Reise-Tagebuch eines Pilgers - Alfred Berghammer - E-Book

Reise-Tagebuch eines Pilgers E-Book

Alfred Berghammer

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Beschreibung

Das "Reise-Tagebuch eines Pilgers" eröffnet dem Leser ungewöhnliche Perspektiven auf den sonst schon viel beschriebenen Jakobsweg. Der Autor und Pilger Alfred Berghammer erzählt über die drei Monate und rund 2700 Kilometer seiner Wanderschaft von Salzburg nach Santiago de Compostela als herausragende Erfahrung und echte Pilgerreise. Unüblich ist dieses Buch vor allem durch die Wahl der Route: Nicht der Trubel des viel begangenen Camino Francés durch das nordspanische Hochland, sondern die Beschaulichkeit der einsamen, dafür aber landschaftlich großartigen Wege an der atlantischen Küste wird in Wort und Bild vermittelt. Zu Beginn des Frühlings machte sich der Autor auf den Weg und beschreibt zuerst einige der schönsten Regionen Österreichs, der Schweiz und Frankreichs, durch die der Weg ihn führte, bis er in der Blütenpracht des Frühsommers Santiago de Compostela in Spanien erreichte. Der Autor vermittelt die Höhen und Tiefen seiner Pilgerreise mit einer beträchtlichen Portion Selbstironie, die einem die Mundwinkel nach oben wandern lässt. Viele Fotos machen Lust, ausgewählte Strecken dieses besonderen Jakobswegs selbst einmal unter die Wanderschuhe zu nehmen.

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Alfred Berghammer

Reise-Tagebuch eines Pilgers

90 Tage auf dem Jakobsweg

Liebe lässt den anderen gehen

und empfängt ihn wieder.

Sie bleibt stehen und wartet

und ist gegenwärtig, wenn er kommt.

Sie sieht, wenn der andere wartet.

Sie ist die Kunst, dem anderen Freiheit zu geben,

ohne ihn zu verlassen

und ihm bis ans Ende nahe zu sein.

Jörg Zink

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Lektorat: Martina Schneider

Layout und Produktion: Tanja Kühnel

Satz: Andreas Aigner

Mitarbeit: Katharina Schmiedjell

ISBN 978-3-7025-8013-1

www.pustet.at

Bildnachweis:

Cover und Pilgermuschel: Bilder verwendet mit Genehmigung von Shutterstock.com. Alle anderen Bilder stammen aus den Händen des Autors Alfred Berghammer.

 

INHALTSVERZEICHNIS

Karte

Der Jakobsweg als Sinnbild des Lebens

Der Weg

(3. bis 5. März) Ins Inntal

(6. bis 11. März) Im Inntal

(12. bis 17. März) Vom Arlberg an den Vierwaldstättersee

(18. bis 21. März) Vom Vierwaldstättersee nach Bern

(29. März bis 3. April) Von Bern nach Genf

(4. bis 13. April) Von Genf nach Le Puy

(14. bis 25. April) Von Le Puy nach Moissac

(26. April bis 7. Mai) Von Moissac nach San Sebastián

(8. bis 17. Mai) Von San Sebastián nach Santander

(18. bis 27. Mai) Von Santander nach Oviedo

(28. Mai bis 9. Juni) Von Oviedo nach Santiago de Compostela

Was ist aus meinen Erwartungen geworden?

Das Pilgern ein Leben, das Leben ein Pilgern

Literatur und Autorenbiografie

 

DER JAKOBSWEG ALS SINNBILD DES LEBENS

Am Vierwaldstättersee, in einer der zweifelsohne schönsten Landschaften der Welt, verwirklichen sich die Kantone der Schweiz im „Weg der Schweiz“. Der Kanton Thurgau tut dies mit folgender Tafel:

Pilgerweg vom Bodensee zum Vierwaldstättersee

Seit dem ersten Jahrtausend strömen Pilgerzüge durch ganz Europa, um an den Gräbern Jesu Christi in Jerusalem, der Apostel Petrus und Johannes in Rom und an jenem des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela zu beten, zu bitten oder Busse zu tun. Millionen von Menschen sind im Laufe der Jahrhunderte auf den Pilgerwegen nach Süden geströmt, und haben ein europäisches Wegnetz geschaffen, das seinesgleichen sucht. Viele sind aufgebrochen und haben ihr ganzes Vermögen für die Pilgerreise ausgelegt, sind unter äussersten Entbehrungen monatelang marschiert, waren den Gefahren der Natur und übler Menschen ausgesetzt, haben Freud und Leid erlebt, und viele sind nie mehr zurückgekehrt: Der Pilgerweg als Metapher des menschlichen Lebens schlechthin.

Einer der wichtigsten Pilgerwege führt durch den Kanton Thurgau, von Konstanz über Märstetten und Fischingen nach Rapperswil und dem Marienwallfahrtsort Einsiedeln. Pilger aus ganz Nordosteuropa benutzen den Ostschweizer Pilgerweg, Polen, Tschechen, Slowaken und Deutsche, vor allem Schwaben, weshalb das Wegstück im Volksmund auch Schwabenweg heisst. Kapellen, Kirchen, Wegkreuze und Klöster begleiten den Weg, der sich im Mittelalter immer mehr auch zur wichtigen Verkehrsader für Handel und Reisen entwickelte.

