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Übel zugerichtet. Gefoltert. Stranguliert. So hängt die Leiche des ersten Opfers am Seitpferd im Turnzentrum Dornbirn. Ins Leder eingeritzt: ein Zeichen. Revierinspektorin Cindy Panzenböck, in der Turnszene zu Hause, erkennt es sofort. Doch was will der Täter damit sagen? Und es bleibt nicht bei einem Toten, vielmehr zieht sich eine Blutspur bis nach Graz. Die Ermittlerteams müssen zusammenarbeiten. Kann das funktionieren, wenn die Fundorte der Opfer sechshundert Kilometer auseinanderliegen? Es gibt keine Anhaltspunkte. Nur eines ist gewiss: der Täter wird ein weiteres Mal zuschlagen. Die Zeit wird knapp für die Kriminalbeamten aus Bregenz und Graz. Können sie den Täter stoppen? Cindy wagt einen leichtfertigen Alleingang. Als sie die Zusammenhänge erkennt, ist es zu spät. Hochspannender Thriller mit überraschenden Wendungen. ACHTUNG - TRIGGERWARUNUNG - enthält Szenen, die eventuell schockieren können.
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Rasende Rache
L.R.WÖSS
Rasende Rache
L.R.Wöss
Impressum
Auflage: 1 (April 2021)
ISBN 978-3-9519812-4-6
Lektorat Elsa Rieger, www.schreibgedanken.de
und Victoria Suffrage
Korrektorat: Enya Kummer
Gestaltung/Satz: Elsa Rieger
Covergestaltung: Michael Troy / MT-DESIGN
Bildnachweis:© SanchaiRat, www.shutterstock.com
© NikhomTreeVector, www.shutterstock.com
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Dies ist ein frei erfundenes Werk. Personen, Orte, Handlungen und andere Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie oder wurden fiktiv genutzt. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die in diesem Buch erwähnten Markennamen und Warenzeichen sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Über das Buch
Übel zugerichtet. Gefoltert. Erhängt im Turnsaal.
So wird die Leiche von Hansjörg Marte in Dornbirn aufgefunden. Er war als Querulant bekannt und hatte viele Feinde. Das LKA Bregenz nimmt die Ermittlungen auf.
Doch es bleibt nicht bei einem Toten. Die Spur führt bis nach Graz.
Und wieder sind Chefinspektor Toni Wakolbinger, Cindy Panzenböck und das Team aus Graz gefordert. Diesmal müssen sie mit den Ermittlern aus Vorarlberg zusammenarbeiten, um den grausamen Morden auf die Spur zu kommen. Was die Sache nicht einfach macht, immerhin liegen die Fundorte sechshundert Kilometer auseinander. Nur das Milieu, in dem die Opfer zuhause sind, scheint dasselbe zu sein. Und schnell wird klar, dass es noch weitere Opfer geben wird. Die Zeit läuft davon. Cindy wagt einen folgenschweren Alleingang.
Für Rainer
Inhaltsverzeichnis
Über das Buch5
Irgendwann9
Olympiazentrum Dornbirn11
Der zwanzigste Geburtstag24
Hast du was vergessen?26
Krieger38
Ich bin Beamter41
Meist ist der Ehepartner der Mörder58
Brainstorming76
Plan A91
Wäre auch zu einfach gewesen98
Sie ist eine Frau111
Wir waren in Jelsa127
Sie hatte ein schwarzes Herz137
Seit wann handeln Mörder logisch143
Alles könnte wichtig sein153
Sieh deine Kleine vor dir161
Du bist schon eine Nummer165
Zweifelst du jetzt?179
Zuerst das Geschäftliche183
Wäre zu schön gewesen189
Ob das ein Name ist?200
Jeder hat seine Achillesferse213
Passt, hat geklappt224
Bist du nicht zu früh dran?226
Schlafend in den Tod246
Was meinst du mit ›weg‹?250
Und er spielte Golf260
Ein Mörder kommt selten von vorn266
Sie konnte es niemanden sagen285
Es war kein guter Morgen292
Zur rechten Zeit305
Brauchen Sie Hilfe?311
Niemand springt Doppelsalto316
Bist du wach?327
Wir machen unsere Arbeit335
So ein Trottel!341
Ich hab Mist gebaut349
Der letzte Akt364
Das Dankeschön am Schluss366
Über die Autorin367
Lesetipps368
Irgendwann
Die Männer sprachen, ich verstand nichts und begriff trotzdem. Das Zittern begann und wollte nicht aufhören. Der eine drückte mir seinen Unterarm auf den Hals, sodass ich Angst hatte zu ersticken. Panisch wand ich mich wie eine Schlange, würgte, bäumte mich auf. Doch die Kraft reichte nicht, das Schluchzen blieb mir in der Kehle stecken. Sein Lachen brannte in den Ohren. Er begrabschte mich, der dünne Pullover bot wenig Widerstand für seine riesige Pratze, rau kratzte es auf meiner Haut, als sich schwielige Finger unter den BH schoben. Ich wollte schreien, doch er zerquetschte mir fast den Kehlkopf. Oh Gott, lasst mich atmen! War denn da niemand? Wiederum die unverständlichen Worte, sie klangen höhnisch, erneut gehässiges Gelächter. Wo war der zweite Kerl? Ein Luftzug, mein Rock wurde hochgeschlagen, kalte Finger zerrten an meinem Höschen. Ich spürte, wie es riss. Bitte, nein, tut mir das nicht an. Der Rotz verschloss mir die Nase. Luft! Panik gab mir ein letztes Mal die Kraft, ich trat nach dem Mann. Ein heiserer Fluch, der Druck auf meinen Hals verstärkte sich. Sah denn niemand, was hier passierte? Alles an mir erschlaffte, ich weinte lautlos, erstickt. Das Klappern einer Gürtelschnalle, meine Beine wurden auseinandergerissen. Die Pranke quetschte meine linke Brust und zwirbelte die Brustwarze. Es stach und brannte. Ein Grunzen neben meinem Ohr, kurze Lockerung, ich saugte tief Luft ein, es stank sauer, nach Schnaps.
Der zweite Mann war zwischen meinen Beinen, drang in mich ein, ein feuriges Messer war in mir. Herrgott, es tat so weh, es zerriss mich. Erneut hämisches Lachen. Schweißig fauliger Geruch rund um mich. Wie Schraubstöcke pressten sich die Finger auf meinen Körper, es schmerzte überall. Und der Kerl zwischen den Beinen schob sich vor und zurück, vor und zurück. Was machten die mit mir? Oh Gott, mein ganzer Körper brannte. Ein lautes Stöhnen und ich spürte es feucht werden. Der Druck um den Hals lockerte sich kurz, ich bewegte den Kopf leicht nach rechts.
