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Arthur Schnitzlers "Reigen" wurde 1920 in Berlin uraufgeführt und löste einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts aus. 100 Jahre später lädt Barbara Rieger zu einem kollaborativen Projekt: eine Adaption der zehn Reigen-Dialoge in Prosa. Fünf Autorinnen und fünf Autoren lassen sich von Schnitzlers Vorlage inspirieren, reagieren in einer Art Stille-Post-Verfahren auf die Episode der VorgängerIn und haben dabei nur eine Vorgabe: jeweils eine Figur für den nächsten Text am Leben zu lassen. Wie lassen sich sexuelle Begegnungen literarisch darstellen? Welche Rolle spielen Machtpositionen dabei? Können Frauen heute ihr Begehren offener zeigen als noch vor 100 Jahren? Barbara Rieger gibt Anstoß zu einem Denkprozess, der nie an Aktualität verlieren wird. Mit Texten von Daniela Strigl ∙ Gertraud Klemm ∙ Gustav Ernst ∙ Daniel Wisser ∙ Bettina Balàka ∙ Michael Stavarič ∙ Angela Lehner ∙ Martin Peichl ∙ Barbara Rieger ∙ Thomas Stangl ∙Petra Ganglbauer Mit dem Originaltext von Arthur Schnitzler
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Seitenzahl: 223
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Barbara Rieger (Hg.)
Vielleicht war es während der Aufführung von Schnitzlers Liebelei im Theater in der Josefstadt. Meine ehemalige Nachbarin spielte die Mizi und ich erinnerte mich, wie sehr mir Schnitzler früher gefallen hatte. Vielleicht war die Idee auch erst in dem Moment da, als ich sie im Café Phil laut aussprach. Ob er den Reigen mit mir neu schreiben wolle, in Prosa, fragte ich damals Martin Peichl, der mir daraufhin eine kommentierte Fassung des Originals schenkte. Da Monogamie in der Literatur ebenso fragwürdig ist wie im Leben, begann ich vorsichtig, weitere Autorinnen und Autoren zu einem neuen Reigen einzuladen. Es war ein Experiment, ein Weiterschreiben, ein Reagieren auf den Text des Vorgängers / der Vorgängerin, ein Übernehmen der Figuren, ein Bezugnehmen auf Schnitzler. Für mich als Herausgeberin war es eine Überraschung und große Freude, den ersten, den zweiten, den dritten Text zu lesen und zu erleben, wie sich ein neuer Reigen entfaltete, wie der Reigen von Gertraud Klemm, Gustav Ernst, Daniel Wisser, Bettina Balàka, Michael Stavarič, Angela Lehner, Martin Peichl, Thomas Stangl und Petra Ganglbauer neu aufgeladen wurde. Bezüge zum Original können Sie im Vorwort von Daniela Strigl nachlesen und anhand des abgedruckten Textes selbst herstellen.
Ich wünsche ein großes Lesevergnügen und danke den Autorinnen und Autoren für ihr Mitmachen.
Barbara Rieger
Daniela Strigl
Vorwort
Gertraud Klemm
Leonie & Josh
Gustav Ernst
Indien
Daniel Wisser
Die Kellnerin und der nervöse Chef
Bettina Balàka
In nördlichen Wäldern
Michael Stavarič
Anna & Herbert: Die junge Frau und der Ehemann
Angela Lehner
Der Idiot und das Baby
Martin Peichl
Wie viele Raben
Barbara Rieger
Der Dichter, die Schauspielerin & ein abgegriffener Mond
Thomas Stangl
Parallelen im Unendlichen. Die Schauspielerin und der Erbe mit Magistertitel
Petra Ganglbauer
Kardamom
Arthur Schnitzler
Reigen
Autor*innen
„Überhaupt gerade die Sachen, von denen ammeisten g’redt wird, giebt’s nicht … z. B. Liebe …Das ist auch so ’was.“
Arthur Schnitzler: Reigen
Daniela Strigl
„Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Szenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde“, berichtet Schnitzler im Februar 1897 seiner Geliebten Olga Waissnix. Als er das Stück drei Jahre später in einer Auflage von 200 Exemplaren als Privatdruck für Freunde herausbringt, hält er eine Publikation der Szenen immer noch für „vorläufig ausgeschlossen“, hat aber eine höhere Meinung von deren literarischem Wert: „Ich glaube, ihr Wert liegt anderswo als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheint.“
Inzwischen sind zwar nicht „ein paar hundert“ Jahre seit dem ersten Druck vergangen, aber immerhin 120. Die reguläre Veröffentlichung erfolgte 1903, die Berliner Uraufführung 1920, vor genau hundert Jahren. „Ausgegraben“ musste der „Reigen“ nicht erst werden, Schnitzlers erfolgreichstes Theaterstück erfreut sich ungebrochener Popularität. Zweifellos eingetroffen ist indes die Prophezeiung des Autors, es würde „einen Teil“ der Kultur des Wiener Fin de Siècle „eigentümlich beleuchten“. Die erotische und sexuelle Praxis der k. u. k. Haupt- und Residenzstadt in einem Querschnitt durch die sozialen Schichten und topographischen Gelegenheiten, von der Uferböschung des Donaukanals bis zum Ehebett im gutbürgerlichen Schlafgemach, offenbart sich als Kultur der Lüge. Der rhetorische Aufwand, mit dem diese jeweils inszeniert und das Triebgeschehen bemäntelt wird, richtet sich nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Im Zentrum des Kultus steht die bis in seine zwielichtigen Randbezirke ausstrahlende Heiligkeit der Ehe als Treuebündnis, dessen moralische Verpflichtung nur für den einen Teil gilt. Dem Idealbild der „anständigen Frau“ entspricht keines des „anständigen Mannes“, das Pendant des „gefallenen Mädchens“ ist der junge Herr mit Erfahrung. Oder wie Marie von Ebner-Eschenbach es ausdrückt: „Die Unschuld des Mannes heißt Ehre. Die Ehre der Frau heißt Unschuld.“
Wenn zehn heute Schreibende den Tanz wagen und sich auf einen neuen „Reigen“ einlassen, kann es nicht darum gehen, Schnitzlers dramatischen Coup zu übertrumpfen, sondern die Parameter der Versuchsanordnung auf die amourösen Angelegenheiten der Gegenwart anzuwenden. Wie ist das heute mit der verstellten und unverstellten Begierde? Wer hat es nötig, von Liebe zu sprechen, wenn er oder sie Sex meint? Oder zumindest ein persönliches Interesse vorzutäuschen? Inwiefern sind Verhältnisse Machtverhältnisse? Wie steht es um das Selbstbewusstsein der Frauen?
Auch „Reigen Reloaded“ beschränkt sich auf gegengeschlechtliche Konstellationen, die Klassengrenzen scheinen jedoch durchlässiger: Die Kellnerin ist Studienabbrecherin und als Geschäftsführerin immerhin vorstellbar. Bei Schnitzler reicht sozusagen eine Figur der nächsten die Hand, wobei der Kontakt sich nicht auf die Handreichung beschränkt; in der zehnstimmigen Neuauflage ist die Choreographie naturgemäß weniger streng, auch hat nur die Eingangsszene eine dramatische Form, in den anderen Dialogen wird für die Erzählung beziehungsweise den inneren Monolog bald die weibliche, bald die männliche Perspektive gewählt, bald mittendrin gewechselt. Entstanden ist der neue „Reigen“ nach dem Fortsetzungsprinzip – nach einem Monat war die Stafette weiterzureichen.