Der Jakobsweg, von dem auf dieser Tafel die Rede ist, übt seit mehr als 1000 Jahren eine schwer erklärbare Faszination aus, die gerade in letzter Zeit immer mehr Menschen aus der ganzen Welt ergreift. So wandern jedes Jahr Tausende nach Santiago de Compostela am Westrand Europas, wo der heilige Apostel Jakobus der Ältere in besonderer Weise verehrt wird. Es sind Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, Junge und Alte, sie kommen aus der ganzen Welt. Viele werden geradezu süchtig. Ich habe Leute getroffen, die schon bis zu zehnmal auf den verschiedensten Routen nach Santiago gepilgert sind. Was macht diese Faszination aus? Ist es die Mystik, die Hoffnung auf eine Gebetserhörung, die schöne Landschaft und ihre Kulturschätze, die uralte Geschichte, die Menschen auf dem und am Weg, die kulinarischen Genüsse? Wohl von jedem etwas.

Die Anziehungskraft des Jakobsweges wird selbst dann nicht geringer, wenn man ihn – so wie ich – von Salzburg nach Santiago begangen hat. Deshalb bin ich nach meiner Pilgerreise im Jahr 2009, die ich im Folgenden schildere, dabei, meiner Frau einen großen Teil der zurückgelegten Wegstrecke in zwei- bis dreiwöchigen Etappen pro Jahr zu zeigen. Bei diesen Nachbegehungen zu teilweise anderer Jahreszeit sind weitere Fotos des Jakobsweges entstanden. Da bei diesen Bildern die Vegetation und das Wetter mit dem Text der Erstbegehung natürlich nicht in Einklang steht, sind sie mit einer Jakobsmuschel gekennzeichnet.

Ich möchte anhand meiner eigenen Erfahrungen auf der ersten dreimonatigen Pilgerreise ein wenig dem Gedanken nachspüren, der auf der Tafel des Kantons Thurgau genannt ist. Was hat der Jakobsweg mit unserem Leben zu tun?

WIE KAM ES DAZU?

Oft wurde ich gefragt, auch von Mitpilgern, weshalb ich denn die Entbehrungen und Mühen des Jakobsweges auf mich nähme. Eine freundliche Gastgeberin in Pfaffenhofen wollte sogar wissen, ob ich denn so große Schuld auf mich geladen hätte, die einer solchen Buße bedürfe. Deshalb möchte ich ein wenig auf die wichtigsten Gründe eingehen, die mich dazu gebracht haben, den Jakobsweg zu gehen. Sie liegen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

VERGANGENHEIT

Mehr als 40 Jahre Berufstätigkeit mit Höhen und Tiefen, davon die längste Zeit in leitender Stellung im öffentlichen Dienst, hatten sich in einem großen Teil meines Bewusstseins, aber auch meines Unterbewusstseins festgesetzt. Ich wusste: Wenn ich jetzt in der Pension einen neuen Lebensabschnitt beginne, dann muss das mit einem eindrücklichen Akzent geschehen. In den Begriffen des Computerzeitalters ausgedrückt: Auf der Festplatte meines Gehirns sollte die Berufslaufbahn zwar nicht gelöscht, aber doch Platz für eine neue Software geschaffen werden.

GEGENWART

Ich bin gläubiger Christ und überzeugt, dass beharrliches Beten Früchte trägt: Für meine große Familie, meine Freunde, die Pfarre, den Orden, in dem ich mich engagiere, und für unser Gemeinwesen. Ein ganz besonderes Gebetsanliegen war mir mein Schwager, durch den ich die Liebe zu den Bergen neu entdeckt habe und der nach einem Herzinfarkt fast zwei Jahre im Wachkoma lag.

ZUKUNFT

Ich fühle mich gesund, leistungsfähig und in der Lage, neue Herausforderungen zu bewältigen. Deshalb möchte ich auch in Zukunft positive Beiträge für Gesellschaft und Kirche leisten – dort, wo ich gebraucht werde. Aber wo ist das?

DIE ANTWORT

Seit einiger Zeit ging mir der Jakobsweg nicht mehr aus dem Kopf – der Jakobsweg, wie er seit mehr als 1000 Jahren gepilgert wurde: Von zu Hause bis zum Grab des heiligen Apostels Jakobus. Vielleicht ist dieser Pilgerweg die Antwort auf meine Fragen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Aber so einfach war das nicht. Meine geliebte Gattin Sissy, von der ich lange gehofft hatte, sie werde mich begleiten, war alles andere als begeistert. Sie hat offensichtlich befürchtet, dass ich nicht nur die Festplatte meiner Berufstätigkeit, sondern auch die meines Privatlebens überschreiben könnte. Eine andere Sorge war, dass ich mich nach diesem langen Marsch sofort auf den Operationstisch zum Austausch meiner nicht mehr taufrischen Gelenke begeben müsse. Erst als ich ihr versicherte, dass dies sicher nicht der Fall sein würde, konnte sie damit leben, dass ich mein Vorhaben in die Tat umsetzte. Ihre Akzeptanz wurde dadurch erleichtert, dass wir ein gutes Stück gemeinsam zu gehen planten.

Mir war aber auch bewusst, dass die veranschlagten drei Monate Pilgerweg für mich nicht das reine Honigschlecken sein würden: Ich liebe meine Frau und meine Familie über alles und würde unter der langen Trennung leiden. Da war eine Verkürzung dieses Zeitraums durch die Begleitung meiner Frau schon ein sehr erfreulicher Aspekt.

Keineswegs sicher war ich, ob ich das Vorhaben überhaupt schaffen würde. Ich bin zwar nicht unsportlich, aber Knöchel, Knie und Hüfte spüren den Zahn der Zeit und wollen häufig nicht mehr so, wie ich will.

DIE VORBEREITUNG

Es war mir ein Anliegen, so gut wie nur möglich vorbereitet zu sein. So habe ich ein Jahr vorher zu trainieren begonnen: Ich ließ meine geliebten Berge links liegen und bin im flachen Gelände marschiert. Noch vor zehn Jahren hätte ich nur mitleidig gelächelt, wenn mich jemand dafür hätte gewinnen wollen. In den Rucksack habe ich in den letzten Monaten so lange Bücher gepackt und mich mit ihm auf die Waage gestellt, bis das Körpergewicht plus 10 kg erreicht war.

