbewohnerin Florine besaß ein beeindruckendes Gespür für dramatische Inszenierungen. Nachdem er sich bereit erklärt hatte, ihr Model zu stehen, hatte sie eine der vielen ungenutzten Kammern in Schloss Drachenburg zu einem passenden Rahmen für den Hausherrn umgestaltet. Schwere Brokatvorhänge in Rot und Schwarz bedeckten die Wände, und geschickt versteckte Lampen ließen die goldenen Stickereien wie verborgene Schätze leuchten. In Anlehnung an sein altes Porträt von Julia Gainsborough stand in der Mitte des Raums ein thronartiger breiter Stuhl mit hoher Rückenlehne, den Florine in den vergangenen Wochen mit aufwändigen Schnitzereien verziert hatte.
»Das ist großartig!« Michail strich über die Drachen, die sich wie ein Meer aus Flügeln, Köpfen und Krallen über das Holz erstreckten. »Du wirst Jahre brauchen, bis du das auf der Leinwand hast.«
»Keine Bange, solange musst du hier nicht still sitzen.« In Florines braunen Augen blitzte der Schalk. »Ich werde den Thron erst ausmalen, wenn ich mit dir fertig bin.«
Mit einem Lachen ließ sich der Karpate auf den Stuhl fallen und hängte ein lederbekleidetes Bein über die Armlehne. Er strich sich die schulterlangen Haare aus dem Gesicht, während Florine die Leinwand auf der Staffelei zurecht rückte. Sie griff nach einem Kohlestift und sah ihn auffordernd an.
»Was ist?«, erkundigte er sich. »Worauf wartest du?«
Ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. »Darauf, dass du dich ausziehst.« Michail hob fragend eine Augenbraue, und sie ergänzte fröhlich: »Du hast doch eingewilligt, mir Model zu stehen. Also runter mit den Klamotten.«
»Von einem Akt war nie die Rede«, wehrte er mit einem Lächeln ab. Das Geplänkel begann ihm Spaß zu machen, und er überlegte, welche Argumente seine Mitbewohnerin wohl auffahren mochte, um ihn von seinen Kleidern zu befreien.
Die Französin stützte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Und was habe ich in den letzten Jahren gemacht?«
»Metallskulpturen«, entgegnete er trocken.
»Die Nymphen in deinem Schwimmbad sind nicht aus Metall, und du hast dich nicht darüber beschwert, dass sie nackt sind.« Florine bedachte ihn mit einem funkelnden Blick. »Das ist mal wieder typisch. Unbekleidete Frauen sind in der Kunst an der Tagesordnung, aber sobald man selbst seinen Mann stehen soll …«
»Stehen wäre in diesem Zusammenhang Pornographie – und soweit ich weiß, hast du an Ständern nur Interesse, wenn es sich um Kleiderständer handelt«, konterte Michail.
Am Ende ihrer Argumente streckte Florine ihm die Zunge raus. »Feigling.«
Michail sprang auf und erreichte sie innerhalb eines Lidschlags. Erschrocken fuhr sie zurück. Sie setzte zu einer Entschuldigung an, da nahm er ihr den Wind aus den Segeln: »Telefon. Bin gleich wieder da.«
Er verließ das Atelier, und diesmal war es sein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Mit einem verärgerten Knurren warf ihm Florine den Kohlestift hinterher, doch der Stift prallte wirkungslos gegen die Tür, die Michail hinter sich geschlossen hatte. Er eilte den Gang entlang, wischte die Treppe hinunter und erreichte zwei Klingeltöne später den Vorraum zu seinem Schlafzimmer, wo ein Nebenanschluss stand. Immer noch mit einem Lachen in der Stimme hob er ab und meldete sich.
»Guten Abend, Michail. Ranulf O'Hale hier«, drang die Stimme des Meisterexorzisten, die ihm wider alle Regeln der Natur vertraut geworden war, an sein Ohr. Der Karpate kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und ließ mit dem Öffnen der Lider seine Ausgelassenheit hinter sich zurück.
