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Ihre Liebe war echt, sie war tief und für immer.
Doch ein Fehler kann alles zerstören!
Rush und Gia haben sich gefunden. Sie lieben sich trotz aller Widerstände und sind glücklich wie nie zuvor. Doch eine falsche Entscheidung in Gias Vergangenheit zerstört alles. Rush ist tief verletzt und zieht sich zurück. Und während die junge Frau mit den Konsequenzen ihres Fehlers klarkommen muss, kann sie die Liebe ihres Lebens nicht vergessen. Gia riskiert alles, um Rushs Vertrauen zurückzugewinnen und sein Herz aufs Neue zu erobern.
"Ich habe mich sofort in die Charaktere verliebt. Die Geschichte ist einfach brillant!" THE SMUT-BRARIANS
Abschluss des RUSH-Duetts von Bestseller-Autorinnen Vi Keeland und Penelope Ward
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Seitenzahl: 345
Titel
Zu diesem Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorinnen
Die Romane von Vi Keeland und Penelope Ward bei LYX
Impressum
VI KEELAND/PENELOPE WARD
Rebel Heart
Roman
Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig
Als Gia New York den Rücken kehrte, um den Sommer in den Hamptons zu verbringen und ihr Buch zu beenden, hätte sie nie damit gerechnet, dass sich ihr Leben für immer ändern würde. Doch dann traf sie Rush, und auf einmal war alles anders. So verschieden sie auch sind, ergänzen sie sich perfekt. Ihre Liebe ist echt, sie ist groß. Aber eine falsche Entscheidung in Gias Vergangenheit zerstört plötzlich alles. Nicht nur ist die junge Frau von einem One-Night-Stand schwanger, nein, der Vater ihres ungeborenen Kindes ist ausgerechnet der Mann, der Rush das Leben zur Hölle macht und den er hasst wie keinen anderen. Rush fühlt sich von Gia verraten und kann doch seine Gefühle für sie nicht einfach hinter sich lassen. Tief verletzt zieht er sich zurück. Und während Gia versucht, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie nicht nur bald Mutter wird, sondern das Kind auch alleine großziehen muss, verzehrt sie sich nach Rush, und ihr wird klar, dass er die Liebe ihres Lebens ist. Sie kann sich keine Zukunft ohne ihn vorstellen! Daher riskiert sie alles, um sein Vertrauen zurückzugewinnen und sein Herz aufs Neue zu erobern.
Ich dachte, ich falle in Ohnmacht. Mir wurde schwindelig, und ich griff Halt suchend nach Rushs Arm.
»Gia? Alles okay?«
Als ich antworten wollte, verspürte ich ein Brennen im Hals und befürchtete, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
»Toilette!«, stieß ich hervor und schlug die Hand vor den Mund.
Rush führte mich durch einen langen Flur zum WC und machte Anstalten, mit mir hineinzugehen. Er sah so nervös aus, wie ich mich fühlte. Ich stemmte die Hände gegen seine Brust und hinderte ihn daran, den kleinen Raum zu betreten. »Alles okay, mir geht es gut. Gib mir einfach ein paar Minuten. Ich muss nur diese Übelkeit und meine Nerven in den Griff kriegen.«
»Bist du sicher?«
Ich nickte und warf ihm ein Lächeln zu, bevor ich mich in der Toilette einschloss. Ich rutschte an der Tür hinunter, setzte mich auf den Boden, stützte den Kopf in die Hände und begann zu hyperventilieren.
Es konnte einfach nicht sein.
Meine Fantasie spielte mir einen Streich.
Die Hormone! Es musste an den Hormonen liegen.
Ich hatte Harlan nur ein einziges Mal gesehen, was inzwischen Monate zurücklag, doch Rushs Bruder ähnelte ihm wirklich sehr.
Die grünen Augen.
Die perfekt gebräunte Haut.
Das markante Kinn.
Das tadellos frisierte, zur Seite gescheitelte Haar.
Aber Elliott wäre niemals im Heights aufgetaucht.
Rush und er konnten sich nicht ausstehen.
Er hätte sich nie und nimmer in die Hamptons verirrt. Und außerdem hieß der Typ, mit dem ich die Nacht verbracht hatte, Harlan und nicht Elliott.
Obwohl …
Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass der Kerl womöglich gelogen hatte, was seinen Namen anging. Etwas an der Art, wie er »Harlan« gesagt hatte, war mir merkwürdig vorgekommen – als wäre es ihm nicht so leicht von der Zunge gegangen. Er war sehr redegewandt gewesen und hatte sich mit einem coolen Spruch zu mir an die Bar gesetzt, aber als er seinen Namen genannt hatte, hatte er kurz gestockt.
Es war natürlich denkbar, dass Elliott an diesem Abend in die Hamptons gekommen war, um etwas mit seinem Bruder zu besprechen. Rush war jedoch nicht dort gewesen, als ich meinen One-Night-Stand kennengelernt hatte. Da war ich sicher. Denn Rush war nicht der Typ Mann, den man so leicht vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte.
Je länger ich auf dem Boden saß, desto mehr drehte sich mir der Kopf. Innerhalb von fünf Minuten schwankte ich wohl zwei Dutzend Mal hin und her zwischen: »Natürlich ist er es!« und »Er kann es nicht sein!«.
Ein leises Klopfen ließ mich zusammenfahren, und ich schlug mir den Kopf an der Tür an.
»Gia, geht es dir gut, Baby?«
Die Besorgnis in Rushs Stimme brachte mich zum Weinen. Gott, es durfte einfach nicht wahr sein! Es war schon schlimm genug, dass ich mich von einem One-Night-Stand hatte schwängern lassen – es durfte einfach nicht dieser Mann sein.
Dreißig Sekunden vergingen, dann klopfte er energischer. »Gia?«
Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er die Tür eintreten würde, wenn ich nicht sofort antwortete. »Alles in Ordnung«, rief ich. »Mir ist nur ein bisschen übel. Ich komme gleich raus.«
In den nächsten fünf Minuten redete ich mir ein, dass ich mich geirrt hatte. Elliott war nicht Harlan. Es wäre einfach ein zu großer Zufall. Ich hatte an dem Abend ein paar Drinks gehabt. Er ähnelte ihm nur – von Weitem betrachtet. Wenn ich ihn mir aus der Nähe ansah, würde ich sicher feststellen, dass er nichts mit dem Mann gemein hatte, mit dem ich geschlafen hatte.