Und da standen zwei Personen, sahen zu. Weshalb halfen sie mir nicht? Ich versuchte zu schreien, sie anzuflehen, mir zu helfen.
Warum blieben sie stumm?
Meine Qual war noch nicht vorbei, die Männer hatten bloß die Stellung gewechselt. Der zweite Kerl war nun beim Ohr, zischte mir etwas zu und legte seine Finger um meinen Hals. Sein Atem stank, Herr im Himmel, lass mich atmen. Durch den Tränenschleier sah ich nun den Riesen mit heruntergelassener Hose vor mir knien. Ich zog die Beine an und versuchte, ihn fortzustoßen. Er packte meine Knöchel, hielt mich fest und bohrte sich in mich, es glühte, brannte, biss …
An dieser Stelle stoppte er, wie so oft. Meist brach er schluchzend zusammen. Sein kleines Mädchen. Was hatten sie ihr angetan. Die Hand ballte sich zur Faust und das Grollen in seinem Bauch wurde übermächtig.
24. August 2020, er wartete auf dieses Datum.
»Bis dahin muss es bereinigt sein, für dich, meine Kleine. Bald kommt die Rache. Keiner, der daran beteiligt war, darf der Strafe entgehen«, murmelte er. »Eine Buße, die der Schwere des Verbrechens angemessen ist. Eine Vergeltung, die nicht durch einen gewieften Rechtsverdreher ins Positive gewandelt werden kann! Du hast den Zeitpunkt bestimmt, mein Mädchen.« Mit dem letzten Satz wischte er die Tränen aus dem Gesicht und stand auf.
Ferdl hatte grünes Licht gegeben. Sie hatten sich perfekt vorbereitet und sie würden es bis zum Ende durchziehen.
Mit zitternden Fingern tastete er in seiner Brusttasche nach dem einen Stück Papier, das er immer bei sich trug. Als Erinnerung, dass es noch nicht vorbei war. Die verblasste Schrift auf dem zerknitterten Zettel war kaum mehr leserlich. Vielleicht sollte er wieder eine neue Kopie anfertigen? Wozu? Er kannte den Text auswendig.
Olympiazentrum Dornbirn
Es war der 22. Juli 2020 und Cindy war selig, endlich wieder Urlaub in ihrer Heimat zu verbringen.
Als sie auf den Parkplatz des Landessportzentrums einbiegen wollte, wurde sie von einem uniformierten Beamten weitergewinkt. Was taten die zahlreichen Einsatzfahrzeuge hier?
Es war über zwölf Jahre her, dass Cindy in der Landessportschule in Dornbirn trainiert hatte. Mittlerweile hieß es Landessportzentrum. Sie selbst war bis zur Matura aktive Kunstturnerin gewesen, später hatte sie einmal vor ihrem Studium ein paar Euros dazuverdient und beim Sommertraining ausgeholfen. Nun war ihre Nichte, die vierzehnjährige Laura, in ihre Fußstapfen getreten.
Sie wollte sie zum Training bringen und dabei selbst einen Blick in ihre alte Trainingsstätte werfen.
»Was ist denn hier los?« Vom Beifahrersitz aus verrenkte Laura ihren Hals und versuchte zum Eingang zu spähen.
Cindy fuhr weiter zum benachbarten Fußballplatz und lenkte den Audi ihrer Schwägerin auf den dortigen Parkplatz.
»Sieh mal, Katharina ist da. Und Annika.« Laura deutete auf die Gruppe am Wiesenrand.
Kaum standen sie in einer Parklücke, hüpfte das Mädel aus dem Auto und rannte zu den anderen.
»Hallo Katharina, was ist denn da los?«, rief Cindy, während sie sich den Mädchen näherte.
»Es liegt angeblich ein Toter drin, man wollte uns nichts sagen.« Die Mundwinkel der sonst so fröhlichen Trainerin hingen herab. »Auf jeden Fall ist die Turnhalle bis auf weiteres gesperrt. Was kann da wohl passiert sein? Ein Unfall?«
In Cindy begann es zu kribbeln. Sie musste da hinüber.
»Denkst du, es könnte Mord sein?« Laura hüpfte von einem Bein aufs andere. »Wie im Fernsehen? Mensch, Cindy, lass uns rübergehen.«
Ehe sie antworten konnte, sammelte Katharina die Mädchen ein und lotste sie zur Gymnastik auf den Fußballplatz. Nun war Cindy nicht aufzuhalten. Ihren ›Heimvorteil‹ würde sie nützen.
Zügig ging sie über die Wiese zum Sportzentrum hinüber, sie kannte den Weg noch von damals. Wie gehofft, kam sie so ungehindert zum Parkplatz und Hintereingang des Gebäudekomplexes.
Auf einer Holzbank saß eine bekannte Gestalt, die heftig an einer Zigarette zog.
»Heinz, ich habe dich noch nie rauchen gesehen.« Cindy trat näher. Der stets zu einem Spaß aufgelegte Hauswart sah mit trübem Blick auf. Cindy erschrak fast, wie blass er aussah. »Geht’s dir nicht gut?«
»Eine Leiche«, ein weiterer Zug am Glimmstängel, »es ist entsetzlich.«
»Hier? Ein Unfall?«
Heinz schüttelte den Kopf, zog erneut an der Zigarette und drückte sie dann im Stehaschenbecher neben der Bank aus. Wieder blickte er sie mit unglücklichem Ausdruck an. »Mord.«
Mord? Unmöglich! Oder doch? Wenn es Heinz, der eine Gemütsruhe wie ein Elefant besaß, aus den Latschen kippte, dann konnte es nur wahr sein.
»Wer ist denn umgekommen?«
»Du kennst ihn nicht, er war ein lästiger Stänkerer. Der Vater von einem Turner.« Heinz angelte sich eine neue Kippe aus dem Zigarettenpäckchen. »Er war ein Idiot, aber so was hat er nicht verdient, niemand verdient das.«
Zigmal musste er das Rädchen an seinem Feuerzeug drehen, bis seine Zigarette brannte, so sehr zitterten ihm die Hände. In Cindy rotierte alles, doch sie zwang sich zur Geduld.
Und richtig, Heinz sprach kurz darauf weiter. »Ich habe ihn bei meinem morgendlichen Check gefunden, den mache ich normal immer um halb sechs, heute war ich später dran, weil der Wecker seinen Geist aufgegeben hat und meine Frau zurzeit nicht da ist. Auf jeden Fall war es schon nach sechs. Ich hab’s gleich gerochen, so ein süßer Geruch, fast wie Metall. Einfach anders als sonst.« Er holte tief Luft. »Er hing da, aufgebunden auf dem Seitpferd. Es war furchtbar.« Heinz hustete heftig, schien sich jeden Moment zu übergeben.