»Hallo, Ranulf«, antwortete er mit ruhiger Stimme. Ein Vampir wie er konnte nicht mit einem Dämonenjäger befreundet sein, und dennoch verband sie mehr als ein Waffenstillstand oder ein Bündnis wider Willen. Ihre gemeinsam bestandenen Abenteuer waren zu verrückt und gefährlich gewesen, um sie nicht als Kampfgefährten zusammenzuschweißen. »Was verschafft mir die zweischneidige Ehre deines Anrufs?«
»Du erinnerst dich, dass ich dich aus dem Bann des Nekromanten Eric FitzGerald befreit habe?«, kam Ranulf ohne Umschweife auf den Punkt. »Jetzt wäre die rechte Zeit, um dich mit einem ähnlich gearteten Gefallen zu revanchieren.«
Er klang angespannt, und Michail horchte auf. Das versprach, interessant zu werden. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich stecke hier fest, in Bruchhausen, also ganz in deiner Nähe, und ich würde es zu schätzen wissen, wenn du mich … sagen wir … aus dieser Lage befreien könntest.«
Der Karpate feixte flüchtig. Der großmächtige Meisterexorzist steckte offensichtlich nicht nur in Bruchhausen, sondern auch in der Klemme. Was mochte geschehen sein, dass er nicht auf seine gewohnten kirchlichen oder sonstigen weltweiten Kontakte zurückgreifen konnte? Warum bat er gerade ihn um Hilfe?
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, willigte er ein, teils aus Neugier, teils aus Ehrgefühl. Je eher er seine Verpflichtung gegenüber dem Exorzisten eingelöst hatte, desto besser. Schon einem anderen Nachtgeschöpf einen Gefallen zu schulden, konnte sich als schmerzhafte und verlustreiche Angelegenheit erweisen, doch in der Schuld eines Exorzisten zu stehen, war ein völlig unkalkulierbares Risiko.
*
In bester Vampirmanier schwebte Michail mit wehendem Mantel den Luftschacht hinab. Seine Lederstiefel setzten lautlos auf, als er elegant auf dem unebenen Boden des stillgelegten Bergwerks landete. Er schaltete die Taschenlampe an, und der Lichtstrahl erfasste einen etwa zwei mal zwei Meter großen Käfig und den hochgewachsenen, schlanken Mann, der darin gefangen saß. Heller Staub und dunkle Erde befleckten den teuren Designeranzug, und unbändig fiel die weiße Stirnlocke in das Gesicht mit den scharf geschnittenen Zügen.
Michail spürte, wie ein Lachen in seiner Kehle aufstieg, und mühsam unterdrückte er ein breites Grinsen, bis Ranulf schnappte: »Dreh dich um, dann wird dir das Lachen schon vergehen.«
Aufgeschreckt wirbelte Michail herum, in der Annahme, von einem unbekannten Gegner angegriffen zu werden, doch ihm drohte keine unmittelbare Gefahr. Ungehindert von der Dunkelheit flog sein Blick über die schäbige Einrichtung der unterirdischen Behausung, die sich durch einen Kessel auf einem Dreifuß als Hexenversteck verriet, und wanderte weiter bis zu der Wand, auf die der Exorzist gedeutet hatte.
Michail stieß einen Fluch aus, der in seiner Gotteslästerlichkeit die kreuzförmigen Manschetten an Ranulfs Hemd zum Glühen brachte. Wie ein Stück Leinen hing dort die Haut eines Menschen an der Wand. Ein langer Schnitt öffnete den Rücken vom Nacken bis zur Hüfte, damit die Haut wie ein Kleid übergezogen werden konnte.
Ein animalisches Knurren drang aus Michails Kehle, während sich aus seinem Kiefer zwei scharfe Fangzähne hervorschoben. Seine Hände verwandelten sich in lange Krallen, die tief in sein Fleisch schnitten, da er in ohnmächtiger Wut die Fäuste ballte.
»Michail? Michail!«, drang Ranulfs Stimme wie aus weiter Ferne an sein Ohr. »Michail Vladescu!«
Langsam und geschmeidig wie ein Panther drehte sich der Karpate zu dem Rufer um. In den schwarzen Tiefen seiner Augen glühten zwei rote Funken auf. Schaudernd wich O'Hale zurück, bis er gegen die Käfigwand stieß. Jetzt wusste er wieder, warum der Vatikan so gnadenlos Jagd auf Vampire machte: Unter der Fassade von Menschlichkeit schlummerten doch nur wilde Bestien, die jenseits von Verstand und Vernunft blindwütig nach dem Blut ihrer Opfer gierten.
