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Eine Nacht in Las Vegas, eine Ehe auf Rügen, eine Chance aufs Glück.
Was der Beginn von Scarletts Zukunft mit Dennis werden sollte, findet auf dem Standesamt ein rasches Ende, als sie erfährt, dass sie bereits verheiratet ist. Eine wilde Nacht in Las Vegas muss der Grund für diese Ehe sein – allerdings erinnert sie sich nur bruchstückhaft daran. Entschlossen, die rätselhafte Ehe aufzulösen, begibt sich Scarlett auf die Suche nach ihrem Ehemann.
Elliot ist mit seinem Foodtruck auf Rügen unterwegs, als plötzlich Scarlett vor ihm steht, und Erinnerungen sowie alte Gefühle in ihm weckt. Diese Frau hatte sein Leben schon einmal auf den Kopf gestellt und er sich geschworen, künftig die Finger von ihr zu lassen. Doch nun kommen ihm ungeahnte Zweifel.
Während Scarlett versucht, Ordnung in das Chaos ihres Lebens zu bringen, verzaubert sie nicht nur die Insel zur Winterzeit, sondern auch Elliot mit seiner lockeren charmanten Art. Ist zwischen ihr und Elliot doch mehr als nur ein flüchtiger Moment – damals wie heute?
“Raureifträume auf Rügen” ist der Auftakt der “Zeit für Meer”-Reihe von Bestseller-Autorin Birgit Gruber über ein Vierergespann von Freundinnen und die Insellieben, die sie finden.
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ZEIT FÜR MEER
BUCH EINS
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
_____________________
Texte: Birgit Gruber
Cover: Zeilenfluss
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat:
Dr. Andreas Fischer, Nadine Löhle – Goldfeder Texte
_____________________
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
_____________________
ISBN: 978-3-96714-478-9
»Hey!«
»Hallo!«
»Wie schön, dich zu sehen.«
Scarlett, Liv und Tammy erhoben sich und begrüßten Izzy überschwänglich. Die vier Frauen umarmten sich herzlich und hauchten sich Küsschen zu. Als die Zeremonie beendet war, sanken sie wieder auf ihre Stühle, die zum Tisch eines der schönsten Cafés Bambergs gehörten. Es lag nahe dem alten Rathaus, und man konnte das Wasser der Regnitz rauschen hören, deren linker Arm das historische Gebäude umschlang. Obwohl es bereits Ende Oktober war, schien die Sonne, und die Temperaturen waren angenehm genug, um noch draußen sitzen zu können.
»Sorry, Mädels, dass ich zu spät bin«, entschuldigte sich Izzy, nahm den noch freien Platz ein und zupfte ihren beigen Mantel zurecht, der wie maßgeschneidert auf ihrem schmalen Körper saß.
»Die Berühmten unter uns brauchen eben ihren Auftritt«, meinte Liv und grinste sie an.
»Ich? Bin doch nicht berühmt. Schön wär’s.«
»Immerhin lebst du seit Jahren in Berlin und arbeitest an deiner Karriere«, erinnerte Tammy.
»Na, das hat sich ja bald erledigt. Nächstes Jahr werde ich dreißig! Als Model startest du da nicht mehr durch. Wenn du es bis dahin nicht geschafft hast …«, brummte sie und schob ihre modisch rote Shoppertasche unter den Tisch. »Da hast du es als Künstlerin viel einfacher. Dir bleibt ein ganzes Leben lang Zeit, um den Zenit deines Erfolgs zu feiern.«
Tammy hob die Brauen. »Ich würde meine Malerei eher als Hobby bezeichnen. Von dem Verkauf meiner Bilder kann ich mein Auskommen nicht bestreiten, geschweige denn von einem großen Durchbruch und Erfolg reden. Du hingegen verdienst deinen Lebensunterhalt als Unterwäschemodel. Das ist doch toll.«
Die zwei Frauen schauten einander an. Zufrieden wirkten sie beide nicht.
»Das finde ich auch. Von wem ist denn die Tasche? Louis Vuitton, Gucci oder Dior? Ist die nicht zu teuer, um sie einfach auf den Boden zu stellen?«, fragte Liv indes interessiert.
»Das passt schon«, meinte Izzy nur und rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr schimmernd über die Schultern.
Die Kellnerin unterbrach das Geplänkel und servierte vier Cappuccini.
»Wir haben für dich mitbestellt.« Scarlett zwinkerte Izzy zu. Auch wenn sie sich inzwischen nur noch sporadisch sahen, war ihnen die Vorliebe für die italienische Kaffeekreation doch weiterhin gemein. Zumindest ging Scarlett davon aus, denn Izzy traf sie ebenso selten wie Tammy neuerdings.
Während Izzy schon vor Langem ihren Wohnsitz in die Bundeshauptstadt verlegt hatte, weil dort die Fotografen mit ihren Ateliers ansässig waren, die für die Modemagazine und Versandhäuser arbeiteten, war Tammy erst kürzlich weggezogen. Liv und sie hingegen waren in ihrer Heimatstadt Bamberg geblieben. Dort, wo sie sich einst kennengelernt hatten, als Jugendliche bei der DLRG. Obwohl sie in unterschiedliche Schulen gegangen und nur ungefähr gleich alt waren, hatten sie sich sofort blendend verstanden und waren schnell beste Freundinnen geworden. Die Freundschaft hielt bis heute, auch wenn sie unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten.
So betrieb Tammy – einunddreißig, rotbrauner Wuschelkopf und Sommersprossen – seit geraumer Zeit zusammen mit ihrem Freund Tobias ein kleines Lokal in Erfurt. Was Scarlett ehrlich überrascht hatte, da ihre Freundin vorher nie den Wunsch, ins Gastgewerbe einzusteigen, geäußert hatte.
