Raus aus der Bildungsfalle - Tim Engartner - E-Book

Raus aus der Bildungsfalle E-Book

Tim Engartner

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Beschreibung

Deutschland gerät zum Land der Schreib- und Leseschwachen. Während Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern oftmals schon vor der Einschulung lesen können, sind Grundschülerinnen und -schüler vielfach nicht mehr in der Lage, einen Stift zu halten. Statt die bundesweit beklagten baulichen, technischen und hygienischen Mängel an Schulgebäuden zu beheben, wird die Digitalisierung zum vorrangigen Qualitätsmerkmal erklärt. Tablets statt Tafeln sollen Schulen und Hochschulen zukunftsfähig machen. Tim Engartner kritisiert den bildungspolitischen Zeitgeist, der auf Digitalisierung, Privatisierung und Wettbewerb setzt, und ein Bildungsverständnis, das sich im Googeln von Wissen erschöpft.

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Seitenzahl: 285

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Ebook Edition

Tim Engartner

Raus aus der Bildungsfalle

Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-98791-055-5

1. Auflage 2024

© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Cover-Motiv: © Robert Kneschke/AdobeStock;

Autorenfoto: © Uwe Dettmar

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Für Tilda und Selma

Inhalt

Cover

1 Baustellen der Bildungsrepublik

Irrglaube an das Credo »Digital ist besser«

Systematische Verfehlungen gegenwärtiger Bildungspolitik

Verlässliche Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik

2 »Humboldt adé« – oder: was wir heute Bildung nennen

Wer ist gebildet und was ist Bildung?

Verfehlter Trend in Richtung Praxis- und Berufsorientierung

Irrwege des Humankapitalansatzes

Abkehr vom Leistungsprinzip

Gewaltige Noteninflation

Verzicht auf Anstrengung

Erzeugung labiler Menschen

Das Kind als »Erfolgsfaktor«

Mittelschicht im Wettlauf um Zukunftschancen

Individuelle »Verhätschelung« als Fehlprogramm

Überbordendes elterliches Engagement in Richtung »Verunselbstständigung«

Stress und Krankheiten bei Kindern

3 Von Kitastrophe über unzureichende Ganztagsbetreuung bis zu unterfinanzierten Hochschulen

Die Kitastrophe: Notbetreuung zwischen Geld-, Einrichtungs- und Fachkräftemangel

Detonation unserer Kinderbetreuung

Ursachen für die grassierenden Mängel

Folgen der Betreuungskrise

Profiteure der Krise: freie Träger und private Elite-Kitas

Ausweg aus Verwahrlosung geboten

Ganztagsbetreuung als gesellschaftlicher »Reparaturbetrieb«

Wachsender Markt privater Nachhilfeanbieter

Fehlende nachmittägliche Betreuungsangebote

Ziele und Kennzeichen eines gelungenen Ganztagskonzepts

Chronische Unterfinanzierung der Hochschulen

Problematik der Drittmittelfinanzierung

Privates Engagement statt staatlicher Verantwortung

Studierende im Abseits

4 Keine schöne neue Schulwelt

Blamable Unterfinanzierung der Schulen

Leben von der bröckelnden (Bau-)Substanz

Garantierter Unterrichtsausfall statt Unterrichtsgarantie

Wenig segensreiche Folgen der Digitalisierung

Empirische Schulforschung bremst die Euphorie

Silicon Valley im Klassenzimmer

Apple: iPads, Classroom-Apps und Education Pricing

Das »Meta-Vorhaben«: Bildungspolitik und personalisierte Lehrpläne

Die Googlefizierung des Klassenzimmers

Microsoft: Programmierkenntnisse zur Codierung des Lebens

Amazon zwischen Lesefreuden und Schreibwettbewerben

Gewinn- statt Gemeinwohlorientierung

Lernmaterialien aus dem World Wide Web

Bildungspolitische Schlussfolgerungen

Schulen im Fadenkreuz der Lobbyisten

Private Interessen an öffentlichen Schulen

Vielfältige Lobbyaktivitäten

Kommerzielle Anbieter von Lehrkräftefort- und -weiterbildungen

Interessengeleitete Einflussnahme mittels Unterrichtsmaterialien

Leeranstalten statt Lehranstalten

Besondere Herausforderungen im Lehrkräfteberuf

Wie steigern wir die Attraktivität des Lehrkräfteberufs?

Boom der Privatschulen

Wo lernen Privatschülerinnen und -schüler?

Vielzahl exklusiver Schulen und Internate

Privatschulen verstärken die soziale Ungleichheit

In der besten aller Schulwelten?

Inspirierende Infrastruktur von Spiekeroog und Salem bis Eton und Rosenberg

Ambivalentes Bild versus Lernpotenzial für staatliches Schulsystem

5 Der Weg zurück zur Bildungsrepublik – oder: zehn Forderungen für eine Renaissance der Bildung

Trennendes ausblenden, Unstrittiges angehen

Mehr Geld für Bildung

Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik

Kostenfreie Kunst- und Kulturangebote

Bildung weder instrumentalisieren noch privatisieren

Bestmögliche Studienbedingungen schaffen

Bindungs- und Erziehungsarbeit stärken

Ganztägige Bildungsangebote ausbauen

Kinder und Jugendliche vor Digitalisierung schützen

Unsere Demokratie durch Bildung stärken

6 Epilog

Orientierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

1Baustellen der Bildungsrepublik

Die Bildungsrepublik Deutschland befindet sich im freien Fall. Rund 50 000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die weiterführende Schule ohne Abschluss. Jedes fünfte Kind geht von der Grundschule ab, ohne den Mindeststandard im Rechnen, Schreiben oder Lesen erreicht zu haben. Einer wachsenden Zahl von Schülerinnen und Schülern ist das Präteritum, das einst spielerisch über Märchen erlernt wurde, fremd geworden. Und die jüngste PISA-Studie von 2022 hat offenbart, dass deutsche Jugendliche im Lesen, in den Naturwissenschaften und in Mathematik noch schlechter dastehen als vor sechs Jahren. Vielfach genügen die in der Schule vermittelten Kenntnisse der Bruch-, Potenz- und Wurzelrechnung selbst denjenigen nicht mehr, die ein Wirtschafts-, Mathematik- oder Technikstudium aufnehmen möchten. Immer mehr Hochschulen bieten Propädeutika an, um die Studierfähigkeit herzustellen – und dennoch befindet sich die Zahl der Studienabbrecherinnen und -brecher ebenso wie die der Studienfachwechslerinnen und -wechsler auf Rekordniveau. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind der Generation von Kindern und Jugendlichen, die durchschnittlich 3 Stunden und 28 Minuten pro Tag vor digitalen Endgeräten verbringt, abhandengekommen. Von fehlerfreien Texten ihrer Studierenden wagen selbst Hochschullehrende nicht mehr zu träumen. Zuverlässig torpediert die Kommunikation via WhatsApp, Instagramund Xdas einst eta­blierte grammatikalische und orthografische Regelwerk.