Instinktiv langte Ranulf nach seiner Magnum, doch seine Hand griff ins Leere. Er hatte die Pistole beim Kampf mit der Hexe verloren. Seine Augen weiteten sich erschrocken, da Michail mit einem Satz den Käfig erreichte und zwei der Stäbe packte. Die Knöchel seiner Hände traten weiß hervor, während er mit einem Knurren wie Donnergrollen an den Eisenstangen zog und zerrte. Langsam, aber stetig gab der Käfig nach. Ranulf sah sich schon von seinem früheren Kampfgefährten zerrissen und zerfleischt, als Michails Blick sich langsam klärte. Je weiter sich die Stäbe zu einer Öffnung formten, umso menschlicher wurde seine Erscheinung. Die mörderischen Krallen verwandelten sich in lange, schlanke Hände zurück, und die Fratze der Bestie entspannte sich zu dem viel zu hübschen, engelsgleichen Gesicht, das seinem Träger so verhasst war. Michail wich einen Schritt zurück und machte Platz, sodass der Exorzist sich aus dem Käfig zwängen konnte.
»Danke«, sagte Ranulf schlicht.
Michail nickte stumm, bevor er sich umdrehte und an die Wand trat. Vorsichtig löste er die Haut von dem Haken und bettete sie wie einen vollständigen Leichnam auf die Schlafstatt der Hexe, um sie dann mit der Decke zu verhüllen.
»Sprich du ein Gebet für sie«, murmelte er heiser, und der Exorzist kam der Aufforderung nach. Ranulf fühlte Mitleid und Trauer um das vielleicht zehnjährige Mädchen, das von der Hexe ermordet und gehäutet worden war, aber auch Neugier, warum Michail so heftig reagiert hatte. Das Leben des Karpaten war doch so voller Gewalt und Gräuel gewesen, dass ihn selbst dieses Verbrechen nicht mehr schrecken sollte.
»Hast du sie wenigstens erwischt?«, fragte Michail nach der Teufelshexe, nachdem O'Hale das Gebet beendet hatte.
»Nein, sie ist durch den Luftschacht entkommen. Auf ihrem Besen.« Ranulf zog ein silbernes Etui aus der Innentasche seines Jacketts, entnahm ihm eine Zigarette und steckte sie zwischen die Lippen. Bevor er nach seinem Feuerzeug greifen konnte, vernahm er ein charakteristisches scha-click, und Michail hielt ihm eine Flamme unter die Nase. Nachdem er dem Exorzisten Feuer gegeben hatte, zündete er sich selbst eine Zigarette an und ließ das Sturmfeuerzeug wieder in seiner Tasche verschwinden.
»Du rauchst wieder?«
Tief inhalierte Michail den Rauch in seine toten Lungen. »Bei all den neuen Nichtraucher-Gesetzen ist es beinahe Pflicht für jeden anständigen Vampir.« Er grinste flüchtig. »Und es wird mich ja nicht umbringen.« Sein Gesicht verfinsterte sich wieder. »Apropos umbringen: Ist die arme Kleine das einzige Opfer der Striga, oder gibt es weitere?«
»Striga?« Ranulf runzelte die Stirn. Eine Striga war ein Nachtgeschöpf, ähnlich einem Vampir, das den Menschen jedoch nicht das Blut, sondern die Lebenskraft aussaugte. Vor allem Neugeborene und Säuglinge zählten zu ihren Opfern, aber sie konnten auch einem Erwachsenen gefährlich werden. Ranulf zog an seiner Zigarette. Bislang hatte noch keine Striga seinen Weg gekreuzt, da sie im Südosten Europas heimisch waren und außerdem so selten, dass sie als aussterbende Rasse galten. Aber er kannte sich mit ihnen gut genug aus, um zu bemerken: »Sind die Strigoi nicht wie die Harpyien dämonische Mischwesen, halb Mensch, halb Eule?«
»Nein, sie sind zweigestaltig. Entweder erscheinen sie als eulenartiger Vogel oder als uraltes Hutzelweib mit ledriger, verfärbter Haut und krallenartigen Händen. In beiden Fällen erkennt man sie sofort als Nachtgeschöpfe, aber schlüpfen sie in die Haut eines Menschen, ist ihre Tarnung perfekt.«
»Nicht ganz: Ihre finstere Aura konnte ich selbst durch die Verkleidung hindurch spüren. Ich nahm jedoch an, ich hätte es lediglich mit einer bösen Hexe zu tun.«
»Das dachte ich auch«, murrte der Karpate.
»Du wusstest, dass hier in Bruchhausen eine schwarze Hexe lebt?«
Ranulf klang überrascht und vorwurfsvoll zugleich, sodass Michail mit der Antwort zögerte. Trotz allem standen O'Hale und er auf verschiedenen Seiten der Nacht, und nicht alle Regeln, nach denen der Karpate lebte, würden das Verständnis oder zumindest die Duldung des Exorzisten finden. Im Allgemeinen herrschte unter den Untoten und Unsterblichen eine Art Waffenstillstand, bei dem man den anderen gewähren ließ, auch wenn man selbst keine Menschen mehr um ihres Blutes willen tötete.