Neben der sportlichen Vorbereitung gab es aber auch meine (mangelnden) Sprachkenntnisse zu bedenken. Bei den besuchten Französisch- und Spanischkursen zeigte sich, wie standhaft sich so ein älteres Gehirn widersetzt, sich mit neuen Worten und Redewendungen in einer anderen Sprache vertraut zu machen! Keine Chance, für mein Vorhaben nur mit dem Kurs auszukommen! Also musste ich in meiner ohnehin spärlich bemessenen Freizeit auch noch Vokabeln und Grammatik pauken. So schaffte ich es unfreiwillig, noch einmal in eine Blütezeit von Zeitnot und Stress hineinzugeraten, welche die Sehnsucht auf den immer näherkommenden Jakobsweg noch verstärkte.

Auch logistische Maßnahmen waren zu treffen. Es war abzusehen, dass mir im März die Überquerung des Arlbergs Schwierigkeiten bereiten würde. Deshalb habe ich bei einer Fahrt in die Schweiz alte Tourenski samt Fellen und Skischuhen bei der Verwandten eines lieben Nachbarn in St. Anton am Arlberg deponiert.

Weiters wollte ich auch meine Umgebung auf meine mindestens dreimonatige Abwesenheit vorbereiten. Denn Terminanfragen als Nachlese zu beruflichen und den weiterlaufenden sonstigen Verpflichtungen gab es schon einige. Das ließ sich ziemlich problemlos klären, hatte aber den unangenehmen Effekt, dass ich meine Pläne praktisch nicht mehr aufgeben konnte, ohne mich unsterblich zu blamieren, was mich durchaus etwas unter Druck brachte. Ich war Geisel meiner großspurig verkündeten Pläne geworden.

Interessant war auch das Echo derer, die von meinem Plan hörten. Ein Teil zeigte echte Begeisterung und Bedauern, nicht selbst mitgehen zu können. Ein größerer Teil täuschte Bewunderung vor und beim sprachlosen Rest konnte man oft an den Mienen ablesen, dass sie sich dachten: So ein Spinner!

Noch ein Resultat hatte meine Ankündigung: Zu meinem 60. Geburtstag, den ich kurz vor meinem Abmarsch ausgiebig feierte, wurde ich überreich mit Utensilien für meine Pilgerreise beschenkt. So nenne ich mittlerweile eine Bibliothek zum Jakobsweg mein Eigen. Dazu zählen schon einmal drei Exemplare von „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling und unzählige Bildbände. Notfallpackerl, eiserne Rationen und Tagebücher habe ich außerdem so oft bekommen, dass ich ein weiteres halbes Dutzend Pilger hätte damit ausstatten können.

Das beste Geschenk hat mir Sissy gemacht: ein Pilgertagebuch mit einem wunderschönen Zitat am Anfang (siehe Beginn des Buches). Dazu kamen Fotos von ihr, den Kindern, Schwieger- und Enkelkindern. Für die Sonntage hatte sie Zitate eingetragen und bei den jeweiligen Tagen die Geburtstage der Familienmitglieder bis Ende Juni.

 

DER WEG

INS INNTAL (3. BIS 5. MÄRZ)

Am 1. März möchte ich nach Abgabe meiner Stimme bei der Landtagswahl und dem Mitfeiern der Sonntagsmesse lospilgern. In der Pfarre ist schon alles für den Pilgersegen vor dem Kirchenvolk vorbereitet. Aber es kommt anders: Meine 95-jährige Mutter hat Ende Februar nach einem Sturz eine schwere Operation am Kopf, mit der ein bedrohlicher Bluterguss beseitigt werden soll, zu verkraften. Es ist noch nicht abzusehen, ob sie sich von diesem schweren Eingriff (ein Teil des Schädelknochens wurde herausgenommen) erholen wird. Also sage ich den öffentlichen Pilgersegen und meinen Abmarsch vorerst ab.

Als sich nur wenige Tage später der Zustand meiner Mutter stabilisiert, bin ich nicht länger zu halten. Ganz lässt mich der Gedanke aber nicht los und deshalb plane ich zwei Rückfahrten ein. Die erste davon gleich am Donnerstag, 5. März, um 16 Uhr von Wörgl mit dem Korridorzug nach Salzburg. Das geht aber nur, wenn ich es schaffe, am Donnerstag bis 14 Uhr in Wörgl zu sein. Die zweite Rückfahrt plane ich für den 11. März, den 95. Geburtstag meiner Mutter.

In meiner Pfarre St. Martin erhalte ich nach der Wochentags-Abendmesse am Montag in einer berührenden kleinen Zeremonie den Pilgersegen. Am Abend packe ich mit Sissys Hilfe den Rucksack fertig und steige auf die Waage. Oh, Schreck! Der Rucksack wiegt 12 kg. Das ist zu viel, die Pilgerbücher empfehlen 6–7 kg! Ich räume alles wieder aus und überlege, was ich entbehren kann. Der Gewichtsreduktion fällt zum Beispiel mein fünftes Buch, ein Roman, zum Opfer. Denn auf die ersten vier (Bibel, Tagebuch, zwei Vokabelbücher zum Lernen) kann ich nicht verzichten. Nach einigen Abstrichen zeigt die Waage nur mehr 10 kg (+ Körpergewicht) an.