Wie eine eiskalte Dusche rieselte es Cindy trotz der Hitze den Rücken hinunter.
Heinz blickte zu Boden, beide Hände hingen schlaff neben ihm herab, die Zigarette klemmte im Mundwinkel, Rauch umhüllte sein Gesicht und er nuschelte: »Er starrte mich an, aufgeknüpft an einer Pausche, einen Draht um den Hals, die Augen …« Er brach ab, sog an der Kippe und spuckte sie aus. »Ich glaub, ich stand da, nur so, minutenlang, konnte es nicht fassen. Gespenstisch, ihn so leblos zu sehen. Am Vorabend hat er noch im Turnsaal herumgebrüllt und jetzt ist er tot! Alles schlaff, die Beine schleiften am Boden, waren leicht gespreizt und abgebogen. Warum hat er sich denn nicht dagegengestemmt? So ein Pferd ist doch nicht so hoch.« Heinz griff nach dem Stummel vor seinen Füßen, zuckte, weil sein Finger direkt die letzte Glut streifte, stieg wütend drauf und warf die Brösel dann in den Aschenbecher. »Ich bin das Rauchen nicht gewöhnt, eigentlich seit Jahren nicht mehr, jetzt habe ich dem Luigi ein Päckchen geklaut.«
Cindys Gedanken wirbelten. Zahlreiche Fragen brannten ihr auf der Zunge, aber sie war nicht als Ermittlerin hier.
»Da war so viel Blut.« Heinz fuhr sich durch die Haare. »Du kennst doch unsere hellblauen Filzmatten? Die sind nun dunkellila, du erkennst sie nicht wieder. Und auch das Pferd ist voller Blutflecken, das geht nie mehr raus.« Er schluckte. Cindy wusste, wie bemüht Heinz immer gewesen war, alles sauber zu halten. Klar, dass ihm das jetzt in den Sinn kam. »Aber das Schlimmste«, ein trockener Schluchzer, »das Messer – die Hose war geöffnet, es steckte mitten …« Er deutete auf seine Mitte.
»Im Penis?«
»Da war nichts mehr, verstehst du? Ich habe keinen Penis gesehen.«
Oh mein Gott. Wenn das mit dem vielen Blut stimmte, dann musste der Mann noch am Leben gewesen sein. Leichen bluten nicht. Cindy fieberte danach, den Fall zu übernehmen. Im Kopf zog sie bereits Parallelen zu den Babyschuhmorden, ihrem ersten Fall beim LKA Graz.
Hier ging es sie allerdings überhaupt nichts an. Trotzdem. Jahrelang war dieser Ort so etwas wie Cindys zweite Heimat gewesen. Sie konnte nicht problemlos gehen. Es würde sie nicht mehr loslassen. Deswegen tastete sie nach ihrem Notizbuch, das sie seit ihrem letzten Fall bei sich trug, wenn sie ihr Tablet nicht griffbereit hatte. »Ich hole uns jetzt erst einen Kaffee und dann erzählst du alles noch mal chronologisch, möglichst zeitlich genau.«
Heinz nickte und zündete sich wieder eine Zigarette an. Das war’s dann wohl mit dem Nichtrauchen.
Cindy schlüpfte durch die Hintertür zum Kaffeeautomaten und kramte in ihrer Geldbörse nach Münzen. Durch die zwei Glastüren konnte sie in den Gang zur Geräteturnhalle sehen. Personen in weißer Schutzkleidung bevölkerten den schmalen Vorraum. Der letzte Beweis, dass es um einen Tatort ging.
»Was tun Sie hier?« Die Stimme schnarrte wie eine mechanische Computerstimme mit beleidigtem Unterton.
Cindy legte den Kopf fast neunzig Grad in den Nacken und sah trotzdem nur das Kinn des Riesen. Wobei Riese nicht zutreffend war, Riesen waren in ihrer Vorstellung kräftige Wesen. Der Mann vor ihr war hager und knochig, Tränensäcke hingen unter seinen Augen, er wirkte, als trüge er sämtliche Last der Welt auf seinen Schultern. Ein langes Elend.
»Ich bringe Herrn Fuhrmann Kaffee, er sitzt da draußen.«
»Und Sie sind?« Erneut der raunzige Beiklang.
Cindy zog den ersten Becher heraus und stellte ihn sofort auf dem Dach des Automaten ab, während sie ein zweites Mal Münzen einwarf. »Ich bin Revierinspektor Panzenböck.« Energisch drückte sie auf ›Cappuccino‹. »Und Sie?«
»Kontrollinspektor Brunner vom LKA Bregenz.«
Sprach er immer mit derselben Betonung, also mit keiner?
»Bleiben Sie draußen.«
Cindy hatte auf einmal die Vorstellung im Kopf, wie er einer Frau in diesem Tonfall ein Kompliment machte. Sie konnte weder Überraschung noch Verärgerung heraushören, nur gleichbleibende Genervtheit. Im Rücken spürte sie seinen Blick, als sie die beiden heißen Becher zu Heinz ins Freie trug und dabei automatisch schneller ging. Nicht wegen Brunner, sondern weil der Kaffee siedend heiß war.
»Wo ist denn Melanie?« Cindy biss sich gleich auf die Unterlippe. Hoffentlich waren sie nicht geschieden, alles war möglich nach den Jahren. Aber er hatte sie schließlich selbst vorhin erwähnt.
Heinz nippte an dem Getränk. »Zum Glück nicht da. Sie hat auf der Wiesbadener Hütte übernachtet, möchte heute den Piz Buin erklettern. Das war schon lange ein Traum von ihr. Bergsteigen ist ja nicht so meins.«
»Tüchtig.« Cindy hatte auch einmal geplant, auf den höchsten Berg von Vorarlberg zu steigen. Doch ihr Ex Simon war dafür nicht zu begeistern gewesen und nun lebte sie schon lange nicht mehr hier. »Und wo sind deine Leute?« Sie wusste, dass Heinz die Koordination der Reinigung unter sich hatte.
»Die sitzen in der Kantine, die Beamten wollen sie einzeln befragen. Ich könnte auch in meine Wohnung gehen, aber irgendwie schaffe ich es nicht. Allein die Vorstellung, dass ich da oben geschlafen habe, während im Turnsaal ein Mensch auf so grausame Weise umgebracht wurde.« Er schüttelte den Kopf und hielt den Pappbecher, als wolle er die Hände daran wärmen.
