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Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Die sagenhafte Fortsetzung von »Von der Erde zum Mond«. Die tollkühnen Weltraumflieger haben den Abschuss ins All überlebt. Jetzt befinden sie sich auf den Weg zum Mond. Und bei der Umrundung erfahren sie als erste Menschen die Schwerelosigkeit. Visionär behandelt Verne Themen wie Spaziergänge im Weltall, Halluzinationen durch Sauerstoffentzug, den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre oder die Landung der Kapsel im Ozean. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 273
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Jules Verne
Reise um den Mond
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
Jules Verne
Reise um den Mond
Illustrierte und unzensierte Komplettübersetzung
(Autour de la Lune)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Émile-Antoine Bayard, Alphonse de NeuvilleÜbersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze EV: A. Hartleben’s Verlag, 1874 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-08-0
null-papier.de/neu
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Vorwort und Rückblick
Erstes Kapitel – Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig Minuten abends
Zweites Kapitel – Die erste halbe Stunde
Drittes Kapitel – Man richtet sich ein
Viertes Kapitel – Ein wenig Algebra
Fünftes Kapitel – Die Kälte des Weltraums
Sechstes Kapitel – Fragen und Antworten
Siebentes Kapitel – Ein Moment der Berauschung
Achtes Kapitel – Achtundsiebzigtausendeinhundertundvierzehn Meilen
Neuntes Kapitel – Folgen einer Abweichung von der Bahn
Zehntes Kapitel – Die Beobachter des Mondes
Elftes Kapitel – Fantasie und Wirklichkeit
Zwölftes Kapitel – Orografische Details
Dreizehntes Kapitel – Mondlandschaften
Vierzehntes Kapitel – Die dreihundertvierundfünfzigstündige Nacht
Fünfzehntes Kapitel – Hyperbel oder Parabel
Sechzehntes Kapitel – Südliche Hemisphäre
Siebzehntes Kapitel – Tycho
Achtzehntes Kapitel – Bedeutsame Fragen
Neunzehntes Kapitel – Kampf mit dem Unmöglichen
Zwanzigstes Kapitel – Sondieren der Susquehanna
Einundzwanzigstes Kapitel – Ein Missgeschick Mastons
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Rettung
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Schluss
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze null-papier.de/kontakt
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Eine Idee des Doktor Ox
Eine Überwinterung im Eis
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Fünf Wochen im Ballon
Robur der Eroberer
Der Herr der Welt
Von der Erde zum Mond
und weitere …
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Reise um den Mond
Im Laufe des Jahres 186… wurde die ganze Welt durch ein wissenschaftliches Unternehmen, das in den Annalen der Wissenschaft ohnegleichen war, in außerordentliche Bewegung versetzt. Die Mitglieder des Gun-Clubs, eines Vereins von Artilleristen, welcher nach dem amerikanischen Krieg sich zu Baltimore bildete, hatten die Idee, sich durch Zusendung einer Kugel mit dem Mond in Verbindung zu setzen. Ihr Präsident Barbicane, der die Unternehmung in Anregung brachte, ergriff, nachdem er die Astronomen des Observatoriums zu Cambridge zu Rate gezogen, alle Maßregeln, welche für den glücklichen Erfolg des von der Mehrzahl sachverständiger Männer für ausführbar erklärten Vorhabens erforderlich waren. Nachdem durch eine öffentliche Subscription etwa dreißig Millionen aufgebracht waren, begann er seine riesenhaften Arbeiten.
In Gemäßheit eines von den Mitgliedern des Observatoriums erteilten Gutachtens musste die Kanone, welche das Projektil abschleudern sollte, um auf den Mond im Zenit zielen zu können, in einer Landschaft zwischen 0 und 28 Grad nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden, und man musste der Kugel eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Sekunde geben. Wurde diese am 1. Dezember dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vor elf Uhr abends abgeschossen, so musste sie vier Tage hernach, am 5. Dezember um zwölf Uhr nachts, gerade zu dem Zeitpunkt auf dem Mond eintreffen, wo er der Erde am nächsten stand, in einer Entfernung nämlich von sechsundachtzigtausendvierhundertundzehn franz. Meilen.