Die Figuren in Schnitzlers „Reigen“ haben keine Namen. Das heißt, die meisten haben zwar Namen, sie heißen Franz und Marie, Karl und Emma, Alfred und Robert, das Personenverzeichnis führt sie aber als Typen, als „Die Dirne“, „Der Soldat“, „Das Stubenmädchen“, „Der junge Herr“ und so weiter. Die programmatische Namenlosigkeit nimmt ihnen ihre Individualität und führt den Reigen des Begehrens als Wiederkehr des Ewiggleichen vor, zugleich treten sie stellvertretend für eine soziale Klasse, ein Milieu, einen Phänotypus („Das süße Mädel“) auf. Wo der Name im Dialog fällt, bürgt er nicht für Identität – das Stubenmädchen Marie wird vom Soldaten Kathi genannt, das süße Mädel geht mit einem Herrn, dessen Namen sie nicht kennt, ins Chambre séparée, weil er sie an ihren Ex-Bräutigam erinnert, und als er ihr seinen Namen verrät, Karl, stellt sich heraus, dass sein Vorgänger ebenso hieß. Überhaupt widerlegt die Häufung von allerlei Doppelungen jede Vorstellung von Einzigartigkeit. Der Dichter Robert wiederum enthüllt dem süßen Mädel, dass er kein anderer als der berühmte Biebitz – mit einem Anklang an Schnitzler – sei oder sich jedenfalls so nenne, aber dieses hat noch nie von ihm gehört. Und die Schauspielerin, die die ganze Zeit von einem Fritz schwärmt, nennt den Dichter „Frosch“, was der sich verbittet: „Dichter: Ich hab’ doch einen Namen: Robert. Schauspielerin: Ach, das ist zu dumm. Dichter: Ich bitte dich aber, mich einfach so zu nennen, wie ich heiße.“ Der Auslöschung des Namens entspricht die – bald erwünschte, bald gefürchtete – Auslöschung der Person: „Stubenmädchen: .... Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn. Soldat: A was – G’sicht .....“ Die Einzige, die einen nicht gewöhnlichen Namen ihr Eigen nennt, ist ausgerechnet die Dirne, sie heißt, nach einer Märtyrerin, Leocadia: die gefallene Löwin.
Wer schreibt, liest genau. Deshalb findet sich ein Echo der namenlosen Freude am Geschlechtlichen auch im neu komponierten Reigen. Bei Thomas Stangl ist der Graf ein „Erbe mit Magistertitel“. Gertraud Klemms Schulmädchen Leonie nennt den Schulwart Josef, mit dem sie eine zeitgemäße Telefonsex-Variante praktiziert, „Josh“, um ihn sich jünger zu machen, in Gustav Ernsts Folgeszene wird er von der Kellnerin Mia freudig als Franz begrüßt, dafür kann er sich nach dem Akt nicht mehr an ihren Namen erinnern: „Tina? Pia? Lisa? Irgendetwas mit a.“
Und das Moderne an unseren modernen Zeiten? Da sind im neuen „Reigen“ natürlich die Medien, mit denen Kontakte geknüpft, gepflegt und performiert werden, da ist das Smartphone, das eine neue Form der Erpressbarkeit mit sich bringt, weil das Netz trotz aller Libertinage eine Schwundstufe altväterlicher Sexualmoral konserviert; aber auch einen Fundus an Information: Das süße Mädel von heute begegnet dem prominenten Autor nicht mehr unvorbereitet. Bis auf das erste finden jedoch alle Rendezvous nach wie vor leibhaftig statt. Und das Ideal der romantischen Liebe spukt auch gut hundert Jahre später durch den erotischen Diskurs. „Bist du denn gar nicht romantisch? Das ist ja kein Tinder-Date“, fragt Bettina Balàkas junger Herr die junge Frau beim doppelten Ehebruch. Und sie: „Auf Tinder sind auch alle ganz romantisch.“ Gegen die programmierte Enttäuschung hilft nur der desillusionierende Blick auf das Danach, der die drohende Verliebtheit als körpereigenen Drogenrausch klassifiziert.