Izzy hingegen hatte schon mit sechzehn mit dem Modeln begonnen und ihr Ziel akribisch weiterverfolgt. Ehrgeizig, wie sie war, hatte sie es mit knapp neunzehn geschafft, von einer Agentur unter Vertrag genommen zu werden. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war sie das Küken in der Gruppe.
Liv dagegen – braunes Haare im Pixieschnitt – war mit vierunddreißig die Älteste des Gespanns. Sie war als Einzige von ihnen bereits verheiratet und arbeitete als Rechtsanwaltsfachangestellte.
Scarlett, sie selbst, war letzten Monat dreiunddreißig geworden und blond, nicht schwarzbraun, wie jeder beim Klang ihres Namens sofort dachte. Sie besaß langes Haar mit leichter Naturlocke und war von Beruf Fotografin, was sie genau genommen Izzy zu verdanken hatte. Denn ihre Leidenschaft am Fotografieren hatte sie entdeckt, als sie früher immer Bilder in unterschiedlichen Posen von der Freundin hatte machen müssen.
Heute knipste sie überwiegend Porträts, Hochzeiten und Babybäuche. Am liebsten waren ihr jedoch Naturaufnahmen, die sie allerdings nur zu ihrem Freizeitvergnügen schoss und mit ein paar Interessierten auf Instagram teilte. Auch sonst lief es in ihrem Leben glatt. Sie besaß eine schöne Altbauwohnung in der Bamberger Gartenstadt und war seit zwei Jahren mit Dennis liiert.
»Hmmm.« Alle vier Frauen seufzten bei dem ersten Schluck Cappuccino beglückt auf und reckten anschließend ihre Nasen in die Oktobersonne.
»Herrlich«, schwärmte Liv.
»Ja«, stimmte Tammy zu. »Seitdem ich selbst in der Gastro zu Hause und quasi Mädchen für alles bin, genieße ich es umso mehr, mich mal bedienen zu lassen.«
»Du hast es dir ausgesucht«, meinte Scarlett schulterzuckend.
»Na ja, es war Tobias’ Idee, wie ihr wisst … Aber es macht durchaus auch Spaß, und ich kann nebenbei meine Bilder ausstellen. Das ist doch was.«
Die Freundinnen nickten.
»Also erzählt mal, was gibt es Neues in der Heimat?«, fragte Izzy und schaute Liv wie Scarlett neugierig an.
Sie tauschten den üblichen Klatsch und Tratsch aus.
»Und wie läufts persönlich bei euch?«, wollte Izzy schließlich wissen.
»Gut. Jan und ich wollen seit geraumer Zeit eine Familie gründen«, erklärte Liv wie nebenbei. Als die Köpfe ihrer Freundinnen zu ihr herumschwangen, lachte sie auf.
»Du willst ein Baby?«, hauchte Izzy.
»Ja. Ich bin im besten Alter dafür, findet ihr nicht?«
»Schon …«, Tammy drehte ihre Tasse am Henkel im Kreis, »… aber das verändert alles.«
»Also, ich kann mir das grad überhaupt nicht vorstellen«, raunte Izzy.
»Wieso? Hältst du mich für ungeeignet, eine gute Mutter zu werden?« Liv guckte pikiert.
»Nein, nein. Ich dachte an mich«, stammelte Izzy.
»Ach so. Klar.«
»Was? Ich bin halt eine Karrierefrau, auch wenn es etwas steinig läuft. Und mein Singleleben gefällt mir ebenfalls. Ich lerne tolle Kerle kennen, und wenn der Spaß vorbei ist, geht jeder seiner Wege. Dafür werde ich mich nicht entschuldigen.«
»Musst du ja nicht«, warf Tammy ein. »Ich bin ebenfalls noch nicht so weit, um über Familienplanung nachzudenken.«
»Was meinst denn du, Scarlett? Du hast noch gar kein Wort dazu gesagt«, fragte Liv.
Scarlett blinzelte und straffte die Schultern. Sie fühlte sich etwas überrumpelt, weil plötzlich sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
»Na ja, warum nicht? Ihr seid schon drei Jahre verheiratet. Ich denke, da ist der Wunsch doch ganz normal. Oder?«
Liv nickte.
»Hört sich irgendwie so an, als würdest du nicht zum ersten Mal über das Thema nachdenken«, stellte Tammy fest.
Scarlett wurde warm.
»Kann schon sein. Ich glaube nämlich, dass Dennis mir am Wochenende einen Antrag machen will«, platzte sie heraus und grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Was?!« Einhellig schauten sie die Freundinnen baff an.
Scarlett nickte. »Ja, ich denke, es ist so weit.«
»Wow! Und das verrätst du uns erst jetzt?« Liv lächelte breit.
»Richtig. Du hast es damals von allen Dächern gerufen.« Tammy stupste Liv lachend in die Seite.
»Natürlich! Ich schwebte auf Wolke sieben.«
»Kaum zu glauben, dass es schon drei Jahre her ist. Erinnerst du dich noch an deinen Junggesellinnenabschied?«
»Als ob ich den vergessen könnte!«
»Na, also ich hab da schon ein paar Lücken«, räumte Izzy glucksend ein.
»Ich auch«, gestand Scarlett.
»Was war das für eine wilde Nacht.«
»Das aus deinem Mund zu hören, ist fast, als würde ich einen Orden verliehen bekommen«, meinte Liv versonnen.
»Du darfst dich durchaus geehrt fühlen! Auch wenn ich vermutlich nicht für die Ehe geschaffen bin, der Trip nach Las Vegas war die beste Idee ever!« Izzy drückte Liv beherzt die Hand.