»Du wohnst immer noch hier?« Cindy setzte sich nun neben ihn, stellte den Becher auf den Boden vor sich und machte sich Notizen.
»Ja. Wie konnte es passieren, dass ich nichts mitgekriegt habe?«
»Drehst du normalerweise auch abends eine Runde?«
»Nein, das wäre zu viel.« Er trank einen Schluck.
»Hättest du von deiner Wohnung aus etwas mitkriegen können? Du hast erzählt, das Opfer hätte im Turnsaal herumgebrüllt?«
»Das war nur bildlich gesprochen. Ich habe ihn ab und zu gehört, wenn ich zufällig in den Turnsaal kam. Von meiner Wohnung aus hört man nichts.« Ein weiterer Schluck.
»Wer ist er?«
»Er war der Vater eines Turners, der Bub heißt Leon Marte. Er kam regelmäßig und machte Ramba Zamba, man würde seinen Sohn nicht richtig trainieren. Das tat er bereits beim alten Trainer, dem Czerny, den kanntest du ja auch noch?«
»Natürlich. Wie könnte ich den vergessen?«
»Auf jeden Fall brüllte der Marte immer nur rum. Doch als ich ihn so daliegen sah, da …«
»Wie kann man einem Menschen sowas antun.« Der eigenartig schnarrende Tonfall mit dem raunzenden Unterton.
Cindy erkannte die Stimme von eben sofort wieder. Sie sah auf.
Zwei Männer traten durch die Tür ins Freie. Das lange Elend und ein etwas kleinerer mit Halbglatze.
»Herr Fuhrmann? Geht es Ihnen so weit besser, dass wir ein paar Fragen stellen können?« Der energische Tonfall mit dem tiefen Timbre gefiel Cindy gut. Fast wie Toni.
»Es passt.« Heinz wollte sich erheben, doch der Kleinere hob die Hand und deutete nach unten. »Bitte, bleiben Sie sitzen.«
Die zwei Beamten standen nun vor ihnen. Cindy angelte nach ihrem Kaffeebecher und trank einen Schluck. Halbglatze zog sich mit kurzen Griffen das Jackett des gutsitzenden Anzugs gerade. Ein Polizeibeamter, der offensichtlich Wert auf Eleganz legte. Trotz zu erwartender Sommertemperaturen um die dreißig Grad trug er auch noch eine schwarz-grün gemusterte Krawatte zum farblich passenden Hemd.
»Wer sind Sie?«
Die Frage katapultierte Cindy aus ihren Gedanken.
»Angeblich eine Kollegin.« Ob der Lange ein Patent auf diese ätzende Stimme angemeldet hatte? Den Schutzanzug hatte er abgelegt, sein Seidenhemd flatterte am Körper, vermutlich war es schwer, für seinen Körperbau etwas zu finden, die beigefarbene Hose war mit Bügelfalten versehen. Ob es eine Kleiderordnung für die Kriminalabteilung Bregenz gab?
»Ich habe mich nur um Herrn Fuhrmann gekümmert, wir sind alte Bekannte.«
»Wie kamen Sie überhaupt hier herein?« Der Anzugträger runzelte die Stirn. Da hatte sie sich wohl keine Freunde gemacht.
»Hinten.« Sie bemühte sich um ein strahlendes Unschuldslächeln. »Als ehemalige Turnerin kenne ich jeden Schleichweg.«
Halbglatze lachte plötzlich und entblößte leicht schrägstehende Zähne, die ihn jedoch sympathisch wirken ließen. »Ich bin Chefinspektor Klaus Vith. Bist du nun eine Kollegin oder nicht?«
Cindy kramte ihren Ausweis hervor. »Panzenböck, ich arbeite in Graz.«
Vith nahm ihre Karte in die Hand. »Aber du bist eindeutig eine Vorarlbergerin, Cassandra.«
»Das hört man doch.« Immer wenn Cindy zu Besuch in ihrer alten Heimat war, fiel sie automatisch in ihren Dialekt. »Aber niemand nennt mich Cassandra, bitte, Cindy.«
Vith gab ihr den Ausweis mit einem Lächeln zurück. »Ich schätze, du bist die freche Göre, von der mir Toni erzählt hat.«
»Du kennst Toni?«
»Natürlich. Wir Kriminalen kennen uns alle irgendwie und von irgendwann. Er lobte deinen Blick fürs Detail.«
Tatsächlich? Cindy fühlte sich gerade um einen halben Meter größer.
»Kanntest du den Toten?«
»Nein. Er war der Vater eines Turners, sagt Heinz. Wurde er wirklich an einer Pausche aufgehängt?«
Was für eine Frage. Der elegant gekleidete Chefinspektor würde ihr wohl kaum etwas verraten. Doch zu ihrer Überraschung scrollte Vith in seinem Handy und hielt es ihr hin. Sie musste schlucken. Ehe sie danach greifen konnte, kam Protest.
»Aber Klaus.« Die Spaßbremse, dessen Namen sie immer noch nicht kannte.
»Sie ist eine Kollegin.« Vith fuchtelte mit dem Handy in ihre Richtung, sodass sie nicht anders konnte, als es abzunehmen. »Das ist Kontrollinspektor Guntram Brunner.«
»Hocherfreut.« Cindy legte übertriebene Freude in ihre Stimme und grinste den sauren Drops an, dennoch bewegte sich kein Muskel im Gesicht des Kollegen. Er nickte lediglich minimal. Vielleicht hatte sie sich das aber auch nur eingebildet.
Nun galt ihre Aufmerksamkeit dem Foto auf dem Handy. Als Beamtin hatte sie es schon mit Mordopfern zu tun gehabt, dennoch war jede neue Leiche für sich schrecklich.
»Sieh es dir genau an«, hörte sie Viths Stimme wie durch Watte. »Vielleicht fällt dir was auf. Ich kann dich nicht in den Turnsaal lassen, die Spurensicherung ist dran.«
Automatisch ging sie ein paar Schritte abseits. Es waren mehrere Bilder, die den Toten von allen Seiten zeigten. Der Mann musste unendlich gelitten haben. Was Heinz nicht gesehen und sie nach seinen Erzählungen bereits vermutet hatte: Dem bedauernswerten Opfer waren die Geschlechtsteile abgeschnitten worden. War er daran verblutet? Unbändiger Zorn erfasste sie, am liebsten hätte sie das Handy von sich geschleudert. Nie hätte sie gedacht, dass so eine schreckliche Tat im Turnsaal passieren könnte. An einem Ort, an dem trainiert wird, Tonnen von Schweiß auf den Boden fließen. Ein Turngerät als Galgen! Zahlreiche fantastische Turnelemente und ganze Übungen wurden auf diesem Pferd geturnt. Und jetzt wurde mit Hilfe des Geräts ein Mord verübt? So einen Tod verdient niemand.