3. März: Nach der obligaten Frühmesse bei den Herz-Jesu-Missionaren und einem kräftigen Frühstück umarme ich meine Frau und ziehe bei trockenem Winterwetter los, vorerst an die Saalach und weiter nach Wals. Nach der Grenze zu Deutschland, in Weißbach, stoße ich erstmals auf die Markierung „Jakobsweg“ und freue mich darüber. Denn diese Wegweiser sollen mich nun lange begleiten. In Bad Reichenhall komme ich an einem Buchladen vorbei. Ich kann nicht widerstehen und kaufe mir ein Buch. Sonst graut mir zu sehr vor einsamen, langweiligen Abenden. Die Verkäuferin fragt mich nach dem Wohin und wie lange ich denn schon unterwegs sei. Recht verschämt bekenne ich: „Einen halben Tag“. In Anbetracht des weit entfernten Ziels komme ich mir ein bisschen armselig dabei vor.

Dann wandere ich am Saalachstausee entlang. Am Ende des Weges stoße ich auf eine Sperre und ein Schild, dass der Weg, den ich gerade gekommen bin, wegen Lawinengefahr gesperrt ist. Zum Glück war ich in die Richtung unterwegs, wo keine Lawinen zu erwarten waren!

Nach Unterjettenberg ist es so weit: Der Tiefschnee lässt nicht länger auf sich warten. Gott sei Dank treffe ich bei Schneizlreuth wieder auf geräumte Wege, wenn auch mit Eis, Schnee und Matsch. So erreiche ich in der Abenddämmerung müde, aber zufrieden, mein Tagesziel Unken. Da ich mir vorgenommen hatte, den Jakobsweg nicht als Sportevent, sondern als echte Pilgerreise zu unternehmen, gehe ich zuerst in die schon düstere und kalte Kirche, um eine Andacht zu halten. Dazu brauche ich die Bibel. Wo ist sie bloß? Ich breite den ganzen Rucksackinhalt auf der Kirchenbank aus. Unglaublich, was da alles drin ist! Glücklicherweise ertappt mich niemand, wie ich in der Kirche alle meine Utensilien ausgebreitet habe. Ich beschließe, in Zukunft eine feste Rucksack-Packordnung einzuhalten.

Nach neun Stunden Marsch bin ich zu müde, ein Quartier zu suchen und dann zum Abendessen wieder außer Haus zu gehen, also kehre ich im Dorf-Café Unken ein, wo es sowohl Zimmer als auch Essen gibt. Nach dem Duschen will ich hinunter zum Essen, doch meine steifen, schmerzenden Beine sagen: „Genug!“ – aber der Hunger ist stärker. Mit äußerster Willenskraft schaffe ich die Stiege und stolziere in den Gastraum in dem Bemühen, dass mich niemand als gehbehindert einschätzt. Nach dem Abendessen erinnere ich mich voll Dankbarkeit an das halbe Kilo Basenpulver, das der Gewichtsreduktion des Rucksacks vernünftigerweise nicht zum Opfer gefallen ist. Dieses Pulver soll einen übersäuerten Körper wieder ins Gleichgewicht bringen.

4. März: So fühle ich mich am nächsten Morgen fast wieder frisch und ausgeruht. Im Frühstücksraum bin ich mit dem Buffet allein. Ich habe zwei Halb-Literflaschen, die ich mit heißem Wasser füllen möchte. Da diese aber nicht unter den Samowar passen, der der einzige Heißwasserlieferant ist, steht am Ende der Prozedur der Frühstückstisch und wohl auch ein Stück Boden unter Wasser. Erfreulicherweise sind genug Servietten vorhanden und ich versuche, die ärgsten Spuren meines morgendlichen Wirkens zu beseitigen. Nachdem ich fluchtartig das gastliche Lokal verlassen habe, erwartet mich draußen ein wunderschöner Wintertag mit Kaiserwetter.

Die Gehwerkzeuge sind anfangs noch etwas stelzenähnlich, aber das wird immer besser. Am Gaissteig von Unken nach Lofer erwartet mich eine Sperre wegen Lawinengefahr – diesmal sogar von der richtigen Seite. Der Schnee ist hart gefroren, also kann ich alles erwarten, nur keine Lawine. Ich versuche, unter der Sperre durchzuschlüpfen. Das gelingt nicht, sowohl Rücken als auch Knie verweigern das Abbiegen. So umgehe ich sie. Die wenigen Meter zeigen mir, dass der Tiefschnee heute nicht so angenehm sein wird.

Der folgende Weg nach Lofer über das Kirchlein von Au ist ein erster Höhepunkt des Jakobsweges: eine grandiose Landschaft, gewandet in gleißenden Schnee, keine Wolke am Himmel. Der Wanderweg ist sogar geräumt. Allerdings hat das Wetter der vergangenen Tage den Schnee geschmolzen, dann wieder gefroren, dann wieder … jedenfalls schlittere ich bis Lofer einen Eiskanal entlang, der einer Bobbahn alle Ehre gemacht hätte.

Ich freue mich schon auf den nun folgenden Wanderweg nach Waidring, der als sehr schön beschrieben wird. Die Freude dauert jedoch nur kurz. Er ist nicht geräumt und es gibt nicht einmal alte Spuren. Ich sinke so tief ein, dass ich nach kurzer Zeit aufgebe und zur Bundesstraße zurückkehre. Das geht ganz passabel, bis ich die dreispurige Schnellstraße erreiche. Nachdem ich keine andere Wahl mehr habe, halte ich mich jeweils am äußeren Fahrbahnrand der Kurve und mache mich möglichst schmal. Bei jedem Richtungswechsel der Straße springe ich im Schweinsgalopp (mit Rucksack und Stöcken) über die drei Fahrstreifen, um wieder auf die Außenseite zu kommen. Ich bin froh, als ich kurz vor Waidring auf eine ruhigere Nebenstraße gelange. Später treffe ich auf geräumte Radwege. Sie sind zwar trotzdem voll Matsch, Eis und Lacken, aber noch immer viel besser als Tiefschnee oder die Schnellstraße.