Statt in Reaktion auf die sich seit Jahren verschärfenden Bildungsdefizite eine Aufholjagd zu starten, nehmen wir hin, dass Schätzungen zufolge Abiturientinnen und Abiturienten infolge von Unterrichtsausfall auf beinahe ein Schuljahr verzichten müssen. Zeugniskonferenzen, Kollegiumsausflüge sowie Fort- und Weiterbildungen finden an vielen Schulen immer noch während der Unterrichtszeit statt. Und an den in vielen Bundesländern etablierten drei beweglichen Ferientagen pro Schuljahr wird ebenso wenig gerüttelt wie an den zwölf Wochen Schulferien. Vergessen sind die 1990er-Jahre, in denen noch der wenigstens vierzehntägig stattfindende Samstagsunterricht an der Tagesordnung war. Und obwohl inzwischen 14 Prozent unserer 11,1 Millionen Schülerinnen und Schüler über keinen deutschen Pass verfügen, hat auch die Zuwanderung von rund 350 000 Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine keine sicht- und spürbaren bildungspolitischen Anstrengungen in Richtung Spracherwerbsförderung ausgelöst. Stattdessen wird an einer wachsenden Zahl von Schulen nur noch vier Tage pro Woche Unterricht erteilt. So sieht das Modellprojekt 4+1 des sachsen-anhaltischen Bildungsministeriums vor, die Lernenden nur noch an vier Wochentagen in der Schule zu empfangen, während sie am fünften Tag digital beziehungsweise hybrid unterrichtet oder über Betriebsbesuche »beschult« werden.

Es passt nur zu gut ins Bild, dass im Zuge der Corona-Pandemie kaum ein Land so unzureichend auf den nicht erteilten Präsenz­unterricht reagiert hat wie Deutschland, wo sich die Lernzeit während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 auf 3,6 Stunden pro Tag halbierte – und während des zweiten Lockdowns nur geringfügig gesteigert werden konnte. Zahlreiche afrikanische Staaten haben mit ihren koordinierten Digitalstrategien sehr viel mehr Unterricht stattfinden lassen können. Bei den unzureichend kompensierten Schulschließungen zwischen Flensburg und Passau handelte es sich keineswegs um einen temporären GAU. Vielmehr haben wir es mit einem Ausnahmezustand in Permanenz zu tun: Schülerinnen und Schüler kommen in Deutschland dauerhaft nur unzureichend in den Genuss von Lernzeit.

Dass weniger Unterrichtszeit nicht nur in Zeiten einer pandemischen Krise historischen Ausmaßes zu schlechteren Leistungen führt, dürfte niemanden überraschen. In Bremen, Hamburg und Niedersachsen ist der Leistungsabfall über zentrale Lernstandserhebungen eindeutig belegt. Dennoch geben sich Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft zufrieden, denn die von dem jeweiligen Kultusministerium beflügelte Noteninflation suggeriert ständige Leistungssteigerungen. Diese Tendenz ist auch für andere Bundesländer belegt: Lagen die durchschnittlichen Abiturnoten in Baden-Württemberg in den 1970er-Jahren bei 2,8, erreichten sie 2023 einen Wert von 2,2 – und dies, obwohl noch mit den Schulschließungen während des zweiten Lockdowns Anfang 2021 Schülerinnen und Schüler drei Stunden weniger pro Tag lernten. Wies 2006 nicht einmal jedes hundertste Abitur die Note 1,0 auf, war es 2023 schon jedes 25. Sächsische und Berliner Schulen vergaben die Bestnote 2023 gar fünfmal so häufig wie zehn Jahre zuvor. Wer heute eine Fünf gibt, gilt schnell als »Leistungsterrorist«. Der sich institutionell verfestigende Unterrichtsversorgungsengpass verschärft den Sinkflug der Bildungsrepublik, zumal 42 Prozent der Lehrkräfte – und damit mehr als je zuvor – in Teilzeit arbeiten und drei Viertel vorzeitig in Pension gehen.

Konsumtion statt Reflexion lautet die Losung vieler, die der »Bildungsmodernisierung« das Wort reden. Lernende sehen zunehmend ausschließlich den instrumentellen Sinn von Bildung; Abschlüsse und Zertifikate pflastern ihre Bildungswege. Dabei sollte Bildung jungen Menschen ermöglichen herauszufinden, was in ihnen als Persönlichkeit steckt – und das ist nicht nur die Berufs- und Arbeitssphäre. Die Verkürzung der Schulzeit durch die Umstellung auf G8 sowie die erweiterten Möglichkeiten der Hochschulzugangsberechtigung verpflichten auch die Universitäten, berufliche Ambitionen von Studierenden zunehmend mehr in den Blick zu nehmen. Im Gegensatz zu Studiengängen mit einem klaren Berufsziel wie Medizin, BWL oder Jura ist dieses für Studierende der Literatur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften nicht eindeutig definiert. Die Furcht vor mangelnden beruflichen Perspektiven ist eine der maßgeblichen Ursachen für die wachsende Zahl von Studienabbrüchen und -fachwechseln.

Alarmiert durch die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien wie IGLU, PISA und TIMSS verfallen die bildungspolitischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in Kurzatmigkeit und Reformeifer. Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass die Schul-, Kultus-, Bildungs- oder Wissenschaftsministerien neue Richtlinien ausgeben, differenzierte Erlasse verabschieden oder kreative Ideen zur Umgestaltung von Schulen und Hochschulen verkünden. Doch wenn aus einer vormaligen Hauptschule eine Werkrealschule, aus einer Fachhochschule eine University of Applied Sciences oder aus einer Erwachsenenbildungsstätte ein Fortbildungszentrum wird, führt dies natürlich nicht zwangsläufig zu einer Qualitätssteigerung. Dasselbe gilt für die bildungspolitischen Vorstöße der vergangenen Jahre: Weder die in den 1990er-Jahren verfolgte Kompetenzorientierung noch die bildungspolitischen Ambitionen zur Digitalisierung trugen zu einer substanziellen Verbesserung bei. Es geht weiter bergab mit der Bildungsrepublik, die dem Zeitgeist der Nichtbedeutung von Wissen verfallen ist. In der Schule wird nur noch auf Methoden zur Recherche von Wissen Wert gelegt und selbst in der Hochschule sind Lerntagebücher, Praktikumsberichte und Erfahrungsprotokolle an der Tagesordnung.

Dem Niedergang schulischer Bildung soll dieser Tage vor allem durch digitales Lehren und Lernen beigekommen werden. Natürlich muss der Digitalisierung der Lebenswelt die Digitalisierung der Bildungswelt folgen, aber der blinde Glaube daran, dass diesem Vorhaben mit dem DigitalPakt Schule genüge getan wäre, ist absurd. Zwar stellt die insgesamt 6,5 Milliarden Euro schwere Förderung der allgemeinbildenden Schulen mit Mitteln für die Digitalisierung einen beachtlichen Beitrag zu deren zeitgemäßer Ausstattung dar, aber die Ausstattung der Schulen mit Smartboards, Tablets und WLAN wird uns nicht aus der Bildungsmisere führen. Dasselbe gilt für KI-gestützte Tools, denn auch ChatGPT und Co. werden uns nicht retten. Die modernen Neurowissenschaften belegen zweifelsfrei, dass analoge Lernprozesse unser Gedächtnis schulen. Somit ist zum Beispiel das Trainieren unseres Erinnerungsvermögens durch Auswendiglernen von herausragender Bedeutung, um die Wahrnehmungsgeschwindigkeit, die Memorierfähigkeit, das Kurzzeitgedächtnis und die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zu schulen. Vergessen scheint die Einsicht, dass Bildung nicht nur dem Vergnügen dient – zumindest dann nicht, wenn harte Brocken zu erarbeiten sind. Die Zufriedenheit folgt, wenn es geschafft ist. Sicherlich kann man Platons Höhlengleichnis, Immanuel Kants kategorischen Imperativ oder Jürgen Habermas’ Diskurstheorie auch durch YouTube-Clips nachvollziehen. Doch das medial Dargestellte ist keineswegs nachhaltiger als das mehrfach Gelesene, mühsam Erarbeitete und im Unterricht Besprochene. Dasselbe gilt für die Inhalte, die das Kinderfernsehen mit Checker Tobi übermittelt. Sie können die analogen Lernprozesse in der Grundschule nicht ersetzen.

Analoge Lehr- und Lernarrangements dürfen nicht nur nicht verschwinden. Sie müssen neu be- und teilweise sogar aufgewertet werden, um auch die im Abschwung befindliche sozial-emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wenigstens näherungsweise zu sichern. So hat das Stockholmer Karolinska Institut das schlechte Abschneiden der schwedischen Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten IGLU-Studie mit einem inzwischen von vielen Studien untermauerten Befund erklärt:

»Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.«

Trotz der kurzzeitig als positiv wahrgenommenen schwedischen Digitalisierungsstrategie besteht dahingehend Einigkeit, dass es nicht reicht, Lehr- und Lernmaterialien zu digitalisieren, Vorlesungen aufzuzeichnen, um sie per Mausklick zeit- und ortsunabhängig verfügbar zu machen, sowie die IT-Infrastruktur an (Hoch-)Schulen auf- und auszubauen.

Aber auch schon vor Schulbeginn – in den Kindertagesstätten – offenbart sich die Bildungsmisere. Rund 2,45 Millionen Kinder besuchen Tageseinrichtungen in freier Trägerschaft, das heißt, dort treten weder die Kirchen noch die Kommunen als Träger auf. Stattdessen wird in manchen Städten inzwischen jede dritte Kita als Elterninitiative organisiert, weil die Kommunen keine ausreichenden Angebote vorhalten. Die Kölner Stadtverwaltung etwa schafft es seit Jahren nicht, den elterlichen Betreuungsanspruch einzulösen, obwohl sich die Kita-Gebühren dort auf monatlich bis zu 638 Euro zuzüglich rund 200 Euro einkommensunabhängiger Beiträge für das Mittagessen und die Vereinsmitgliedschaft belaufen. Dass man monatlich 850 Euro für einen Kita-Patz zahlt, aber dennoch Koch-, Putz- und Baustunden ableisten beziehungsweise als ehrenamtlicher Vorstand Finanzen, Personal und Gebäude verwalten muss, mutet absurd an, ist aber seit Jahren nicht nur in Köln traurige Realität. Dabei ist das Betreuungsangebot von Kindergärten noch unzuverlässiger als das Bildungsangebot von Schulen: Zusätzlich zu den Brücken- und Konzepttagen gibt es ganze Wochen, in denen die Kindergärten wegen Mäusen, Läusen oder Bindehautentzündungen geschlossen bleiben (müssen). Regelmäßig werden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder nach Möglichkeit nicht in den Kindergarten zu bringen, weil das Personal fehlt.

Mitunter zögern wir Jahrzehnte, wenn es die baulichen Mängel von Bildungseinrichtungen zu beheben gilt. Dabei geht es an staatlichen Schulen in Deutschland zumeist nur um die (Wieder-)Herstellung der Grundausstattung. Die weltweit besten Schulen verfügen zudem über eigene Bibliotheken, Theater, Gärten und Sportstätten. Das weltbekannte Eton College, das Schweizer Institut auf dem Rosenberg als weltweit teuerstes Internat oder in Teilen dann eben auch die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen mit ihren bis ins Kleinste durchdachten Lehr- und Lernkonzepten müssen den Referenzpunkt bilden – nicht das digitale Lernlabor, in dem KI-gestützte Lernsoftware sowohl das Schreiben und Lesen als auch die für die Kommunikation zuständigen Lehrpersonen verdrängt. Dringend muss dafür Sorge getragen werden, dass ausreichend Kita-, Schul- und Studienplätze zur Verfügung stehen, um jungen Menschen unabhängig von ihren Ausgangsbedingungen bestmögliche Bildungschancen zu eröffnen. Nur mit intensiveren und umfänglicheren Betreuungsangeboten wird den sozialen Selektionsmechanismen beim Zugang zu Bildung begegnet werden können.