Es gab einfach keine andere Möglichkeit.
Nachdem Rush noch zweimal nachgefragt hatte, wie es mir ging, und ich leise geweint und mir das Gesicht gewaschen hatte, öffnete ich schließlich die Tür. Rush war deutlich anzusehen, dass er sich vor Sorge die Haare gerauft hatte, und ich strich sie ihm wieder glatt.
»Es geht mir gut. Entschuldige bitte. Das kam … nur so aus heiterem Himmel.«
Rush atmete erleichtert auf. »Ich werde im Kreißsaal total nutzlos sein. Ich komme nicht mal damit klar, dass dir übel ist, weil ich mir sofort Sorgen mache, dass irgendetwas nicht stimmen könnte.«
Mein Herz machte einen Satz. »Du … du willst mit in den Kreißsaal?«
Rush zog die Augenbrauen zusammen. »Natürlich. Davon bin ich einfach mal ausgegangen.«
Ich sah ihm tief in die Augen und spürte, wie sich mir schon wieder die Kehle zuschnürte, diesmal jedoch aus einem ganz anderen Grund. Der Mann, der da vor mir stand, war wirklich unglaublich. Er sagte die schönsten Dinge, ohne sich dessen bewusst zu sein. Rush verlor sein Herz nicht so leicht, aber wenn er es an jemanden verschenkt hatte, gab er hundertzehn Prozent. Er wollte diese Sache wirklich mit mir zusammen durchziehen.
Er wischte sachte mit dem Daumen eine Träne weg, die mir über die Wange kullerte. »Aber wenn du es nicht willst, bleibe ich draußen. Weine bitte nicht!«
Ich schlang die Arme um seinen Hals. »Nein, nein! Ich will dich dabeihaben! Ich will dich an meiner Seite haben, die ganze Zeit. Ich … ich liebe dich einfach so sehr, und ich glaube, mir ist gerade erst klargeworden, dass es dir wirklich ernst war, als du gesagt hast, dass du mit mir zusammen sein willst, also … so richtig.«
Rush schmunzelte, und seine Mundwinkel zuckten. »Gut, dass wir das noch mal klären konnten. Mir war nicht bewusst, dass es da Verständnisschwierigkeiten gab.«
Ich gab ihm einen Kuss. »Sei still. Und küss mich einfach.«
Er leckte an meiner Unterlippe. »Ich finde dadrinnen doch keine Kotzekrümel, oder?«
Ich lachte. »Ach, du bist ekelhaft!«
Er fuhr mit der Zunge an meiner Oberlippe entlang. »Was hattest du zum Lunch? Ich bin irgendwie hungrig.«
Während wir uns noch eine Weile in der Ecke vor dem WC versteckten, vergaß ich die Panik, die mich vor wenigen Minuten befallen hatte. Aus Selbstschutz und dank erfolgreicher Verleugnung sah ich alles wieder rosarot.
»Mir wurde zugetragen, dass du hier bist.« Die dröhnende Stimme eines Mannes brachte die Seifenblase, in der ich mich sicher wähnte, zum Platzen.
Rush erstarrte in meinen Armen, und als er aufsah, zog er mich fester an sich. »Edward«, sagte er mit einem knappen Nicken.
Rushs Vater hatte genau die gleichen strahlend grünen Augen wie sein Sohn und auch seine Größe und Statur, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Rushs Blick war voller Wärme, während Edwards eiskalt und distanziert war. Ich bekam auf der Stelle eine Gänsehaut auf den Armen.
»Willst du mich nicht deiner Freundin vorstellen?«, sagte Edward.
Rush sprach mit gepresster Stimme. »Gia, das ist Edward Vanderhaus. Mein Erzeuger.«
Der Mann lachte. Es klang laut und einstudiert – und vollkommen unecht. Ich brauchte keine dreißig Sekunden, um zu verstehen, warum Rush ihn nicht mochte.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Gia.« Edward reichte mir die Hand.
Als ich sie zögernd schüttelte, biss Rush die Zähne so fest zusammen, dass ich befürchtete, ihm könnte einer abbrechen. »Die Freude ist ganz meinerseits.«
Edward ließ mich los und fasste Rush an der Schulter. »Komm und gesell dich zu uns. Ich habe ein paar Investoren eingeladen, mit denen ich dich gern bekannt machen würde. Es ist immer gut, wenn man als Unternehmensgesellschafter vor solchen Leuten Einigkeit demonstriert.«
Erstaunlicherweise machte Rush keine Szene. Er nickte, verschränkte seine Finger mit meinen, und wir folgten seinem Vater. Rush umklammerte meine Hand so fest, dass meine Finger weiß wurden.
Ich stand brav neben ihm, während Edward uns mehrere Leute vorstellte, und sah mich unauffällig nach Rushs Bruder um. Ich musste ihn mir genauer anschauen, aber er schien auf einmal verschwunden zu sein.
Vielleicht hatte ich mir das Ganze nur eingebildet.
Die Hormone machten mich völlig verrückt.
Ich hatte mich gerade ein bisschen entspannt, nachdem ich mir eingeredet hatte, dass alles nur ein Produkt meiner Fantasie gewesen war, als ich Harlan plötzlich wieder zwischen den Gästen entdeckte.
Oder Elliott.
Du lieber Himmel, er sah Harlan wirklich sehr ähnlich.
Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.
Ich hatte gedacht, Rush wäre in das Gespräch mit seinem Vater und einem anderen Mann vertieft und hätte nicht mitbekommen, auf wen ich meine Aufmerksamkeit richtete, aber ich hätte wissen müssen, dass ihm nichts entging. Er verabschiedete sich aus der Diskussion und ging mit mir zu einem der Bistrotische, die in der ganzen Suite verteilt waren.
»Sir, möchten Sie vielleicht ein Tortelett probieren?« Ein Kellner hielt ihm ein Tablett mit kleinen Leckereien hin.