Winterwanderweg bei Waidring

Eigentlich lautet mein Etappenziel für heute St. Johann. Bei genauem Routenstudium sehe ich aber, dass das ein Umweg wäre, weil ich am nächsten Tag wieder auf demselben Weg aus der Stadt heraus müsste. Ich habe weder Kilometer noch Zeit zu verschenken, weil ich ja morgen um 14 Uhr in Wörgl sein möchte, also gehe ich lieber gleich Richtung Going am Wilden Kaiser. Ich weiß zwar nicht, wie weit das noch ist, aber auf den Wegweisern lese ich etwas von einem Römerhof (Gasthof mit Zimmern), der von den Zeitangaben her noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichbar sein müsste. In der Abenddämmerung erreiche ich ihn, doch was sehe ich zu meinem nicht geringen Entsetzen? Alles dunkel: Ruhetag!

Aber es kommt noch schlimmer. Die geräumte Straße ist kurz nach dem Römerhof zu Ende. Ich stehe mitten im romantischen Winterwald und überlege, ob ich die eineinhalb Stunden nach St. Johann zurückgehen soll. Aber nein, dann kann ich Wörgl morgen Mittag vergessen. Ich entdecke eine gespurte Langlaufloipe, die im Großen und Ganzen nach Westen führen dürfte. Der Schnee gibt noch ausreichend Wanderlicht. Hin und wieder sehe ich ein Schild „Jakobsweg“, das mir sagt, dass ich nicht so falsch unterwegs bin. So stapfe ich in der beginnenden Nacht im schweigenden Silberwald des Wilden Kaisers, nicht wissend, wann und wo ich landen werde.

Nach einiger Zeit schimmern die Lichter einer Gehöftgruppe durch die Bäume, wo ich auch Autos von Gästen stehen sehe. Ich schließe daraus, dass hier Zimmer vermietet werden, tauche aus der Dunkelheit in den Lichtkegel einer Haustürlampe und frage nach einem Zimmer. Der Hausherr bejaht, eine Kammer hat er noch frei. Sie ist aber noch aufzuräumen. Er ist auch so freundlich, mir noch eine Kleinigkeit zu essen zu machen.

Die Kammer ist bald hergerichtet, ich gehe über den Gang ins Bad, das zwar zu klein zum Umdrehen ist, aber sauber werde ich trotzdem. Dann versorge ich meine erste Blase und versuche erfolglos das Kinderbett-Leintuch ganz über das Erwachsenenbett zu bekommen. Aber nach insgesamt zehneinhalb Stunden Marschzeit kann mich das auch nicht mehr von meinem wohlverdienten Schlaf abhalten. Ich gebe auf und lege mich dorthin, wo das Leintuch noch reicht.

5. März: Am nächsten Morgen ist der Hausherr in der Arbeit und seine Frau waltet – um einiges fachkundiger – ihres Amtes.

Der weitere Weg verläuft schön im Angesicht seiner Majestät, des Wilden Kaisers, und dann langsam Richtung Inntal hinab. Ich richte mich generell nicht nach den Jakobsweg-Markierungen, sondern nach den Radwegen, denn die sind geräumt, wenn auch nicht vollkommen schneefrei.

Ich besuche jede Kirche der vielen Orte, durch die ich wandere. Eine ist hübscher als die andere. Besonders prachtvoll ist die Kirche St. Peter und Paul in Söll, auch „Söllandler Bauerndom“ genannt. Sie ist ein spätbarockes Meisterwerk mit zahlreichen Rokokoelementen und zählt zu den schönsten Gotteshäusern des Alpenraums.

Gut in der Zeit erreiche ich Wörgl. Ich wandere die Gleise der Bahn entlang, weil ich annehme, das wird mich zum Bahnhof führen. Nach einigen Kilometern bin ich schon fast wieder aus Wörgl draußen und merke, dass mein System nicht funktioniert, weil der Bahnhof offensichtlich nur von einer Bahnseite erreichbar ist. Gut, dass ich noch nicht in Eile bin. Ich gehe wieder ein paar Kilometer zurück, diesmal auf der anderen Seite der Gleise und so kann mir der Bahnhof diesmal nicht entgehen.

Ich fahre mit dem Korridorzug zurück nach Salzburg und besuche meine Mutter, die mich leider nicht richtig wahrzunehmen vermag.

IM INNTAL (6. BIS 11. MÄRZ)

Meinen Zeitplan für die nächsten Tage richte ich auf den 11. März aus. An diesem Tag begeht meine Mutter ihren 95. Geburtstag. Ich rechne mir aus, dass ich an diesem Tag in St. Anton am Arlberg sein könnte. Dort hält der Zug, mit dem ich von Wörgl gefahren bin, um 14 Uhr. So könnte ich zum Geburtstag meiner Mutter also wieder nach Salzburg fahren und am nächsten Tag dann den Arlberg in Angriff nehmen.

6. März: Nach einer geruhsamen Nacht zu Hause besteige ich in der Früh einen Zug nach Rosenheim, wo ich einen Bummelzug nach Wörgl erwische und eine tüchtige Rüge des Schaffners ausfasse, weil meine Fahrkarte nur für einen schnellen Korridorzug, nicht aber für einen Bummelzug gilt. Aber der Schaffner lässt „Gnade vor Recht ergehen“ und ich muss nichts für das „down-graden“ zahlen.