Das von Francis Bacon postulierte Credo »Wissen ist Macht« nehmen die selbst ernannten Vorreiterinnen und -reiter einer progressiven, vermeintlich schüler- und studierendenfreundlichen Erneuerung des Bildungswesens immer seltener ernst. Sie berufen sich dabei auf die Tatsache, dass Wissen immer schneller veraltet. Die allein hierzulande jährlich erscheinenden knapp 70 000 Bücher könne ohnehin niemand mehr lesen. Und Wikipedia liefere doch – jederzeit und allerorts – in Sekundenbruchteilen das situativ benötigte Wissen. Aber kann eine Bildungsnation ernsthaft auf den Anspruch verzichten, gebildete Menschen hervorzubringen, deren Bildungsverständnis sich im Googeln kontextloser Informationen erschöpft? Das gesellschaftliche Anliegen lässt sich mit einer individuellen Perspektive paaren: Wissen macht unser Leben reicher, bunter und spannender. Auch deshalb ist es für jeden Einzelnen und jede Einzelne so ungemein kostbar.

Rechtschreibung und Zeichensetzung werden selbst von Lehramtsstudierenden des Fachs Deutsch nur noch bedingt beherrscht. Dass eine fehlerfreie Orthografie, eine korrekte Zeichensetzung und eine treffliche Ausdrucksweise die Güte unserer zentralen Kulturtechnik, des Schreibens, zum Ausdruck bringt, ignorieren längst nicht mehr nur die digitalen Generationen. Generationenübergreifend nutzen wir zum Verschriftlichen von Texten immer seltener Füller, Kugelschreiber oder Bleistift und setzen stattdessen nahezu ausschließlich auf Tablets, Notebooks und Smartphones. Dass man nun aber auch in der schleswig-holsteinischen und baden-württembergischen Landesregierung auf die Idee gekommen ist, Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler nicht mehr in die Bewertung eingehen zu lassen, weil Computer- und Handyprogramme Fehler ohnehin automatisch korrigieren, muss als Bankrotterklärung in Sachen Spracherwerb gewertet werden. Aber es passt in das Bild, das der amtierende baden-württembergische Ministerpräsident und ehemalige Biologie- und Chemielehrer Winfried Kretschmann (Die Grünen) zeichnet, wenn er Fremdsprachenunterricht für entbehrlich erklärt: »Wenn das Handy Gespräche in fast jede Sprache der Welt in Echtzeit übersetzen kann – brauchen wir dann noch eine zweite Fremdsprache in der Schule als Pflichtfach?«

Überhaupt müssen sich vielerlei Fächer im Informationszeitalter gegen ihre Entwertung und Kürzung wehren. Politische Bildung halten selbst viele Politikerinnen und Politiker für entbehrlich – trotz des sich verbreitenden und verfestigenden Rechtspopulismus sowie der besorgniserregend stratifizierten Wahlbeteiligung. Gerade einmal 17 Minuten der wöchentlichen Unterrichtszeit entfallen an nordrhein-westfälischen Gymnasien auf die politische Bildung. Und selbst in den Bundesländern, in denen rechtspopulistische Parteien Höchstwerte erhalten, wird über den Verzicht auf verpflichtenden Politikunterricht diskutiert. Auch der Erdkundeunterricht verliert in den Augen vieler an Bedeutung: Angesichts von Navigationsprogrammen wie Google Maps brauche es keine schulisch angeleitete räumliche Orientierung mehr. Zunehmend hat auch das Unterrichtsfach Geschichte einen schweren Stand, obwohl historisches Wissen uns hilft, die Gegenwart zu verstehen, und historisches Bewusstsein zweifellos zur Identitätsbildung beiträgt.

Einst noch ein wichtiger Bestandteil des liberalen Bildungskonzepts, gilt auch Latein mittlerweile als verstaubt, verkopft und letztendlich verzichtbar. Dass dieses vermeintliche »Luxuswissen« nicht nur der Vorbereitung auf ein Geschichts-, Medizin- oder Theologiestudium dient, sondern sich in lateinischen Texten wegweisende Etappen unserer Geistes- und Kulturgeschichte widerspiegeln, gerät immer mehr in Vergessenheit. In der Tat ist wissenschaftlich umstritten, ob – und wenn ja, inwieweit – Latein das logische Denken und das Gespür für grammatikalische Gesetzmäßigkeiten befördert. Aber unzweifelhaft hilft uns der lateinische Wortschatz, Fremdwörter und andere Sprachen (besser) zu verstehen; wer Latein gelernt hat, weiß nicht nur, dass »Immobilien« unbeweglich sind, sondern kann auch Begriffe wie »Imperativ«, »Apposition« und »Indikativ« souverän auf die Grammatik anderer Sprachen anwenden. Lateinunterricht gewährt uns nicht nur Einblicke in die für uns bis heute prägende Denk- und Lebensweise der Antike, sondern schult auch unser Konzentrationsvermögen und schärft unsere Formulierungen in der Muttersprache.