Rush reckte das Kinn. »Was ist dadrauf?«
»Kaviar und Crème fraîche.«
Er hob dankend die Hand. »Haben Sie vielleicht hinten ein paar kleine Hotdogs versteckt? Also, für die Gäste, die keine Snobs sind?«
Der Kellner grinste und lockerte seine steife Haltung. »Ich sehe mal, was sich auftreiben lässt.«
Ich konnte meinen Blick immer noch nicht von Rushs Bruder losreißen. Gott, vielleicht war er es doch nicht. Aus dieser Perspektive sah er ganz anders aus. Aber seine coole Pose … sein Lachen …
»Hör mal …«, flüsterte mir Rush ins Ohr. »Wenn du meinen Bruder weiter so abcheckst, werde ich eifersüchtig.«
Mist.
Und ich hatte gedacht, ich hätte mich unauffällig verhalten! Auf frischer Tat ertappt versuchte ich, mir eine Ausrede aus den Fingern zu saugen. Die einfache Erklärung, ich würde nach Ähnlichkeiten zwischen den Brüdern suchen, fiel mir in dem Moment natürlich nicht ein. Stattdessen plapperte ich wieder dummes Zeug.
»Ich komme einfach nicht darüber weg, wie sehr dein Bruder mich an eine meiner Romanfiguren erinnert.«
»Tatsächlich? Ich hoffe, du meinst den Schurken und nicht den Helden, der die Frau letztendlich bekommt.«
»Hmmm … ja. Der Typ ist schon irgendwie ein Arsch. Er tut immer total nett, aber er ist ein Schuft.«
Rush nickte. »Wenn er wie mein Bruder aussieht, dann hast du die Figur wirklich gut getroffen. Komm, ich stelle dir den Schuft vor. Wir haben dem Star des Abends noch nicht zum Geburtstag gratuliert.« Er legte die Hand in meinen Rücken und wollte losgehen, aber ich blieb wie angewurzelt stehen.
Mich überbekam Panik.
»Gehen wir lieber nicht zu ihm.«
Rush runzelte die Stirn. »Warum nicht? Keine Sorge, er wird nett zu dir sein. Mein großer Bruder zieht gerne seine Show ab. Er wird sogar so tun, als würde es ihn freuen, dass ich gekommen bin … solange andere dabei sind.«
»Das meine ich nicht … Ich …«
»Was?«
Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass Rushs Bruder in unsere Richtung schaute. Er klopfte dem Mann, mit dem er sich unterhalten hatte, auf die Schulter und schüttelte ihm die Hand, um das Gespräch zu beenden. Als er den ersten Schritt auf uns zumachte, wurde mir sofort wieder speiübel.
»Anscheinend bleibt uns gar nichts anderes übrig, als mit ihm zu reden. Dein Schuft kommt direkt auf uns zu.«
Ich erstarrte wie das Kaninchen vor der Schlange. Diesen Sommer hatte ich zwar eine Menge Sonne getankt und eine gesunde Bräune bekommen, aber ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Ich war bestimmt kreidebleich.
»Was für eine wundervolle Überraschung!«, rief der blonde Ken und hielt mit ausgestreckter Hand auf Rush zu. »Lauren hat mir gesagt, dass sie dich eingeladen hat, aber ich dachte, du bist sicher zu beschäftigt, um vorbeizukommen.«
Ich sah ihn wie gebannt an. Hatte Harlan so viele Zähne gehabt? Rushs Bruder hatte ein derart breites Lächeln im Gesicht, dass es mir vorkam, als hätte er so viele Zähne wie eine kanadische Kreissäge – perlweiße natürlich.
»Elliott.« Rush nickte ihm zu. »Wir wollten gerade rüberkommen und dich fragen, wie es so ist, ein alter Mann zu sein.«
Ich hielt die Luft an, als die beiden sich begrüßten, dann richtete Rushs Bruder seine Aufmerksamkeit auf mich. Das künstliche Lächeln hielt. »Elliott Vanderhaus …« Er reichte mir die Hand, und wir sahen uns an. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«
Irgendwie schaffte ich es, mich aus meiner Erstarrung zu lösen und ihm die Hand zu geben. Elliotts Augen waren genauso grün wie die von Rush, aber ihnen fehlten Wärme und Glanz. Im Gegensatz zu Rush, dessen Augen das Fenster zu seiner Seele waren, betrachteten Elliott und Edward die Welt mit kalten Augen und verschlossenem, unergründlichem Blick.
Ich wusste nicht, ob meine Hand kalt oder seine besonders warm war, aber als er sie mit seinen langen Fingern umschloss, wurde mein Handteller ganz schwitzig von seiner Wärme. Ich bekam kein Wort heraus, und weil ich nicht gleich antwortete, hakte Elliott nach: »Und Sie sind?«
Obwohl ich mich räusperte, bekam ich nur ein Krächzen zustande. »Gia. Gia Mirabelli.«
Falls ihm mein Name etwas sagte, wusste Elliott es gut zu verbergen. »Freut mich, Gia. Mein Bruder stellt der Familie nur selten jemanden aus seinem Privatleben vor. Sie müssen etwas ganz Besonderes für ihn sein.«
Rush legte den Arm um meine Taille. »Das ist sie auch. Deshalb war es vielleicht etwas verrückt von mir, sie mitzubringen.«
Elliott warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Offensichtlich handelte es sich um eine typische Vanderhaus-Eigenart, die Rush zum Glück nicht geerbt hatte. Elliotts Lachen schien mir eine völlig übertriebene Reaktion zu sein und mehr Show als echte Belustigung.
»Nun, es war schön, Sie kennenzulernen, Gia. Wir sind übrigens nicht halb so schlimm, wie es mein Bruder darstellt. Großes Ehrenwort!«
Er wandte sich Rush zu. »Carl Hammond ist aus England angereist. Er ist bei Sterling Financial im Vorstand. Ich würde dich gern bei Gelegenheit mit ihm bekannt machen.«
»Geht klar«, sagte Rush.
Elliott lächelte gekünstelt und klopfte ihm auf die Schulter. »Freut mich wirklich, dass du gekommen bist, kleiner Bruder.«
Und dann drehte er sich einfach um und verschwand. Nachdem ich ihn aus der Nähe gesehen hatte, hätte ich schwören können, dass er Harlan war. Aber allem Anschein nach lag ich falsch. Er hatte mich nicht wiedererkannt, und an meinen Namen erinnerte er sich auch nicht. Ich verlor ganz offensichtlich den Verstand.