Nach Verlassen des Zuges in Wörgl überquere ich auf dem Fußgängersteig den Inn. Das Wetter ist nasskalt und entsprechend ungemütlich. Da steht mitten auf der Brücke mutterseelenalleine eine junge Frau mit ernster Miene. Sie wird sich doch nicht in die Fluten stürzen wollen? Wer steht schon in der Kälte einsam auf einer Brücke herum? Ich überlege mir, was ich in diesem Fall als erstes tun soll. Natürlich den Rucksack absetzen, aber soll ich mich auch ausziehen oder gleich nachspringen? Ich spreche sie an, um mir einen Eindruck über ihre Gemütslage zu verschaffen. Sie antwortet mir durchaus fröhlich, dass sie hier auf jemanden warte. Erleichtert gebe ich meine Inn-Sprungpläne auf.

Ich wandere Inn-aufwärts etwas oberhalb des Flusses, mal auf dem Jakobsweg, mal wild durch die Innauen, wenn ich diesen gerade wieder einmal verloren habe, was mir durchaus häufiger passiert. Ich genieße den Abschnitt durch Wiesen, Wälder und Dörfer sehr, weil fast kein Schnee mehr zu durchstapfen ist und ich die ersten Frühlingsblumen auf meinem Marsch entdecke: Schneeglöckchen und Leberblümchen.

Als ich das mittelalterliche Städtchen Rattenberg erreiche, erscheint es mir eindrucksvoll, aber aufgrund des Wetters eher düster und deprimierend. Die Wegstrecke nach Strass im Zillertal ist gespickt mit Burgen, Parks und Schlössern und von oben grüßen die Wallfahrtsstätten Maria Brettfall und die Notburgakapelle. Am gegenüberliegenden Innufer eröffnet sich mir bei Jenbach eine andere Welt: Industrie, Eisenbahn, Plattenbauten. Ich suche mir aus dem Jakobswegführer die Adresse von Frau G. heraus. Nach mehrmaligem Fragen finde ich ihr Haus, das noch den Charme der Fünfzigerjahre ausstrahlt, und finde Aufnahme in einem der spartanischen Fremdenzimmer.

Das mittelalterliche Städtchen Rattenberg am Inn

7. März: Beim Frühstück werde ich von Herrn und Frau G. ausführlich befragt. Frau G. zeigt mir voll Stolz eine Ansichtskarte aus Santiago von einem Ehepaar, das bei ihr genächtigt und anschließend noch 198 Tage für den Jakobsweg gebraucht hat. Schöne Aussichten, wo ich doch Anfang Juni schon wieder zurück sein möchte! Frau G. bittet mich, ihr ebenfalls aus Santiago eine Karte zu schicken, was ich gerne verspreche. Ich frage erstmals nach einem Stempel für meinen Pilgerpass. Er ist aber wenig romantisch und sagt nur, dass Frau G. in Jenbach Fremdenzimmer anbietet. Im nun folgenden Wegabschnitt bis Hall dämmert mir, warum es heißt „das Heilige Land Tirol“. Und gerade auf diesem Wegabschnitt dürfte es am allerheiligsten sein – eine Wallfahrtskirche nach der anderen wartet auf Pilger. Den Umweg über Maria Schnee tue ich mir nicht an. Aber der Georgenberg ist den Anstieg wert. In einer wilden Schlucht hebt sich nach einiger Zeit der Wanderung durch den frisch verschneiten Bergwald oberhalb Schloss Tratzberg ein mittelalterliches Ensemble heraus, das von einer stolzen Wallfahrtskirche gekrönt wird. Der frische Schnee, die grauen Wolken und der düstere Bergwald verleihen diesem Ort eine besondere, mystische Ausstrahlung. Ich bin ganz allein in der Wallfahrtskirche und zusätzlich beeindruckt, als ich lese, dass das verehrte Gnadenbild von einem Jakobspilger mitgebracht worden ist.

Der Georgenberg an den Abhängen des Karwendel

In Terfens kehre ich in einer Bäckerei/Konditorei ein. Die Chefin fragt mich, ob ich wisse, wer der erste Hausmann gewesen sei. Meiner Verneinung folgt die Aufklärung: Der heilige Josef. Ich müsse mir unbedingt in der Pfarrkirche das gotische Wandgemälde ansehen. Und tatsächlich, dieses schöne dreiteilige Gemälde mit Weihnachtsthemen zeigt im zentralen Mittelteil die Heilige Maria in Anbetung vor dem Kind und im Hintergrund den Heiligen Josef beim Wäschewaschen.

Am Weg auf die Hochfläche von Gnadenwald komme ich beim Kirchlein Maria Larch (Lärche) vorbei, wo ein für die Augen wundertätiges Brünnlein fließt. Ich trinke daraus, obwohl ich mit meinen Augen sehr zufrieden bin. Aber man kann ja nie wissen! Der großartige Wanderweg in atemberaubender Landschaft wird mit zunehmender Höhe mühsamer durch den tiefer werdenden Schnee, mit dem ich mich wieder einmal auseinandersetzen muss. In Gnadenwald grüßen die Kirchlein von St. Michael und St. Martin, umrahmt und überragt von den verschneiten Zinnen und Türmen des Karwendel.

Hinunter nach Absam geht es auf einem wunderschönen Waldweg in idealer Neigung. Ich passiere einen Lawinenstrich, der diesmal tatsächlich bedrohlich wirkt. Denn es ist Nachmittag und die Schneise geht weit bis zu den Felswänden des Karwendel hinauf. Vorsichtshalber horche ich nach oben und laufe zur schützenden Böschung hinüber. Es bleibt alles ruhig.