In puncto Coolness und Initiative erweisen sich bereits Schnitzlers Frauen als ziemlich „modern“, die unbürgerlichen tun es offensiv: die Dirne, die den Koitus außerhalb ihres Geschäftsmodells anbietet, die Schauspielerin, die sich den Dichter wie den gräflichen Rittmeister zurichtet und zu Letzterem mit männlicher Kaltschnäuzigkeit meint: „Was geht mich deine Seele an?“ Solche weiblichen Stimmen waren um 1900 durchaus schon zu hören, ihr Widerhall findet sich bei Karl Kraus: „Sie sagte sich: Mit ihm schlafen, ja – aber nur keine Intimität!“
Doch auch die junge Bürgersgattin spielt das fügsamtugendhafte Wesen nur, in der Schlüsselszene im Ehebett beklagt sie sich unüberhörbar über den zeitweiligen Sexualnotstand in ihrer Ehe und hält Mitleid gegenüber leichtlebigen Frauen für unangebracht, aber nicht weil sie sie, wie ihr Gatte glaubt, verachtet, sondern weil sie sie beneidet. Dass „solche Wesen“, wie er sagt, „immer tiefer und tiefer fallen“, quittiert sie zu seinem Befremden mit: „Offenbar fällt es sich ganz angenehm.“ Schließlich heißt sie Emma – wie Madame Bovary – und hat sich schon einen Geliebten zugelegt, der sich wie der Ehemann über ihre frivolen Bemerkungen sehr wundern muss. Karl Kraus resümiert: „Sie behandeln die Frauen wie einen Labetrunk. Daß die Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen.“
Schnitzlers ironische Demontage der männlichen Arroganz macht auch vor der sexuellen Funktionsstörung nicht Halt, die den jungen Herrn heimsucht und die von Emma mit Belustigung kommentiert wird. „Geh’, nicht lachen, das bessert die Sache nicht“, fleht der Mann, ehe sie ihm und sich beherzt aus der Patsche hilft. Schnitzlers sardonisches Gelächter hallt in der Neuinterpretation nach, am wirkungsvollsten, wenn ein unstillbarer Lachkrampf den Partner im falschesten Moment aus dem Konzept bringt oder die Gespielin den armen Mann mittels plötzlichen Abgangs unerlöst zurücklässt. Mag sein, dass die Pornoästhetik die weibliche Körpersprache kontaminiert hat – jedenfalls trauen die Frauen sich im Wien des 21. Jahrhunderts mehr und fallen eher aus der Rolle. Im Ur-„Reigen“ liest der junge Herr einen französischen Roman sowie Stendhals Abhandlung „Über die Liebe“, in der Neufassung ist es die Prostituierte, die zum Taschenbuch greift. Vor hundert Jahren erkannte Karl Kraus: „Die Erotik ist von der Soziologie nicht mehr zu trennen und also auch nicht von der Ökonomie. In irgendeinem Verhältnis steht die Liebe immer zum Geld. Es muß dasein, gleichgültig, ob man es gibt oder nimmt.“ Das hat sich offenkundig nicht geändert, die Abhängigkeit wirkt hier jedoch nicht absolut, es kann auch eine Angestellte ihrem Chef den Laufpass geben. Wohlfeile Illustrationen der MeToo-Debatte im Plakatformat liefert „Reigen Reloaded“ freilich nicht. Überrumpelung und Nötigung werden als solche kenntlich, vorgeführt wird aber auch, dass die Grenzen der Einvernehmlichkeit fließend sind und der Übergriff Teil des Instrumentariums, das man zu ihrer Auslotung benötigt.
1921 notierte Schnitzler im Tagebuch: „Die Zeitungen erfüllt vom ‚Reigen‘. Welches Spiel der Verlogenheiten. Politicum. Unaufrichtig Feind wie Freund. – Allein, allein, allein.“ Sogar Karl Kraus mokierte sich zwar über die antisemitischen Ausschreitungen in den Kammerspielen des Wiener Volkstheaters, lastete aber das „Behagen“ des Publikums am Stück dem Autor an. Schnitzler verbannte es von den Bühnen, das Verbot hielt sechzig Jahre. Die Empörung über die Buchausgabe des „Reigen“ und die noch heftigere über die ersten Aufführungen in Berlin und Wien sind heute nicht mehr nachzuvollziehen. Selbst das Berliner Gericht sprach damals die Akteure vom Vorwurf der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ frei – der Autor habe nicht die Absicht gehabt, „Lüsternheit zu erwecken“, sondern vielmehr einen „sittlichen Gedanken“ verfolgt, nämlich zu vermitteln, wie „schal und falsch das Liebesleben“ sei.
Dass die „geschlechtliche Beiwohnung“ bei Schnitzler nicht gezeigt oder beschrieben, sondern durch Gedankenstriche markiert wird, hat die Wut der Tugendwächter auch nicht besänftigt. Der „Reigen Reloaded“ nützt den inzwischen gewachsenen Spielraum nicht exzessiv aus, da und dort wird mit „und so weiter“ oder „etc.“ angedeutet, dass dergleichen geschieht, man die Bekanntheit der Vorgänge aber voraussetzt. Das Schale und Falsche der verbal vorbereiteten horizontalen Begegnung dominiert auch im Sittenbild der Gegenwart. Das erotische Ringelspiel dreht sich, aber lustig dreht es sich nicht. Worum es sich dreht, auf diese Frage gibt die Literatur naturgemäß keine Antwort. „Sex, das sind kleinere Verletzungen des Gewebes, die auf dem Nachhauseweg schon wieder verheilen, das ist das Vortäuschen und Entziehen von Nähe“, heißt es bei Martin Peichl lapidar. Dass es dabei nicht nur um eine Kommunikation der Körper, sondern auch um Worte geht, ist jedenfalls eine Botschaft, die von zehn Autorinnen und Autoren reizvoll aktualisiert wurde. Nicht die Sprache der Wollust, sondern die Wollust der Sprache macht „Reigen Reloaded“ zu einer Übung in Empathie.