Ich fühlte mich, als wäre ich völlig außer Atem, und mein Herz hämmerte, als wäre ich einen Marathon gelaufen, obwohl ich mich nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Genau wie bei der Schlägerei im Heights, die ich zu schlichten versucht hatte, schoss mein Adrenalinspiegel nach dem eigentlichen Ereignis in die Höhe.
Ich hatte mich geirrt.
Harlan war nicht Elliott.
Warum war ich dann trotzdem so unruhig?
»Und … was meinst du?« Rush nahm zwei winzige Kartoffelpuffer vom Tablett eines Kellners und gab mir einen. »Er sieht aus wie jeder andere Blödmann, der mit einem Wal oder einem Pferd auf seinem pastellfarbenen Poloshirt ins Heights kommt, oder?«
»Ja, das kommt mir auf jeden Fall bekannt vor.« Ich fragte mich, ob ich das, was gerade in meinem Kopf vor sich gegangen war, später einmal witzig finden und Rush erzählen würde, aber irgendwie bezweifelte ich es.
Mein Hirn war ziemlich verwirrt, weil es sich noch nicht von dem größten Schreck meines Lebens erholt hatte, und ich brauchte einen Moment für mich, um meine Gefühle zu sortieren. Ganz abgesehen davon, dass ich eine volle Blase hatte von dem Wasser, das ich täglich zusätzlich zu trinken versuchte. »Entschuldige, ich muss noch mal zur Toilette.«
Rush zog mich an sich. »Soll ich mitkommen? Ich würde mein linkes Ei dafür geben, wenn ich dein Stöhnen in das teure Audiosystem einspeisen könnte, das die ganze Suite mit Fahrstuhlmusik beschallt.«
Ich lächelte. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
Rush brachte mich wieder zum WC. »Du hast dein Handy dabei, oder?«
»Ja, warum?«
»Geh ran, wenn ich dich anrufe, und hör einfach nur zu. Dann bekommst du von mir neues Material für den Schuft in deinem Roman.«
Ich sah ihn fragend an. »Was meinst du damit?«
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Das wirst du schon sehen.«
Als ich mich erleichtert hatte und mir gerade die Hände waschen wollte, klingelte das Telefon in meiner Tasche. Ich kramte es hervor und sagte automatisch »Hallo?«, obwohl mich Rush gebeten hatte, nur zuzuhören.
»Welcher von denen ist Carl Hammond? Der Typ, den ich kennenlernen soll?« Rushs Stimme klang etwas fern. Er sprach nicht in sein Telefon, sondern hielt es in der Hand, damit ich das Gespräch mit seinem Bruder mithören konnte. Ich drehte die Lautstärke hoch.
»Tu wenigstens so, als hättest du Stil, wenn ich dich vorstelle. Fang am besten ein Gespräch über das Wetter oder den Aktienmarkt an, und erzähl bloß nichts von Tattoos und Wohnwagensiedlungen.« Die Stimme klang sehr verächtlich. Es war ganz unverkennbar Elliotts – der jedoch völlig anders klang als der Elliott, den ich gerade kennengelernt hatte.
»Da Hammond Brite ist«, sagte Rush, »wollte ich ihn fragen, ob er Maribel Stewart kennt. Du weißt schon, die Frau, der du letzten Monat bei der Vorstandssitzung die Zunge in den Hals gesteckt hast. Ich habe dich vor der Abstimmung mit ihr im Flur gesehen.«
»Meine Zunge ist nicht das Einzige, was Maribel sich gern da reinstecken lässt.«
»Du bist ein Schwein. Ich weiß nicht, wie du deiner Frau in die Augen sehen kannst.«
»Apropos Frauen …«, sagte Elliott. »Gia kommt mir irgendwie bekannt vor. Habe ich sie schon mal gesehen?«
Ich riss entsetzt die Augen auf.
»Nein, und denk nicht, dass du sie noch mal zu sehen bekommst. Sie ist viel zu gut für dich. Ich hätte sie gar nicht mitbringen dürfen.«
Nun kam eine dritte Stimme hinzu, die dem hitzigen Schlagabtausch ein Ende machte: ein Mann mit einem britischen Akzent. Ich hörte, wie sich Elliott sofort wieder in den charmanten Gastgeber verwandelte und Rush dem Engländer vorstellte. Prompt wirbelten die Gedanken wieder durch meinen Kopf.
War Elliott womöglich doch Harlan?
Hatte er nur so getan, als würde er mich nicht kennen?
Zu Rush hatte er gesagt, ich käme ihm bekannt vor. Und wie aus dem Gespräch hervorgegangen war, betrog Elliott seine Frau regelmäßig.
Verdammt!
Ich machte mich völlig verrückt.
Wäre er Harlan, hätte er nicht vorgegeben, mich nicht zu kennen.
Und der Elliott, der gerade gesprochen hatte, würde seinem Bruder sicher mit Vergnügen auf die Nase binden, dass er mit seiner Freundin geschlafen hatte.
Oder?
Wegen der Feindschaft zwischen den beiden Brüdern war ich davon überzeugt, dass Elliott seine helle Freude daran hätte, es Rush zu stecken.
Aber …
Dann würde Rush eine Szene machen.
Und Elliotts Frau würde es mitbekommen.
Und was dann?
Wie sollte er Lauren erklären, warum Rushs Faust gerade in seinem Gesicht gelandet war?
Ein Klopfen an der Badezimmertür riss mich aus meinen Gedanken. »Moment bitte!«
Ich musste von hier weg. Ich musste mir Rush schnappen und so schnell wie möglich von diesem Ort verschwinden, damit wir in unsere kleine Seifenblase in den Hamptons zurückkehren und den heutigen Abend vergessen konnten. Es kam sicher nichts Gutes dabei heraus, wenn wir noch blieben und ich mich in den Wahnsinn grübelte. Und Stress war sowieso nicht gut für mein Baby. Elliotts Baby? Gott, es durfte einfach nicht sein.