Einige Zeit nach Passieren des Lawinenstrichs stoße ich auf eine Sperre, die vor einem Begehen dieser Strecke von unten warnt. Wieder einmal ist die Lawinengefahr davon bestimmt, in welche Richtung man unterwegs ist. Den Wanderweg nach Absam säumen Tafeln zu den Seligpreisungen, die mich mit tief gehenden Texten berühren.

Aufgrund der Trauer um meinen vor dreieinhalb Jahren plötzlich verstorbenen Sohn Michael betrifft mich folgende Tafel am meisten:

Glücklich die Trauernden, sie werden getröstet werden.

Die Blätter fallen, fallen wie von weit

als welkten in den Himmeln ferne Gärten,

sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh die andren an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

Der Perlenkranz der Wallfahrtsstätten wird abgeschlossen mit dem barocken Prunk von St. Michael in Absam, dem meistbesuchten Tiroler Marienwallfahrtsort.

Es ist Samstagabend und mein Wochenprogramm bis St. Anton erfordert für den Sonntag eine Strecke von 40 km, ich möchte aber dennoch die Sonntagsmesse nicht versäumen. Also gehe ich bis Hall, das ich in den Abendstunden erreiche, und finde auch eine Kirche, wo es am Sonntag eine Frühmesse gibt. Jetzt brauche ich nur mehr ein Quartier. Ich durchstreife den Ort, finde aber weder Fremdenzimmer, Pension noch Hotel in Pilgerkategorie. Die Dunkelheit und meine Müdigkeit sind stark progressiv. Nach rund zehneinhalb Marschstunden reicht es mir und ich gehe in den Goldenen Engl – ein Luxushotel, das ich von einem früheren Aufenthalt kenne. Als Pilger muss man schließlich Opfer bringen können!

8. März: Der Sonntag ist der erste Frühlingstag, der diesen Namen verdient. Nach der Frühmesse in der Herz-Jesu-Basilika wandere ich die Hauptstraße nach Innsbruck entlang. Das ist zwar nicht der markierte Jakobsweg, aber den kann ich mir heute nicht leisten, weil er einen Umweg bedeuten würde. Das Wandern auf den Asphaltgehsteigen in dieser Vorstadt- und Industriegegend ist nur deswegen schön, weil ich den Blick vorwiegend in die Ferne richte. Die frisch verschneite Nordkette im gleißenden Sonnenlicht grüßt den passionierten Skitourengeher, der jetzt einen Asphaltkilometer nach dem anderen abspult, in geradezu verhöhnender Weise.

Die Nordkette auf dem Weg von Hall nach Innsbruck

Ich habe mit 5 km Distanz von Hall bis Innsbruck gerechnet und bin entsetzt, dass ich geschlagene zwei Stunden bis zum Goldenen Dachl brauche. Daher gönne ich mir nicht einmal einen kurzen Cafébesuch in der Hauptstadt Tirols, sondern marschiere Inn-aufwärts weiter. Zur Mittagszeit bin ich in Völs und gehe in einem Café mittagessen, das als einziges Essbares Toast und Kartoffelsalat führt.

Nach vielen Stunden Asphalt verwöhnt mich nun ein trockener Wiesenweg entlang den Innauen. Die Sonne scheint so schön frühlingshaft her, dass ich versucht bin, auf einer Bank zu rasten, aber die Zeit auf der 40-Kilometer-Etappe ist knapp. Es geht daher weiter. Nach den Innauen folgen romantische Wald- und Wiesenwege etwas oberhalb der Talsohle bis nach Pfaffenhofen. Das ist mein Tagesziel, so beginnt wieder die unausweichliche Quartierssuche, die sich hier als besonders mühsam erweist. In meinem Jakobsweg-Führer sind insgesamt vier Adressen in diesem Ort angegeben. Ich lasse mich von einer zur anderen weisen. Die eine vermietet nicht mehr, die andere hatte einen Unfall etc. Nach der dritten erfolglosen Vorsprache entscheide ich mich, den Gasthof Schwarzer Adler aufzusuchen. Aber auch hier ist kein Zimmer frei, ja nicht einmal ein Abendessen bekomme ich, alles ist voll. So versuche ich es bei der vierten, noch nicht angefragten Privatzimmer-Adresse. Das heißt, wieder ein Stück zurück den Berg hinauf. Aber es ist meine letzte Hoffnung. Doch die Hausbesitzerin Frau W. hat ein Zimmer und eine Brettljause für mich hungrigen und müden Pilger.

9. März: Das Zusammenläuten zur Frühmesse aus der unterhalb gelegenen Pfarrkirche weckt mich. Ich schlüpfe in die Kleidung und eile durch Mausknöchel-tiefen Neuschnee zur Messe. Die Kirche Maria Himmelfahrt ist ein zauberhaftes Kleinod. Durch die Altarfenster fällt die Morgensonne ein. Der junge Priester feiert einen ergreifenden Gottesdienst und so fügt sich alles perfekt zu einem wunderbaren Tagesbeginn. Danach gehe ich wieder zu Frau W. zum Frühstück hinauf. Wir plaudern über Gott und die Welt und sie ist es, die mich fragt, ob ich denn so schwere Schuld auf mich geladen hätte, dass ich den gesamten Jakobsweg gehen müsse. Ich bin mir einer solchen nicht bewusst, glaube aber doch, dass ich aus Verlegenheit rot angelaufen bin. Sie fragt mich, ob ich eine Bibel mithabe. Nachdem ich bejahe, spricht sie ihr versöhnliches Urteil, dass man die echten Jakobspilger von den reinen Sportlern auf dieser Strecke unterscheiden könne.