»Ich musste euch am nächsten Morgen alle einzeln einsammeln.«
»Oh Gott! Ja!« Scarlett schlug sich die Hände vor den Mund. Sie wusste noch genau, wie sie verkatert in einem Motelzimmer aufgewacht war, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, hatte sie in einem spitzenbesetzten rosa BH samt Slip gesteckt, die sie unter normalen Umständen nie getragen hätte. Auf ihrem Kopf hing ein Haarreif samt schulterlangem Schleier schief, ähnlich dem, mit dem Liv am Vorabend durch die Straßen und Casinos gelaufen war. Vermutlich hatte sie sich, angeschickert wie sie gewesen war, irgendwann im Laufe der Nacht aus Spaß ebenfalls einen besorgt …
»Dich habe ich am längsten suchen müssen. Und wie schwierig es war, dich zu erreichen! Bis du endlich mal an dein Handy gegangen bist, war es schon weit nach Mittag«, vervollständigte Liv Scarletts Erinnerungen.
»Tut mir leid.« Ein Hauch von schlechtem Gewissen überfiel sie deswegen immer noch.
»Nie mehr so viel Alkohol!«, beteuerte auch Izzy und schüttelte den Kopf. Ich bin auf einem ›Einarmigen Banditen‹ aufgewacht. Diese Erfahrung reicht einmal im Leben.«
»Du hattest die Abdrücke des Automaten noch Stunden später im Gesicht«, rief Tammy lachend aus.
»Ja und du warst leichenblass. Dazu die dunklen Augenringe –«
»Stimmt. Hat dich nicht ein Junge gefragt, ob du Morticia aus der Addams Family bist?«, gackerte Scarlett dazwischen.
»Allerdings und ich habe es als Kompliment betrachtet. Seither habe ich versucht, zu Fasching mal so auszusehen. Ich habe es nie mehr so hinbekommen.« Nachdenklich strich sich das Model über ihr langes, glattes, schwarzes Haar.
»Dazu brauchst du eben einen Superkater, und den gab’s nun mal nur zu meinem Junggesellinnenabschied«, erklärte Liv zufrieden.
»Du wirst doch bestimmt auch einen abhalten, Scarlett. Oder?«, meinte Izzy hoffnungsvoll.
»Also, erst mal muss mir Dennis die Frage stellen.«
»Wann genau rechnest du denn damit?«, wollte Liv wissen.
»Samstagabend. Er hat gesagt, dass er etwas ganz Besonderes geplant hat, mir aber nicht verrät, was. Es soll eine Überraschung sein. Ich soll mir nur das Wochenende freihalten.« Sie strahlte ihre Freundinnen an.
»Hört sich wirklich ganz danach an, als könnte deine Vermutung stimmen«, überlegte Tammy laut. »Er ist schließlich nicht der spontanste Typ.«
»Na und? Kann eben nicht jeder so kurzentschlossen sein wie dein Tobias. Dennis ist halt ein Controller durch und durch«, verteidigte sie ihren Freund.
»Deswegen plant er ja auch gern«, sprang Liv ihr bei. »Ich finde es süß, dass er sich Mühe gibt.«
»Klar. Ihr veranstaltet auch Pärchenabende.« Izzy verdrehte die Augen. »Das ist so was von oldschool.«
»Du bist doch nur neidisch«, gab Liv zurück und trank ihren Cappuccino aus.
»Ne, bestimmt nicht. Mir gefällt mein Leben«, gelobte Izzy. Dann wandte sie sich wieder Scarlett zu. »Wirst du denn Ja sagen?«
Sie starrte ihre Freundin überrascht an. »Natürlich.«
»Hm. Du willst also wirklich diesen Langweiler heiraten«, stellte Izzy fest und versetzte ihr damit einen kleinen Stich.
»Wenn er mich fragt …«, murmelte Scarlett hölzern.
Izzy nickte. »Entschuldige. Ich mein’s doch nur gut. Meiner Meinung nach passt Dennis einfach nicht zu dir. Du brauchst jemand Aufregenderes. Einen, der dich herausfordert, dich zum Lachen bringt und um den Verstand vögelt.«
»Das ist wieder so was von Izzy!«, meinte Scarlett, halb bekümmert, halb belustigt. Immerhin war Izzys Meinung nicht neu für sie. Sie sagte immer, was sie dachte.
Die Freundin zuckte mit den Achseln. »Tja, so bin ich eben.«
»Schon in Ordnung.«
»Wir sind alle, wie wir sind«, erklärte Tammy weise. »Und das ist auch gut so. Wir wollen füreinander nur das Beste. Denn das Beste ist für uns gerade gut genug.«
»Amen«, sangen sie im Chor und legten zur Bekräftigung ihre Hände sternförmig in der Tischmitte aufeinander.
Unzufrieden verwarf Scarlett das Outfit. Es war das fünfte Ensemble, das sie aufs Bett geschmissen hatte. Dort türmte sich allmählich ein richtiger Klamottenberg.
Es war aber auch schwer, eine passende Garderobe zu finden, wenn man keine Ahnung hatte, wo es hingehen würde. Dafür wusste sie, dass sie unbedingt gut aussehen musste! Die Erinnerung an diesen Abend sollte später durch nichts getrübt sein. Das Passende hatte sie allerdings noch nicht gefunden.
In einem Nobelrestaurant wäre sie mit dem Cocktailkleid sicherlich richtig beraten, jedoch weniger bei einem Waldspaziergang. Nun, sie traute Dennis beides zu. Er liebte Spaziergänge ebenso wie sie, das hatten sie gemeinsam, er ging aber auch gerne fein essen.
Izzy hatte schon recht. Dennis war vorhersehbar. Aber das war schließlich nichts Schlechtes! Scarlett wusste genau, wie er tickte, und blieb von unschönen Überraschungen verschont. In diesem Punkt irrte ihre Freundin, sie brauchte niemand Aufregendes. Denn davon hatte sie in ihrem früheren Leben wahrlich schon genug gehabt.
Ihre Gedanken wanderten zurück zur alkoholkranken Mutter, die sich, solange Scarlett denken konnte, höchstens um sich selbst gekümmert hatte. Weshalb Scarlett schon sehr früh hatte erwachsen werden müssen. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Sie war das Ergebnis einer heißen Liebesnacht, nach einem schwülen Sommerabend im Freiluftkino, in dem Vom Winde verweht gezeigt worden war.
So war sie auch zu ihrem Namen gekommen. Es war das einzige Überbleibsel, das einzige Andenken an den Mann jener Nacht. Ihre Mutter konnte sich nicht einmal mehr richtig an ihren Vater entsinnen. Vermutlich war das auch der Grund, warum er zunehmend eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Clark Gable aufwies, je öfter sie von ihm gesprochen hatte.
Scarlett hingegen konnte sich für ihren Geschmack noch viel zu gut daran erinnern, wie es gewesen war, bereits als Kind und Jugendliche dafür sorgen zu müssen, dass es halbwegs sauber und etwas zum Essen im Haus war. Hätte sie die fälligen Rechnungen nicht bezahlt, wären sie mehr als einmal beispielsweise ohne Strom dagesessen … Wie gut, dass wenigstens diese Wohnung in der Gartenstadt ihnen gehört hatte. So hatte sie ihnen niemand nehmen können.
Unwillkürlich schaute sie sich um. Hier war sie groß geworden. Nichts mehr darin erinnerte an die alten Zeiten, dafür hatte Scarlett gesorgt. Sie hatte sie übernommen, nachdem ihre Mutter vor ein paar Jahren verstorben war. Seltsamerweise hatte sie damals zwar Trauer empfunden, aber auch eine gewisse Erleichterung. Bei dem Gedanken daran schämte sie sich bis heute. Doch ab da hatte sie sich wenigstens nicht mehr jeden Tag fragen müssen, welche unschönen Ereignisse jetzt wieder auf sie warten würden.
Das war auch der Grund, weshalb sie Überraschungen hasste. Die geplante von Dennis heute war natürlich eine Ausnahme. Er hatte sie immerhin angekündigt, und da er ihre Vorbehalte diesbezüglich kannte, konnte sie sich sicher sein, dass es sich hier um etwas Positives handeln würde. Einen Heiratsantrag, wie sie schwer vermutete.
Sofort verspürte sie ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ach Quatsch, das waren Schmetterlinge! Sie schaute sich im Spiegel selbst in die Augen. Müsste sie nicht vor Aufregung ganz aus dem Häuschen sein? Das Kribbeln war lediglich mäßig.
Sie schüttelte den Kopf. Es lag bestimmt nur an den dunklen Erinnerungen der Vergangenheit. Warum musste sie auch ausgerechnet jetzt daran denken?
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich allmählich sputen musste. Dennis würde sie in einer Stunde abholen.
Livs Frage waberte ihr durch den Kopf: ›Warum wohnt ihr eigentlich immer noch getrennt?‹, hatte sie neulich erst wissen wollen. Scarlett kannte die Antwort selbst nicht genau. ›Es hat sich bisher einfach nicht ergeben‹, hatte sie lapidar geantwortet. Was irgendwie auch stimmte. Dennis’ Wohnung lag im dritten Stock eines umgebauten Lagerhauses, auf der anderen Seite der Stadt und war hochmodern eingerichtet. ›Männlich‹, beschrieb Dennis sie gern. Ihre war bunt und gemütlich, was zu dem Altbau passte, zudem umgeben von Gärten mit netter Nachbarschaft. Während Dennis zur Miete wohnte, war sie Eigentümerin. Scarlett fühlte sich wohl und wollte sie um keinen Preis hergeben, da konnten so viele unwillkommene Erinnerungen in den Ritzen stecken, wie sie wollten. So hatten sie die Entscheidung, wer zu wem zog oder sich ein ganz neues Domizil zu suchen, immer wieder vertagt. Doch wenn sie demnächst heirateten, mussten sie sich wohl doch bald einig werden …
Sie blies sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und griff nach einem dunkelroten Shirt in Wickeloptik mit Schalkragen. Es betonte ihre Figur und passte sowohl zu Hosen als auch Röcken. Sie schlüpfte in eine schwarze Marlenehose mit weitem Bein und drehte sich einmal im Kreis. Perfekt! Schick und doch für alle Eventualitäten geeignet. Was auch immer Dennis sich ausgedacht hatte …
Wieder kam ihr das Gespräch mit ihren Freundinnen in den Sinn. Liv hatte gemeint, dass Dennis sich bemühte. Wie wahr! Das tat er, seitdem sie zusammen waren. Mit seiner gradlinigen und bodenständigen Art passte er zu ihrem vernunftbestimmten Wesen. Sie hatten einige schöne Momente erlebt, und er hatte das Loch gefüllt, das ihre Freundinnen – ihre wahre Familie – hinterlassen hatten, seitdem sie sich, der Lebensumstände wegen, immer seltener sahen. Ohne Tammy, Izzy und Liv wäre ihre Jugend vermutlich anders verlaufen. Sie hatten ihr den Halt gegeben, der ihr daheim seit jeher gefehlt hatte, und sie war noch heute dankbar dafür, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten oder zur steifen Jungfer geworden war. Na ja, wenn, dann wäre vermutlich eher Letzteres eingetreten. Denn die Wahrheit sah so aus, dass sie schon immer viel zu erwachsen für ihr Alter gewesen war und geradezu verbissen Regeln befolgt hatte. Man konnte durchaus sagen, sie war zum genauen Gegenteil ihrer Mutter geworden. Das einzige Mal, dass sie sich wirklich wild und ungestüm verhalten hatte, war während des Kurzurlaubs in Vegas gewesen, woran sie durch den Freundinnentratsch erst wieder erinnert worden war.
Mit liebevollem Blick schaute sie auf das Foto von ihnen vieren, das eingerahmt auf der Kommode stand. Es war am Badesee aufgenommen worden, und alle lachten gelöst in die Kamera.
Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass von Dennis kein Bild daneben stand. Das musste sie demnächst unbedingt ändern!
* * *
»Wohin fahren wir denn?«, fragte Scarlett und merkte, dass sie hibbelig wurde.
Sie schipperten die Bundesstraße entlang, und Wälder wie Wiesen zogen an ihnen vorbei. Die Sonne stand tief, der Abend nahte.
»Wir sind bald da«, beteuerte Dennis und lächelte etwas schief. Eine Mischung aus Anspannung und Vorfreude lag unabweislich auf seinen Zügen, was Scarletts Verdacht noch mehr bestätigte. Bald war der große Moment!
Sie kaute auf ihrer Unterlippe und musterte ihn verstohlen. Er trug eine schwarze Jeans und sein blau-weiß gemustertes Businesshemd, das ihm so gut stand. Er hatte es bestimmt angezogen, weil er wusste, dass er ihr darin gefiel. Aber einen Hinweis auf sein Vorhaben gab seine Kleidung nicht.
»Raus mit der Sprache. Was hast du mit mir vor?«, bohrte sie weiter.
Doch Dennis zwinkerte ihr nur verschwörerisch zu. »Kannst du dich noch an den Film erinnern, den wir neulich angeschaut haben?«
Scarlett runzelte die Stirn. »Diesen Thriller?« Sie riss gespielt die Augen auf. »Du willst mich irgendwo tief in den Wald verschleppen und mich dann kaltmachen?!«
Dennis durchfuhr ein Ruck. »Was?!«
»Dann habe ich es erraten? Ich muss schon sagen, also, das nenne ich wirklich eine Überraschung«, scherzte sie weiter, jedoch bemüht, den ernsten Tonfall beizubehalten. Sie wusste selbst nicht, welches kleine Teufelchen sie da gerade ritt.
Perplex schaute er sie an, und sie legte noch eins oben drauf.
»Unter diesen Umständen sollte ich vielleicht lieber schnell aussteigen …« Ihre Finger legten sich auf den Türgriff.
»Scarlett! Das denkst du nicht im Ernst?« Dennis wurde blass und verriss kurz das Lenkrad. Der BMW machte einen Schlenker, bevor er in verlangsamtem Tempo wieder geradewegs die Straße entlangfuhr. »Bitte! Du musst dir doch keine Sorgen machen. Ich würde dir nie etwas antun!«
Sie prustete los. »Das weiß ich doch«, gackerte sie. »Du aber scheinbar nicht. Du hättest mal deinen Gesichtsausdruck sehen sollen.«
Dennis zog die Brauen zusammen. Völlig verdattert blickte er sie an. »Wie kommst du nur auf so was?«
»Na ja, eigentlich hast du mich darauf gebracht. Du hast mit dem Film angefangen …« Allmählich beruhigte sich ihr Gemüt, und als er nur mit dem Kopf schüttelte, anstatt zu antworten, begriff sie, dass ihre kleine Einlage für Dennis nicht mal im Ansatz lustig gewesen war. Na ja, einen Heiratsantrag mit einem Psychomord zu vergleichen, war wohl schon etwas schräg. Aber in außergewöhnlichen Situationen gewann ihr schwarzer Humor gerne mal die Oberhand. So wie jetzt. Ihre Nerven flatterten. Sie stand schließlich vor der größten Entscheidung ihres Lebens!
Zerknirscht schielte sie zu Dennis. Sie wusste doch, dass er mit ihren makabren Scherzen nichts anfangen konnte. Warum nur hatte sie sich nicht zügeln können?
Andererseits wusste sie offiziell doch gar nicht, dass er gleich um ihre Hand anhalten wollte.
»Es tut mir leid. Ich wollte die Stimmung nicht killen«, sagte sie, und ihrer Kehle entschwand augenblicklich ein Glucksen, als ihr der Wortwitz klar wurde.
Glücklicherweise stimmte Dennis mit ein. »Hast du nicht.« Er legte flüchtig seine Hand beruhigend auf ihr Bein. »Du überraschst mich eben nur immer wieder.«
»Und das ist gut?« Sie war sich nicht sicher.
Er zuckte mit den Achseln und setzte den Blinker. »Es bringt auf jeden Fall Schwung in mein Leben. Wir sind fast da.«
Schon bog er auf einen Flurweg ab.
Scarlett fragte sich noch, was sie hier wollten, zwischen Wiesen und Feldern, als sie ihn sah.
Direkt vor ihnen stand ein riesiger Korb, an dem ein Heißluftballon gerade zum Leben erwachte und sich langsam in den Himmel erhob.
Sie sah zwei Männer werkeln, dann stoppte Dennis das Auto neben einem Kastenwagen samt Anhänger, auf dem ein Schriftzug angebracht war, der für Ballonfahrten warb.
»Na, was sagst du?« Mit breitem Lächeln schaute er sie an.
»Wow!« Mehr als ein Hauchen brachte sie nicht zu Stande. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
Er nickte zufrieden.
Sie stiegen aus und begrüßten die Ballonfahrer. Martin stellte sich als Pilot vor, Helmut als Boden-Crew. Er würde in ständiger Funkverbindung mit dem Ballon stehen, erklärte er ihr, während Dennis aus dem Kofferraum etwas holen ging.
»Ich dachte, Ballonfahrten gibt es nur im Sommer?«, fragte Scarlett Martin.
»Die meisten finden da tatsächlich statt, aber man kann zu jeder Jahreszeit fahren. Eine Landschaft im tiefen Schnee oder im bunten Herbstkleid hat ihren ganz besonderen Reiz. Du wirst schon sehen.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.
»Aber ist es nicht fast schon etwas zu spät am Tag dafür?«, hakte sie neugierig nach und ließ ihren Blick über den Acker streifen, bis er an einer Busch-Baum-Insel hängenblieb, die von der goldenen Oktobersonne angestrahlt wurde. Sie entdeckte ein paar Vögel, die sich darin tummelten, und Scarlett schloss daraus, dass dort wahrscheinlich Schlehen oder Hagebutten zu finden waren.
»Oh nein, das Wetter ist vor Sonnenuntergang ideal. Die durch die Thermik verursachten Winde sind da schwach und gleichmäßiger.« Er guckte in den Himmel, und sie tat es ihm nach. Der Ballon war herrlich farbenfroh und erstrahlte in Gelb, Weiß und Rot. Dazu der blaue Himmel, der Anblick war einfach gigantisch.
Der Pilot wandte sich wieder seiner Arbeit zu und regulierte den Propangasbrenner. Sein Kollege Helmut machte sich derweil daran, den großen Ventilator, mit dem vorher genügend kalte Luft in die Ballonhülle geblasen worden war, wieder im Anhänger zu verstauen.
»Ach Scarlett, wie viel wiegen Sie?«, wollte Martin plötzlich wissen.
Die Frage traf sie wie aus dem Hinterhalt. Warum interessierte ihn das denn?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen – aber vermutlich war es ihr viel mehr ins Gesicht geschrieben –, erklärte er: »Ich muss die Tragkraft berechnen.« Was immer das heißen sollte. Sie schätzte mal, dass es darum ging, wie viel Gas er für die Fahrt benötigte.
Sofort befand sie sich in einer Zwickmühle. In ihrer Kindheit war sie mal übergewichtig gewesen. Das war lange her, aber Modelmaße wie Izzy besaß sie trotzdem nicht. Obwohl sie eine relativ gute Figur hatte, brachten sie Gewichtsangaben zu ihrer Person dennoch in Bedrängnis. Also Wahrheit oder Lüge?
»Ähm, ich bin mir nicht sicher. Gut sechzig Kilo?«, antwortete sie da schon.
Es war geflunkert. Fünfundsechzig trafen es besser. Aber Martin widersprach nicht, auch wenn er sie flüchtig musterte. Sein wissender Blick ließ sie hoffen, dass er ihrer Nennung ein paar Gramm ›Frauenbonus‹ hinzufügte. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig und hatte den Eindruck, dass er wusste, was er tat. Also sollte er den Weitblick haben und seine weiblichen Fahrgäste kennen. Sie war sicherlich nicht die Einzige, die bei dieser Nachfrage zusammenzuckte …
Schnell wandte sie sich ab und entdeckte Dennis, der über dem Ballonkorb lehnte. Sie ging zu ihm.
»Bist du aufgeregt? Du guckst ein bisschen schräg«, stellte er fest, zog sie in die Arme und gab ihr einen Kuss, was sie einer Antwort enthob.
Sie kuschelte sich an ihn, roch sein Aftershave und versuchte, die rügende Stimme in ihrem Hinterkopf zu verdrängen, die ihr sagte, dass man nicht log. Besonders nicht bei so einer heiklen Angelegenheit wie dem Ballonfahren. Wenn sie nun abstürzten, nur weil sie ihr Körpergewicht geschönt hatte?
Als Dennis sie sanft von sich schob, bemerkte sie es kaum. »Du hast doch keine Höhenangst oder?«
»Wie? Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Gut«, stellte er erleichtert fest, gestand dann jedoch: »Aber ich ein wenig.«
»Was?« Mit großen Augen sah sie ihn an. »Wieso hast du das dann organisiert?«
Er lächelte verlegen. »Weil ich dir eine ganz besondere Überraschung bereiten wollte.«
Wie lieb! Dann hallte der Satz in ihr nach. Wollte er ihr demnach gar keinen Antrag machen? Sie wartete darauf, dass sich bei dem Gedanken Enttäuschung in ihr breitmachte, doch Dennis hielt ihr ein Geschenk unter die Nase.
»Hier, das ist für dich. Ich denke, du kannst es gleich gebrauchen, und hoffe, es gefällt dir. Deine Turnschuhe solltest du auch anziehen.« Er deutete auf den Boden, wo ihre weißen Sneaker standen. Die hatte er also aus dem Kofferraum geholt. Er musste sie in weiser Voraussicht mitgenommen haben.
Erstaunt nestelte sie an dem Geschenkpapier und zog einen pinken Tuchschal mit weißen Punkten heraus.
»Wie schön!«, flötete sie und wickelte ihn sich gleich um. »Na, steht er mir?«
»Perfekt.«
Sie gab ihm einen dicken Kuss, und die Sonne kitzelte ihre Nasenspitze. War das Leben nicht toll?
»So, ihr Turteltauben. Los geht’s«, unterbrach Martin den Moment. »Wenn du deine Schuhe gewechselt hast, könnt ihr einsteigen.«
Sie schaute auf ihre Pumps, die für den Wiesenboden sowieso ungeeignet waren. Regelrecht dankbar wechselte sie sie flugs gegen die praktische Variante. Dann kletterte sie in den Korb.