Gertraud Klemm
Gustav Ernst
Daniel Wisser
Bettina Balàka
Michael Stavarič
Angela Lehner
Martin Peichl
Barbara Rieger
Thomas Stangl
Petra Ganglbauer
Leonie, 14, fläzt sich im Bett, den Rücken an die Wand angelehnt. Unaufgeräumtes Jugendzimmer, Spannteppich mit gelbstichigem Grau. Der Schreibtischstuhl ist unter einem Berg Gewand erahnbar. Von der Decke hängt ein Luster aus rotem Plastik. Licht kommt lediglich von einer kleinen Schreibtischlampe, die beängstigend nahe zur Tischfläche gebogen wurde. Leonies Gesicht wirkt durch den Blick aufs Handy in der dunklen Umgebung überbelichtet. Sie ist mitten in einem Videochat mit Josh. Unter Josh hat sie ihn abgespeichert, nur sie nennt Josef Josh. Vielleicht, um ihn zumindest im Kontaktverzeichnis ein bisschen jünger zu machen. Auf dem Profilbild sieht Josh jene zehn Jahre jünger aus, die auf Dating-Plattformen gerade noch anständig sind; und so verwegen, wie er von unten in die Kamera blickt, ist er wohl nie gewesen. Für einen 30-Jährigen ist er ein bisschen zu teigig, aber für Leonie reicht das, um ihn sich ein bisschen jünger vorstellen zu können, und schon ist er das Spannendste, was sich ihr in der öden Schule in den Weg stellt. Das fällt ihr wesentlich leichter, als sich die Milchbubis ihres Jahrgangs älter vorzustellen. Der Schulwart ist erst seit drei Monaten bei ihnen am Gymnasium, und sie ist nicht die Einzige, die auf ihn steht, denkt sie. Der Schulwart ist reifer als die Milchbubis und erreichbarer als die Oberstufler.
Leonie spricht affektiert und streicht sich ständig die glatten, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie ist leicht bekleidet, trägt ein Ruderleiberl, sie hat lange darüber nachgedacht, welchen BH sie anziehen soll, es ist ein cremefarbener mit dezenter Spitze geworden. Leonie ist leicht geschminkt, so, dass es nicht auffällt. Immer wieder neigt sie den Kopf zur Seite, um süß zu wirken.
LEONIE: … und dann hat sie gesagt, ich soll das Badezimmer putzen, wenn ich es schon dauernd belege. Äfft ihre Mutter nach. Weil es sich nicht von selber putzt.
JOSH: Bitter.
LEONIE: Voll. Musstest du auch putzen, früher?
JOSH: Nein. Aber Staubsaugen.
LEONIE: Boah, so ehrenlos.
JOSH: –
LEONIE: Alles okay bei dir?
JOSH: Ja.
LEONIE: Freust dich schon auf Montag?
JOSH: Nein.
LEONIE: Ich hätt mir nicht gedacht, dass ich mich einmal auf die Schule freu.
JOSH: Auf dich freu ich mich natürlich schon.
LEONIE: Sind dir deine Eltern im Urlaub auch so auf den Arsch gegangen?
JOSH: Wir waren selten auf Urlaub.
LEONIE: Oh.
JOSH: Meine Mutter.
LEONIE: Was war mit deiner Mutter?
JOSH: Hat genervt.
LEONIE: Dein Vater nicht?
JOSH: Der hat woanders gelebt. Den hab ich so gut wie nie gesehen.
LEONIE: Das tut mir leid.
JOSH: Kein Stress. Es war wohl besser so.
LEONIE: Sorry …
JOSH: Vergiss es. Der hätte mich eh nur erschlagen.
LEONIE: Oidaaaaa.