Erst Minuten später hörte Cindy die Stimmen rund um sich wieder, nach weiteren Sekunden verstand sie auch, was gesprochen wurde.
»Herr Fuhrmann, erzählen Sie, wie Sie den gestrigen Abend verbracht haben.«
»Jeden Dienstag kegeln wir, also ein paar Freunde, auf unseren hauseigenen Kegelbahnen. Wir haben um zehn Uhr Schluss gemacht, haben noch ein Bier getrunken und ich bin dann in die Wohnung.«
Cindy lauschte nur mit halbem Ohr, entfernte sich von den dreien und scrollte sich erneut durch die Bilder. Irgendetwas war eigenartig, aber sie entdeckte es nicht. Wie früher, wenn sie sich in den Suchbildern festbiss und es ihr keine Ruhe ließ, bis sie sämtliche Fehler gefunden hatte.
Sie wurde abgelenkt durch einen weiteren Mann, der aus der Tür ins Freie trat. Er wirkte so blass wie sein weißes T-Shirt, sodass die schmale Narbe auf seiner Wange deutlich zu sehen war. Ohne nach rechts und links zu schauen, spazierte er ein Stück in die externe Sportanlage, die Hände tief in den Taschen seiner Trainingshose vergraben. Cindy erkannte ihn sofort, obwohl er sich doch ziemlich verändert hatte. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war er schließlich erst sechzehn gewesen. Das Handy in ihren Fingern läutete, der Chefinspektor sah kurz auf und streckte die Hand aus.
Cindy bedauerte, nicht mehr Zeit zu haben, und reichte ihm sein Telefon. Der Bregenzer Kollege ging etwas abseits und nahm den Anruf an. Das lange Elend hatte sich neben Heinz auf die Bank gesetzt und schaute in sein iPad. Heinz sah mit glasigen Augen in die Ferne, den leeren Kaffeebecher in der Hand.
»Hallo David.« Mit wenigen Schritten überbrückte Cindy die Distanz zu dem bleichen jungen Mann. Der drehte sich ruckartig um, blinzelte kurz und fuhr mit den Fingern durch seine blonden Haare, die wirkten, als hätten sie zumindest heute noch keinen Kamm gesehen.
»Ich bin …«
David hob die Hand und ein Lächeln veränderte seine angespannten Züge. »Ich weiß, wer du bist, Cindy. Schön dich wiederzusehen. Unglücklicherweise ist der Anlass erschreckend. Es liegt ein Toter da drin.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich.
David Ender. Sie hatten einige gemeinsame Jahre im Turnsaal verbracht. »Das stimmt leider. Bist du als Trainer für den Sommer hier?«
»Nein. Ich bin der Cheftrainer sozusagen.« Seine Lachfältchen vertieften sich.
»Wow.«
»Abgeschlossenes Sportstudium plus Mathematik. Ich habe zusätzlich eine halbe Lehrverpflichtung am Seegymnasium in Bregenz.«
»Du klingst, als hättest du das Richtige gewählt.«
»Ausgenommen, es wird der Vater einer meiner Turner ermordet.«
»Du kanntest ihn gut?«
»So gut, wie man jemanden kennen kann, der einen immer nur anschreit.« Er zuckte mit den Achseln, dann lächelte er. »Aber ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen.«
Vith hatte sein Telefonat beendet und offenbar den letzten Satz gehört. »Du bist anscheinend tatsächlich von der Szene.«
»Zwar schon seit über zehn Jahren weg vom Fenster, aber offenbar kennen mich ein paar Leute noch.«
»Dich wird man nicht so schnell vergessen.« David sah Vith an. »Sie war Staatsmeisterin im Kunstturnen 2007.«
Cindy riss die Augen auf. »Daran erinnerst du dich?«
»Klar.«
»Hut ab«, sagte nun auch Vith. »Ich unterbreche eure Rückblicke nur ungern, aber wir müssen einen Fall aufklären. Wenn dir etwas einfällt, dann melde dich, Cassandra.«
Sie zuckte zusammen. »Cindy, bitte.«
»Guntram, schau bitte hinein, ob Susanne schon da ist.«
Das lange Elend sprang überraschend schnell auf und verschwand im Gebäude.
»Herr Ender, ich habe ein paar Fragen an Sie. Wollen wir uns hineinsetzen?« Vith nickte Cindy zu. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«
Es war eindeutig eine Verabschiedung. Cindy ging noch rasch zu Heinz, der den Kaffeebecher in seiner Hand zerknüllt hatte. »Tschüss Heinz, und liebe Grüße an Melanie.«
»Mach ich.«
Sie wäre gern noch geblieben, aber sie hatte hier nichts zu suchen. Mit diesen Ermittlungen hatte sie absolut nichts zu tun. Die Kollegen hatten ihr schon mehr als üblich Einblicke gewährt. Trotzdem ließ sie das Bild auf dem Handy nicht los. Irgendwas hatte sie gesehen, auch wenn sie es nicht einordnen konnte.
Der zwanzigste Geburtstag
Einer ist tot.
Einer ist tot.
Einer ist tot.
Einer hatte bereits gebüßt.
Es war richtig und gut gewesen.
Irgendwie stand er neben sich. In seinem Kopf formte sich immer wieder dieser eine Satz.
Schade, dass es so schnell gegangen war. Der Mann hatte zu rasch das Bewusstsein verloren.
Seiner Tochter war dies nicht vergönnt gewesen. Weshalb war sie damals nicht zu ihm gekommen? Am 24. August wäre seine Kleine zwanzig geworden. Aber sie durfte es nicht erleben. Ihr letzter Geburtstag war der fünfzehnte gewesen. Und doch wäre sie gerne zwanzig geworden.
In seinem Kopf waren die Worte eingebrannt, die er stets mit sich trug.
Warum bin ich erst fünfzehn. Was für ein doofes Alter! Ich möchte schon zwanzig sein. Das wäre cool. Eine Torte mit Schokolade, obenauf Marzipan und mit Smarties verziert. Zwanzig Wunderkerzen. Eine Riesenparty mit zwanzig Gästen, einfach mega. Musik stelle ich mir vor, die neueste Boygroup spielt und alle tanzen und singen. Und natürlich muss jemand auftreten, am besten ein Magier, aber ein großer, nicht so ein Trickser. Einen Freund habe ich dann auch schon, der hat dunkle lange Haare und schokoladenbraune Augen. Und er ist unendlich reich. Um Mitternacht küsst er mich und macht mir einen Heiratsantrag. Ich bekomme einen Ring mit einem Rubin oder Smaragd und die passende Kette dazu. Dann feiern wir auf seiner Jacht am Bodensee weiter. Ach, wäre ich doch schon zwanzig.