Die bedeutendsten Mitglieder des Gun-Clubs, der Präsident Barbicane, Major Elphiston, Sekretär I. T. Maston und andere Gelehrte hielten einige Sitzungen, worin die Form und das Material der Kugel, die Art und Einrichtung der Kanone, die Beschaffenheit und die Menge des Pulvers besprochen wurden. Man beschloss: 1. Das Geschoss solle eine Hohlkugel aus Aluminium sein mit einem Durchmesser von einhundertundacht Zoll, zwölf Zoll dicken Wänden und neunzehntausendzweihundertundfünfzig Pfund schwer. 2. Das Geschütz solle eine Columbiade von Gußeisen sein, neunhundert Fuß lang, und unmittelbar in den Erdboden zu gießen. 3. Zur Ladung sollten vierhunderttausend Pfund Schießbaumwolle verwendet werden, welche sechs Milliarden Liter Gas unter dem Projektil entwickelten, dessen Treibkraft leicht bis zum Nachtgestirn reichen würde.
Als diese Fragen gelöst waren, wählte der Präsident Barbicane mit Hilfe des Ingenieurs Murchison eine Stelle in Florida, unterm 27°7′ nördlicher Breite und 5°7′ westlicher Länge, wo nach merkwürdigen Arbeiten der Guß der Columbiade vorgenommen wurde und vollständig gelang.
So standen die Dinge, als ein Ereignis dazwischenkam, wodurch das Interesse an der großen Unternehmung hundertfach vergrößert wurde.
Ein Pariser Fantast, geistreicher und kühner Künstler, begehrte und erbot sich, in eine Kugel eingeschlossen, die Reise nach dem Mond zu machen, um über den Trabanten der Erde Forschungen anzustellen. Michel Ardan hieß dieser unerschrockene Abenteurer. Bei seiner Ankunft in Amerika wurde er mit Enthusiasmus aufgenommen, hielt Meetings, ward im Triumph auf den Schultern getragen, versöhnte den Präsidenten Barbicane mit seinem Todfeind, dem Kapitän Nicholl, und beredete sie beide, die Reise in dem Projektil mitzumachen.
Der Vorschlag wurde angenommen, die Form der Kugel abgeändert. Das Projektil ward zylinderkegelförmig. Dieser Luft-Waggon wurde, um die Gewalt des Gegenstoßes bei der Abfahrt abzuschwächen, mit einer starken Vorrichtung versehen; sodann mit Lebensmitteln für ein Jahr, Wasser für einige Monate, und Gas für einige Tage. Ein automatischer Apparat bereitete und lieferte die zum Atmen für die drei Reisenden erforderliche Luft. Zu gleicher Zeit ließ der Gun-Club auf einem der höchsten Gipfel des Felsengebirgs ein Riesenteleskop bauen, um es möglich zu machen, das Projektil während seiner Fahrt durch den Weltraum zu beobachten. Alles war fertig und bereit.
Am 30. November, zur bestimmten Stunde, fand inmitten einer unzähligen Zuschauermenge die Abfahrt statt, und zum ersten Male sah man drei menschliche Wesen den Erdball verlassen und in den weiten Weltraum emporsteigen, fast vollständig überzeugt, dass sie am Ziel ihrer Reise anlangen würden. Diese kühnen Reisenden, Michel Ardan, der Präsident Barbicane und der Kapitän Nicholl, sollten ihre Überfahrt in siebenundneunzig Stunden dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vollenden. Folglich konnte ihre Ankunft auf der Oberfläche der Mondscheibe erst am 5. Dezember um zwölf Uhr nachts erfolgen, gerade in dem Moment, da Vollmond eintrat, und nicht am vierten, wie einige irrig berichtete Journale mitteilten.