JOSH: Ja, Oidaaaaa.
LEONIE: Ich wollte dir was zeigen.
JOSH: Was denn?
LEONIE: Ich hab mir in Grado einen Hut gekauft, schau. Steht auf, kramt in einer Tasche, setzt sich einen schwarzen Stoffhut auf, nimmt wieder auf dem Bett Platz und grinst ins Handy.
JOSH: Steht dir. Magst mir Grado zeigen?
LEONIE:kichert. Nimmt den Hut. Jeder kennt doch Grado.
JOSH: Ich nicht.
LEONIE:tippt in ihr Handy. Ich schick dir ein paar Fotos. Hast nichts versäumt. Lauter Österreicher.
JOSH: Ich find’s schön.
LEONIE: Die Promenade ist schön. Und man kann gut shoppen. Und essen.
JOSH: Und ein Meer gibt’s auch. So schlecht kann es gar nicht sein.
LEONIE:kichert. Eh nicht.
JOSH: Zeig mir mal das Meer.
LEONIE:tippt herum. Kannst du auch was anderes sagen?
JOSH: Oh, oh. Schönes Teilchen.
LEONIE:kichert wieder. Ein ganz normaler Bikini!
JOSH: Gibt’s das Bild auch ein bisschen … verspielter?
LEONIE:wird verlegen. Du Geilspecht!
JOSH: Ich meinte eigentlich die Rückenansicht.
LEONIE: Nicht frech werden. Sonst zeig ich dich an, wegen sexueller Belästigung.
JOSH:abfällig. Geh bitte. Seit wann ist Telefonieren sexuelle Belästigung.
LEONIE: Na ja, bei dir weiß man nie. Man hört so einiges …
JOSH: Ooch – hab ich einen schlechten Ruf?
LEONIE: Na ja, nicht den besten.
JOSH: Aber beschwert hat sich noch keine, oder?
LEONIE:lacht leise. Es klingt falsch.
JOSH: Also was jetzt.
LEONIE:zögert kurz, dann tippt sie in ihr Handy. Was krieg ich dafür?
JOSH:pfeift anerkennend. Ein schöner Rücken kann entzücken.
LEONIE: Und was krieg ich im Gegenzug?
JOSH: Wünsch dir was.
LEONIE: Du kannst mir ein Geheimnis verraten.
JOSH: Deal.
LEONIE: Okay. Was war das vor den Ferien im Turnkammerl?
JOSH: –
LEONIE: Nicht?
JOSH: Lieber nicht.
LEONIE: Ich frag mich …
JOSH:unterbricht. Ich muss jetzt eh aufhören.
LEONIE: Nur noch ein bissl. Mir ist so fad, ich kann nicht einschlafen!
JOSH:seufzt.
LEONIE: Nicht seufzen.
JOSH:stöhnt übertrieben gequält.
LEONIE: Warte kurz.
Leonie steht auf, macht die Schreibtischlampe aus, knipst stattdessen die Lavalampe an, die mitten im Raum auf dem Boden steht. Das Zimmer ist jetzt nur von der Lavalampe beleuchtet, in der sich ein violetter Batzen zu bewegen beginnt und sich träge auf und ab wälzt.
LEONIE: So isses besser.
JOSH: Hat dich ein Wal verschluckt?
LEONIE:lacht.
JOSH: Alles so lila um dich herum.
LEONIE: Und bei dir ist alles grau. Zeig mir dein Zimmer.
JOSH: Sicher nicht.
LEONIE: Feig.
JOSH: Wozu soll das gut sein?
LEONIE: Weiß nicht.
JOSH: Es ist so eine unaufgeräumte Singlewohnung. Du versäumst nix.
LEONIE: Hast du keine Freundin?
JOSH:Eine nicht, nein.
LEONIE:lacht auf. Also mehrere?
JOSH: Nicht mehr als nötig.
LEONIE:plötzlich kühl. So genau wollt ich es gar nicht wissen.
JOSH: Ist vielleicht eh besser.
Eine unangenehme Pause entsteht. Leonie windet sich ein bisschen, streckt sich, man hat das Gefühl, dass sie mit etwas ringt.
LEONIE:platzt plötzlich heraus. Ich wollt dir nur sagen, ich wollt damals am Freitag nicht reingeplatz …
JOSH:unterbricht sie hastig. Lass einfach stecken.
LEONIE: Es hat nicht so ausgeschaut, als ob …
JOSH:unterbricht … es war auch nicht so. Es is nix passiert.
LEONIE: Das musst eh du wissen.
JOSH: Es gibt nix zu wissen und nix zu erzählen.
LEONIE: Wenn nix passiert is, eh nicht.
JOSH: Selbst wenn was passiert wär, geht es niemanden was an.
LEONIE: Wenn du’s sagst.
JOSH: Ich sag’s.
LEONIE: Na dann.
LEONIE: Einvernehmlich, sagt man dazu.
JOSH: Genau.
LEONIE: So hat es aber nicht ausgeschaut.
JOSH: Was geht dich das an. Ich muss jetzt ohnehin Schluss machen.
JOSH: Hallo?
LEONIE: Dann mach Schluss. Wenn du was Besseres zu tun hast.
JOSH:lacht rau.
LEONIE: Was hast denn Besseres zu tun?
JOSH: Was man halt so zu tun hat. Wenn man nix zu tun hat. Beide lachen spontan.
LEONIE: Geh, du bist cringe.
JOSH: Geh bitte. Bist Nonne, oder was?
LEONIE: Bist leicht stolz drauf?
JOSH: Warum nicht?
LEONIE: Zeig, wennst dich traust. Ich schau zu.
JOSH: Pfff.
LEONIE: Hab eh schon alles gesehen.
JOSH: –
LEONIE: Oops. Tut mir leid.
JOSH: Der war tief. Aber gut. Da schau, wennst dich so drum reißt …
LEONIE:schaut angestrengt aufs Display. Geh bitte, was soll ich mit deinem Nabel? Mach einmal ein bissl Licht. Ich seh ja gar nix!
JOSH: Darf ich vorstellen: meine rechte Brustwarze.
LEONIE: Oh, wow, eine Brustwarze.
JOSH: Und jetzt: meine linke Brustwarze.
LEONIE:lacht übertrieben herzlich.
JOSH: Jetzt du.
LEONIE: Warum sollte ich?
JOSH: Weil uns fad ist und wir nix Besseres zu tun haben.
LEONIE: Eine männliche Brustwarze ist was anderes als eine weibliche Brustwarze.
JOSH: Das war’s, ich bin raus. Ich wollte ohnehin …
LEONIE: … warte. Okay, okay. Aber Keine Screenshots!
JOSH: Bist du wahnsinnig. Nein!
LEONIE: Woher weiß ich, dass du keine Screenshots machst?
JOSH: Warum sollte ich.
LEONIE: Um mich zu erpressen.
JOSH: Geh bitte. Außerdem steht Vertrauen gegen Vertrauen, oder?
LEONIE: Deal. Keine Screenhots!
JOSH: Deal!
LEONIE:zögert, lacht verlegen.
JOSH: Ich schau inzwischen woanders hin! Er pfeift, als würde er verlegen Blick und Kopf abwenden.
LEONIE:hebt zaghaft das Shirt. Aus dem Handy ist ein anerkennendes Pfeifen zu hören.
JOSH: Nice … also das, was ich sehen kann, und das ist nicht viel…. aber nice … gibt’s kein Licht?
LEONIE: Tataaaaa! Sie knipst die Leselampe ihres Nachtkästchens an.
JOSH: Es werde Licht! Oh, wunderschöne, apfelgroße Brüstchen, könntest du sie ein bisschen pushen, damit ich zwischen …
LEONIE:zieht empört das Shirt herunter. Genug jetzt.
JOSH: Na geh! Nicht aufhören!
JOSH: Biiitteeee …
LEONIE:hebt langsam das Leibchen, entblößt zuerst die rechte, dann die linke Brust.
JOSH: Mmmhhhh, nice, nicht runterlassen …
Aus dem Handy ist ein anerkennendes Raunen zu hören.
LEONIE:zieht abrupt das Shirt über die Brüste. Ich weiß nicht, ob ich das mag.
JOSH: Natürlich magst du das. Deswegen bist du ja hier. Kannst jederzeit auflegen.
LEONIE: Jetzt wieder du.
JOSH: Bitte sehr.
LEONIE:beugt sich konzentriert nach vorne. Ich seh gar nix. Nur schwarz.