Kurzerhand zog ich mein improvisiertes Kleid zurecht, warf einen Blick in den Spiegel, strich meine wilden Locken glatt und schloss die Augen, um einige tiefe, beruhigende Atemzüge zu machen.
Genau in dem Moment, als es zum zweiten Mal klopfte, öffnete ich die Tür und blickte in ein Gesicht, das ich nicht auf der anderen Seite erwartet hatte.
Elliott.
Oder Harlan.
»Gia.« Wie auf Kommando setzte er sein gut einstudiertes strahlendes Lächeln auf. »Ich wusste nicht, dass Sie dadrin sind.«
Ich schaute den Flur hinunter. »Wo ist Rush?«
»Er unterhält sich mit einem Vorstandsmitglied. Ist alles in Ordnung? Sie sind ein bisschen blass um die Nase.«
»Äh, ja. Ich … ich fühle mich nicht so besonders. Vielleicht habe ich etwas Falsches gegessen.« Ich wies mit dem Daumen in Richtung Party. »Ich gehe Rush suchen und frage ihn, ob er mich nach Hause fährt.«
Elliott studierte mein Gesicht. »Sie kommen mir sehr bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Nein«, sagte ich rasch.
Er stutzte.
Ich wäre am liebsten davongelaufen. Ich musste mich zusammenreißen – mich beruhigen. »Es war nett, Sie kennenzulernen.«
»Ja, gleichfalls«, sagte Elliott und sah mir nach, als ich mich mit zügigen Schritten entfernte.
Am Ende des Flurs angekommen sah ich Rush, der mit einem älteren Herrn auf der gegenüberliegenden Seite der Suite plauderte. Niemand war in meiner Nähe.
Und …
Ich musste es wissen.
Wenn ich ging, ohne Gewissheit zu haben, würde ich mich wohl nie beruhigen. Es würde tagelang an mir nagen. Monatelang. Jahrelang.
Ich spürte den nächsten Adrenalinschub, und im selben Moment drehte ich mich um und holte tief Luft. Elliott stand immer noch vor der WC-Tür und beobachtete mich, also ging ich zu ihm zurück und baute mich vor ihm auf.
»Um ehrlich zu sein, kommen Sie mir auch bekannt vor.«
Die Rädchen in Elliotts Kopf drehten sich unaufhörlich, während er darüber nachdachte, woher er mich kannte.
Was ich tat, war der reinste Wahnsinn.
Aber ich musste es wissen.
Ich sah ihm direkt in die Augen. »Sie ähneln jemandem, dem ich mal in den Hamptons begegnet bin. Im Heights, um genau zu sein. Vielleicht kennen Sie ihn?« Ich atmete tief durch und spuckte auch den Rest aus: »Er heißt Harlan.«
Elliotts Augen weiteten sich, als es bei ihm klick machte. Dann breitete sich ein verschlagenes Grinsen auf seinem Gesicht aus.
»Gia! Bist du hergekommen, um dir einen Nachschlag zu holen?«
»Bist du sicher, dass alles okay ist?« Seit der Party am vergangenen Abend stand Gia irgendwie neben sich. Auf der Rückfahrt war sie sehr still gewesen, und als ich danach mit ihr schlafen wollte – worauf sie bisher immer eingegangen war –, hatte sie gesagt, sie habe Kopfschmerzen und sei müde. Jetzt starrte sie in ihre Cornflakesschüssel, als würde sie die Antworten auf sämtliche Fragen des Lebens von ihr erwarten.
Sie blinzelte mehrmals und sah mich zwar an, aber mit den Gedanken war sie eindeutig woanders. »Entschuldige, hast du etwas gesagt?«
»Ich habe gefragt, ob ich die Cornflakes mal mit deiner Milch probieren darf, wenn sie dann einschießt.«
Sie griff geistesabwesend zu dem Milchkarton, der neben ihrer Schüssel stand, und reichte ihn mir. »Sicher, bitte sehr.«
Sie hatte allenfalls die Hälfte von dem mitbekommen, was ich gesagt hatte.
Ich stand vom Tisch auf, ging zu ihr und hob sie schwungvoll hoch, um mich auf ihren Stuhl zu setzen und sie auf den Schoß zu nehmen. Dann legte ich zwei Finger unter ihr Kinn, damit sie mir ihre volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Was ist los? Irgendetwas macht dir zu schaffen. Seit der Party gestern benimmst du dich merkwürdig. Gruselt es dich, mit mir zusammen zu sein, nachdem du den Teufel und seine Brut gesehen hast?«
»Was? Nein!«
Ich strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Was ist es dann? Rede mit mir.«
»Ich …« Sie schüttelte den Kopf und sah weg. »Ich weiß es nicht. Ich bin plötzlich sehr erschöpft und … obwohl ich mit meinem Buch vorangekommen bin, belastet mich der Abgabetermin doch sehr.«
Ich nickte. »Dass dich mein Bruder an den Schuft in deinem Buch erinnert, hat garantiert diese unangenehmen Gedanken in dir heraufbeschworen. Dem Mistkerl ins Gesicht zu sehen kann einem wirklich den Tag versauen.«
»Ja.« Sie nickte. »Wahrscheinlich ist es das.«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Pass mal auf. Ich muss mich heute sowieso ums Geschäft kümmern. Wie wär’s, wenn du den ganzen Tag schreibst? Wie viel schaffst du an einem guten Tag?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ungefähr dreitausend Wörter.«
Ich grinste. »Das sind auf jeden Fall mehr, als ich in vier Jahren Highschool und einem Jahr Uni geschrieben habe. Danach habe ich das Studium geschmissen.«
»Du warst an der Uni?«
»Ja. Hochschule für bildende Künste. Ich wollte alles über Trickfilmkunst und Animationen lernen. Ich hatte die verrückte Idee, in Anlehnung an meine geflügelten Frauen einen Animationsfilm für Erwachsene zu machen. Keinen Porno, aber etwas mit sexy Frauen, die fliegen und Verbrechen bekämpfen.«
»Die Idee ist nicht verrückt. Wenn es deiner Kunst entsprechen würde, wäre es bestimmt großartig. Aber warum hast du nach einem Jahr aufgehört?«
»Meine Mutter hatte mir gesagt, mein Vater hätte einen Studienfonds eingerichtet und würde mein Studium finanzieren. Als ich im zweiten Semester war, suchte ich in ihrem Aktenschrank nach meiner Geburtsurkunde, weil ich einen Reisepass beantragen wollte, und stieß auf einige Kreditunterlagen. Mein Vater hatte die Uni nicht bezahlt. Meine Mutter nahm regelmäßig Hypotheken auf ihr Haus auf, um die Semestergebühren zu zahlen. Hätte ich weiterstudiert, hätte sie im dritten Jahr mehr Geld aufgenommen, als ihr Haus wert war.« Ich zuckte mit den Schultern. »Also habe ich ihr gesagt, die Uni wäre nichts für mich, und habe das Studium abgebrochen. Ich wollte nicht, dass sie so viele Schulden macht, nachdem sie sich zwanzig Jahre lang abgerackert hatte, um das Haus abzuzahlen. Ich hatte vor, ein paar Jahre zu arbeiten, Geld für die Studiengebühren zu sparen und später an die Uni zurückzukehren.«
»Aber du hast das Studium nie wieder aufgenommen?«
»Nein. Ich habe mit dem Tätowieren angefangen, und dann bin ich durch das Erbe meines Großvaters zu Geld gekommen, und mein Leben ging in eine andere Richtung.«
»Weiß deine Mutter den wahren Grund, warum du aufgehört hast?«
»Nein.« Ich hob den Zeigefinger. »Und wenn sie es jetzt erfährt, dann weiß ich, wo die undichte Stelle ist. Außer dir habe ich diese Geschichte nämlich niemandem erzählt.«
Gia stieß einen tiefen Seufzer aus und schlang die Arme um meinen Hals. »Du bist ein guter Mensch, Heathcliff Rushmore. So ein guter Mensch!«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Heathcliff, hm? Pass bloß auf! Ich habe mir eine Belohnung dafür überlegt, dass du dreitausend Wörter in die Tasten haust. Ich werde einen romantischen Film besorgen und einen Rieseneimer Chunky Monkey mit zwei Löffeln und Massageöl mitbringen, damit ich dir nach der ganzen Tipperei den Nacken massieren kann. Aber wenn du anfängst, mich Heathcliff zu nennen, bringe ich einen Porno mit, in dem es Frauen miteinander treiben, esse unterwegs ganz allein ein Eis, und mit dem Öl wirst du mein bestes Stück verwöhnen, während ich mich gemütlich zurücklehne und dich die ganze Arbeit machen lasse.«
Gia schenkte mir das erste ehrliche Lächeln des Tages, und ich hatte das Gefühl, nach wochenlanger Bewölkung endlich die Sonne wiederzusehen. Es machte mir bewusst, wie sehr ich in diese Frau verliebt war. Ich würde so gut wie alles dafür tun, sie glücklich zu machen.
Ich küsste sie auf den Mund. »Ich verschwinde jetzt, damit du loslegen kannst. Wollen wir es uns heute Abend bei mir zu Hause gemütlich machen? Ich hole dich ab, wenn du mit dem Schreiben fertig bist.«
»Okay. Das klingt gut.«
Nur ungern hob ich sie von meinem Schoß und stand auf, dann holte ich meine Schlüssel und meine Brieftasche aus Gias Zimmer, wo ich sie abgelegt hatte.
»Tipp dir die Seele aus dem Leib!«, sagte ich, bevor ich sie zum Abschied küsste. »Wir finden es nämlich nicht gut, wenn du gestresst bist.« Ich beugte mich vor und drückte einen Kuss auf ihren Bauch. »Nicht wahr, mein Kleiner? Uns ist es lieber, wenn Mama entspannt und gut gelaunt ist.«
Am Nachmittag spazierte ich durch die Stadt, um mir die Zeit zu vertreiben. Es war noch ein paar Stunden hin, bis ich Gia abholen konnte. Ich wollte ihr ein Geschenk kaufen, um sie aufzumuntern. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, was ich ihr schenken sollte.
Ich hatte einen Riesenschmacht auf eine Zigarette. Ich saugte an einem Zahnstocher, um mein Verlangen nach Nikotin zu dämpfen, aber es half nicht. Enttäuscht von meiner eigenen Schwäche fluchte ich vor mich hin und warf den Zahnstocher in den nächsten Mülleimer.
Rauchen und Sex waren meine Laster, und wie ich feststellen musste, war es verdammt schwer, gleichzeitig auf beides zu verzichten. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte ich weder geraucht noch Sex gehabt, und das machte mich fertig. Ich fühlte mich total unausgeglichen und zitterte beinahe.
Aber ich durfte mich nicht von meinem kleinen Problem ablenken lassen und musste mich auf Gia konzentrieren. Sie war wirklich in einer eigenartigen Stimmung. Ich hätte so ziemlich alles getan, damit es ihr besser ging.
Als ich an einem Secondhandladen vorbeikam, entdeckte ich zufällig etwas im Schaufenster und blieb ruckartig stehen.
Wow.
Bingo!
Wie es aussah, hatte ich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Es war genau das Richtige! Es würde ihr gefallen.
Das Glöckchen über der Tür klingelte, als ich den Laden betrat, in dem es ziemlich muffig nach alten Klamotten und Schuhen roch. Mich überkam ein nostalgisches Gefühl, weil ich mich daran erinnerte, dass meine Mutter früher sehr oft mit mir in den Laden der Heilsarmee gegangen war. In meiner Kindheit kauften wir dort viele Sachen für mich. Ich war immer ganz aus dem Häuschen. Für mich waren die Dinge damals alle neu, und in meinen Augen gab es keinen Unterschied zwischen diesem Laden und einem Kaufhaus. Ich durfte mir jedes Mal ein Spielzeug aussuchen. Für mich war er einfach »der Laden«. Er hatte auch immer Sachen im Angebot, die man nirgendwo sonst bekommen konnte. Sachen, die nicht mehr hergestellt wurden. Im Grunde war dieser Laden dadurch sogar cooler als ein echtes Geschäft. Ich hatte nie gefragt, warum auf den Tüten, die man dort bekam, kein Name aufgedruckt war. Und rückblickend betrachtet war mein Heilsarmee-Spielzeug viel aufregender für mich als alles, was ich mir jetzt kaufen konnte, weil es mir so viel mehr wert gewesen war.