Doch es begab sich ein unerwartetes Ereignis: die von der Columbiade hervorgerufene Erschütterung bewirkte unverzüglich eine Trübung der Atmosphäre durch Anhäufung einer enormen Menge von Dünsten. Diese Erscheinung rief eine allgemeine Entrüstung hervor, denn der Mond war einige Nächte hindurch den Augen seiner Beobachter verhüllt. I. T. Maston, der würdige und tapfere Freund der drei Reisenden, eilte zum Felsengebirg, um dem ehrenwerten Direktor des Observatoriums zu Cambridge, I. Belfast, Gesellschaft zu leisten, der zu Long’s Peak, wo das Riesenteleskop, das den Mond bis auf zwei Meilen nahe rückte, errichtet war, die Fahrt seiner kühnen Freunde beobachten wollte.
Das in der Atmosphäre gehäufte Gewölk hinderte während des 5., 6., 7., 8., 9. und 10. Dezember jede Beobachtung. Man glaubte schon, dieselbe bis zum 3. Januar des folgenden Jahres vertagen zu müssen, weil der am 11. Dezember in sein letztes Viertel tretende Mond dann nur einen stets abnehmenden Teil seiner Scheibe zeigte, welche nicht hinreichte, um die Spur des Projektils zu verfolgen.
Doch endlich vertrieb zur allgemeinen Befriedigung ein starker Sturm in der Nacht vom 11. zum 12. Dezember alles Gewölk aus der Atmosphäre, und der zur Hälfte erleuchtete Mond trat auf dem dunklen Hintergrund des Himmels klar hervor.
In derselben Nacht traf ein Telegramm ein, welches die Herren Belfast und Maston von der Station Long’s Peak an das Büro des Observatoriums zu Cambridge gesendet hatten.
Und was enthielt dies Telegramm?
Es berichtete, am 11. Dezember um acht Uhr siebenundvierzig Minuten abends sei das von der Columbiade zu Stone’s-Hill entsendete Projektil von den Herren Belfast und Maston wahrgenommen worden. – Dasselbe sei, aus unbekanntem Grund von seiner Bahn abweichend, nicht an sein Ziel gelangt, aber doch nahe genug gekommen, um von der Anziehungskraft des Mondes festgehalten zu werden; – seine gerade Richtung sei in eine Kreisbewegung übergegangen, und so sei es zu einem Trabanten geworden, der in elliptischer Bahn den Mond umkreise.
Das Telegramm fügte bei, die Elemente dieses neuen Gestirns hätten noch nicht berechnet werden können, – und in der Tat sind auch drei Beobachtungen des Gestirns in drei verschiedenen Stellungen desselben nötig, um seine Elemente zu bestimmen. Sodann fügte es weiter bei, die Entfernung des Projektils von der Mondoberfläche »könne« auf etwa zweitausendachthundertdreiunddreißig Meilen angeschlagen werden, d.h. viertausendfünfhundert Lieues.1
Dasselbe schloss mit der doppelten Annahme: Entweder werde die Anziehungskraft des Mondes zuletzt überwiegen; und die Reisenden würden an ihrem Ziel anlangen; oder das Projektil werde, unveränderlich in seiner Bahn festgehalten, seinen Kreislauf um den Mond herum bis ans Ende der Jahrhunderte fortzusetzen haben.
Wie würde es dann den Reisenden ergehen? Zwar Lebensmittel hatten sie für einige Zeit. Aber gesetzt auch, ihr verwegenes Unternehmen gelänge, wie kämen sie dann zurück? Wäre dies je möglich? Könnte man Nachricht von ihnen haben? Diese Fragen, welche die gelehrtesten Federn der Zeit in Bewegung setzten, beschäftigten das Publikum mit Leidenschaft.
Ich muss hier eine Bemerkung machen, welche allzueilige Beobachter beherzigen sollten. Wenn ein Gelehrter dem Publikum eine rein spekulative Entdeckung ankündigt, kann er nicht vorsichtig genug sein. Einen Kometen, Planeten oder Trabanten zu entdecken, ist keines Menschen Schuldigkeit, und wenn man in so einem Falle sich irrt, verdient man die Spöttereien der Menge, welchen man sich aussetzt. Deshalb ist’s besser, abzuwarten, und dies hätte auch der ungeduldige I. T. Maston tun sollen, bevor er das Telegramm in die Welt schleuderte, welches, ihm zufolge, über diese Unternehmung sich so entschieden aussprach.
In der Tat enthielt jenes Telegramm einen doppelten Irrtum, wie sich’s später herausstellte: 1. Irrige Beobachtung in Beziehung auf die Entfernung des Projektils von der Oberfläche des Mondes, denn am 11. Dezember konnte man es unmöglich wahrnehmen, und was I. T. Maston sah oder zu sehen glaubte, konnte nicht die Kugel der Columbiade sein. 2. Irrige theoretische Ansicht über das Los des Projektils; denn indem man dasselbe zu einem Trabanten des Mondes macht, setzt man sich mit den Gesetzen vernunftmäßiger Mechanik in Widerspruch.
Nur die Annahme der Beobachter zu Long’s Peak konnte sich verwirklichen, dass die Reisenden – falls sie noch bei Leben – sich bemühten, mit Benützung der Anziehungskraft des Mondes auf die Oberfläche desselben zu gelangen.
Diese so einsichtsvollen wie kühnen Männer hatten nun aber den erschrecklichen Gegenstoß bei der Abfahrt bestanden, und ihre Reise in dem Projektil-Waggon soll hier mit all ihren merkwürdigen und dramatischen Erlebnissen erzählt werden. Diese Erzählung wird manche Täuschungen und Vermutungen zunichte machen; dagegen wird sie von der möglichen Lösung einer solchen Aufgabe einen richtigen Begriff geben und den wissenschaftlichen Instinkt Barbicanes, die industriellen Hilfsmittel und Kenntnisse Nicholls und die humoristische Kühnheit Michel Ardans anschaulich machen.
Ferner wird sie darlegen, dass ihr würdiger Freund, I. T. Maston, seine Zeit verlor, als er auf dem Riesenteleskop den Mond auf seiner Bahn durch die Sternenräume fortwährend beobachtete.
Mit dem Schlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht in die Mondlande einführen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projektil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des enormen Laufs, und ein schwebender Kran brachte sie bis zur konischen Spitze der Kugel.
Hier traten sie durch eine zu diesem Behuf angebrachte Öffnung in den Alumin-Waggon ein. Als die Taue des Krans aus der Röhre herausgezogen waren, wurde augenblicklich das letzte Gerüst von der Mündung der Columbiade entfernt.
Sowie Nicholl sich mit seinen Gefährten im Projektil befand, schloss er sorgfältig die Öffnung mit einer starken Platte, welche von innen durch Stellschrauben befestigt wurde. Andere, fest angepasste Platten bedeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich in tiefstem Dunkel in ihrem metallenen Gefängnis hermetisch eingeschlossen.
»Und nun, meine lieben Kameraden«, sagte Michel Ardan, »tun wir, als wären wir hier zu Hause. Ich führe die Verwaltung des Inneren, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir müssen’s uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor allem, suchen wir ein wenig Luft zu bekommen. Was Teufel! Für Maulwürfe ist das Gas nicht erfunden worden!«
Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein Zündhölzchen, rieb’s an der Sohle seines Stiefels und zündete damit die Flamme an dem Hahn des Behälters, welcher das höchst zusammengepresste Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung der Kugel auf sechs Tage und sechs Nächte, hundertvierundvierzig Stunden, ausreichen konnte.
Das also erleuchtete Projektil zeigte sich wie ein komfortabel eingerichtetes Zimmer mit ausgefütterten Wänden, runden Diwans daran und mit wie in einem Dom gewölbter Decke.
Die darin enthaltenen Gegenstände, Waffen, Instrumente, Geräte, waren an der Polsterfütterung wohl befestigt, sodass sie den Stoß bei der Abfahrt wohl aushalten konnten. Es waren alle nur ersinnbaren Vorkehrungen getroffen, um ein so tollkühnes Unternehmen glücklich auszuführen.
Michel Ardan untersuchte alles und erklärte seine volle Zufriedenheit mit der Einrichtung.
»Es ist ein Gefängnis«, sagte er, »aber ein Reisegefängnis mit der Erlaubnis, durchs Fenster zu sehen; ich wäre imstande, mich auf hundert Jahre einzumieten! Du lächelst, Barbicane? Hast du dabei einen Hintergedanken? Meinst du, dies Gefängnis könne unser Grab sein? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Mahomeds tauschen, welches ohne Reisezweck in dem Weltraum fährt.«
Während Michel Ardan also sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen.
Nicholls Chronometer zeigte zehn Uhr zwanzig Minuten abends, als die drei Reisenden definitiv in ihr Geschoss eingeschlossen wurden. Das Chronometer war fast auf ein Zehntel einer Sekunde nach dem des Ingenieurs Murchison gerichtet. Barbicane befragte ihn.
»Meine Freunde«, sagte er, »es ist zehn Uhr zwanzig Minuten. In siebenundzwanzig Minuten wird Murchison mit dem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Columbiade in Verbindung ist. In dem Moment werden wir dann unseren Erdball verlassen. Siebenundzwanzig Minuten also haben wir noch auf der Erde zu bleiben.«
»Sechsundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden«, erwiderte der exakte Nicholl.
»Ei nun!«, rief Michel Ardan im besten Humor, »in sechsundzwanzig Minuten lässt sich noch viel fertigbringen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen und selbst lösen! Sechsundzwanzig wohl verwendete Minuten sind mehr wert als sechsundzwanzig untätig verlebte Jahre. Etliche Sekunden eines Pascal oder Newton sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse von Dummköpfen …«
»Und was folgerst Du daraus, ewiger Schwätzer?« fragte der Präsident Barbicane.
»Ich folgere, dass wir noch sechsundzwanzig Minuten haben«, erwiderte Ardan.
»Nur noch vierundzwanzig«, sagte Nicholl.
»Vierundzwanzig, wenn du’s so genau nimmst, mein wackerer Kapitän«, erwiderte Ardan, »vierundzwanzig Minuten, binnen welchen man könnte gründlich …«
»Michel«, sagte Barbicane, »auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Fragen gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit der Abfahrt.«
»Sind wir nicht bereit?«
»Allerdings. Doch sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Gewalt des ersten Stoßes möglichst abzuschwächen!«
»Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlägen unter uns, deren Spannkraft uns hinlänglich schützen wird?«
»Das hoffe ich, Michel«, erwiderte sanft Barbicane, »aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!«
»Ah! Possen!« rief Michel Ardan. »Er hofft! … Ist der Sache nicht sicher! … Und dies klägliche Geständnis erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möcht’ ich auf und davon!«
»Und wie?« erwiderte Barbicane.
»In der Tat«, sagte Michel Ardan, »das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von vierundzwanzig Minuten wird der Kondukteur pfeifen …«
»Zwanzig Minuten«, sagte Nicholl.
Einige Minuten blickten sich die Reisenden einander an. Darauf prüften sie die mitgenommenen Gegenstände.
»Alles ist richtig an seiner Stelle«, sagte Barbicane. »Jetzt handelt sich’s zu bestimmen, wie wir am besten Platz nehmen, um den Stoß bei der Abfahrt auszuhalten. Es ist dabei nicht einerlei, in welcher Stellung oder Lage man sich befindet, und man muss soviel wie möglich verhüten, dass das Blut zu stark nach dem Kopfe dringt.«
»Richtig«, sagte Nicholl.
»Dann«, erwiderte Michel Ardan, um die Regel durch das Beispiel zu erklären, »legen wir uns, den Kopf unten und die Füße oben, wie die Clowns im Zirkus!«
»Nein«, sagte Barbicane, »aber auf die Seite müssen wir uns legen. So widerstehen wir am besten dem Stoß. Merken Sie wohl, im Moment der Abfahrt ist’s fast einerlei, ob wir drinnen oder davor sind.«
»Wenn nur fast einerlei, will ich’s zufrieden sein«, erwiderte Michel Ardan.
»Stimmen Sie mir bei, Nicholl?« fragte Barbicane.
»Ganz und gar«, erwiderte der Kapitän. »Noch dreizehn Minuten und eine halbe.«
»Der Nicholl ist kein Mensch«, rief Michel, »sondern ein Sekundenchronometer …«
Aber seine Gefährten hörten ihn schon nicht mehr an, und machten ihre letzten Vorkehrungen mit einer Kaltblütigkeit ohnegleichen. Sie machten’s wie zwei methodische Reisende, die, wenn sie in einen Waggon eingestiegen, sich’s so bequem wie möglich zu machen suchen. Man fragt sich wahrhaftig, aus welchem Stoff die Herzen dieser Amerikaner gemacht sind, denen im Angesicht der erschrecklichsten Gefahr der Puls nicht rascher schlägt!
Man hatte drei dicke und solid gepolsterte Lagerstätten in dem Projektil hergerichtet. Nicholl und Barbicane brachten sie auf die Mitte der Scheibe, welche den beweglichen Fußboden bildete; auf diesen sollten die drei Reisenden einige Augenblicke vor der Abfahrt sich hinstrecken.
Währenddessen verhielt sich Ardan, der sich nicht ruhig halten konnte in seinem engen Gefängnis, wie ein Stück Rotwild im Käfig, plauderte mit seinen Freunden, schwatzte mit seinen Hunden, Diana und Trabant, denen er seit kurzem diese bezeichnenden Namen gegeben hatte.
»He! Diana! He! Trabant!« rief er sie an. »Ihr werdet den Mondhunden die guten Sitten der Erdhunde zu zeigen haben! Ihr werdet dem Hundegeschlecht Ehre machen! Potz! Blitz! Ihr sollt euch mit Monddoggen paaren, dass ich, kommen wir zurück, eine Mischrasse mitbringe, die Furore machen wird!«
»Wenn’s dort Hunde gibt«, sagte Barbicane.
»Es gibt deren dort«, versicherte Michel Ardan, »wie es dort Pferde, Kühe, Esel, Hühner gibt. Ich wette darauf, dass wir Hühner dort antreffen.«
»Hundert Dollar, dass wir keine treffen«, sagte Nicholl.
»Angenommen, lieber Kapitän«, erwiderte Ardan mit einem Händedruck, »aber du hast ja schon drei Wetten an unseren Präsidenten verloren, weil die nötigen Geldmittel aufgebracht wurden, weil der Guß gelungen ist, und weil die Columbiade ohne Unfall geladen wurde – das macht sechstausend Dollar.«
»Ja«, erwiderte Nicholl. »Zehn Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Sekunden.«
»Wohl gemerkt, Kapitän. Nun, ehe eine Viertelstunde vorüber ist, wirst Du noch neuntausend Dollar an den Präsidenten zu zahlen haben, viertausend, weil die Columbiade nicht zerspringen wird, und fünftausend, weil die Kugel höher als sechs Meilen in die Lüfte dringen wird.«
»Ich habe die Dollar bei mir, erwiderte Nicholl«, und klopfte auf seine Tasche, »ich wünsche nur, dass es zum Zahlen komme.«
»Nicholl, ich sehe, dass du ein Mann der Ordnung bist, was mir nie gelingen wollte, aber schließlich, du hast eine Reihe Wetten gemacht, wobei du dich sehr im Nachteil befindst, erlaube mir diese Bemerkung.«
»Und weshalb?« fragte Nicholl.