Weil wir auf solche etablierten Bildungsinhalte an staatlichen Schulen verzichten, werden diese inzwischen von großen Teilen der Öffentlichkeit als defizitärer Raum wahrgenommen. Dabei dienen tatsächliche und vermeintliche Unzulänglichkeiten des pädagogischen Personals als Begründung für die elterliche Abkehr vom staatlichen Bildungssystem. Gleichzeitig greifen Bund, Länder und Kommunen die Stimmung auf, indem sie vormals hoheitliche Aufgaben an Private übertragen: Nur außerhalb der Schule agierende Akteure könnten dem trägen System die erforderliche institutionelle Dynamik verleihen sowie die Schülerinnen und Schüler auf die Lebenswirklichkeit außerhalb der Schultore vorbereiten. Zugleich fällt die Entstaatlichung auf den fruchtbaren Boden eines chronisch unterfinanzierten Bildungswesens, was der Gründer der bildungspolitisch umtriebigen Bertelsmann Stiftung, Reinhard Mohn, schon Mitte der 1990er-Jahre als Chance erkannte, als er sich mit den Worten zitierten ließ: »Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.«

Irrglaube an das Credo »Digital ist besser«

Alle Hoffnung liegt nun in der Digitalisierung der Klassenzimmer: »Digital ist besser«, lautet das Credo im Zeitalter des Digital Turn. Es ist im digitalen Zeitalter selbstverständlich sachgerecht, den Ausbau der IT-Infrastruktur an Schulen voranzutreiben, aber bestenfalls erst dann, wenn einsturzgefährdete Dächer, verdreckte Toi­letten, verschimmelte Wände, zugige Fenster und defekte Heizungen der Vergangenheit angehören. Nach jüngsten Berechnungen der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) fehlen den Städten und Gemeinden allein 55 Milliarden Euro, um den schulischen Sanierungsstau aufzulösen. Insbesondere in Großstädten ist das Klagen der Kämmerer nicht zu überhören. Aber auch viele kleine und mittlere Kommunen können ihren Aufgaben als Schulträger aufgrund klammer Kassen nicht mehr ausreichend nachkommen.

Die teils unhaltbaren Zustände rauben dem staatlichen Regelschulsystem den Rückhalt. Getrieben von dem Wunsch, ihre Kinder ganztägig in kleinen Lerngruppen optimal fördern zu lassen, um gleichzeitig Familie und Beruf (besser) vereinbaren zu können, entscheiden sich immer mehr Eltern für das bundesweit wachsende Privatschulsystem. Stellte das mitunter horrende Schulgeld keinen Hinderungsgrund dar, würde laut einer Forsa-Umfrage mehr als die Hälfte der Eltern ihre Kinder an einer Privatschule anmelden. Bilingualen Unterricht, musikalische (Früh-)Förderung, Kooperationen mit Sportvereinen und Unternehmen können oder wollen nur die wenigsten staatlichen Schulen anbieten. Privatschulen hingegen kommen diesen Bedürfnissen nach, sodass ihre Zahl in den vergangenen Jahren rasant in die Höhe schnellte. Nachdem bisweilen jede zweite Woche eine neue Privatschule eröffnet wurde, befindet sich nun jede zehnte allgemeinbildende Schule zwischen Flensburg und Passau in nichtstaatlicher Trägerschaft. Privatisierung, Rationalisierung und Kommerzialisierung bieten jedoch keine Lösungsansätze für das öffentliche Gut Bildung. Denn mit jeder Entstaatlichung von Bildungseinrichtungen wird die im internationalen Vergleich ohnehin hohe soziale Selektivität weiter verschärft.

Der Trend, dass diejenigen, die über die nötigen sozialen und finanziellen Ressourcen verfügen, für ihre Kinder Privatschulen ansteuern, ist jedenfalls ungebrochen. Dabei sammeln sich unter dem breiten Dach der Privatschulen nicht nur klassische Internate wie die bundesweit bekannten Internatsgymnasien Schloss Salem und Schloss Torgelow, sondern insbesondere auch konfessionsgebundene Schulen, International Schools, Eliteschulen für Sport, Musik und Kunst sowie private Berufs-, Förder- und Waldorfschulen. Somit droht das Land der Dichter und Denker zum Staat der Stifter und Schenker zu werden – und damit Bildung zur Ware: Immer häufiger übernehmen private Nachhilfeanbieter wie Schülerhilfe, Studienkreis, abiturma oder der zur Zeit-Verlagsgruppe zählende Schülercampus die Schulbildung nach Unterrichtsschluss, und auch die Anbieter von Sprachreisen und Weiterbildungskursen wachsen rasant. Zwar lassen wechselnde Bundesregierungen seit vielen Jahren verlauten, dass Bildung die kostbarste Ressource sei, über die wir in unserem ansonsten rohstoffarmen Land verfügen, aber dennoch gibt der Bund mehr Geld für die Bundeswehr als für Bildung aus. Obwohl die Bildungshoheit den Ländern obliegt, symbolisiert diese Ausgabenpolitik die verfehlten politischen Schwerpunktsetzungen. So mangelt es vielen Hochschulen selbst zur Finanzierung ihres Alltagsbetriebs an ausreichenden Mitteln. Die Zahl der Studierenden hat sich an den 108 deutschen Universitäten und 304 Fachhochschulen im vergangenen Jahrzehnt beinahe verdoppelt, die Zahl der Professuren ist dabei mit derzeit 51 161 eindeutig unterproportional gewachsen, das heißt, die Betreuungsrelationen haben sich spürbar verschlechtert. Während die Bundesregierung kurzfristig ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr aufzusetzen vermag, verlieren sich die Bundesländer bei zentralen Reformvorhaben im föderalen Flickenteppich. Dass erfolgreiche Bundesländer als Blaupause für seit Langem abgehängte Bildungsschlusslichter dienen könnten, scheint niemand für möglich zu halten.

Getrieben von unseligen Schulformdebatten – in Talkshows, Sonntagsreden und Leitartikeln ebenso wie in Ministerien, Expertenkreisen und Schulen selbst –, wird seit Jahrzehnten viel Zeit und Papier für die Einführung von Einheits-, Gemeinschafts- und Schwerpunktschulen verschleudert. Als seien unsere Schulen nicht schon jetzt überfordert, wird nun Inklusion als im Prinzip begrüßenswerte Anti-Benachteiligungsvision mit Menschenrechtscharakter zur zentralen Herausforderung unserer Zeit erklärt. Auf die dafür erforderlichen institutionellen und personellen Voraussetzungen warten wir dabei seit Jahren. Dass durch die gemeinsame Beschulung aller Kinder – ob nun hochbegabt oder mit Förderschwerpunkt – Bildungsqualität verloren gehen muss, wenn man Inklusion vor allem als Sparprojekt betreibt, liegt auf der Hand. Und die seit Jahren insbesondere von den bildungspolitisch Verantwortlichen als Qualitätsmerkmal apostrophierte Heterogenität von Lerngruppen ist natürlich kein Garant für gelingende Bildungsprozesse. Zudem kommen alle einschlägigen Lehr- und Lernforschungsprojekte zu dem Schluss, dass Schulerfolg nicht primär von der Struktur des Schulsystems abhängt, sondern vielmehr vom Qualifikationsniveau der Lehrkräfte, von der methodisch-didaktischen Ausgestaltung des Unterrichts sowie von der gezielten Förderung leistungsstarker und -schwacher Schülerinnen und Schüler.

Systematische Verfehlungen gegenwärtiger Bildungspolitik

Aber nicht nur die institutionelle, strukturelle und finanzielle Schieflage von Kitas, Schulen und Hochschulen befördert den Niedergang der einstigen Gelehrtenrepublik. Er wird zum Teil auch durch diejenigen befördert, die das Bildungssystem personell verkörpern. Während in erfolgreichen Bildungsnationen wie Finnland die besten Absolventinnen und Absolventen eines Abiturjahrgangs den Beruf als Lehrkraft ergreifen, unterrichten an unseren Haupt- und Realschulen ehemals unterdurchschnittliche Abiturientinnen und Abiturienten sowie an vielen Gesamtschulen mehr als 50 Prozent der Kolleginnen und Kollegen fachfremd, das heißt, ohne dass sie das jeweilige Fach studiert hätten. Während in Zeiten der »Lehrerschwemme« zu Beginn der 1980er-Jahre kaum Lehrkräfte eine Anstellung fanden, übernehmen seit geraumer Zeit immer mehr Quer- und Seiteneinsteigende oder auch Lehramtsstudierende den Unterricht, insbesondere in chronischen Mangelfächern wie Physik, Chemie, Musik et cetera. Getreu dem Motto »Aus der Not eine Tugend machen« werden die Vorzüge dieser Einstellungspraxis und die angeblichen Stärken dieser zukünftigen Lehrpersonen beworben: Ähnlich wie Quereinsteigerinnen und -einsteiger in der Politik sollen sie durch externes Wissen und eine neue Perspektive dazu beitragen, mit viel Sachverstand und frischem Wind (Lern-)Erfolge herbeizuführen. An nahezu jeder Schule erteilen Bachelorstudierende nicht nur Unterricht, sondern vergeben auch versetzungsrelevante Noten, ohne über einen berufsqualifizierenden Abschluss zu verfügen. Die Deprofessionalisierung des Schulsystems und der damit verbundene Reputationsverlust des Lehrberufs sind die logischen Konsequenzen.

Zudem bringt eine übergroße Zahl von Lehrerinnen und Lehrern nicht in erster Linie ein fachliches Interesse am Beruf mit, sondern bestenfalls ein pädagogisches. Vielfach fußt die Entscheidung für den Beruf auf der Motivation, Arbeits- und Freizeit vereinbaren, Arbeits- und Wohnort zusammenfallen lassen und den auf Lebenszeit angelegten Beamtenstatus mit mehr als drei Monaten unterrichtsfreier Zeit verbinden zu können. Hinzu kommt, dass in keiner anderen akademischen Berufsgruppe der Krankenstand höher ist als unter Lehrkräften. Rund 30 Tage fehlen Lehrkräfte durchschnittlich pro Jahr krankheitsbedingt in den Bundesländern, die diesbezügliche Statistiken veröffentlichen. Zu dem hohen Krankenstand kommen großzügige Auszeit-, Teilzeit- und Ruhestandsregelungen wie das auf Antrag mehrfach gewährte Sabbatjahr, die fehlende Erfassung von Urlaubszeiten oder die Frühpensionierung, die drei von vier Lehrkräften in Anspruch nehmen.

Zugleich kümmern sich viele engagierte Lehrkräfte am Rande ihrer psychischen und physischen Belastbarkeit um das Wohlergehen der ihnen auf Zeit anvertrauten Kinder. Ausweislich einer Studie der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-­August-Universität Göttingen verstoßen relevante Teilgruppen hoch belasteter Lehrkräfte gegen gesetzliche Arbeitsschutznormen, indem sie regelmäßig mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten. Sie vertreten ihre krankgemeldeten, aber vielfach nicht wirklich erkrankten Kolleginnen und Kollegen, statt sich selbst in ärztliche Behandlung zu begeben. Sie zahlen die Klassenfahrt aus der eigenen Tasche, bieten leistungsschwachen Kindern nach dem Unterricht vor- und nachbereitende Unterstützung an und engagieren sich bis zur Selbstaufgabe in der Schulgemeinschaft, um das »Haus des Lernens« lebenswert zu machen. Sie leiden darunter, dass wir Schulen seit Jahrzehnten nicht so ausstatten, dass Erziehung und Integration von Heranwachsenden auch dann gelingen, wenn die Unterstützung durch die Eltern ausbleibt. In einem hoffnungslos unterfinanzierten System versuchen sie zu kompensieren, was die Institutionen nicht leisten. Sie reiben sich auf, obwohl sie wissen, dass Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen ohne den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen, ohne die Begleitung durch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter und ohne einen besseren Betreuungsschlüssel auch weiterhin vernachlässigt werden, weil viele Eltern immer weniger Zeit und Kraft für ihre Kinder aufbringen können – oder wollen. Dieses institutionelle Umfeld lässt zunehmend auch diejenigen in die innere Emigration flüchten, die sich mit großer Schaffenskraft um unseren Nachwuchs kümmern wollen.

Verlässliche Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik

Dass Bildungspolitik die beste Form präventiver Sozialpolitik ist, gerät fortlaufend in Vergessenheit. Dabei dürfte unmissverständlich klar sein, dass Bildung in einer Wissens- und Informationsgesellschaft zu einer zentralen Ressource sozialer Teilhabe und damit zugleich zu einer entscheidenden Variable sozialer Ungleichheit geworden ist. Begreifen wir (präventive) Sozialpolitik als das Versprechen, Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrem qua Geburt verliehenen Status den Zugang zu allen gesellschaftlichen Funktionssystemen zu eröffnen, dann muss – so der Sozialwissenschaftler Michael Opielka – »der Zugang zu Bildung als eine ihrer wesentlichen Aufgabenstellungen gelten«. Insofern könnte ein kostenfreies oder sogar individuelle Bildungsvorhaben bezuschussendes Bildungssystem nach skandinavischem Vorbild die Polarisierung unserer Gesellschaft überwinden helfen, und zwar nicht nur in kultureller oder akademischer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, Jung und Alt, Eingewanderte und schon länger Ansässige, Stadt- und Landmenschen. Eine auf Bildung zielende Gesellschaft ist verloren, wenn sich gesellschaftliche Positionierungen nicht mehr aus individuellen Bildungsabschlüssen ableiten lassen, sondern soziale Herkunftseffekte maßgeblich sind.

Während Kinder aus bildungsprivilegierten Elternhäusern häufig schon vor der Einschulung lesen können, sind Grundschülerinnen und -schüler aus bildungsbenachteiligten Milieus vielfach noch nicht einmal in der Lage, einen Stift zu halten. Nach der jüngsten Ausgabe der TIMSS-Jugendstudie 2019 liegen Neuntklässlerinnen und -klässler aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus bei mathematischen Kompetenzen etwa ein, im Bereich der Naturwissenschaften gar mehr als zwei Schuljahre hinter Klassenkameradinnen und -kameraden zurück, die in sozioökonomisch privilegierten Verhältnissen aufwachsen. Wenn dem Elternhaus die Mittel fehlen, Bücher zu erwerben, dem Haushaltssicherungsgesetz unterworfene Kommunen ihre Büchereien schließen und Schulen das Anleiten zum Lesen nicht wahrnehmen (können), ist ein Trend auszumachen, der die sich seit Jahren öffnende Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderklaffen lässt. Längst löst die von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erstmalig 2008 proklamierte »Bildungsrepublik Deutschland« ihren Anspruch nicht mehr ein, (jungen) Menschen unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft Aufstiegs- und damit Verwirklichungschancen zu eröffnen.

Der Ausbau des Ganztagsschulsystems, der erwiesenermaßen den besten Hebel darstellt, um besser auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können, kommt seit Jahren nur schleppend voran. Der Offene Ganztag bedeutet heutzutage für gewöhnlich Unterricht am Vormittag mit anschließender Beaufsichtigung durch unzureichend qualifizierte und schlecht bezahlte Hilfskräfte. Wenn die Lehrkräfte um spätestens 14:00 Uhr verschwinden, um – bestenfalls – ihren Unterricht vor- oder nachzubereiten, übernehmen Ehrenamtliche oder freie Träger die Begleitung der Kinder. In den Ferien – immerhin rund einem Viertel des Jahres – läuft meist gar nichts. Notwendig aber wäre ein selbstverständlicher Ganztagsunterricht, in dem sich Lernen und Freizeit abwechseln. Nur so würde im Übrigen auch das für Eltern zermürbende Jonglieren zwischen Stunden- und Schichtplänen beendet. Und wie sollen Doppelverdienende mit einem individuellen Urlaubsanspruch von durchschnittlich 28 Tagen ihre Kinder während der mehr als zwölf Wochen Schulferien betreuen (lassen), wenn sie ihren Urlaub wenigstens teilweise gemeinsam verbringen wollen? Dieses selbst bei den PISA-Bildungssiegern existierende Problem gehört dringend in den Blick genommen.

Wie bereits die erste PISA-Studie aus dem Jahre 2000 belegte, hat die sozioökonomische Herkunft in keinem vergleichbaren Staat derart entscheidenden Einfluss auf den Schulerfolg wie hierzulande: Während im OECD-Durchschnitt 16,8 Prozent der Kompetenzunterschiede zwischen Jugendlichen auf die sozioökonomische Herkunft zurückgeführt werden können, sind in der Bundesrepublik 22,8 Prozent der Unterschiede bei den 15-Jährigen eben dadurch bedingt. Noch gravierender wirkt sich die sozioökonomische Herkunft hinsichtlich der Durchlässigkeit des Schulsystems aus. In Bayern beispielsweise hat eine Arzttochter eine fast siebenmal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen, wie der Sohn einer arbeitslosen Verkäuferin – und dies bei vergleichbarem Leistungspotenzial. Mit dieser leistungsfeindlichen Stratifikation der Schülerschaft wird nicht nur eines der grundlegendsten Probleme des bundesdeutschen Bildungssystems seit Jahren nicht adressiert, sondern auch das für die Bundesrepublik einst konstitutive Aufstiegsversprechen konterkariert. Bildung taugt nicht als Wunderwaffe im Kampf gegen (Kinder-)Armut, kann aber Auswege bieten.

Der Leitsatz »Wer fordert, fördert« ist zunehmend verpönt. Getragen von der bei vielen Müttern und Vätern vorherrschenden Scheu, Leistung von ihren Kindern einzufordern, setzen auch immer weniger Lehrende auf Bildung durch Anstrengung. Bewährte Konzepte des fragend-entwickelnden und damit auf die Lehrperson zugeschnittenen Unterrichts werden durch »Methodenzauber« abgelöst. Die Vermittlung von Wissen tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Diktate im Deutsch- sowie Vokabeltests im Fremdsprachenunterricht lassen heute allenfalls noch als Bildungsnostalgikerinnen und -nostalgiker belächelte oder als Frontalunterrichtsgläubige diffamierte Lehrkräfte schreiben. Antiquiert scheint den meisten Junglehrkräften das vermeintlich stumpfe Pauken von Vokabeln, zu aufwendig ist vielen die Korrektur. Die Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in das Regelschulsystem, die auf den Schulhöfen von Brennpunktschulen eskalierende Gewalt, das Schreiben nach Gehör als vermeintlich fortschrittliche Lernmethode für Grundschulkinder – dies sind nur einige Sollbruchstellen, die das hiesige Schulsystem als im permanenten Ausnahmezustand befindlich erscheinen lassen.

Angesichts der vielfältigen Bewährungsproben, die das Bildungssystem gegenwärtig zu bestehen hat, ist es ebenso nachvollziehbar wie berechtigt, dass das Thema Bildung in aller Munde ist. Kaum ein anderes gesellschaftspolitisches Thema erfreut sich einer derart dichten, breiten und anhaltenden Aufmerksamkeit. Nur folgen auf die Worte keine Taten und materialistische Notwendigkeiten werden zugunsten von glänzend klingenden Vorhaben in den Schatten gestellt. Dabei provozieren Bildungsthemen nicht nur angesichts der unbewältigten bildungspolitischen Aufgaben, sondern auch vor dem Hintergrund der eigenen Bildungsbiografie. Dass die Perspektiven auf Bildung auch aus diesem Grund sehr unterschiedlich ausfallen, darf aber nicht zu (weiterer) Tatenlosigkeit führen. Schließlich besteht auch große Einigkeit – zum Beispiel dahingehend, dass das Bildungssystem in allen Sektoren unterfinanziert ist, wir aber besser heute in Bildung investieren sollten, als morgen (junge) Erwachsene in Jobcentern zu betreuen. Nicht nur in linken, sondern gerade auch in konservativen Kreisen gibt es massive Vorbehalte gegenüber privatwirtschaftlichen Akteuren, die sich in Bildungskontexten ausbreiten. Und wenn immer mehr Menschen eine sich durch die Selektionsmechanismen des Bildungssystems weiter zerklüftende Gesellschaft ebenso fürchten wie die Reduktion von Bildungsinhalten auf ihre berufliche Verwertbarkeit, muss auch diesen Entwicklungen schnell und entschlossen entgegengewirkt werden. Andernfalls droht nicht nur dem bundesrepublikanischen Bildungssystem der weitere Niedergang, sondern auch der Gesellschaft insgesamt.

2»Humboldt adé« – oder: was wir heute Bildung nennen

Die Bedeutung von Bildung ist unbestritten – niemand will ungebildet sein. Bildung soll die Persönlichkeitsentwicklung fördern, ein erfülltes Leben ermöglichen, zum Erfolg auf dem Arbeitsmarkt verhelfen und zentrales Wissen an künftige Generationen weitergeben. Bildung verschafft uns nicht nur Unabhängigkeit und damit Eigenständigkeit, sondern soll auch Exklusion und Armut entgegenwirken. Gleichzeitig ist Bildung in unserer säkularisierten Wissensgesellschaft zu einem mächtigen Religionsersatz geworden, das heißt, bei zahlreichen individuellen und gesellschaftlichen Problemlagen wird Bildung nicht nur als Lösung, sondern gar als Erlösung begriffen. Was aber Bildung sein soll, wie viel wir davon brauchen und wie unser Bildungssystem bestmöglich gestaltet werden kann und soll – darüber herrscht nach wie vor keine Einigkeit.

Wer ist gebildet und was ist Bildung?

Lange Zeit wurde unter Bildung insbesondere literarische Bildung verstanden. Dabei war die Belesenheit eines Menschen nicht einfach damit erreicht, dass dieser viel las und viel wusste. Vielmehr ging es um einen »Literaturschatz«, der in den heutigen Curricula immer weiter marginalisiert worden ist. Immer seltener wird Friedrich Schillers Glocke rezitiert, Gottfried Kellers Kleider machen Leute diskutiert oder Platons Politeia analysiert. Dabei darf man annehmen, dass gebildete Personen solche sind, die Bücher lesen und sich durch ebendiese verändern. Schon immer ist Bildung geprägt durch die Familie, in die wir hineingeboren werden, die Region, in der wir aufwachsen, durch die Filme, die wir schauen, die Bücher, die wir lesen, und die Geschichten, die wir einander erzählen.

Heutzutage wird Bildung zuvorderst als ein selbstbestimmter Prozess wahrgenommen, der Personen hervorbringt, die eigenständig – und vor allem mündig – denken und handeln können. Mündigkeit – nach Immanuel Kant die Fähigkeit, sich autonom seines eigenen Verstandes zu bedienen – steht im Zentrum des humanistischen Bildungsideals. Der gebildete Mensch ist sich der sozialen Konstruiertheit unserer Realität bewusst, die aus der Unterschiedlichkeit individueller Lebenserfahrungen entsteht – teils zufällig, teils bewusst evoziert. Durch den sprichwörtlichen Blick über den Tellerrand hinaus fördert Bildung die subjektive Erweiterung des Horizonts. Gebildete Menschen sind zur Empathie fähig (Stichwort: emotionale Intelligenz) und können andere Perspektiven auf Sachverhalte zulassen. Bildung befähigt damit zur kohärenten Gestaltung des eigenen Lebens, was wiederum bewirkt, dass individuelle Entscheidungen, wie auch immer sie ausfallen mögen, begründet getroffen werden können. Gesellschaftliche Normen können hinterfragt, anhand kulturell gewachsener Wertekataloge überprüft und schließlich adaptiert beziehungsweise abgelehnt und erwidert werden. Durch Bildung ist ein bewusstes Mitmachen und Funktionieren genauso möglich wie das aus der kritischen Auseinandersetzung mit Vergangenem und Gegenwärtigem resultierende Dagegen-Sein.

Auf Kritikfähigkeit zielende Bildung erprobt Skepsis gegenüber gesellschaftlichen Konventionen und ermächtigt zum Infragestellen und zu Widerspruch. Bildung zielt auf Orientierungswissen, das heißt auf Wissen, das zur lebensweltlichen Orientierung notwendig ist. Sie geht gerade im digitalen Zeitalter, in dem nahezu alles Wissen per Smartphone ständig abrufbar ist, über das lexikalische Ansammeln von Wissensbeständen hinaus. Bildung, die auf das Erkennen von Zusammenhängen und auf ganzheitliches Denken ausgerichtet ist, liefert damit eine Antwort auf den von Digitalisierungsprozessen getriebenen und bereits 1962 von Jürgen Habermas identifizierten Strukturwandel der Öffentlichkeit – und wirkt zugleich als Korrektiv. Gebildete Menschen treffen freie und autonome Entscheidungen, die zwar in gemeinschaftliche Kontexte eingebettet sind, aber bestenfalls frei von gesellschaftlichen Normativitätszwängen erfolgen und stattdessen von ethischen, sozialen und humanistischen Überlegungen geleitet werden.