Als die Verkäuferin in den Ladenraum kam, legte ich die alten Tauschkarten zur Seite, die ich mir angesehen hatte. Sie roch nach Zigaretten, verflucht, und schon war meine Lust auf Nikotin wieder da.
»Ich habe eine Frage«, sagte ich. »Was kostet die Puppe im Schaufenster?«
»Soll das ein Witz sein? Ich gebe Ihnen sogar etwas dafür, wenn Sie sie mitnehmen. Das Ding macht mir Angst. Deshalb habe ich sie mit dem Gesicht zur Straße hingesetzt; so kann sie mich nicht ansehen. Derzeit dient sie eher als Halloweendeko.«
Ich schmunzelte. »Ich würde ihr gern ein neues Zuhause geben. Ich kenne jemanden, dem sie wahnsinnig gut gefallen wird. Aber umsonst möchte ich sie nicht haben. Ich würde Ihnen gern etwas dafür geben.«
»Na gut, geben Sie mir einen Dollar.«
Ich zog einen Zehner aus der Brieftasche. »Hier. Zehn?«
»Vielen Dank. Das ist echt viel für dieses Teil.«
Sie holte die Puppe aus dem Schaufenster, pustete ihr den Staub aus den Haaren und mir ins Gesicht, und gab sie mir.
Für die Puppen in Gias Sammlung galt das Motto »je hässlicher, desto besser«. Witzigerweise hatte meine Mutter eine Puppe ganz anderer Art für sie gekauft, aber die hatte ich Gia noch nicht gegeben. Ganz ohne Zweifel würde ihr meine viel besser gefallen. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr kreuz und quer vom Kopf abstanden, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Der Kopf war im Vergleich zum Körper riesig, und die Augen waren tellergroß. Wenn man ihren Kopf bewegte, klappten ihre Lider auf und zu. Sie hatte nur ein schmutziges weißes Shirt am Leib, das fast wie eine Zwangsjacke aussah, und keine Hose. Diese Puppe war ein Prachtstück.
»Nochmals danke.«
»Nein, Sir, ich habe zu danken«, entgegnete sie.
Ich schüttelte lachend den Kopf und verließ mit der Puppe in der Hand den Laden.
Auf dem Rückweg zu meinem Wagen, als ich ungefähr einen Block weit gegangen war, fuhr Oak mit seinem Cadillac an mir vorbei. Er hielt an und setzte ein paar Meter zurück.
»Hey, Rush!« Oak ließ das Fenster herunter und wies mit dem Kopf auf die Puppe. »Gibt es etwas, das du mir sagen musst, Mann?«
Ich musste lachen. »Sie ist für Gia.«
»Bist du sauer auf sie oder so?«
»Nein«, sagte ich. »Sie sammelt hässliche Puppen. Das ist ihr Hobby.«
»Na, dann hast du einen Volltreffer gelandet. Die ist wirklich potthässlich.«
»Ja, genau deshalb ist sie perfekt.«
Er streckte den Kopf noch weiter aus dem Fenster. »Soll ich dich mitnehmen? Warum bist du zu Fuß unterwegs?«
»Nein, nein. Ich habe meinen Wagen ein paar Blocks weiter abgestellt. Ich wollte durch die Stadt laufen, ein bisschen Dampf ablassen.«
Oak parkte am Straßenrand, stieg aus und kam zu mir auf den Gehsteig. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht musterte er mich von oben bis unten.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem mein Kumpel Rush seiner Süßen eine Puppe kauft. Das Leben ist echt witzig.«
»Total witzig.« Ich verdrehte die Augen. »Freut mich, dass ich dich erheitern konnte. Gia fühlt sich seit ein paar Tagen ziemlich beschissen, und ich hoffe, dass ich sie mit der Puppe aufmuntern kann.«
»Schwangerschaftshormone?«
»Ich denke schon. Sie ist irgendwie deprimiert. Ich habe sie zu Elliotts Party mitgenommen und fürchte, unter den gegebenen Umständen war es einfach zu viel für sie. Seitdem ist sie schlecht drauf. Sie hält sich zum Beispiel für fett, obwohl sie nie besser ausgesehen hat.«
»Verstehe. Ich schätze mal, es ist normal, dass sie sich in ihrem Zustand nicht wohlfühlt.«
»Ja, ich habe gehört, dass Schwangere manchmal Stimmungsschwankungen haben.«
Oak schirmte seine Augen mit der Hand vor der Sonne ab. »Und wie fühlst du dich so?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine … es ist eine große Umstellung für dich, Rush. Nicht nur Gias Leben ändert sich jetzt für immer. Hat dich schon mal jemand gefragt, wie es dir dabei geht?«
Eine interessante Frage. Ich war viel zu beschäftigt mit Gia, um meine Gefühle zu analysieren. Aber zu ein paar Erkenntnissen war ich schon gekommen.
»Ehrlich? Ich war nie glücklicher. Und gleichzeitig hatte ich noch nie so viel Angst. Aber ich gehe einen Tag nach dem anderen an. Einen Moment nach dem anderen. Und im Augenblick brauche ich verdammt dringend eine Zigarette.«
»Mir ist schon aufgefallen, dass du in letzter Zeit nicht geraucht hast. Saubere Leistung.«
»Ja, aber nur, wenn ich es schaffe, niemandem an die Gurgel zu gehen. Es ist schwerer, als ich dachte.«
»Du musst dem Zeug widerstehen, Rush. Je eher du aufhörst, desto besser. Ich habe das ja auch hinter mir.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Du schaffst das schon. Und du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du dir mal Luft machen musst?«
»Ja, ich weiß.« Ich nickte.
Oak war ein guter Freund. Ich blaffte ihn zwar ständig an, aber ich würde ihm niemals etwas zuleide tun, und ich würde ihn nie im Leben entlassen. Er war einer der wenigen Menschen, denen ich vertraute. Davon abgesehen konnte er mich problemlos umhauen, wenn ich ihn ernsthaft verärgerte.