JOSH: Bitte sehr.
LEONIE:erschrickt kurz, verzieht das Gesicht. Holy shit. Ich weiß nicht, ob ich das sehen will.
Zeig mir lieber wieder dein Gesicht.
JOSH: Du kannst ihn ja in den Mund nehmen, dann siehst du ihn nicht.
LEONIE:zuerst angewidert, dann plötzlich beginnt sie zu kichern, öffnet die Lippen und führt das Handy nahe an den Mund, beginnt es rhythmisch zu und von ihren Lippen zu bewegen. So?
JOSH: Oh yeah. Und jetzt alles. Du weißt schon. Aber schön die Decke wegziehen, damit ich was seh.
LEONIE:verzieht das Gesicht.
JOSH: Wir haben einen Deal.
LEONIE:schlägt die Decke zurück, hält das Handy vor den Unterkörper, seufzt, zieht ein Bein an. Mit der Linken hält sie das Handy, mit der Rechten zieht sie die Unterhose zur Seite.
JOSH: Oh, niiiice. Noch ein bissschen nach unten kippen. Yeeees, genau so. Singt. Sie hat dicke Lippen …
LEONIE:lacht verlegen. Genug jetzt.
JOSH: Oops.
LEONIE: Was, oops.
JOSH: Vielleicht hab ich jetzt doch einen Screenshot gemacht?
LEONIE:reißt das Handy nach oben. Hast du nicht!
JOSH: Wer weiß.
LEONIE: Du Orschloch. Kurze Nachdenkpause. Ich hab vielleicht auch einen gemacht! Ätsch!
JOSH: Na dann schick!
LEONIE: Du zuerst.
JOSH:lacht leise. Gute Nacht, Süße.
LEONIE: Trottel.
Sie drückt ihn weg, legt das Handy aufs Nachtkästchen, zieht die Decke über die Knie und reibt sich das Gesicht. Seufzt. Greift nochmal zum Handy und schaut.
LEONIE: Fuck. Fuck. Fuck.
Sie kneift die Augen zusammen und legt das Handy wieder weg. Knipst das Leselicht aus, sitzt jetzt im Dunkeln. Im fahlen Licht der Lavalampe sind nur mehr ihre Umrisse zu sehen.
Als Josef die Bar betrat, stand sie an der Theke und lächelte.
Hallo, Franz, sagte sie, kennst du mich noch? Restaurant Zum Englischen Reiter.
Josef stutzte. Er war noch nie im Englischen Reiter.
Genau, sagte er, im Prater, oder?
Ja, sagte sie, wo ich kellneriert hab.
Ich weiß.
Du erinnerst dich?
Als ob es gestern gewesen wäre!
Wirklich?, sagte sie. Wenigstens einer, der mich nicht vergessen hat.
Wie könnte ich!, sagte Josef. Wie geht es dir?
Mia, rief einer von den Tischen, noch ein Viertel Weiß!
Bin außer Dienst, rief sie zurück.
Kannst es mir ja trotzdem bringen!
Arschloch!, sagte sie zu Josef. Nichts als Arschlöcher!
Kellnerierst du hier?
Ja, aber heut ist mein freier Tag.
Und den verbringst du ausgerechnet hier, unter den Arschlöchern?
Wo sind keine Arschlöcher?, sagte sie. Die hier kenne ich wenigstens. Außerdem wolle sie sich sowieso umorientieren. Zwei Jahre Englischer Reiter, ein Jahr Eisvogel und jetzt hier. Hier wäre sowieso der blanke Horror, sagte sie. Das ständige Blöd-angequatscht-Werden. Das dauernd Vongroßen-Plänen-hören-Müssen, von Studienabbrüchen, von Beziehungsdesastern, von vergeblichen Jobsuchen, Wohnungssuchen, Sinnsuchen.
Ich versteh dich gut, sagte Josef.
Du verstehst, dass ich das nicht mehr aushalte?
Absolut, sagte Josef. Bewundernswert, dass du es bis jetzt ausgehalten hast.
Findest du auch?
Unbedingt! Kellnerieren ist doch die Hölle, oder?
Hast du auch einmal kellneriert?
Ich? Nein. Aber ich stelle mir vor, es ist die Hölle.
Es ist nur die Hölle!, sagte sie.