Er saß in dem Kellerraum, der die Zuflucht seiner Tochter gewesen war. Eine Couch, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Bücherregal.
Vor fünf Jahren hatte er seine Kleine zu ihrer Mutter in die Erde betten müssen. Ohne Ferdl hätte er den Schmerz nicht überstanden. Und er war dankbar, dass sein Schwager ihn ermutigt hatte, das Richtige zu tun.
Rache für sein kleines Mädchen. Sie würden bald erneut zuschlagen, je schneller, desto besser. Bis zum 24. August musste es vollbracht sein.
Damit seine Tochter endlich Frieden hatte.
Hast du was vergessen?
Cindy wanderte wieder über die hinteren Wege zurück bis zum Fußballplatz. Sie sah die sechs Turnerinnen, die auf der Wiese ihr Gymnastikprogramm absolvierten.
Katharina stand abseits. Als sie Cindy erblickte, kam sie ihr entgegen. »Hast du etwas erfahren?«
Cindy sah zu den Mädchen, die zum Glück weit genug weg waren und nichts von der Unterhaltung mitbekommen konnten. Sie fürchtete sich schon vor Lauras Fragen während der Heimfahrt.
»Der Vater eines Turners ist der Tote.« Das würde bald in der Zeitung stehen.
»Wer?«
»Ein Herr Marte.«
»Oh.« Katharina schluckte.
»Kanntest du ihn?«
»Ja. Er war ein absoluter Störenfried. Kam fast jede Woche mindestens einmal und meckerte wegen der Trainingsmethoden. David tat mir wirklich schon leid.«
»Also Herr Marte hat das Training kritisiert?«
»Er meinte, sein Sohn würde zu wenig beachtet und man würde andere bevorzugen. Natürlich ist er nicht der erste Elternteil, der so was tut, meine Güte, wenn ich denke, wie viele Mütter unsere Cheftrainerin da immer anrufen oder darauf ansprechen. Aber Herr Marte war wirklich aggressiv. Er kam rein und schrie herum, das bekamen so ziemlich alle hier mit.«
»Wie reagierte David?« Konnte dem der Kragen geplatzt sein und er war aus Zorn auf den Mann losgegangen? In derselben Sekunde verwarf Cindy den Gedanken; das Messer im Unterleib sprach eine deutliche Sprache. Zudem war der David, an den sie sich erinnerte, niemals aggressiv gewesen.
»Am Anfang noch gelassen, hat sich Mühe gegeben und mit ihm geredet. Aber in letzter Zeit wirkte er zunehmend genervt.«
»Dennoch erscheint mir das nicht Motiv genug, ihn umzubringen.« Und dermaßen zu foltern. »War seine Kritik berechtigt?«
Katharina verschränkte die Arme. »Das fragst du nicht im Ernst, oder? Wir bemühen uns immer, alle gleich zu behandeln, aber es gibt eben Unterschiede. Bei den meisten liegt es am Fleiß, doch manchen fehlt halt das winzige bisschen Talent, das für den Durchbruch entscheidend ist.«
Das wusste Cindy natürlich. Zehn Prozent Talent und neunzig Prozent harte Arbeit, in diesem Fall Training. Das galt so für ziemlich vieles im Leben.
»Hoffentlich geht’s bald wieder mit dem Training. Irgendwie ist heuer der Wurm drin.« Der scharfe Tonfall von Katharina Gerlach riss Cindy aus ihren Gedanken. Der Corona-Lockdown hatte viele Sportvereine getroffen. »Ich trainiere nur in Sechsergruppen, trage Maske, sobald ich helfend eingreife, und wir bemühen uns alle um Abstand. Aber es ist aufreibend.«
»Katharina, kannst du dich vielleicht an sonst jemanden erinnern, der mit dem Marte Streit hatte?«
»Er hatte mit niemandem Streit, Cindy. Er kam in den Turnsaal und brüllte herum. Dann verschwand er wieder. Bombe gezündet, explodiert und verpufft. Das ging seit Jahren so.«
»Weshalb habt ihr euch das gefallen lassen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es war nicht mein, sondern Davids Problem. Vor ihm war der Czerny Trainer, der hat den Kerl oft aus der Halle geschmissen. Aber er kam halt immer wieder und störte, meist gegen Ende der Einheit. Da haben wir keine schwierigen Elemente mehr geübt. Wir haben uns an ihn gewöhnt, geht doch schon Jahre so. Vermutlich wird uns jetzt etwas abgehen.« Katharina seufzte. »So grausig, das alles.«
Ein Blitz hatte Cindy bei der Erwähnung der ›Elemente‹ durchfahren. Das Zeichen, deutlich im Leder des Seitpferds. Ein Dreieck, bei dem eine Linie nach oben verlief wie bei einer verlängerten Stehleiter, und dann der gebogene Pfeil, der nach unten zeigte. Etwas ungelenk eingeritzt, daher hatte sie es nicht sofort erkannt. Natürlich! Das war es. Sie musste zurück. »Katharina, wie lang trainierst du noch?«
»Bis elf, dachte ich.« Es war zwanzig Minuten davor.
»Laura soll mich bitte anrufen, kannst du ihr das ausrichten?«
»Natürlich.«
Cindy rannte zurück und kam atemlos beim Hintereingang an. Heinz war nicht mehr hier, auch von David war nichts zu sehen. Dafür stand ein junger Polizist in Uniform davor und wollte ihr den Eingang verwehren. Sie zückte den Ausweis und durfte passieren.
Durch den Gang am Speisesaal vorbei erreichte sie die große Vorhalle, in der Chefinspektor Vith sich mit einer Gruppe weißgekleideter Leute unterhielt, vermutlich Beamte der Spurensicherung.
»So etwas Schlimmes habe ich in Vorarlberg noch nicht erlebt«, hörte Cindy einen der Weißbekleideten sagen, der durch seine stämmige Figur hervorstach. »Der Mann wurde bei lebendigem Leib kastriert. So blass habe ich den alten Meierhofer noch nie gesehen. Weißt du schon, wer das Opfer ist?«
»Der Mann heißt Marte, er war der Vater eines Turners und ist offenbar mehrmals negativ aufgefallen.« Die tiefe Stimme des Chefinspektors war deutlich zu hören. Mit seinem Anzug und der Krawatte hätte er gut und gern an einer Cocktailparty teilnehmen können.