Um nicht wieder eine mühsame Herbergssuche für die kommende Nacht auf mich nehmen zu müssen, rufe ich die erstbeste Adresse in meinem Tagesziel Karrösten laut Führer an. Ich bin richtig überrascht, als ich am Telefon ein freudiges „Ja“ auf meine Zimmeranfrage höre. So einfach geht das! Von Weitem grüßt mich bald das Stift Stams und der derzeit zugehörige Baukran. Der Blick in die Basilika ist zwar beeinträchtigt durch Gitterstäbe, aber auch so eindrucksvoll. Der Klostershop ist offen und ich erhalte Proviant und meinen zweiten Stempel im Pilgerpass.

Auf dem idealen Wanderweg durch die Auen und Föhrenwälder des Inn stören die sporadischen Schneeschauer nur wenig. Das Bergdorf Karres im leichten Schneegestöber wirkt fast schon romantisch weihnachtlich. Ich freue mich schon auf den letzten Teil, den Höhenweg nach Karrösten, den ich dann prompt versäume. Ich bin einen Stock zu tief, muss die Asphaltstraße gehen und habe dafür dann auch noch einen ordentlichen Anstieg zu meinem Tagesziel vor mir.

Bald finde ich das Haus R. und werde schon erwartet. Meine Gastgeberin heißt Tilly, redet mich gleich mit Du an und ist in ausgeprägtem Oberländer Dialekt rau, aber herzlich. Ich bekomme auch gleich zur Begrüßung einen Schnaps zum Aufwärmen. Ihr Mann Seppele beeindruckt mich mit seiner Aufmachung und seinen Geschichten. Er hat einen Rauschebart und – trotz angenehmer Zimmertemperatur – eine Mütze mit drei Edelweiß und dem Schriftzug „AUSTRIA“ tief in die Stirn gezogen. Er erzählt mir in atemberaubendem Tempo seine Abenteuer als Bergsteiger, Bergretter und wie er mehrmals Gevatter Tod wieder von der Schippe gesprungen ist. Tilly hat mir derweil eine Suppe mit Tiroler Knödeln gemacht und braucht nahezu Brachialgewalt, um Seppele von mir wieder loszueisen.

10. März: Tilly berät mich über den weiteren Weg. Die als eindrucksvoll beschriebene gotische Kirche von Obsaurs mit dem Graffiti eines Jakobspilgers aus dem Mittelalter soll ich auslassen, weil die Kirche ohnehin geschlossen ist.

Das tue ich dann auch. Nach Imsterau wehre ich mich verzweifelt dagegen, wieder einmal durch den Tiefschnee zu stapfen. Aber es hilft nichts, nach einigem Hin und Her und einem großen Bogen lande ich wieder genau dort, wo ich vor einiger Zeit schon war. Mit der Tiefe des Schnees ist es dann aber nicht so schlimm und ich steige langsam, aber stetig den Bergwald nach Kronburg hinauf. Das ist ein einzigartiges Ensemble aus Wallfahrtskirche, Klösterchen und alles überragender Burg.

Als ich Zams erreiche, kehre ich bei einer Metzgerei ein, in die vor Jahrzehnten schon mein Schwiegervater gern eingekehrt ist. Bei einer Schweinshaxe schreckt mich die Kellnerin mit dem Wetterbericht auf, der für morgen einen halben Meter Neuschnee verheißt. Gegen den Arlberg zu sei das meistens noch mehr.

Wallfahrtskirche Maria Hilf unter der Kronburg

Ich möchte ja morgen Mittag um 14 Uhr den Zug in St. Anton nehmen, um meine Mutter zu besuchen. Mit einem halben Meter Neuschnee kann ich das aber vergessen. Was ist also zu tun? Es ist 14 Uhr und mein Führer weist für die Strecke Zams – Flirsch einen Zeitbedarf von 5 Stunden auf. Ich wollte an diesem Tag zwar nicht so weit gehen, aber wegen des drohenden Neuschnees entschließe ich mich, „die Beine in die Hand zu nehmen“ und bis Flirsch durchzustarten. Vorher gönne ich mir allerdings zur Schweinshaxe noch eine Nusstorte. Das ist das Angenehme beim Gehen über den ganzen Tag: Man kann gar nicht genug essen und verträgt alles.

Die Strecke nach Stanz hinauf ist steil und durch umgestürzte Bäume nicht einfach zu überwinden. Dann führt der Weg entlang einer alten Römerstraße in alter alpiner Kulturlandschaft angenehm Richtung Flirsch. In Grins überquere ich eine malerische Römerbrücke.

Langsam komme ich wieder in die Region mit durchgehender Schneedecke und es ist spannend, ob mich die alten Spuren wohl den ganzen Weg tragen werden. Denn das Waten im Tiefschnee hätte mein Zeitplan für diesen Tag wohl nicht vertragen. Ich habe Glück, die Spuren gehen durch und sind gut begehbar. Gleichzeitig gratuliere ich mir zu meinem Entschluss, bis Flirsch weiterzumarschieren, denn diese Strecke wäre mit einem halben Meter Neuschnee nicht zu bewältigen gewesen. An diesem Punkt des Weges und in bester Stimmung klingelt plötzlich mein Handy, und an meine liebe Mutter denkend, hebe ich mit einem mulmigen Gefühl ab. Doch es sind gute Nachrichten, die mich erreichen: Mein Sohn wird im Herbst wieder Vater und ich erneut Großvater. Ich freue mich und es gibt ein neues Gebetsanliegen. In der Abenddämmerung begegnen mir fünf kapitale Hirsche, die sich wohl über den seltsamen Waldschrat mit großem Rucksack wundern. Der Zeitplan geht auf und ich erreiche mit einbrechender Dunkelheit bei starkem Schneefall Flirsch. Ich finde eine nette Pension beim Ehepaar J. und gönne mir zur Feier des besonderen Tages noch ein feines Abendessen in einem benachbarten Skihotel.

11. März: