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Raymond, der Gecko
Ein packender Thriller über die Grenzen der KI, die Rolle der Kultur und eine gefährdete Liebe.
Das E-Book Raymond, der Gecko wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Zukunft, Kultur, KI, Kampfspiele, Klettern
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Seitenzahl: 323
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Der Sturz
Use und Makeda
Im Graben
Jola im Krankenhaus
Omnia
Eine formidable Erfindung
Jolas Eltern und der Frage-Set
Laurenz in Brasilia
Die Einladung zu einer Reise
Arc de Triomphe
Von Las Vegas bis Zürich
Im Bauraulak
„The Brightest of Dark Times“
Pavillon
Neue Perspektiven
Am Spinola-Turm
GAS hat einen Verdacht
Raymond in Burgen
Bei den Freunden der Hochkultur
Der Einbruch
Der Putsch
Im Cláudio Santoro Theater
Beim Siegesmahl
Die schönste Zeit
Entführt
Gemeinsam ins Refu
Den Gegenschlag vorbereiten
Paranoa-Palace
Glossar
Nun ist Raymond ganz ruhig. Hoch oben an der Wand des Turms wartet er auf das Startsignal. Sobald die Fanfare das Spiel eröffnet, wird er losklettern oder einen seiner berühmten Sprünge machen, sich von der Wand abstoßen, scheinbar ins Leere greifen, aber dann doch wieder Halt finden an kleinsten Fugen und Vorsprüngen. Tief unter Raymond der Graben, ein goldgleißender Wasserring, dahinter auf den Tribünen das fiebrig wartende Publikum, zehntausende verfilzte, schlecht riechende Menschen.
Das Spektakel heißt Towerfight, sein Finale findet wie immer in Las Vegas statt. Angetreten sind zwei der stärksten Mannschaften der Weltliga, die ‚Miracle Climbers‘ und Raymonds Mannschaft, die ‚Summit Strikers‘. Der Turm ist Las Vegas‘ Wahrzeichen und hebt sich in der Dämmerung wuchtig gegen den rotblauen Himmel ab. In der Ferne sieht man das weißgelb flirrende Feld des Airports, scharf abgegrenzt von der sich verdunkelnden Wüste. Die Luft ist mild, 20 Grad zeigen die Tafeln, daneben der ppm-Wert: 280, der gute, der vorindustrielle Wert. Die Spieler sind über den Turm verteilt auf ihren Positionen, sie tragen Helme, Schutzbrillen, Protektor-Westen, eng sitzende neongrüne oder -rote Trikots und an den Hüften den Beutel mit dem Chalk, dem Pulver für die Hände, das den Griff sicherer werden lässt. Mit dem goldglänzenden Wasser, dem Licht der blauen Stunde und den vielen Lichtern des Turms bietet sich so das spektakuläre Bild, das zum Erfolg von Towerfight beigetragen hat.
Raymonds Mannschaft verteidigt die Fenster, die tatsächlich große Touchscreens sind. Wenn das angreifende Team vor Ablauf der Spielzeit sämtliche Fenster des Turms durch Berührung öffnen kann, hat es gewonnen. Sonst die Verteidiger. Der Countdown läuft, die Spieler sind auf ihren Startpositionen über die Turmwand verteilt. Der Ansager hat die Menge mit seiner aufputschenden Stimme bereits an den Rand der Raserei gebracht, jetzt ruft er die Worte, auf die alle gewartet haben: Towerfighters, activate! Das Start-Signal dröhnt, das Publikum klatscht in frenetischem Rhythmus, das Spiel beginnt.
Ohne Zögern greifen die ‚Miracle Climbers‘ an und klettern auf die Fensterflächen zu. Raymonds ‚Summit Strikers‘ versuchen, ihnen den Weg abzuschneiden. Raymond hat einen der Miracle Climbers im Visier, der plötzlich am nahen Horizont der runden Wand erschienen ist.
Auf riesigen Bildschirmen sieht das Publikum Raymonds konzentrierte dunkle Augen in Nahaufnahme, die Falte zwischen den Brauen, die ihn etwas zornig wirken lässt. Eine der Kamera-Drohnen, die den Turm als künstliche Fledermäuse umschwirren, ist dicht neben ihm. Raymond klettert los. Anstrengung bei allen Teams, die Schreie der Kletterer, wenn sie sich abstoßen, auch Raymond springt, es scheint ausgeschlossen, dass er wieder an der Wand klebt, doch es gelingt ihm, nun ist er über dem Angreifer, hat ihm den Weg abgeschnitten, greift dessen Hand und beginnt, die Finger einen nach dem anderen von dem Griff zu lösen, an den sie sich klammern. Das ist es, was das Publikum liebt, und feuert Raymond frenetisch an. Mit einem kurzen, grellen Schrei fällt der Angreifer in den Graben, wird zu einer neonroten Silhouette im goldenen Wasser. Jubel bei den Fans der ‚Summit Strikers‘. Das Spiel läuft gut, Raymond schießt der Gedanke an die Repos durch den Kopf, die Punkte, die es für den Sieg im Finale geben wird und die er und seine Freundin Jola dringend brauchen.
Katapulte der Angreifer schleudern vom Grabenrand buntes Zeug auf die Verteidiger. Halb verfaulte Äpfel, Orangen, Kohlköpfe fliegen heran, zusätzlich mit Farben präpariert, damit es beim Aufplatzen grelle Effekte gibt. Aber normalerweise ist dieser Beschuss wirkungslos, kein Profi lockert seinen Griff, weil ihn ein alter Apfel trifft.
Mit der toten Katze hat Raymond allerdings nicht gerechnet. Das ist neu, das hat er nicht mitgekriegt, das ist eine üble Überraschung. Er wird bedrängt, zwei der Angreifer sind jetzt bei ihm, zerren an ihm, doch er hat einen besseren Halt, schüttelt einen ab. Für einen Augenblick fühlt er sich sicher, lässt in seiner Aufmerksamkeit nach. Das ist der Moment, in dem die tote Katze über den Wassergraben fliegt, die Katapult-Schützen haben gut gezielt, vielleicht auch nur Glück, sie erwischen Raymond im Nacken, genau zwischen Helm und Protektor-Weste, ein Treffer, wie er nur selten vorkommt, der Kadaver platzt auf, Farbbeutel sind darin, widerlicher Brei fließt Raymond den Rücken herab, ein fauliger Gestank, der ihm den Atem nimmt. Das Publikum tobt, spürt, dass hier ein Wendepunkt liegen kann.
Raymond lockert eine nachlässige Sekunde lang seinen Griff, will sich instinktiv an den Nacken greifen, der Angreifer erkennt seine Chance, schlägt Raymond die Hand weg, versetzt ihm einen schnellen Tritt in die Seite, bricht sein Gleichgewicht. Raymond, der Gecko, klebt nicht länger an der Wand. Er stürzt in den Graben.
Hinter den großen Fenstern des Hauses, das gestützt auf Eichenstämmen über dem Wald schwebt, erstreckt sich eine weite Mittelgebirgslandschaft. Es hat ein Gewitter gegeben, in der Ferne stehen noch die Wolken, der Wald ist tropfnass, ein Bär schaukelt über eine Lichtung und die Abendsonne leuchtet durch die Scheiben. Aber gegen die Verstimmung im Haus fährt die Natur alle ihre Schönheiten vergeblich auf.
„Was ist aus uns geworden, Maki? Tote Katzen, erbärmlich!“
„Ja, Richard, jetzt ist Towerfight der übliche Dreck. Endgültig. Das war bislang das Einzige, was man sich noch anschauen konnte, auch wegen diesem Raymond. Der hat sich immerhin gewaschen.“ Makeda verzieht das Gesicht und steht auf, sie blickt aus dem Fenster, sie ist mit einem Mal müde, ihre Augen, tief in den Höhlen liegend, wirken noch kleiner, von ihrer legendären Schönheit sind ihre noch immer aufrechte Figur und erstaunlich volle Lippen geblieben. Sie kann ihre Herkunft über viele Generationen zurückverfolgen, bis zu einer Yoruba-Prinzessin. Ihre Vorfahren haben in einem Palast in Ile Ife, der heiligen Stadt der Yoruba gelebt und wurden erst nach dem Großen Schwur in ein normales Refu umgesiedelt.
„Richard“, fragt sie, „wie kann GAS sowas lizensieren? Ich verstehe das nicht. Du bist doch im GREMIUM, wie kommt so ein Dreck an eine Lizenz?“
Use atmet tief ein. Sein großer, quadratischer Kopf ist mit einigen übriggebliebenen, weißen Löckchen verziert, der massige Leib steckt in einem Anzug, der an das erinnert, was vor langer Zeit einmal Stresemann hieß. Für seine Größe und Fülle hat er zu kleine, magere Hände und eine überraschend hohe Stimme.
„Warum GAS das lizensiert hat? Weil das eine Mehrheit hatte. Ganz einfach. Immer die gleiche Antwort, Maki. Immer Mehrheiten.“ Use schüttelt den Kopf und erhebt sich aus seinem Sessel.
Er spricht in den Raum hinein:
„GAS, du bist wirklich ein ganz spezieller Freund. Mach das weg, spiel was Gutes.“
Die Aufzeichnung des Towerfight-Finales vom Vorabend bricht schlagartig ab. Die Klänge von Brahms‘ Requiem erfüllen den Raum: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“.
Use geht zu einem Bücherschrank, klappt zwei Türen auf, eine kleine Bar wird sichtbar. Er gießt sich ein Glas Bourbon ein, stellt sich neben Makeda und beide sehen, wie die Dunkelheit, von der schweren Musik begleitet, ihren Triumph vollendet.
Aber jetzt dimmt GAS die Musik leiser, eine Stimme meldet sich, es ist Gunther, Uses Assistent:
„Professor, wir haben den Durchbruch erreicht.“
Uses Gesicht erhellt sich. „Großartig Gunther, schneller als erwartet. Ich komme morgen Abend und schaue es mir an.“ Use wendet sich an seine Frau: „Maki, die Zeiten werden sich ändern. Irgendwann müssen die Zeiten sich ändern. Sonst enden wir alle im Dreck. Jetzt sind wir bei toten Katzen angelangt, und das geht immer so weiter, immer weiter in dieselbe Richtung, immer nach unten. Am Ende müssen wir den Abschaum, der sich angesammelt hat, einfach wegspülen. Und vielleicht kann dieser Raymond, dieser Gecko, dabei sogar helfen. GAS, mach mir eine Verbindung.“
Raymond fällt, er hat es tausendmal trainiert, dreht sich im Flug sofort richtig, taucht mit den Füßen zuerst gerade ins goldene Wasser, in dem inzwischen allerlei von den Katapulten verschossener Unrat schwimmt. Das Gebrüll der Menge, die Moderatoren schnappen fast über: Der Gecko, der immer wie eins mit der Wand war, wann ist er zuletzt gefallen? Was ist los mit ihm? Ist seine Zeit vorbei?
Raymond schwimmt zum Ufer, in ihm kocht es. Was ist aus seinem Towerfight geworden? Warum hat niemand der Mannschaft gesagt, dass sie jetzt sogar mit Kadavern beschossen werden können? Er hat sich für das Klettern entschieden, für Towerfight, für saubere Kämpfe, bei denen gewinnt, wer die Wand beherrscht, aber nicht für diesen ekligen Quatsch.
Raymond sollte jetzt zu den Robo-Krokodilen schwimmen, die im Wassergraben langsam treiben. Auch das so ein teurer Witz, den es früher nicht gab. Wenn man als Verteidiger in den Graben gefallen ist und es schafft, den Robos einen Schlag auf die Nase zu verpassen, werden die Katapulte der Angreifer für eine kurze Zeit blockiert und das Kunstblut der Krokos macht schaurige Effekte im Wasser. Der Trainer, ein Gnom mit käsiger Haut, kommt auf Raymond zu, hilft ihm aus dem Graben, redet auf ihn ein, das Publikum johlt. Der Trainer ist sauer, Raymond hat nicht mal einem Kroko eins verpasst, um seine Mannschaft zu entlasten, ist ihm alles egal? Und nun sagt Raymond, der Gecko, zu ihm, scheinbar ganz kühl und ruhig sagt er das: „Ich muss das nicht machen.“ Die Fledermäuse übertragen jedes Wort und zeigen die Gesichter in Großaufnahme. Der Trainer legt ihm beide Hände auf die Schultern, will ihn gleichzeitig beruhigen und aufrütteln, redet weiter auf ihn ein. Doch plötzlich steigt in Raymond die Wutwelle hoch, er schlägt ihm die Hände weg, geht ihm an die Gurgel, wirft ihn um, setzt sich auf ihn, brüllt ihm ins Gesicht: „Ich – muss – das – nicht – machen! Verstehst du nicht? Ich – bin – raus!“ In den Augen des Trainers spiegeln sich Entsetzen und völlige Überraschung. Alarm! Security-Drohnen sind sofort zur Stelle, blinken, ein Stromschlag trifft Raymond, bewusstlos kippt er zur Seite. Der Trainer springt auf, vom Schock gezeichnet. Die Reporter drehen durch: Was ist hier los? Der coole, saubere Gecko ist explodiert. Im Finale. Das hat es noch nie gegeben. Der Mann, der diese Spiele bekannt gemacht hat wie kein anderer. Der von Anfang an dabei war, der für saubere, faire Kämpfe stand. Er fällt nicht nur, er rastet auch noch aus. Raymond, der Gecko ist aus dem Spiel, vermutlich für immer. Er kann froh sein, wenn er nur mit dem Verlust von Repos davonkommt. Was für ein Abgang! War es das mit seiner Karriere?
„Oh nein!“ Entsetzt sieht Jola, wie der Katzenkadaver in einer bunten Explosion auf Raymond zerplatzt. Das ist ekelhaft, das ist demütigend, fällt er? Sie sieht, wie er in den Graben eintaucht, sieht die Robo-Krokodile, die so furchterregend aussehen und doch so albern sind, – und dann geht Raymond auf den Trainer los.
Jola sitzt steif aufgerichtet in einem Krankenbett. Das Zimmer im Hospital Beaujon ist ein heller Raum, hinter Jolas Bett verläuft ein durchgehender Fensterstreifen, die Morgensonne strömt herein. Man sieht die Gärten des Krankenhauses mit einigen Drohnen und Maschinen, die GAS dort arbeiten lässt, dahinter den Eiffelturm.
Neben Jola sitzen auf einem Sofa ihre Eltern, die Mutter hat die langen, fettigen Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden, der Vater, ein Zausel, ist eingenickt, den Mund halb offen. Über ihren Hinterköpfen schweben lautlos die üblichen persönlichen Drohnen, die Pedros, und gegenüber von Bett und Sofa läuft die Übertragung von Towerfight auf einer großen Projektionsfläche.
Jola umklammert ihre Bettdecke, als wenn sie sich an ihr festhalten müsste, sie hat die für Kletterer typischen kurzen Fingernägel und kräftigen Hände. In ihrem Gesicht kann man die Spuren der einstigen Fröhlichkeit noch finden, jetzt aber weint sie.
„Dieses verdammte Klettern, nein, dieser verdammte Firlefanz, den sie da eingebaut haben, das ist krank, tote Katzen.
Was hat das mit Sport zu tun?“ Der Vater ist wieder wach, etwas in ihm hat mitbekommen, dass die Stimmung umgeschlagen ist. Die Übertragung zeigt nun immer wieder den Fall und den Angriff Raymonds auf den Trainer, der Vater versucht zu verstehen, was geschehen ist. „Tote Katzen“ sagt er schließlich und nach einer Weile: „Vielleicht hat ihn das so wütend gemacht. Ich hätte nie gedacht, dass der ausrasten kann, ist doch immer so ruhig. Hat sich nicht verletzt, und niemand anderen, aber der Trainer, oh Mann! Hoffentlich zeigt der Trainer ihn nicht auch noch an. Die Final-Punkte sind jedenfalls futsch.“
Die Mutter richtet sich in ihrem Sofa auf:
„Gut, dass ihr für das Implantat schon genug Punkte hattet.“
Jola verliert ihren Kampf mit den Tränen:
„Nein, das Repos-Level muss bei der OP da sein. Die wäre ja erst übermorgen. Da kommt es schon!“
Auf dem Monitor erscheint ein Text:
Sehr geehrte Frau Lipon, zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihre recognition points for exemplary action (Repos) aktuell nicht ausreichen, um Sie mit dem Implantat „Neurovertebralis Q 710“ zu versorgen. Wir bitten Sie um Verständnis für diese Entscheidung, die im Interesse einer objektiven und gerechten Verteilung knapper medizinischer Ressourcen auf der Grundlage der Lizenzliste VAD 23/44/A403 getroffen wurde.
Mit dem Exoskelett 08/1555 ist Ihre Basisversorgung weiterhin gesichert. Wir wünschen Ihnen weiter eine stabile Gesundheit und noch einen guten Aufenthalt im Hospital Beaujon. Ihr General Assistance System (GAS). Geschaffen, um zu dienen.
Jola: „Sieben Stunden hätten gereicht, dann hätte man das nicht mehr stoppen können, sieben bekackte Stunden! Da geht der sieben Stunden vorher dem Trainer an die Gurgel, er musste doch wissen, was das bedeutet, dass mein Implo auf dem Spiel steht.“
„Aber warum er sich so wahnsinnig aufgeregt hat, versteh ich nicht“, sagt die Mutter, „sind doch tolle Effekte mit der Katze, was die sich immer einfallen lassen, nur die Kletterei fand ich auf Dauer auch langweilig.“
Jola schaut die Mutter mit einem leeren Blick an. „Ich muss mal aufstehen“, sagt sie. Ein Automat surrt herbei. „Nein, lass“, sagt der Vater, „warte GAS, wir machen das schon“. Der Automat bleibt stehen. Die Eltern heben Jola aus dem Bett, stellen sie in ein Exoskelett, das neben dem Bett wartet. Das Gerät setzt sich mit ihr in Bewegung, sie kann damit gut gehen, aber der Apparat quietscht bei den wenigen Schritten, die sie zur Toilette zurücklegen muss.
Der Vater sagt: „Ein verdammter Rückschlag, das hätte ich nie gedacht. Jetzt muss sie weiter mit diesem Scheiß Exo rumlaufen, der nicht mal richtig gewartet wird.“
„Und sie wollte nächstes Jahr ein Kind.“
„Kann sie doch trotzdem, oder?“
„Toll, eine gelähmte Mutter, immer im Exo, sie will beweglich sein, normal, ist doch klar. Aber im Juni ist VAD, vielleicht ändern sie die Kriterien, dann kriegt sie das Implo doch noch.“
„Mach dir nichts vor”, antwortet der Vater, “die Leute wollen saubere Venen, gute Verdauung, keinen Krebs, da gehen die Mittel hin. Das mit dem Implo ist viel zu selten.“
„Hätte sie doch mit Raymond bloß keine Repos-Partnerschaft geschlossen.“
„Na, komm, hör auf, das konnte doch keiner wissen.“
Die Mutter guckt etwas angeekelt. „Ich fand ihn immer zu glatt, wie geleckt, unnatürlich, mit diesem Seifengeruch. Wo der die Seife überhaupt herhat? Du weißt doch: Wer sich wäscht, hat was zu verstecken, nämlich sich selbst. Das haben wir schon als Kinder gelernt. Nein, der ist komisch. Und sich so aufzuregen, nur wegen einer harmlosen, toten Katze und damals der Unfall, das arme Kind, und jetzt hat er alles kaputt gemacht.“
„Der Unfall, die alte Geschichte, fang doch nicht wieder damit an, da konnte er nichts dafür, das weißt du.“ Der Vater streckt sich, gegen seine Müdigkeit und die gedrückte Stimmung: „Lass uns mal so langsam gehen, ich glaube, Jola braucht Ruhe. Ob sie dann morgen schon wieder rauskommt, wenn hier jetzt nichts mehr passiert?“
Ohne ihn ist seine Mannschaft auf verlorenem Posten, Raymond hört den Jubel der Gegner bis in die Kabine. Ein Robo, der ihn weiter beobachtet, hat ihn dort auf eine Pritsche gelegt. Raymond hat einen metallischen Geschmack im Mund, das muss vom Stromstoß kommen, den GAS ihm verpasst hat. Raymond öffnet die Augen und sieht auf einem der Monitore die Freudensprünge der ‚Miracle Climbers‘ auf dem Dach des Turmes. Seine ‚Summit Strikers‘ dagegen haben sich in den Graben fallen lassen und sind ans Ufer geschwommen, wo die falschen Krokodile auf ihren Schwänzen sitzen, sich die Augen reiben und dicke, grüne Tränen vergießen. Raymond ist klar, dass Reporter auf ihn warten, dass er sich erklären soll, aber er will nur noch weg. Für die Liga ist er bis auf weiteres verbrannt. Der Angriff auf den Trainer wird wohl nicht als Straftat gewertet, sonst hätte GAS ihm das schon gesagt, aber sie wird ihn viele Repos gekostet haben. Er traut sich gar nicht, den Stand zu checken. Und wenn er ehrlich ist, kann er nicht ausschließen, beim nächsten Mal genauso auszurasten. Aus einem sauberen, harten Spiel ist ein Spektakel geworden. Er ist fast froh, dass er jetzt raus ist. Noch vor einer halben Stunde lag sein Weg klar vor ihm, aber dieser Weg ist plötzlich abgebrochen. Er weiß, dass er nachdenken muss, aber in dieser Disziplin fehlt es ihm an Training. Seine Pedro, die nach dem Wettkampf wieder an ihrem gewohnten Platz über seinem Hinterkopf schwebt, zeigt ihm, dass hunderte versuchen, ihn zu erreichen. Aber nur für Jola hat er einen offenen Kanal eingerichtet und er rechnet jede Sekunde mit ihrem Anruf, er weiß, dass sie die Übertragung trotz der Zeitverschiebung verfolgt hat. Er hat sich nicht getäuscht, da ist Jolas Stimme aus seiner Pedro:
„Schade, Raymond.“
„Ja, jetzt ist wohl erst mal Schluss mit Towerfight, tut mir leid. Ich weiß, die Punkte. Aber du hast ja gesehen, was aus den Spielen geworden ist. Das kannst du doch auch nicht gut finden.“ Schweigen.
„Jola?“
„Ja.“
„Weinst du?“
Leises Schluchzen.
„Jola, es gibt andere Wege, an Repos zu kommen. Nicht auf einen Schlag, aber…“
„Du hast den Trainer angegriffen.“
„Na ja, nicht richtig.“
„Ach, Raymond. Wieviel Repos haben wir dafür verloren?“
„Keine Ahnung? Hab GAS noch nicht gefragt.“
„Wir haben Repos-Partnerschaft, hast du das vergessen? Keine Finalpunkte, o.k., die tote Katze, das war übel. Aber die Abzüge, Raymond! Das Implo ist gestrichen! Definitiv. Mit dem Implo hätte ich wieder Graffiti sprühen können, wie früher, mein Blackbook ist voller Skizzen. Weißt du, wie ich mich darauf gefreut habe? Nur sieben Stunden hätten gefehlt. Hast du das nicht gewusst, Raymond? Kriegst du diese Wut nicht unter Kontrolle? Und wir wollten eine Familie! Wenn wir richtig viel Repos verlieren, geben die mir ein Exo, das noch schlechter funktioniert als das quietschende Mistding, mit dem ich jetzt rumlaufen muss.“
„Das Implo ist gestrichen? Das war doch schon zugesagt!“ Raymond ist wie vor den Kopf gestoßen.
„Nein, es ist gestrichen, weil die Punkte weg sind.“
Raymond kann es noch nicht fassen, er weiß nicht, was er sagen soll.
„Ich besuch dich, es tut mir leid, ich war so wütend“, bringt er schließlich heraus.
„Besuchen? Ich brauch jetzt keinen Besuch, morgen komm ich hier sowieso wieder raus, o.k. Raymond, mach’s gut, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen.“
“Warte, Jola!“
Jola hat die Übertragung beendet. Dass seine Attacke die Operation noch gefährden konnte, war ihm nicht klar. Ob er sich sonst beherrscht hätte? Jetzt ins Hotel zu gehen, ist eine schreckliche Vorstellung. Eine ganze Zeit sitzt er benommen da, aber er weiß, dass bald die anderen in die Kabine kommen, fast ein Wunder, dass noch niemand hinter ihm her ist, wahrscheinlich stehen alle noch unter dem Schock seines Abgangs und der Niederlage.
„GAS, ich habe keine Lust, ins Hotel zu gehen.“
„Wir wäre es mit einem Club?“, antwortet der Robo, der ihn in die Kabine getragen hat und immer noch neben der Pritsche bereitsteht.
„Ja, vielleicht. Was schlägst du vor?“
„Omnia, da ist immer was los, das bringt dich auf andere Gedanken und du wirst nicht erkannt.“
„Okay, dann hol mir ein Velo, da setz ich jetzt ein Ticket für ein, aber zeig mir einen Weg, der irgendwie hinten rausführt.“ Wie üblich beweist GAS, dass es wirklich das ultimative General Assistance System ist. Nur eine halbe Stunde später hat die KI Raymond mit einem Flugtaxi ins Omnia gebracht. Der Club ist rappelvoll, wegen des Towerfight-Finales sind noch mehr Menschen in Las Vegas als normalerweise. Raymond fürchtet, dass er erkannt wird, er hat sich von GAS eine Mütze und dunkle Brille besorgen lassen, die er nur für die obligatorische Iris-Prüfung beim Einlass kurz hochheben muss. Doch in dem wilden Durcheinander, das im Club herrscht, bei der teils grellen, teils schummrigen Beleuchtung findet er schnell eine Ecke, in der ihn niemand beachtet. Die Musik, die Tänzer, die Mischung von Menschen aus aller Welt, die in der Fun-City ihren Spaß suchen, der Sex, der gewaltige Gestank, den diese Freunde des Eigengeruchs verströmen, all das sollte ihm die Ablenkung bringen, die er gesucht hat. Der Club ist in der vollen humanen Selbstverwaltung, der VHS, aber für Sicherheit sorgt GAS auch hier. Jetzt, als es neben der Tanzfläche mit einem Mal laut wird, weil ein Streit zur Prügelei eskaliert, ist GAS zur Stelle. Im Gewirr der langen Haare und vielen Körper ist kaum zu erkennen, was vorgeht, auch wenn am Ort des Tumults sofort Scheinwerfer die Szene grell ausleuchten. Die Pedros über den Köpfen blinken Warnzeichen, zeigen Repos-Verlust an, aber die Kontrahenten in ihrer blinden Wut schlagen sich weiter, bis die Robocops eingreifen und in Sekundenschnelle durch Stromstöße für Ruhe sorgen. Dann wickeln sie die Kontrahenten in Netze und ziehen sie wie verpackte Weihnachtsbäume mitten durch die weiter tanzende Menge aus dem Club. Schon gehen die Scheinwerfer wieder aus, ist der Tumult vorüber, wie er hier im Omnia häufiger losbricht und zum Ruf des Clubs beiträgt. Nach einiger Zeit fühlt Raymond, wie jemand versucht, seine Hose zu öffnen, und vor ihm auf die Knie sinkt. Warum nicht? Doch der Geruch, der zu ihm hochsteigt, ist zu heftig. Er hat sich nie daran gewöhnen können, auch in seinem Clan nicht. Raymond schiebt den fremden Kopf, den er kaum erkennen kann, entschlossen zurück.
Das ganze Treiben stößt ihn plötzlich ab, die zwei Drinks, die er hatte, haben ihn eher ernüchtert. Jetzt hat er genug, er will ins Hotel und sucht sich durch das Getümmel einen möglichst schlecht beleuchteten Weg zum Ausgang.
Auf der Lichtung vor Uses Haus ist kein einsamer Bär mehr unterwegs, sondern ein Schwarm Glühwürmchen. Use gibt Makeda einen schnellen Kuss auf die Stirn und geht über die hölzerne Brücke zu seinem Velo, auf das er als Mitglied des GREMIUMS einen Anspruch hat. Use lässt sich in den Sitz fallen, seine Iris wird gescannt, dann hebt das kleine Fluggerät leise ab und nimmt Kurs auf Berlin. Unter Use gleitet die Wildnis vorbei, Wälder, Moore, Pfade, die nur von Wanderern oder Reitern benutzt werden dürfen. Bis Berlin geht der Flug durch die Nacht, erst Sanssouci zeigt die ersten Lichter. Das Schloss ist Kulturerbe, eines von weltweit rund 2.000. Wie alles Kulturerbe aus der Zeit des Großen Schwurs wird es von GAS perfekt erhalten. Und dann ist Berlin erreicht, ein großer, heller Fleck in der Wildnis. Use sieht ein Rudel Wölfe direkt vor den Hecken an der Doppelzone, in der Stadt und Land ineinanderfließen. Berlin hat von GAS sogar die Lizenz für einen Fern-Flughafen bekommen, doch dann hatte dieses KI System, das sonst fast alles kann, aus irgendwelchen Gründen längere Zeit Schwierigkeiten, die Anlage in Gang zu setzen. Use braucht heute aber keinen Flughafen, denn sein Velo bringt ihn direkt zum Pergamon-Museum. Als Mitglied des GREMIUMS hat er das Privileg, auf den Veloplattformen zu landen, wie sie neben allen Welterbestätten installiert sind. Use hat sich oft gefragt, wie die Liste des Kulturerbes damals zustande gekommen ist, aber die Quellen sind unvollständig.
GAS pflegt in Berlin neben dem Pergamon Museum auch eine Siedlung mit nichtssagenden Häusern, das Brandenburger Tor jedoch, über das er gerade geflogen ist und von dem Use weiß, wie ikonisch es vor Urzeiten einmal war, ist eine zugemüllte Ruine. Warum hat man es nicht in die Obhut von GAS gegeben, sondern der VHS, der vollen humanen Selbstverwaltung überlassen? Es ist nicht zu verstehen. Aber er will nicht klagen, denn er verdankt das Haus, das er und Makeda bewohnen, oder besser gesagt, in Besitz genommen haben, ebenfalls einem Welterbe. In der Gegend dort gibt es ein Bergwerk und eine Wasserwirtschaft, die als Kulturerbe gelten. Darum hat GAS für die Mitglieder des GREMIUMS, die das Erbe inspizieren, eine Unterkunft eingerichtet.
Use ist schon ewig für diese Inspektionen zuständig, niemand sonst scheint das Haus je besucht zu haben, und so haben er und Makeda sich dort nach und nach eingenistet. GAS hat das zu ihrer Überraschung nicht moniert, das muss eine der seltenen Lücken in seinem Regelwerk sein, das Wohnen grundsätzlich nur in Refus vorsieht. Doch Use schüttelt es, wenn er an das Refu denkt, zu dem er angeblich gehören soll. Nein, dort kann man allenfalls hausen, aber unmöglich wohnen.
Das Velo landet und öffnet sich, die Direktorin des Museums erwartet ihn neben der Plattform, sie begrüßen sich mit der Namaste. Beide kennen sich von den Sitzungen der Freunde der Hochkultur, wechseln nur wenige Worte und gehen ins Innere des mächtigen Gebäudes. So gepflegt das äußere Gebäude dank GAS ist, so desolat ist im Inneren des Museums: Mülleimer quellen über, die Beleuchtung ist funzelig, die Läufer sind nur noch Fetzen, ein muffiger Geruch schlägt Use aus dem Keller entgegen, in den er nun hinabsteigt.
Unter wuchtigen steinernen Rundbögen gelangen sie an eine unscheinbare Seitentür. Die Direktorin verabschiedet sich mit einer erneuten Verbeugung:
„Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen. Ich wünsche Ihnen Erfolg.“
Use bedankt und verbeugt sich, dann klopft er an die Tür. Man hört Schritte. Eine leise Stimme fragt: „Ja?“
„Vivat summa Cultura!“ antwortet Use.
Ein dünner, blonder Mann im weißen Kittel und mit einem perfekten Pagenschnitt öffnet Use die Tür.
„Sind Sie allein?“ fragt Use.
„Selbstverständlich, Professor. Das Team ist längst weg.“
„Sind wir wirklich so weit, Gunther?“
„Es funktioniert!“ Gunther hat die großen Augen noch weiter aufgerissen als üblich und zappelt vor Begeisterung. Er führt Use ins Innere des Labors bis zu einer Wand mit Monitoren. Die beiden setzen sich vor ein Gerät, das in den Raum hineinragt. Gunther stottert fast, so aufgekratzt ist er: “GAS re re registriert weiterhin nichts, wir haben seinen blinden Fleck erwischt. Sonst wären seine Robos längst hier. Probieren Sie es aus, Professor. Schauen Sie! Schauen Sie in den Eye-Scanner.“
Use legt seinen quadratischen Kopf vorsichtig an das Gerät während Gunther an einem Rechner hantiert. Auf einem Bildschirm werden die Daten von Prof. Use angezeigt: sein Bild, sein Name, eine Fülle weiterer Angaben, dann in einem Feld, das er vorher nie gesehen hat, sein Status „basic human“.
„Unglaublich, das ist unglaublich“, murmelt Use.
Gunther reicht ihm mit seinen dünnen Fingern, an denen die Nägel schmerzhaft tief abgekaut sind, ein Fläschchen:
„Nehmen Sie reichlich, die Linsen wachsen sonst schnell an. Sie müssen beide einsetzen, sonst geht es nicht.“
Use füllt eine Pipette und lässt die Tropfen in seine Augen fallen.
„Jetzt die Linsen!“ sagt Gunther und angelt mit einer Art Pinzette zwei Exemplare aus einem Becken, in dem hunderte dieser glibberigen Gebilde schwimmen.
Use setzt sich die Linsen in die Augen und schaut erneut in den Scanner. Wieder erscheinen sein Name und sein Bild. Aber jetzt sieht er das Profil, das er kennt, und dazu gehören seine besonderen Befugnisse und Rechte als Mitglied des GREMIUMS. Im Feld Status steht nun „human“.
„Professor, nehmen Sie die Linsen lieber wieder heraus, später wird es schmerzhaft. Noch ist es ja nicht so weit.“
Use drückt sich die Linsen aus den Augen und gibt sie Gunther zurück.
„Danke, beeindruckend, ganz formidabel. Ohne die Linsen ist der Mensch eben mehr basic, nicht wahr, Gunther?“
Gunther zappelt und grinst: „Ja, das wird wohl künftig so sein, Professor, jetzt, wo wir so weit sind, muss ich Sie fragen: Wie sollen wir den Status ‚basic human‘ programmieren? Es gibt sehr viele Parameter.“
„Ach, wissen Sie mein Lieber, diese technischen Details, die regeln Sie und Ihr Team schon. Machen Sie uns einen Vorschlag, den wir im Kreis der Kulturfreunde ventilieren und entscheiden können. So viel vielleicht vorab: Uns kommt es darauf an, dass die Mittel für die Kultur stimmen, dass dieses Verpulvern für Unsinn aufhört, diese Leute da nicht mehr die Hand draufhaben oder auch sonst irgendwie gefährlich werden können. Aber natürlich sind wir keine Unmenschen, lassen wir also den Zauseln ihr Land der Behaglichkeit, nur ein wenig, nun, ich möchte sagen, ein wenig billiger.“
„Ja, das setzt uns einen Rahmen für die Programmierung, wir finden definitiv eine Lösung.“
„Und wie stehen die Dinge in Brasilia, Gunther? Ist die Leitung präpariert?“
„Die Kabeltechnik, die wir dort gefunden haben, ist absolut historisch. Welterbe. Man kann kaum glauben, dass so etwas noch immer in Betrieb ist. Aber wir sind gut rangekommen, jetzt fehlt nur noch ein wenig Programmierung.“
„Sehr gut Gunther, dann ist alles besprochen, oder?“
„Da ist noch was, Professor. Wir haben etwas sehr Interessantes herausgefunden: GAS gibt rund 30 Prozent seiner Aufwendungen allein für Gesundheit aus.“
Use zieht die Augenbrauen hoch: „Nur für Gesundheit? Das ist in der Tat erstaunlich. Wie ist das zu erklären?“
„Allein die Millionen von Pflegerobos, die GAS im Einsatz hat, dann die Medikamente, die immer noch weiterentwickelt werden, auch wegen der Viren, die Zahnpflege für alle, die Checks und Analysen bei jedem Gang auf die Toilette, dann die …“
Use unterbricht ihn: „Schon gut, schon gut. Das ist wirklich ein wenig übertrieben, finden Sie nicht auch. Das muss günstiger werden. Die Leute müssen sich auch selbst wieder mehr um ihre Gesundheit kümmern, Eigenverantwortung, Gunther, das ist entscheidend! Wir wollen doch schließlich nicht, dass eine Welt von passiven Banausen entsteht, oder?“
„Nein, nein“, Gunther nickt heftig, „aber ich meine, wenn wir das jetzt neu programmieren, dann müssen da überall genaue Werte rein, darum dachte ich, Sie sagen mir vielleicht …“
Use unterbricht ihn wieder: „Ich bitte Sie, mein Lieber, Sie machen das gewiss ganz im Sinne der Ideale unserer Bewegung. Sie und Ihre Leute erwerben sich große Verdienste um die Rettung der Kultur. Die Nebel der Vergangenheit lichten sich, der allmächtige GAS ist eine ganz banale Maschine, die ihrer Programmierung folgen muss, viel sklavischer als je ein Sklave, ein Gott, der an Kabeln hängt. Und darum noch etwas, Gunther, sorgen Sie doch dafür, wenn sich das machen lässt, dass GAS uns nicht bei jeder Kleinigkeit wie Kriminelle behandelt. „Ius respicit aequitatem“, richtig, richtig, aber wir sind eben nicht gleich mit diesem Pöbel.
„Professor, ich habe sehr fähige Spezialisten unter meinen Leuten. Sie können sich auf mich verlassen.“
Uses Stimme ist noch greller als sonst:
„Formidabel! Ich habe mich noch einmal vehement selbst befragt, ob wir auf diesem Weg wirklich voranschreiten sollen, Gunther. Denn es ist ein eminenter Entschluss, er kann und wird die Welt, wie wir sie kennen, ändern, aber er ist unvermeidlich. Wir können unserem kulturellen Selbstmord nicht einfach zusehen. Es muss sein.“
„Ich kann es immer noch nicht fassen. Was für ein Rückschlag.“ Jolas Vater kommen fast die Tränen. Nach dem Besuch bei ihrer Tochter sind die Eltern in einem Sanitäts-Velo des Krankenhauses auf dem Weg nach Hause, zurück in ihr Refu.
Jolas Mutter nickt: „Ja, wer hätte damit gerechnet. Aber du weißt doch, Enzo: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“
Das gutmütige Gesicht des Vaters wird härter, er hasst diese Sprüche, mit den Ärmeln wischt er sich die Augen. „Nun gut, Camille, du hast recht, wir müssen da jetzt alle durch, Jola und Raymond vor allem. Er wird sich verdammt mies fühlen.“
„Na, hoffentlich. Ich weiß gar nicht, wie viele Gefühle der hat.“
„Du hast ihn nie gemocht, Camille, nur weil er anders aussieht und vor allem anders riecht.“
„Nein, das stimmt nicht. Aber ich weiß nicht, ob er zu Jola passt. Jola hat Temperament und er ist wie ein Fisch.“
„Ja, ein Fisch, der plötzlich seinen Trainer erwürgen will.“
Der Vater will das Thema wechseln. „Camille, lass uns lieber den Set beenden, die Frist läuft bald ab. GAS: den VAD-Durchlauf. Let‘s start it.“
„Enzo, ich bin todmüde, ich kann jetzt nicht, lass mich ein wenig schlafen.“
„Mach ruhig die Augen zu, ich mach das eben, wir waren doch schon fast durch. Fangen wir einfach an, wenn’s nicht weitergeht, dann machen wir morgen weiter, ist ja noch etwas Zeit. GAS, wie geht’s weiter? Lies uns die nächste Frage vor.“
GAS: „Sehr gerne, wir machen weiter mit der Set-Frage 25:
Ihre Tochter oder ihr Sohn möchte einen Atheisten heiraten.
Vergeben Sie Punkte zwischen 0, das ist kein Problem, und 10, das ist unerträglich.“
„Hast du das gehört, Camille, immer noch diese alten Kamellen, warum die diese Frage nicht endlich aussortieren?“
„Gibt wohl immer noch Leute, für die das wichtig ist.“
„Wo leben die denn? Egal, wir sagen „Null“, Camille, stimmt‘s?“
Camille hat die Augen geschlossen, schont ihre Kräfte und lässt sich nun doch auf die Fragen ein: „Ja, wenn er nur anständig Repos hat.“
GAS: „Ich notiere, Ihre Antwort ist „Null“, richtig?“
Enzo: „Genau.“
GAS: „Ich fahre fort mit Set-Frage 26:
Ein Velo stürzt ab. Sie können eingreifen und müssen sich entscheiden:
Notlandung Punkt A bedeutet, dass zwei ältere und zwei junge Passagiere sterben.
Notlandung Punkt B bedeutet, alle 4 Passagiere überleben, aber eine fünfköpfige Familie wird bei der Landung ausgelöscht.
Enzo ärgert sich: „Dass dieser Quatsch auch immer noch läuft, das ist doch kein Thema mehr! Wann ist zuletzt jemand bei einem Velounfall gestorben? Hi, GAS, wann ist zuletzt jemand mit einem Velo abgestürzt?“
„Vorgestern in Oslo, von Clanjägern abgeschossen.“
Enzo ist überrascht: „So etwas habe ich noch nie gehört.“
„Es ist auch noch nie vorgekommen“, antwortet GAS.
„Warum haben die das gemacht?“
GAS: „Es waren Jugendliche auf der Jagd. Die Untersuchungen laufen noch.“
„O.k., aber mit der Frage für den VAD hat das nichts zu tun.“
„Roger.“
Enzo: „O.k., also ich bleib dabei: Hauptsache, sicher fliegen, sonst werden die Dinger nicht mehr akzeptiert.“
Camille: „Aber wenn die Velos Leute killen, auch nicht“.
Enzo: „Tun die ja nicht. GAS, wann hat ein Velo zuletzt jemanden getötet?“
GAS: „Dazu habe ich keine Infos.
Enzo: „Siehst du!“
Camille: „Siehst du was?“
Enzo. „Die sind sicher.“
Camille: „Quatsch, Enzo! Das hat GAS nicht registriert, keine Infos, das heißt noch lange nicht, dass auch nichts passiert ist.“
Enzo: „Wenn GAS nichts hat, dann ist da auch nichts.“
Camille: „Das nenne ich echte Gläubigkeit. Vielleicht sind die Fragen nach dem Glauben doch nicht so abwegig, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…“
Enzo unterbricht sie: „Ja, schon gut, schon gut. Was sagen wir jetzt? A oder B? Ich sage B.“
Camille hat endgültig genug: „Ach, mach was du willst, aber lass mich jetzt in Ruhe. Ich will schlafen.“
„Ja, ja, schon gut, ich mach das jetzt allein fertig.“
Enzo lässt sich die weiteren Fragen von GAS nun auf einem Display anzeigen:
Visuelle Beeinträchtigung durch einen CO2-Stabilisator?
Wie nah steht der denn? Direkt vor dem Küchenfenster?
Lass mal sehen. GAS zeigt ein Bild, auf dem eine etwa zwei Meter hohe grüne Säule zu sehen ist. Enzo hat damit kein Problem: Ist doch im Hintergrund, denkt er, das würde mich nicht stören, würde mich sogar beruhigen.
Jetzt noch die Fragen nach den Ressourcen:
Wie würden Sie 1.000 Widy auf die beiden folgenden Alternativen verteilen: eine Opern-Aufführung im Markgräflichen Opernhaus oder für den Towerfight in Las Vegas.
Enzo fragt sich, was dieses Opernhaus sein soll, und schiebt den Regler auf dem Display voll auf die 1.000 Widy für Las Vegas. Vielleicht fallen denen mit mehr Geld auch bessere Ideen ein als tote Katzen. Die vielen Entscheidungen ermüden Enzo enorm, jetzt antwortet er, ohne lange nachzudenken. Oper oder Pflegerobos? Mehr Pferde oder mehr Zugverbindungen? Bessere Holos bei Beisetzungen oder mehr Werkstätten für Liebhaberstücke? Ein Gewirr von Alternativen, das unter Mitarbeit des GREMIUMS über Generationen gewuchert ist und aus dem GAS berechnet, welche öffentlichen Leistungen angeboten werden. Das Verfahren gibt allen das Gefühl, dass sie selbst darüber entscheiden, was mit der Weltknete gemacht wird. Und wenn über das Ergebnis die meisten auch maulen und mosern, kann doch niemand sagen, es werde zugunsten einiger weniger verzerrt.
Jetzt noch die Alternative Küstenschutz oder Refu-Sanierung. Enzo gibt 100 für die Küste und 900 für die Wohnbereiche. Küsten ändern sich eben, war doch schon immer so. Wer nah am Wasser leben will, der muss halt die Gefahren in Kauf nehmen. Fertig.
GAS: „Vielen Dank, Ihre Eingaben sind registriert und werden beim nächsten Value Adjustment Day berücksichtigt. Bitte vergessen Sie nicht, dass Sie noch die Fragen zu den Lizenzen beantworten müssen und vergessen Sie bitte auch nicht die Wahl für das GREMIUM am 23. Mai. Ihr General Assistance System. Geschaffen, um zu dienen.“
„Ja, ja“, sagt Enzo, jetzt gib mal Ruhe.“
Nach all den Jahren ist für Laurenz die Arbeit in Brasilia zur Routine geworden, und auch seine blaue Uniform hat frischere Tage gesehen. Laurenz ist Weltbeamter des GREMIUMS, er ist für den korrekten Ablauf des Value Adjustment Day, den VAD, verantwortlich, der im Turnus von zwei Jahren stattfindet. Weltbeamte dienen einer großen Sache: an der Seite von GAS die Welt in Gang und in sicheren Bahnen zu halten, dafür zu sorgen, dass der große Schwur weiter gilt. Jede andere Arbeit kann man von heute auf morgen aufgeben, die des Weltbeamten nicht. Auch Laurenz könnte nicht einfach kündigen, er müsste Fristen einhalten und könnte erst gehen, wenn Ersatz gefunden ist. Aber Laurenz wird die letzten Jahre bis zu seiner Pensionierung auf keinen Fall mehr irgendetwas anderes machen, er ist mit seiner Aufgabe, seiner Uniform und seinem Büro fest zusammengebacken. Ein mattes, aber durchdringendes Pflichtbewusstsein erfüllt ihn, vor lauter Durchhalten sind nach und nach tiefe Falten um seinen Mund entstanden, er weiß, dass es nicht leicht sein wird, seine Stelle neu zu besetzen, zumal von den Männern in diesen Funktionen aus längst vergessenen Gründen erwartet wird, dass sie sich hin und wieder rasieren, und von den Frauen, dass sie die Haare nicht offen tragen. War für eine Zumutung für junge Menschen! Ohne das Privileg einiger Flüge, auch über weite Strecken, auch für die nächsten Angehörigen, auch nach der Pensionierung, sähe es um den Nachwuchs vollends düster aus. Als