»Hast du was vergessen?«, schnarrte es hinter Cindy. Das lange Elend. Neben ihm ging eine Frau in den Dreißigern, deren auffallend dichte Haare in einem Zopf gebändigt waren, der ihr fast bis zur Hüfte reichte.
»Mir ist noch etwas Wichtiges eingefallen.«
»Dann mal los.« Es klang eher gelangweilt. Der war wohl immer so schlecht drauf.
»Ich bin Susanne«, stellte sich die Zopfdame vor, lächelte freundlich und rückte ihre Brille gerade. Sie trug Jeans und ein luftiges Top, offenbar gab es doch keinen Dresscode für die Vorarlberger. »Bist du die Grazerin? Du hörst dich aber an wie eine Hiesige.«
»Bin ich auch, ich arbeite nur in Graz. Ich bin Cindy.« Händeschütteln gab’s momentan ja nicht. »Euer Chefinspektor hat mir vorhin die Fotos vom Tatort gezeigt …«
»Was ein großer Fehler war.« Oh Mann, was hatte das lange Elend für ein Problem?
Jetzt wurde der Chefinspektor auf sie aufmerksam und trat zu ihnen.
»Klaus, bitte darf ich noch einmal die Bilder vom Tatort sehen?«
Er zögerte keine Sekunde und reichte ihr sein Mobiltelefon.
Cindy scrollte sich durch die Aufnahmen und drehte das Handy zu ihren Kollegen. »Seht ihr das Zeichen, das ins Pferd geritzt ist?« Sie vergrößerte mit Daumen und Zeigefinger das Bild. »Es sind sehr tiefe Einschnitte.«
»Du meinst, das Dreieck und den komischen Pfeil? Wir sind nicht blind, natürlich haben wir das registriert.« Das lange Elend schnaubte.
»Es ist ein Kürzel für den ›Yurchenko‹-Sprung.«
»Wofür?« Susanne starrte sie an, als wäre sie eines der Weltwunder.
»Das ist ein Turnelement. Die Turnerin springt einen Flick, das ist ein Handstütz-Überschlag rückwärts auf den Sprungtisch mit anschließendem Salto rückwärts. Es gibt mehrere Varianten …«
»Stopp!« Vith hob die Hand. »Woher weißt du das?«
»Ich war Kampfrichterin.«
»Wenn das ein unter Turnern übliches Geheimzeichen ist, dann kann es irgendwer eingeritzt haben. Ein Kind zum Spaß beispielsweise.« Brunners Stimme klang jedoch, als glaube er selbst nicht daran.
Cindy legte den Kopf in den Nacken. »Niemand würde es wagen, ein Turngerät so zu verschandeln. Hast du eine Ahnung, wie teuer ein Pauschenpferd ist?«
»Ich wollte mir noch nie eines in die Wohnung stellen«, kam es zurück.
»Abgesehen davon kennt kein Kind die Kürzel, die die Kampfrichter verwenden.«
»Und, was schließt du daraus?«
»Dass es bewusst hineingeschnitten wurde.«
»Nicht so schnell mit den jungen Pferden.« Vith nahm sein Handy zurück. »Wir müssen erst abklären, ob das Kürzel wirklich neu ist.«
»Aber wenn, wäre es ein Zeichen.«
»Falls das zu beweisen ist, könnte es sein, dass uns der Täter damit etwas sagen wollte«, stoppte Vith Cindys Euphorie.
Sie war fast enttäuscht. »Das könnte ein wichtiger Hinweis sein.«
Vith starrte auf das Zeichen, dann hob er den Kopf. »Guntram, schau mal bitte zu Herrn Fuhrmann, ob er schon eine Liste von Personal, Sportlern und Trainingsplänen zusammengestellt hat. Wir müssen alle erfassen, die auch nur irgendwie einen Fuß in die Sportschule setzen.«
Brunner nickte mit unverändertem Stirnrunzeln und verschwand Richtung Büroräume.
»Ist er mit dem falschen Fuß aufgestanden?« Die Frage rutschte Cindy heraus. Mal wieder zu vorlaut. Toni wäre nicht begeistert.
Doch Vith schien es ihr nicht übelzunehmen. »Nein, er ist einfach so.«
»Wir schließen im Büro manchmal Wetten ab, wer ihn zum Lachen bringen kann.« Susanne zwinkerte ihr zu.
Das würde heute wohl nicht gelingen, zum Lachen gab es momentan eher nichts.
»Das mit dem Zeichen stimmt?« Vith sah immer noch das Foto an. »Es sieht krakelig aus.«
Cindy scrollte in ihrem Handy auf die Homepage des österreichischen Fachverbands für Turnen, kurz ›ÖFT‹ genannt. Schon zeigte sie es Vith. »Das ist der ›Code de Pointage‹, die Wertungsvorschriften, hier, siehst du die Kürzel?«
Vith verglich. Die Proportionen beim eingeritzten Zeichen waren anders, aber sonst war die Ähnlichkeit unverkennbar.
Ein behäbiger Mann in Schutzkleidung kam auf sie zu, der im Gehen seine Gummihandschuhe abstreifte.
»Doktor, was ist deine Meinung?«
Die Stirnfalten des Arztes vertieften sich. »Fragst du das im Ernst, Klaus? Kleiner Witz des Tages?« Ein poltriges Lachen folgte.
Wobei es angesichts des grausam Ermordeten eher Galgenhumor war, vermutete Cindy.
»Eindeutig Fremdverschulden, aber das kann jedes Kind sehen. Die Leiche muss auf die Gerichtsmedizin nach Innsbruck überstellt werden. Der Mann wurde stranguliert und er lebte noch, als man mit dem Messer seine Genitalien verstümmelt hat.«
Cindy musste schlucken, obwohl sie das bereits auf den Fotos gesehen hatte.
»Woran ist er gestorben?«, fragte Susanne.
Der Arzt rückte mit dem Unterarm seine Brille gerade. »Vermutlich letztlich durch die Strangulation, aber Genaues kann erst mit der Obduktion festgestellt werden.«
»Wissen Sie den Todeszeitpunkt?«
»Die Totenstarre ist komplett ausgeprägt, ich würde sagen, vor zirka vierzehn Stunden.« Der Arzt sah auf die Uhr. »Schätzungsweise gestern Abend gegen neun, eine Stunde auf oder ab.«
»Dann leite bitte alles in die Wege, Jörg.«
»Mache ich selbstverständlich. Nur kein Stress, meine Herren.« Er zwinkerte kurz Cindy und Susanne zu. »Pardon, und meine Damen.«
Der stämmige Mann von vorhin kam auch zurück und kämpfte mit den Gummihandschuhen, die offensichtlich für seine kräftigen Finger zu klein waren. »Fingerabdrücke gibt es zahlreich, allerdings vermuten wir, dass es sich um diejenigen der Turner handelt. Ob da welche vom Täter dabei sind, ist schwer zu sagen. Wir nehmen Proben von ungefähr allem, hoffen wir auf ein wenig Glück. Eine neue Kollegin?«, fragte er in Richtung Cindy.