Michail senkte den Blick auf das rotglühende Auge der Zigarette in seiner Hand. Ein jedes Nachtgeschöpf lebte nach eigener Façon, und nur in einem Punkt waren sie sich alle einig: Das Geheimnis ihrer Existenz musste unter allen Umständen gewahrt bleiben. Und da musste nicht erst eine Priesterin eine Voodoopuppe und ein Päckchen Zahnstocher an den Karpaten schicken, damit dieser dafür sorgte, dass verborgen blieb, was im Verborgenen lebte.
New York, 1996
Bell betrat die Wohnung der Toten. Ein rascher Blick zeigte ihr, dass die Kollegen von der Spurensicherung schon länger vor Ort waren: Jeder Raum des kleinen 3-Zimmer-Apartments wurde akribisch durchsucht. Wieder einmal überkam die Polizistin das Gefühl, als würden sie dem Opfer, nachdem man ihm erst das Leben geraubt hatte, jetzt auch die Privatsphäre und ein Stück Menschenwürde stehlen. Aber wenn sie den Mord aufklären und den Mörder seiner gerechten Strafe zuführen wollten, führte kein Weg daran vorbei.
Am Ende des Flurs gelangte sie in das Schlafzimmer, wo ihr Partner Ray sie mit einem Nicken begrüßte und sie informierte: »Sandra Marsten, Fotografin, 27 Jahre alt, geboren in Derry, Maine, ledig, offensichtlich allein lebend. Der Hausmeister hat sie entdeckt. Er wollte den Heizkörper im Wohnzimmer reparieren.«
Bell trat an ihm vorbei und betrachtete teils traurig, teils mit beruflichem Interesse den leblosen Körper. Sandra Marsten war eine hübsche junge Frau gewesen, mit rötlichem Haar und ein paar Sommersprossen, die sich jetzt dunkel von der leichenblassen Haut abhoben. Sie trug einen einfachen Baumwollpyjama, und so friedlich, wie sie auf dem Bett lag, konnte man meinen, sie würde nur schlafen – wäre da nicht das lange Küchenmesser, das in ihrem Herzen steckte.
Wie kaputt muss jemand sein, um so etwas zu tun?, fragte sich Bell nicht zum ersten Mal. Immer noch machte sie ihre Arbeit betroffen, doch wenn sie jemals abstumpfen würde, dann wollte sie die Mordkommission an den Nagel hängen. Aber ich werde ihn erwischen.
Sie winkte dem Polizeiarzt zu, dass er die Leiche mitnehmen konnte, und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo ihre Kollegin Lisa durch eine von Sandras unzähligen Fotomappen blätterte. Neugierig spähte ihr Bell über die Schulter, woraufhin die andere ihr das Album reichte. »Der Junge hat vielleicht Phantasie«, bemerkte sie trocken.
Bell schlug den Deckel auf. Die erste Aufnahme war nachts gemacht worden, und durch eine breite Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte, gab sie Einblick in eine hell erleuchtete Wohnung. Rechts im Hintergrund war ein breites Doppelbett zu erkennen, linkerhand, weiter vorne im Raum, ragte der Rücken einer Couch empor. In der Mitte des Zimmers stand ein nackter junger Mann. Er hatte die Hände über seinem Kopf gegen die Fensterscheibe gedrückt, die Beine leicht gespreizt und eine prächtige Erektion.
Bell zog die Augenbrauen hoch und sah Lisa fragend an, die ihr mit einer Geste deutete, weiter zu blättern. Die anderen Fotos zeigten das gleiche Motiv, doch waren kleine Unterschiede in der Haltung des blonden Mannes zu erkennen: Seine Hüften bewegten sich rhythmisch, er legte den Kopf in den Nacken, seine Lippen öffneten sich, sicherlich von einem Aufstöhnen, leicht hob und senkte sich sein Körper, als hätte er einen unsichtbaren Liebhaber. Er bog den Rücken durch, näherte sich offensichtlich seinem Höhepunkt, da änderte sich das Motiv: Die letzten Bilder zeigten sein Gesicht, erst von Schmerzen verzerrt, dann mit dem leicht dümmlichen Ausdruck von erlösender Befriedigung und erfüllter Lust.
Mit einem Gefühl der Enttäuschung, das letzte Bild gesehen zu haben, schloss Bell das Album. Um eine unbewegte Miene bemüht, gab sie die Fotos zurück; die Bilder hatten sie erregt, und sie hoffte, dass es die Kollegin nicht bemerkte.