»Weil, wenn du die erste gewinnst, im Falle nämlich die Columbiade springt, und die Kugel mit, Barbicane nicht mehr in der Lage sein wird, dich bezahlen zu können.«
»Mein Einsatz befindet sich auf der Bank zu Baltimore«, erwiderte einfach Barbicane, »dass er, wo nicht an Nicholl, seinen Erben ausgezahlt werden kann!«
»Was für praktische Leute!« rief Michel Ardan; »positive Geister! Ich bewundere euch umso mehr, als ich euch nicht begreife.«
»Zehn Uhr zweiundvierzig«, sagte Nicholl.
»Noch über fünf Minuten!« erwiderte Barbicane.
»Ja! Fünf kurze Minuten!« entgegnete Michel Ardan. »Und wir sind eingeschlossen in einem Geschoss innerhalb einer neunhundert Fuß langen Kanone! Und unter diesem Geschoss befinden sich viermalhunderttausend Pfund Schießbaumwolle, die eine Wirkung von sechzehnhunderttausend Pfund gewöhnlichen Pulvers haben! Und Freund Murchison, den Chronometer in der Hand, das Auge unverwandt auf dem Zeiger, den Finger auf dem elektrischen Apparat, zählt die Sekunden, im Begriff uns in die Räume der Planetenwelt zu schleudern! …«
»Genug, Michel, genug!« sagte Barbicane mit ernstem Ton. »Machen wir uns bereit. Nur noch einige Augenblicke haben wir bis zum letzten. Einen Handschlag, meine Freunde!«
»Ja!« rief Michel Ardan, mit etwas mehr Rührung, als er kundgeben wollte. Die drei kühnen Genossen umarmten sich.
»Gott behüte uns!« sagte der fromme Barbicane.
Michel Ardan und Nicholl streckten sich auf die Polster auf der Mitte des Bodens.
»Zehn Uhr siebenundvierzig«, murmelte der Kapitän. »Noch zwanzig Sekunden!« Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Kameraden.
Nur die Sekundenschläge des Chronometers unterbrachen die tiefste Stille.
Mit einem Mal ein entsetzlicher Stoß, und das Projektil, von sechs Milliarden Liter Gas getrieben, flog empor in den Weltraum.
Was war erfolgt? Welche Wirkung hatte diese fürchterliche Erschütterung gehabt? Hatte das Genie der Verfertiger des Projektils ein glückliches Resultat erzielt? Wurde der Stoß vermittels der Sprungfedern, Zapfen, Wasserkissen, zerbrechlichen Verschläge abgeschwächt? War man der erschrecklichen Kraft jener Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Meter, welche in einer Sekunde durch ganz Paris oder New-York fahren konnte, Meister geworden? Diese Fragen drängten sich offenbar den tausend Zeugen jener erschütternden Szene auf. Über dem Gedanken an die Reisenden vergaß man den Zweck der Reise! Und wenn einer von ihnen – I. T. Maston z.B. – hätte einen Blick in das Projektil werfen können, was würde er gesehen haben?
Nichts damals, denn es war völlig dunkel drinnen. Aber seine zylinder-konischen Wände hatten trefflich Widerstand geleistet. Kein Riss, keine Biegung, keine Entstellung. Das staunenswerte Projektil hatte unter der ungeheuren Hitze der Pulververbrennung nicht gelitten, war nicht, wie man zu befürchten schien, zu einem Aluminiumregen zerschmolzen.
Im Inneren wenig Unordnung, im ganzen genommen. Einige Gegenstände waren nach der Decke geschleudert worden; aber die bedeutendsten schienen nicht von dem Stoß gelitten zu haben. Die Befestigungsriemen waren unverletzt. Auf der beweglichen Scheibe, die nach Zertrümmerung der Scheidewände und dem Entweichen des Wassers bis zum Boden herabgesunken war, lagen drei Körper regungslos. Waren Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch bei Leben? War das Projektil etwas mehr, als ein metallener Sarg, der drei Leichen in den Weltraum trug? …
Beleuchtung.