»Das ist Cindy Panzenböck aus Graz, Cindy, das ist einer unserer besten Besserwisser von der Spusi, Harry Nasswetter.«
»Vielleicht gefällt es dir ja hier und du bleibst«, Harry lächelte sie an und ging zu seiner Mannschaft zurück.
Brunner kam. »Fuhrmann ist gleich so weit, er bringt uns die Listen. Er wird sie auch per E-Mail an uns schicken.«
Nach einem »Danke« drehte sich Vith zu Cindy. »Was denkt die Kollegin, die nach Graz desertiert ist? Wie kann ein Täter das bewerkstelligen? Oder waren es zwei?«
Wollte er sie prüfen oder war er wirklich an ihrer Meinung interessiert?
»Herr Marte war ein großer kräftiger Mann.« Cindy schob ihre Unterlippe vor, wie immer, wenn sie nachdachte. »Ein Einzeltäter hätte sich von hinten anschleichen müssen, Draht über den Kopf. Das würde natürlich funktionieren. Aber dann den schweren Körper zum Seitpferd schleifen und hochheben zu den Pauschen, das schafft nur ein sehr starker Mann. Und es ist anzunehmen, dass Marte das nicht widerspruchslos hingenommen hat.«
»Sprechen konnte er wohl nicht mehr.« Hatte das lange Elend wirklich einen Witz gemacht? Die raunzige Stimme klang jedoch emotionslos. »Es wäre aber immerhin möglich, dass der Mann bereits am Seitpferd stand. Um das Pferd herum lagen Mappen und verstreute Zettel. Vielleicht hat er sich Unterlagen angesehen und auf dem Gerät abgelegt. Dazu hätte das Turngerät genau die richtige Höhe. Für den Täter wäre der Hals in passender Distanz zur Pausche gewesen.«
Denken konnte er, der lange Kollege.
»Da komme ich jetzt nicht mit.« Susanne sah zu Brunner. »Was meinst du mit richtiger Höhe für den Hals?«
Cindy griff ein. »Das Pferd hat eine Höhe von einem Meter fünfzehn, ungefähr Stehtischhöhe. Vielleicht hatte das Opfer Unterlagen darauf abgelegt und sah sie durch. Jemand schleicht sich von hinten an, schlingt einen Draht um seinen Hals, während Marte zusammensinkt, kann er am Pauschenpferd befestigt werden. Ein muskulöser Mann hätte das eventuell hingekriegt.«
»Aber du glaubst das nicht.« Vith formulierte es nicht als Frage.
»Nein. Meine Vermutung ist, dass es zwei Täter sind. Oder mehr.«
»Theoretisch wäre das möglich.« Viths buschige Augenbrauen zogen sich zusammen, das Licht der Neonröhren spiegelte sich in der Halbglatze. Trotz der Hitze hatte der Chefinspektor die Jacke seines Anzugs nicht ausgezogen. Cindy war kurz abgelenkt, doch dann konzentrierte sie sich wieder. »Wir müssen in alle Richtungen denken.«
»Was tat Marte allein im Turnsaal, dass der oder die Mörder ihn erwischen konnten?«, fragte Susanne.
»Der Turnbetrieb endet um zwanzig Uhr, so viel konnte uns David Ender bereits sagen. Er betreut die Burschengruppe«, sagte Brunner. »Wir werden ihn und sämtliche Personen, die sich gestern Abend in der Turnhalle befanden, noch genauer befragen.«
»Kommt nach acht Uhr niemand mehr in die Halle?« Susanne blickte von ihren Notizen hoch. »Es muss doch jemand was gesehen haben.«
»Das hoffe ich.« Vith sah sich um. »Hat der Tote Angehörige?«
Susanne senkte den Kopf zu ihrem Block. »Eine Frau und den Sohn, der hier trainiert. Sie wohnen in Lustenau.«
»Dann werden wir wohl dahinfahren müssen. Ich bin gespannt, ob er der Ehefrau letzte Nacht nicht gefehlt hat.« Er nickte Cindy zu. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Kollegin. Schade, dass du nicht bei uns arbeitest. Danke für den Tipp mit dem Zeichen, das werden wir auf jeden Fall weiterverfolgen.«
»Wir haben schon eine Frau im Team«, hörte Cindy das lange Elend murmeln.
Dieser Kollege wäre offensichtlich alles andere als begeistert, sollte sie ins LKA Bregenz wechseln. Das stand allerdings nicht zur Debatte. Obwohl der Fall sie reizte.
Auf der Heimfahrt wirbelten Cindys Gedanken. Sie hatte ihre Nichte aufgesammelt und sie mit einer beschönigten Kurzversion versorgt. Nun tippte Laura in ihr Handy, wohl um ihre Schulkolleginnen mit Informationen zu versorgen.
Cindy wünschte fast, der Chefinspektor wäre weniger zuvorkommend gewesen und hätte ihr die Bilder nicht gezeigt. Es ging sie zwar nichts an, dennoch plagte sie das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Es wurden klare Botschaften hinterlassen. Das Messer im Genitalbereich. Das ›Yurchenko‹-Zeichen. Sie war sich absolut sicher, dass es vom Täter stammte. Es war so tief eingeritzt, dass das Leder nachhaltig geschädigt war.
War Marte nicht nur ein unsympathischer Choleriker gewesen, sondern zusätzlich ein Vergewaltiger? Rächte sich ein Opfer? Doch eine Frau allein hätte den schweren Mann niemals auf diese Weise an die Pausche knüpfen können. Cindy landete immer wieder bei der Zwei-Täter-Theorie.
»Es ist komisch, irgendwie gehörte die Brüllerei von Leons Vater schon dazu«, kam es vom Rücksitz. »Obwohl wir ihn alle nicht gemocht haben. Na ja, teilweise haben wir uns auch über ihn lustig gemacht.«
Cindy sah über den Rückspiegel kurz zu Laura. »Sag mal, hat Marte mehr getan, als nur gebrüllt? Zum Beispiel euch Mädchen irgendwie belästigt?