Ganz Gentleman half Dennis ihr. Seine Hand lag liebevoll auf ihrem Po und schob sie sanft. Als der Korb einen Ruck machte und mit einer Hälfte kurz vom Boden abhob, verlagerte sie unbewusst ihr Gleichgewicht nach vorne, sodass sie geradewegs ins Korbinnere flog. Ihr Oberkörper schrammte an der gegenüberliegenden Korbgeflechtseite entlang.
»Hoppla«, gluckste Helmut.
»Oha!«, jaulte Scarlett.
»Alles in Ordnung?«, rief Dennis erschrocken.
»Ja, ja. Alles okay«, erklärte sie, während Dennis ebenfalls den Korb erklomm.
Sie rappelte sich auf und strich ihre Jacke zurecht. Was für ein glamouröser Einstieg, dachte sie und wollte sich nicht ausmalen, wie affig es ausgesehen haben musste, als sie ihren Po wie einen Vollmond in die Höhe gestreckt hatte.
Gleich darauf wurde die Leine gelöst, und der Ballon stieg Richtung Himmel.
Scarlett lehnte über der Korbbrüstung und sah zu, wie sie abhoben. Der Abstand zum Boden erhöhte sich, und aus Zentimetern wurden Meter.
In ihrem Bauch kribbelte es.
»Wahnsinn«, seufzte sie versonnen.
Dennis stand neben ihr und lächelte. Dann beugte er sich hinunter und begann in einer Picknickbox zu wühlen, die sie erst jetzt bemerkte. Hatte er sie mitgebracht oder war sie vom Veranstalter bereitgestellt worden? Egal. Sie genoss weiter die Aussicht. Die wiesenbewachsenen Hügel mit den Bäumen und Büschen wurden zunehmend kleiner. Weiter hinten tauchten Häuser, eine Ortschaft, auf. Kühle Luft wehte ihr ins Gesicht und schärfte ihre Sinne zusätzlich. Was für ein Erlebnis!
Schließlich stand Dennis mit einer Flasche Sekt vor ihr. Seine Wangen waren gerötet. Wahrscheinlich war er genauso aufgeregt wie sie.
»Scarlett«, setzte er an und holte Atem, dabei nestelte er an dem Korkenverschluss herum, »möchtest du«, das Aluminiumpapier fiel herab, und er schob mit dem Daumen den Plastikkorken nach oben, »mich«, der Pfropfen schoss aus dem Flaschenhals und traf Pilot Martin direkt zwischen den Augen. Er wankte und verriss die Steuerung, den Hebel für die Gaszufuhr, was auch immer. Scarlett wusste es nicht, dafür merkte sie, wie der Ballon rasch an Höhe verlor und der Korb ins Kippen kam. Sie, Dennis, Martin und die (schwere?) Picknickbox befanden sich plötzlich alle auf einer Seite. Das konnte nicht gutgehen. Tat es auch nicht. Während der Sekt wie eine Fontäne fröhlich aus seinem Glasgefängnis entwich, zog die Schwerkraft an ihnen. Der Korb geriet erst in Schieflage und neigte sich dann ganz zur Seite. Scarlett fiel als Erstes über Bord, Dennis gleich hinterher. »Heiraten?«, schnaufte er, als er auf ihr landete.
»Was?« Sie fühlte sich platt wie eine Flunder. Aus ihren Lungen entwich der letzte Rest Luft. Dennis’ Augen bohrten sich in sie, seine Nasenspitze berührte ihre fast. Die noch übrigen Sekttropfen spritzten ihr ins Gesicht. Ein dumpfes Ploppen drang an ihr Ohr, und aus den Augenwinkeln sah sie den Ballonkorb ins Gras plumpsen.
»Möchtest du meine Frau werden, Scarlett?«, wiederholte Dennis seine Frage ernsthaft.
Sie kicherte. »Ich habe wohl kaum eine Wahl.«
Sein Gewicht drückte sie fest ins Erdreich. Was für ein Glück sie doch gehabt hatten. Der Sturz war nicht hoch gewesen, nur ein paar Meter. Sie waren auf Wiesenboden gefallen und schienen unverletzt. Lebensfreude und pures Adrenalin rauschten ihr durch die Adern.
»Ja, das möchte ich sehr gern!«, hauchte sie und küsste ihn stürmisch.
* * *
Das typische Novemberwetter hatte Einzug gehalten, als Scarlett und Dennis auf dem Weg zum Standesamt waren, um die nötigen Formalitäten abzuklären. Gutgelaunt hatte sie ihren Arm bei ihm eingehängt, während er einen großen bunten Regenschirm über sie beide hielt. Das Niederprasseln der Wassertropfen verursachte ein rhythmisches Geräusch, in dessen Takt sie liefen. Hin und wieder übersprang Scarlett eine Pfütze mit fast kindlicher Freude. Passanten, die ihnen entgegenkamen, lächelten sie an. Offenbar strahlten sie ihre Glücklichkeit geradezu aus, da störte auch der wolkenverhangene graue Himmel nicht.
Kurz darauf saßen sie einer Standesbeamtin gegenüber, Ende dreißig, mit schwarzem kurzgeschnittenen Haar und einer schwarzgerahmten Brille, die ihre Augen größer erschienen ließ, als sie bereits waren.
Sie tippte an ihrem Computer herum und gab schließlich Dennis seinen Personalausweis und die Geburtsurkunde zurück, um sich Scarletts Unterlagen zu widmen.
Bedeutungsvoll drückte Dennis Scarletts Hand. Sie lächelte glückselig.