Einige Minuten nach der Abfahrt fing einer der Körper an, sich zu regen; seine Arme bewegten sich, sein Kopf richtete sich auf, und es gelang ihm, auf die Knie zu kommen. Es war Michel Ardan. Er betastete sich, stieß ein lautes »He!« aus, dann sprach er:
»Michel Ardan unversehrt. Sehen wir die anderen!«
Diana und Trabant.
Der mutige Franzose wollte aufstehen; aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sein Kopf wankte, das stark eingedrungene Blut machte ihn blind, er war wie trunken.
»Brr!« machte er. »Das hat auf mich gewirkt, wie zwei Flaschen Cortona, nur dass dieser wohl angenehmer zu trinken ist!«
Darauf strich er mehrmals mit der Hand seine Stirn, rieb sich die Schläfen, und rief mit fester Stimme: »Nicholl! Barbicane!«
Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Atemzug, welcher kundgab, dass seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.
»Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!« fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort, »wenn ein Franzose sich auf die Knie zu richten vermochte, so sollten zwei Amerikaner keinen Anstand nehmen, sich wieder auf die Beine zu helfen. Aber vor allem, klären wir die Sache auf.«
Ardan fühlte, wie ihm das Leben wieder zuströmte. Sein Blut wurde ruhiger und kam wieder in den gewohnten Umlauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn ins Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen, er zog ein Streichhölzchen aus der Tasche, rieb den Phosphor, dass er zündete, näherte sich dem Gashahn und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Das hätte schon der Geruch angezeigt, und dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dürfen, in dem mit Gas angefüllten Raum eine Flamme anzuzünden. Denn es wäre dann eine Explosion entstanden, welche vielleicht vollendet hätte, was die Erschütterung begann.
Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, welche wie leblose Massen übereinanderlagen, Nicholl oben, Barbicane unten.
Ardan hob den Kapitän auf, stützte ihn gegen einen Diwan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand geübte Kneten brachte Nicholl wieder zum Bewusstsein; er schlug die Augen auf, bekam sogleich seine Kaltblütigkeit wieder und fasste Ardans Hand. Dann umherblickend, fragte er:
»Und Barbicane?«
»Er kommt auch an die Reihe«, erwiderte Michel Ardan. »Mit dir fing ich an, weil du oben lagst. Jetzt machen wir uns an Barbicane.«
Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun-Clubs auf und legten ihn auf den Diwan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet, aber Nicholl beruhigte sich, als er sich überzeugte, dass dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Bloß eine Schramme, die er sorgfältig zusammendrückte.
Doch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken gerieten.
»Er atmet jedoch«, sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.
»Ja«, versetzte Ardan, »er atmet, wie ein Mensch, der diese Tätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!«
Und die beiden improvisierten Ärzte machten’s so gut, dass Barbicane wieder zum Gebrauch seiner Sinne kam. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und sein erstes Wort war:
»Nicholl, sind wir in Bewegung?«
Nicholl und Barbicane sahen einander an. Ums Projektil hatten sie sich noch nicht bekümmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Waggon.
»Wirklich, sind wir in Bewegung?« wiederholte Michel Ardan.
»Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Floridas?« fragte Nicholl.
»Oder auf dem Grund des mexikanischen Golfs?« fügte Michel Ardan bei.
»Das wäre!« rief der Präsident Barbicane.
Und diese doppelte Vermutung, welche seine Gegner aufstellten, wirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewusstsein zu bringen.
Wie dem auch sein mochte, man konnte über die Lage, worin sich das Geschoss befand, sich noch nicht bestimmt aussprechen. Seine scheinbare Unbeweglichkeit, der Mangel an Verbindung mit der Außenwelt gestatteten nicht, die Frage zu beantworten. Vielleicht war das Projektil auf seiner Fahrt durch den Raum begriffen? Vielleicht war es auch nach kurzem Aufflug wieder auf die Erde gefallen, oder auch in den mexikanischen Golf, was bei der geringen Breite von Florida leicht möglich war.