Das leise Klappern der fahrbaren Trage, auf der die sterbliche Hülle von Sandra Marsten aus der Wohnung gebracht wurde, holte Bell in die kalte Realität des Tatorts zurück. Auf das Album deutend wies sie Lisa an: »Wir sollten das als Beweismaterial sichern.«
»Aber Bell«, tadelte die Kollegin scherzhaft, ehe sie ernst wurde: »Meinst du, jemand hat ihr diese Aufnahmen übel genommen?«
»Vielleicht … nicht.« Sie zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema: »Hatte Miss Marsten Angehörige?«
»Ihre Eltern in Derry«, antwortete Ray, der sich zu den beiden Frauen gesellte. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes Adressbuch. »Sie hat hier in der Stadt ein paar Freunde und anscheinend einen Ex-Freund namens Marcus Buck.«
»Wie kommst du darauf, dass es sich um einen Ex handelt?«
»Sie hat quer über die Adresse ›Schuft‹ geschrieben.«
»Könnte auch ein Makler sein«, grinste Bell flüchtig. »Sehen wir ihn uns mal an.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Morgen. Dann werden wir hoffentlich auch die Aussagen der Nachbarn und den Befund der Gerichtsmedizin vorliegen haben.«
»Ich werde den Kollegen in Derry Bescheid geben«, bot Lisa an. »Eure Schicht ist ja schon längst vorbei.«
»Danke.« Bell nickte ihr zum Abschied zu, und gefolgt von Ray verließ sie die Wohnung. Im Treppenhaus fragte ihr Partner: »Was war in dem Album?«
»Ein paar Fotos von einem nackten Mann mit zu viel Phantasie.« Sie zwinkerte ihm zu. »Sie könnten was mit dem Mord zu tun haben, aber ich gehe nicht davon aus.« Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, ihrem Instinkt zu folgen, und der sagte ihr, dass die Aufnahmen nichts mit dem gewaltsamen Tod der jungen Frau zu tun hatten. »Wenn Miss Marsten wegen dieser Fotos getötet wurde, dann hätte der Mörder sie sicherlich mitgenommen.«
»Na ja, wenn wir nichts anderes finden, können wir immer noch diese Spur verfolgen«, meinte Ray, und als sie die Haustür erreichten, fragte er: »Kommst du noch mit auf ein Bier?«
Bell wollte gerade zusagen, da fiel ihr Blick auf die dunkle Silhouette eines Hochhauses, das sich über die Häuserzeile auf der anderen Straßenseite in den nächtlichen Himmel erhob. Warmes Licht leuchtete aus den Fenstern in die Dunkelheit hinaus und verriet Bell, von wo aus Sandra Marsten die Fotos von dem Jüngling geschossen hatte. Das Gesicht des Blonden schob sich vor ihr inneres Auge, seine von Schmerz und Lust erfüllten Züge, und sie spürte, wie ihre Erregung erneut erwachte.
»Ein anderes Mal«, lehnte sie Rays Einladung ab. Sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. »Wir sehen uns auf dem Revier.«
»Bis morgen!« Er eilte mit langen Schritten auf die andere Straßenseite, wo sein Wagen parkte, während Bell bewusst langsam zu ihrem eigenen Auto schlenderte. Nachdem ihr Partner um die nächste Ecke entschwunden war, holte sie ihr Fernglas aus dem Handschuhfach und kehrte in das Haus zurück. Sie stieg die Treppe hinauf, bis ganz nach oben, und gelangte durch den Notausgang auf das flache Dach, über das ein kalter Wind hinwegstrich. Fröstelnd trat sie an den Rand, lehnte sich gegen die steinerne Brüstung und begann, systematisch die Front des Hochhauses abzusuchen. Einige Fenster waren dunkel, andere mit Jalousien verschlossen oder durch Vorhänge geschützt. Weitere waren mit Topfpflanzen zugestellt oder gaben lediglich den Blick in Arbeits- oder Wohnzimmer frei.
Erst in einem der obersten Stockwerke fand sie das gesuchte Zimmer. Sie erkannte es sofort wieder, teils aufgrund der Einrichtung, teils wegen der beiden Männer, die … Bell schluckte, und heiße Röte schoss in ihre Wangen. Obwohl sie von dem einen nur den Rücken sah, erkannte sie in ihm den Jüngling von den Fotos. Nackt kniete er vor einem schwarzhaarigen Mann, der seine Hand in dem hellen Haar vergraben hatte und den anderen liebevoll und irgendwie hungrig betrachtete.