Ein Murmeln der Standesbeamtin lenkte schließlich ihre Aufmerksamkeit auf sie. Die Frau kniff die Augen ein wenig zusammen und beugte ihren Kopf dem Bildschirm entgegen, um wohl besser sehen zu können. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf, hämmerte erneut auf die Tastatur ein, bevor sie sich in Zeitlupe ihnen zuwandte. Ihr Blick suchte Scarletts.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie.
Einen Moment herrschte Schweigen, dann öffnete die Beamtin mit gerunzelter Stirn den Mund.
»Nun ja. Frau Wening, hier ist vermerkt, dass Sie bereits verheiratet sind. Das macht eine erneute Heirat ausgeschlossen. Aber das sollte Ihnen wohl klar sein.«
»Was???«, stießen Scarlett und Dennis gleichzeitig hervor.
»Zuerst muss die Scheidung rechtskräftig sein. Ansonsten wäre es ein Fall von Bigamie –«, dozierte ihr Gegenüber.
Scarlett unterbrach sie. »Aber das stimmt doch gar nicht! Ich bin ledig. Le-dig!«
Die Dame sah noch einmal auf ihren Bildschirm und schüttelte den Kopf. »Nein, Datum der Eheschließung war am zehnten Mai zweitausendeinundzwanzig.«
»Du bist verheiratet?!« Dennis sah sie fassungslos an.
In Scarletts Kopf wirbelte alles durcheinander. Das war unmöglich. »Also, wenn ich schon einmal vor dem Traualtar gestanden hätte, wüsste ich das doch wohl am besten!«, presste sie hervor. »Wenn das hier nicht die ›versteckte Kamera‹ ist, müssen die Angaben in Ihrem Computer einem Behördenirrtum unterliegen.«
Die Frau rückte ihre Brille zurecht und schenkte ihr einen mitleidigen Blick. »Das glaube ich kaum. Die Daten wurden im Standesamt Berlin geprüft und eingepflegt.«
»In Berlin?«, echote Scarlett.
»Ganz recht. Dort werden Fälle, die nicht in das Zuständigkeitsschema fallen, übernommen. So wie ich es hier lese, wurde die Ehe in den Vereinigten Staaten geschlossen, weshalb die Meldung vermutlich in Berlin eingegangen ist.«
»Du hast in Amerika einen Mann?!« Dennis riss empört die Augen auf.
»Was? Nein! Nicht, dass ich wüsste. Ich war doch noch nicht mal da –«
»Ach echt? Und wie kommt dann dieser Eintrag zustande?«
Benommen zuckte Scarlett mit den Schultern. Der nüchterne Gesichtsausdruck der Standesbeamtin, gepaart mit Dennis’ pikierter Miene, die unverhohlene Ablehnung und Bestürzung gleichermaßen zum Ausdruck brachte, vermittelte Scarlett ein Gefühl der Ohnmacht. »Das wüsste ich auch gern. Ich –«
»Weißt du was? Spar dir die Erklärungen! Ich habe genug gehört. Ich habe ja schon viel erlebt, aber so was ist mir noch nicht untergekommen! Niemals hätte ich gedacht, dass du derart verlogen sein könntest.« Sein Gesicht wurde mit jedem Wort, das er von sich gab, roter. Er redete sich richtiggehend in Rage. Jeder Satz fühlte sich für Scarlett wie eine Klatsche an, und doch konnte sie ihm seine Reaktion nicht verübeln. Sie verstand ja selbst die Welt nicht mehr! »Und dann besitzt du noch die Frechheit, mit mir hier aufzutauchen, um die Bombe platzen zu lassen. Du hättest meinen Antrag auch einfach ablehnen können! Statt diesen Affenzirkus hier zu veranstalten.«
Jetzt schnappte sie nach Luft. »Du denkst, ich wusste davon und hätte dich absichtlich diesem Trauerspiel ausgesetzt?«
Er sprang auf und warf die Hände in die Höhe. »Ja, was soll ich denn sonst denken? Kein Mensch vergisst doch, dass er mal einem anderen das Ja-Wort gegeben hat! Oder hast du doch mehr von deiner Mutter geerbt, als du zugeben willst? Warst du so besoffen, dass du dich nicht mehr erinnern kannst?«
Das saß! Eisige Kälte kroch in ihr empor und legte sich über ihr Herz, bis es zersprang, wie in einem zu fest gezogenen Schraubstock.
Doch Dennis registrierte nichts davon. Er schenkte ihr einen letzten wutschnaubenden Blick.
»Mich derart vorzuführen!«, knurrte er. Dann stapfte er zur Tür und verließ eilig den Raum. Er konnte gar nicht schnell genug wegkommen, während Scarlett ihm wie gelähmt hinterherstarrte.
Einen Moment herrschte Todesstille. Erst das Räuspern der Standesbeamtin erinnerte Scarlett, dass sie wie versteinert dasaß und wohl ebenfalls gehen sollte. Doch sie war nicht fähig, sich zu rühren.
»Ist mit Ihnen alles okay?«, fragte die Frau einfühlsam.
Betäubt hob Scarlett endlich den Kopf und nickte. Obwohl sie es nicht wusste. War sie okay? Äußerlich auf jeden Fall. Innerlich … Die Liebe, die sie bis vor wenigen Minuten noch empfunden hatte, war zu einem Haufen Scherben zusammengefallen. Doch um diese aufzukehren, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Also tat sie das, was sie immer tat, wenn sie mit Extremsituationen konfrontiert wurde. Sie riss sich zusammen und setzte ihrem Gesicht eine Maske mit mildem Lächeln auf.
»Es kann sich also Ihrer Meinung nach um keine Verwechslung der Daten in Ihrem System handeln?«, fragte sie in dem Versuch, ihrer Stimme wieder Herrin zu werden.
»Nein, ich fürchte nicht.«