»Alles klar.« Er öffnete die Wagentür und stieg wieder ein. »Wir sehen uns morgen Abend.«
»Hey …«, rief ich. »Würdest du das für dich behalten? Dass du mich mit einer Puppe in der Hand gesehen hast?«
Oak lachte. »Keine Sorge, Chef. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Obwohl es witzig sein könnte, dich damit zu erpressen, wenn du mir das nächste Mal drohst, mich zu feuern!«
Ich hatte alles gut vorbereitet, bevor ich Gia am Abend abholte. Das Chunky-Monkey-Eis war in der Kühltruhe, und ich hatte eine fertig zubereitete Lasagne beim Italiener geholt, die ich später in den Ofen schieben wollte.
Sie entdeckte die Puppe sofort, als sie in die Küche kam, wo ich sie neben eine Vase mit roten Rosen auf den Tisch gesetzt hatte.
Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Was ist das?«
»Eine Überraschung für dich.«
Gia nahm die Puppe und sah sie sich genau an. »Sie ist … Oh mein Gott … Sie ist …«
»Hässlich wie die Nacht.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte stolz.
»Perfekt, wollte ich sagen. Und unheimlich hässlich, ja. Genau deshalb ist sie auch so perfekt. Wo hast du sie gefunden?«
»Es war purer Zufall. Sie saß im Schaufenster eines Secondhandladens und hat einfach auf mich gewartet. Das Schicksal wollte, dass sie bei uns ein gutes Zuhause bekommt.«
Sie drückte die Puppe an ihre Brust, aber dann fing sie auf einmal an zu weinen.
Scheiße.
Ich hatte sie aufmuntern und aus ihrem unerklärlichen Tief herausholen und nicht noch trauriger machen wollen.
»Was ist los, Gia? Ich wollte dir mit der Puppe eine Freude machen.«
Sie sah zu mir auf und wischte sich über die Augen. »Nichts. Alles ist perfekt.«
Sie setzte die Puppe ab und schlang die Arme um meinen Hals. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen, als sie sich an mich schmiegte und mich küsste. Dann fuhr sie mir mit den Fingern durch die Haare und sagte: »Gehen wir ins Schlafzimmer.«
»Jetzt? Wir haben doch noch gar nicht gegessen«, erwiderte ich, aber dann ging mir ein Licht auf. War ich eigentlich komplett bescheuert? Waren meine Hormone genauso durcheinander wie Gias? Warum erhob ich überhaupt Widerspruch? Hallo? Sie wollte Sex. Also los!
»Ja, jetzt sofort.«
»Da lasse ich mich nicht zweimal bitten.«
Gestern hatte sie keine Lust auf Sex gehabt, und heute war sie total scharf darauf. Das war zwar merkwürdig, aber ich würde mich ganz sicher nicht darüber beschweren. Denn wenn ich sie nicht heute noch vögelte, würde ich rückfällig werden und eine ganze Schachtel auf einmal rauchen. Ich konnte also froh sein, dass sie in Stimmung war.
Ich trug sie nach oben und legte sie auf mein Bett. Als ich mich über sie beugte, spreizte sie gleich die Beine.
»Sieh mal an, du bist schon bereit!«, neckte ich sie.
Gia war in letzter Zeit superfeucht. Sie sagte immer, dass die Schwangerschaft ihre Erregung verzehnfachte, und das war weiß Gott nicht übertrieben. Sie war unglaublich bereit, als ich in sie eindrang, und es fühlte sich einfach großartig an. Das letzte Mal war nur etwas mehr als einen Tag her, aber es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit.
Sie zog mich fest an sich, während ich sie nach allen Regeln der Kunst nahm. Dabei wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie sich an mich klammerte, als hinge ihr Leben davon ab.
Ich hatte es niemandem erzählt. Und es nagte an mir.
Rush schlief noch, und ich betrachtete sein attraktives Gesicht, während ich mich fragte, wie viele Tage mir noch blieben, an denen ich mit dem Gefühl aufwachen durfte, behütet und geliebt zu sein – an denen Rush nicht am Boden zerstört sein würde.
Der vergangene Abend war wundervoll gewesen, wenn auch überschattet von meinen enormen Schuldgefühlen. Nach dem Sex hatte Rush mir eine köstliche Lasagne serviert. Dann hatten wir uns einen Film angesehen und dabei zusammen einen Becher Eis gelöffelt. Er hatte mir die Füße massiert, bis ich auf der Couch eingeschlafen war. Allem Anschein nach hatte er mich ins Schlafzimmer getragen, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, wie ich ins Bett gekommen war.
Nun schien die Sonne zur Balkontür herein. Das Rauschen des Meeres war zu hören und die morgendlichen Schreie der Möwen. Bei Rush aufzuwachen war himmlisch. Ich genoss jede einzelne Sekunde in seinem Haus – allerdings mit einem bittersüßen Gefühl, weil ich wusste, dass der Frieden nicht mehr von langer Dauer sein würde.
Ich überlegte hin und her, wie ich das Problem angehen sollte. Es gab Momente, in denen ich daran dachte, Rush nie die Wahrheit zu sagen. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, es ewig für mich zu behalten. Einen Augenblick lang hatte ich es aus Scham sogar in Betracht gezogen, wegzulaufen bis ans Ende der Welt.
Ein Teil von mir fragte sich, ob ich damit durchkommen konnte, nichts zu sagen. Vielleicht würde Elliott meine Schwangerschaft zu keinem Zeitpunkt hinterfragen, und alle würden einfach davon ausgehen, dass das Baby von Rush war.
Dem anderen Teil von mir – dem weitaus größeren – war klar, dass ich es nicht für den Rest meines Lebens geheim halten konnte. Es würde mich umbringen. Jedes Mal, wenn ich Rushs grenzenloses Vertrauen in seinen Augen sah, würden die Schuldgefühle mich Stück für Stück auffressen. Rush zu schützen hatte bei mir oberste Priorität. Ganz abgesehen davon, dass er zwei und zwei zusammenzählen würde, falls Elliott jemals ein Wort über unsere gemeinsame Nacht verlor. Er hatte etwas gegen mich in der Hand und konnte die Bombe platzen lassen, wann immer es ihm gefiel. Ihm war alles zuzutrauen.