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50 Jahre Mondlandung - Wo waren Sie, als Neil Armstrong und Buzz Aldrin am 21. Juli 1969 um 3.45 Uhr MEZ als erste Menschen den Mond betraten? Reisen in ferne Galaxien haben die Phantasie der Menschen seit jeher beflügelt. Auch Jules Verne, der Meister der Reise- und Abenteuerromane, war fasziniert davon und nahm in seinen Romanen literarisch schon vieles vorweg, das mit der Mondlandung 1969 Realität werden sollte. Nach Beendigung des amerikanischen Bürgerkriegs kommen zwei geniale Wissenschaftler, Mitglieder eines Kanonenclubs, auf die wahnwitzige Idee, ein riesiges Geschoss von der Erde zum Mond zu schicken. Aber wie soll das gelingen? Und kann man nicht sogar eine Kapsel bauen, in der Menschen mitfliegen können? »Von der Erde zum Mond« (1865) erzählt von den Vorbereitungen dieser aberwitzigen und kostspieligen Reise, die trotz aller Widrigkeiten gelingt: Drei Menschen und zwei Hunde werden mit einer Riesenkanone in das Weltall geschossen. In dem Folgeroman »Reise um den Mond« (1869) erleben die drei Abenteurer eine turbulente Reise durch Raum und Zeit, bis sie von der Anziehungskraft des Mondes eingefangen werden. Fasziniert beobachten sie diese «Neue Welt», müssen aber auch große Gefahren wie Kälte und Meteoriteneinschläge bestehen. Werden sie je von dort entkommen? Neben den akribisch genau recherchierten wissenschaftlichen Fakten bestechen beide Romane auch durch feine Satire und beißenden Spott.
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Seitenzahl: 302
Jules Verne
Reise um den Mond
Roman
Ungekürzte Übersetzung aus dem Französischen von Martin Schoske
FISCHER E-Books
Das ganze Jahr 186… über wurde die Weltöffentlichkeit durch ein wissenschaftliches Vorhaben in Atem gehalten, das in den Annalen der Forschung seinesgleichen suchte. Den Mitgliedern des Kanonenclubs, einer nach dem amerikanischen Bürgerkrieg in Baltimore gegründeten Vereinigung von Artillerie-Experten, war es nämlich eingefallen, ein – man höre und staune! – bemanntes Projektil auf den Mond zu schießen. Impey Barbicane, der Präsident dieser Vereinigung und die treibende Kraft hinter dem Unternehmen, erbat zunächst ein Gutachten der Sternwarte von Cambridge, Massachusetts, über das Projekt und ergriff bald darauf alle Maßnahmen zur Umsetzung seiner Pläne, die von der Mehrzahl der anerkannten Experten gutgeheißen worden waren. Nachdem eine Subskription einen Betrag von zweiundzwanzig Millionen Mark eingebracht hatte, nahm er sein gigantisches Werk in Angriff.
Wenn der Mond in seinem Zenit anvisiert werden sollte, dann musste laut Gutachten der Sternwarte die für das Abfeuern der Kugel vorgesehene Kanone an einem Ort aufgestellt werden, der zwischen null und achtundzwanzig Grad südlicher oder nördlicher Breite lag. Das Geschoss musste mit einer Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Metern pro Sekunde abgefeuert werden, sein Abschuss hatte am 1. Dezember um 22 Uhr 46 Minuten und 40 Sekunden abends zu erfolgen. In diesem Fall würde es vier Tage später, genauer am 5. Dezember um Mitternacht, den Mond erreichen, wenn dieser sich in seinem Perigäum befände, in seiner erdnächsten Position also und somit 345640 Kilometer von der Erde entfernt.
Die bedeutendsten Mitglieder des Kanonenclubs, sein Vorsitzender Impey Barbicane, Major Elphiston, der Sekretär des Clubs J.T. Maston und andere Gelehrte hielten mehrere Sitzungen ab, in denen über Form und Zusammensetzung der Kugel, über Position und Beschaffenheit der Kanone wie auch über Eigenschaft und Menge des zu verwendenden Pulvers diskutiert wurde. Folgende Beschlüsse wurden gefasst: Erstens sollte ein granatenförmiges, 19250 Pfund schweres Projektil aus Aluminium mit einem Durchmesser von zwei Komma sieben Metern und einer Wanddicke von dreißig Zentimetern zum Einsatz kommen. Zweitens sollte es sich bei der Kanone um eine gusseiserne, direkt in den Erdboden zu gießende Kolumbiade von dreihundert Metern Länge handeln, und drittens war vorgesehen, vierhunderttausend Pfund Schießbaumwolle einzusetzen. Damit war die Freisetzung von sechseinhalb Milliarden Litern Gas unter dem Geschoss gewährleistet, wodurch es mit Leichtigkeit dem Gestirn der Nacht entgegengetragen würde.
Als Nächstes konsultierte der Vorsitzende Barbicane den Ingenieur Murchison. Nach dieser Unterredung fiel seine Wahl auf einen in Florida, auf siebenundzwanzig Grad sieben Minuten nördlicher Breite und fünf Grad sieben Minuten westlicher Länge gelegenen Ort, an dem dann nach vielfältigen, Staunen gebietenden Vorarbeiten die Kolumbiade erfolgreich in den Boden gegossen wurde.
So war der Stand der Dinge, als die Ereignisse plötzlich eine Wendung nahmen, welche das Interesse der Öffentlichkeit an dieser großen Unternehmung um ein Vielfaches steigerte.
Ein Franzose, ein phantasiebegabter Künstler aus Paris von ebenso geistreichem wie verwegenem Wesen, bat darum, in der Kugel mitreisen zu dürfen, da er den Mond erreichen wolle, um Erkundungen auf dem Erdtrabanten vorzunehmen. Dieser unerschrockene Abenteurer namens Michel Ardan machte sich auf den Weg nach Amerika, wo man ihm einen begeisterten Empfang bereitete und wo er in einem wahren Triumphzug eine Versammlung nach der anderen abhielt. Er söhnte Präsident Barbicane mit seinem Todfeind, Captain Nicholl, aus und rang den beiden Kontrahenten dabei zum Zeichen ihrer Versöhnung das Versprechen ab, gemeinsam mit ihm den großen Flug zu wagen.
Nach diesem erfolgreichen Vermittlungsversuch wurde das Projekt weiter vorangetrieben. Man änderte die ursprüngliche Konzeption leicht ab, indem man für die Kugel eine neue, zylindrisch-konische Form wählte und den Flugkörper mit mächtigen Federn und Bruchschotten ausstattete, um den gewaltigen Rückstoß beim Abschuss aufzufangen. Genau berechnete Mengen von Lebensmitteln, Wasser und Gas wurden an Bord verstaut. Die Versorgung mit Sauerstoff gewährleistete ein Gerät, das automatisch Atemluft produzierte. Gleichzeitig ließ der Kanonenclub auf einem der höchsten Gipfel der Rocky Mountains ein riesiges Teleskop errichten, mit dem man das Geschoss auf seinem Weg durch den Weltraum beobachten konnte. Und so waren bald alle Vorbereitungen getroffen.
Am 1. Dezember erfolgte dann pünktlich der Abschuss, bestaunt von einer gewaltigen Menschenmenge, die aus diesem Anlass zusammengeströmt war. Zum ersten Mal also verließen drei Menschen ihren Heimatplaneten und stießen in die Weiten des Weltalls vor. Dass sie ihr Ziel erreichen würden, daran gab es für sie kaum einen Zweifel. Es war vorgesehen, dass die drei tollkühnen Raumfahrer, Michel Ardan, Präsident Barbicane und Captain Nicholl, ihr Ziel in siebenundneunzig Stunden dreißig Minuten und zwanzig Sekunden erreichten, so dass man mit ihrer Landung auf dem Mond am 5. Dezember um Mitternacht, also genau bei Vollmond, rechnen konnte.
Allerdings hatte sich durch die heftige Detonation beim Abfeuern der Kolumbiade ganz unerwartet eine mächtige Dampfwolke gebildet, welche die Atmosphäre trübte. Dieses Phänomen hatte für allgemeinen Verdruss gesorgt, da der Schleier, der sich vor den Mond legte, diesen für einige Nächte den Blicken seiner Beobachter entzog.
Der ehrwürdige J.T. Maston, bester Freund der drei Raumfahrer, ließ sich davon jedoch nicht entmutigen und brach in Begleitung des ehrenwerten J. Belfast, des Direktors der Sternwarte von Cambridge, in die Rocky Mountains zum Long’s Peak auf, wo das Teleskop stand, durch das sich der Mond bis auf wenige Kilometer heranholen ließ. Der Sekretär des Kanonenclubs wollte unbedingt persönlich seine tollkühnen Freunde beobachten.
Wolkenschichten in der Atmosphäre verhinderten jedoch die Beobachtung vom 5. bis zum 10. Dezember. Zeitweilig befürchtete man sogar, bis zum 3. Januar des folgenden Jahres jede weitere Beobachtung einstellen zu müssen, da der Mond am 11. Dezember in sein letztes Viertel treten würde. Ab diesem Zeitpunkt hätte er nur noch abgenommen, was die Verfolgung der Bahn des Geschosses unmöglich gemacht hätte.
Doch schließlich tobte zur allgemeinen Erleichterung in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember ein heftiges Gewitter, das die Atmosphäre völlig bereinigte, so dass sich die halb beleuchtete Gestalt des Mondes deutlich vor dem dunklen Hintergrund des Himmels abzeichnete.
In derselben Nacht noch schickten J.T. Maston und J. Belfast vom Long’s Peak aus ein Telegramm an die Mitglieder der Sternwarte von Cambridge.
Darin hieß es, dass die beiden das von der Kolumbiade in Stone’s Hill abgeschossene Projektil am Abend des 11. Dezember, um zwanzig Uhr siebenundvierzig Minuten, gesehen hätten. Demzufolge musste das Geschoss aus einem unbekannten Grund aus der Bahn geworfen worden sein, weshalb es sein Ziel verfehlt habe. Allerdings sei es nahe genug am Mond vorbeigeflogen, um von dessen Anziehungskraft erfasst zu werden. Dies wiederum habe bewirkt, dass es von seiner geradlinigen Bewegungsrichtung in eine kreisförmige Umlaufbahn eingetreten sei, wodurch es nun – gleich einem Trabanten – eine elliptische Bahn um das Gestirn der Nacht beschreibe.
Weiterhin hieß es in dem Telegramm, dass es noch nicht gelungen sei, die Umlaufbahn dieses neuen Trabanten zu berechnen, da es zu diesem Zweck in drei verschiedenen Positionen beobachtet werden müsse. Außerdem ließen sie noch verlauten, dass die Entfernung des Geschosses von der Mondoberfläche auf ungefähr sechstausendachthundert Kilometer geschätzt werden könne.
Zum Schluss wurden in dem Telegramm noch folgende zwei Überlegungen angestellt: Entweder werde die Anziehungskraft des Mondes so stark sein, dass die Raumfahrer doch noch ihr Ziel erreichten, oder aber das Geschoss werde weiterhin auf seiner unveränderlichen Bahn festgehalten und kreise um den Erdtrabanten bis ans Ende der Zeit.
Welches Schicksal drohte den Raumfahrern unter diesen Umständen? Zwar waren sie für eine geraume Zeit mit Lebensmitteln ausgestattet; aber selbst wenn man ihnen zugutehielt, dass sie ihr ehrgeiziges Ziel vielleicht erreichen und auf dem Mond landen würden, wie wollten sie dann zurückkehren? Bestand überhaupt Aussicht, dass sie jemals heimkehren würden? Würde man auf der Erde irgendwann eine Nachricht von ihnen erhalten? Diese Fragen, welche die hervorragendsten Gelehrten in Zeitungsartikeln diskutierten, bewegten auch die Öffentlichkeit.
An dieser Stelle sei jedoch eine Bemerkung gestattet, die übereifrige Gemüter beherzigen mögen. Wenn ein Gelehrter sich anschickt, der Öffentlichkeit eine rein auf Annahmen beruhende Erkenntnis zu verkünden, so kann er dabei gar nicht zurückhaltend genug sein. Niemand ist gezwungen, einen Planeten, einen Kometen oder einen Trabanten zu entdecken, aber wer bei einem solchen Bemühen einen Fehler begeht, der zieht mit Fug und Recht den Spott der Öffentlichkeit auf sich. Besser ist es, sich in Geduld zu üben, und auch der ungeduldige J.T. Maston hätte sich besser Zurückhaltung und Bedacht auferlegt, bevor er dieses Telegramm in die Welt hinausschickte, in dem er, was den möglichen Ausgang des Unternehmens betraf, allzu vorschnell ein endgültiges Urteil fällte.
In dem Telegramm ging er nämlich, wie sich später herausstellte, von zwei falschen Voraussetzungen aus. Erstens war es unmöglich, dass seine Angabe über die Entfernung des Projektils vom Mond stimmte, denn dieses war am 11. Dezember, dem Tag der Schätzung, gar nicht zu sehen gewesen. Was J.T. Maston also gesehen hatte oder gesehen zu haben glaubte, konnte daher unmöglich das Geschoss gewesen sein, das die Kolumbiade abgefeuert hatte. Zweitens lag seiner Einschätzung, dass das Geschoss als Trabant auf ewig um den Mond kreisen könnte, ebenfalls ein Irrtum zugrunde, da sie im absoluten Widerspruch zu den Gesetzen der Himmelsmechanik stand.
Nur eine Annahme der Beobachter war begründet: die nämlich, dass die Raumfahrer, sofern sie überhaupt noch lebten, alles in ihren Kräften Stehende unternehmen würden, um unter Ausnutzung der Anziehungskraft des Mondes dessen Oberfläche zu erreichen.
Nun hatten diese ebenso intelligenten wie tollkühnen Männer den enormen Rückstoß beim Abfeuern der Kanone tatsächlich überlebt, und ihre Reise in dem Raumgefährt soll im Folgenden mit ihren dramatischsten Momenten wie auch in ihren merkwürdigsten Einzelheiten erzählt werden. Dieser Bericht wird viele Illusionen und Vorhersagen zunichtemachen, aber er wird eine genaue Vorstellung von den plötzlichen Wendungen vermitteln, die ein solches Unternehmen zuweilen nimmt. Außerdem wird er den wissenschaftlichen Instinkt Barbicanes hervorheben, die Talente des fleißigen Nicholl zur Geltung bringen und uns Michel Ardan vorstellen, dessen Wagemut stets mit einem Sinn für Humor einherging.
Darüber hinaus wird er zeigen, dass J.T. Maston, der ehrwürdige Freund der drei Abenteurer, seine Zeit vergeudete, als er, über sein Teleskop gebeugt, die Bahn des Mondes auf seinem Weg durch die Sternenwelt verfolgte.
Schlag 22 Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden, die sie auf der Erde zurückließen. Die zwei Hunde, die mit an Bord waren, um sie später als Angehörige ihrer Rasse auf dem Mond einzubürgern, waren bereits in das Projektil eingesperrt worden. Die drei Raumfahrer näherten sich der riesigen Kanone und wurden dann von einem Schwebekran in das Rohr des Geschützes hinabgelassen und schließlich auf der konischen Spitze des Projektils abgesetzt.
Dort gelangten sie durch eine Öffnung ins Innere der Aluminiumkapsel. Als der Kran seine Arbeit verrichtet hatte, entfernte man die letzten Gerüste von der Mündung der Kolumbiade.
Kaum befand sich Nicholl mit seinen Gefährten in dem Geschoss, da machte er sich auch schon daran, dessen Öffnung mittels einer dicken, innen durch kräftige Druckschrauben gehaltenen Platte zu verschließen. Andere, ebenfalls fest eingefügte Abdeckungen waren vor den linsenförmigen Glasscheiben der Seitenluken angebracht. Die Raumfahrer, völlig abgeschottet in ihrem Gefängnis aus Metall, befanden sich in einer Welt tiefster Finsternis.
»Und jetzt, liebe Gefährten«, sagte Michel Ardan, »wollen wir uns ganz wie zu Hause fühlen. Ich bin ein Mensch, der es gerne gemütlich hat, deshalb kenne ich mich in allen Bereichen des Haushalts nur zu gut aus. Wir müssen aus unserer neuen Unterkunft das Beste machen und deshalb gleich bestrebt sein, uns darin einzuleben. Zunächst einmal sollten wir aber für ein wenig Licht sorgen. Schließlich ist die Gasbeleuchtung nicht für Maulwürfe da.«
Und mit diesen Worten rieb der arglose Geselle ein Streichholz an seiner Schuhsohle, um es zu entzünden. Dann hielt er es an den Hahn des Behälters, der so viel komprimierten Kohlenwasserstoff enthielt, dass man damit das Geschoss einhundertvierundvierzig Stunden beheizen und beleuchten konnte.
Das Gas fing Feuer. Das Innere der Kapsel, nunmehr erhellt, vermittelte den drei Freunden den Eindruck eines gemütlich ausgestatteten Zimmers mit gepolsterten Wänden und runden Diwanen, dessen kuppelartige Wölbung sie an einen Dom erinnerte. Die Gegenstände, die sich in dem Raum befanden, Waffen, Instrumente und sonstige Gerätschaften, waren sicher an den Wänden befestigt, damit sie die Erschütterungen beim Start schadlos überstanden. Alles Menschenmögliche war unternommen worden, um die gewagte Unternehmung zu einem guten Ende zu bringen.
Das Gas fing Feuer
Michel Ardan kontrollierte alles sorgfältig und zeigte sich sehr zufrieden mit den Vorkehrungen und der Einrichtung.
»Es ist ein Gefängnis«, erklärte er, »aber ein Gefängnis, in dem sich reisen lässt und das wenigstens Fenster hat. Ich wäre gar nicht abgeneigt, einen Mietvertrag über hundert Jahre abzuschließen. Was, du lächelst, Barbicane? Du glaubst wohl, dass dieses Gefängnis unser Grab wird? Von mir aus kann es das sogar, aber für Mohammeds Grab, das im Weltall schwebt und nicht von der Stelle kommt, möchte ich es nicht hergeben!«
Während Michel Ardan seine Zufriedenheit mit der neuen Unterkunft zum Ausdruck brachte, trafen Barbicane und Nicholl die letzten Vorbereitungen.
Nicholls Uhr zeigte 22 Uhr 20 Minuten an, als sich die drei Kandidaten endgültig in dem Projektil abgeschottet hatten. Sie stimmte auf eine Zehntelsekunde genau mit der Uhr des Ingenieurs Murchison überein.
»Meine Freunde«, sprach Barbicane, »es ist jetzt zweiundzwanzig Uhr zwanzig. Um zweiundzwanzig Uhr sechsundvierzig wird Murchison die Ladung der Kolumbiade elektrisch zünden. Genau in diesem Moment werden wir die Erdkugel verlassen. Uns bleiben also noch siebenundzwanzig Minuten.«
»Siebenundzwanzig Minuten und dreizehn Sekunden«, korrigierte der pedantisch genaue Nicholl.
»Nun«, rief Michel Ardan gut aufgelegt, »in siebenundzwanzig Minuten lässt sich allerhand unternehmen. Wir könnten über die wichtigsten politischen oder moralischen Probleme unserer Zeit reden, sie vielleicht sogar lösen. Siebenundzwanzig wohl genutzte Minuten bedeuten mehr als siebenundzwanzig Jahre, in denen man nichts Vernünftiges anfängt. Ein paar Sekunden im Leben eines Pascal oder Newton sind kostbarer als die gesamte Existenz aller Narren dieser Welt …«
»Und was schließt du daraus, du ewiger Schwätzer?«, fragte Barbicane.
»Daraus schließe ich, dass wir nur noch sechsundzwanzig Minuten haben«, versetzte Michel Ardan.
»Sogar nur vierundzwanzig«, ließ sich Nicholl vernehmen.
»Na gut, mein werter Captain, wenn Sie darauf bestehen, dann eben nur vierundzwanzig Minuten«, antwortete der Franzose. »In dieser Zeit könnte man versuchen zu ergründen, warum …«
»Monsieur Ardan«, hielt ihm Barbicane entgegen, »während unseres Flugs werden wir noch genug Zeit haben, die brennendsten Fragen unserer Zeit zu ergründen. Aber jetzt wollen wir uns auf den Start konzentrieren.«
»Ist denn nicht so weit alles vorbereitet?«
»Gewiss doch. Aber dennoch gilt es, noch ein paar vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, um die erste Erschütterung möglichst abzuschwächen.«
»Aber wir haben doch zwischen den Bruchschotten Wasserschichten eingefügt. Ist die Elastizität damit nicht hinreichend gewährleistet?«
»Ich hoffe es«, entgegnete Barbicane leise. »Ganz sicher bin ich mir da aber nicht!«
»Schau an, der Schelm!«, entfuhr es Michel Ardan. »So, so, er hofft also … Aber sicher ist er nicht … Anstatt vorher seine Zweifel zu äußern, wartet er also erst ab, bis wir in dieser Kiste festsitzen! Aber nicht mit mir. Ich steige aus!«
»Und wie, bitte, gedenken Sie auszusteigen?«, fragte Barbicane.
»Das ist wirklich nicht so einfach!«, erkannte Michel Ardan. »Immerhin sitzen wir in einem Zug, und in vierundzwanzig Minuten wird zur Abfahrt gepfiffen …«
»Zwanzig«, verbesserte ihn Nicholl.
Die drei Raumfahrer sahen sich an. Dann betrachteten sie die Gegenstände um sich herum.
»Alles ist an seinem Platz«, meinte Barbicane. »Jetzt müssen wir entscheiden, welche Lage wir am besten einnehmen, um den Moment des Abschusses zu überleben. Dieser Aspekt dürfte nicht unwichtig sein, denn es gilt möglichst zu vermeiden, dass uns das Blut allzusehr zu Kopfe steigt.«
»Richtig«, pflichtete Nicholl ihm bei.
»Gut«, meinte auch Michel Ardan, der bereit war, den Vorschlag sofort in die Tat umzusetzen. »Wir müssen uns nur auf den Kopf stellen und die Beine in die Luft strecken, wie Clowns im Zirkus.«
»Nein«, erklärte Barbicane, »aber wir sollten uns auf die Seite legen, nur so können wir die Erschütterung überstehen. Wir müssen nämlich bedenken, dass es im Moment des Abschusses egal ist, ob wir uns in dem Geschoss oder davor befinden. Das läuft so ziemlich auf das Gleiche hinaus.«
»Na, wenn es nur so ziemlich auf das Gleiche hinausläuft, dann bin ich ja beruhigt«, versetzte Michel Ardan.
»Sind Sie mit meinem Vorschlag einverstanden, Nicholl?«, erkundigte sich Barbicane.
»Vollkommen«, sagte der Captain. »Noch dreizehneinhalb Minuten.«
»Dieser Nicholl ist kein Mensch«, entfuhr es Michel Ardan, »er ist ein Uhrwerk auf zwei Beinen, das innen wahrscheinlich nur aus Schrauben und Rädchen besteht! …«
Doch seine Gefährten waren bereits damit beschäftigt, mit einer unerhörten Nüchternheit die letzten Vorbereitungen zu treffen, und hörten ihm nicht mehr zu. Sie benahmen sich wie zwei Reisende, die nichts dem Zufall überlassen wollen und bestrebt sind, sich gemütlich in dem Abteil einzurichten, in dem sie unterwegs sein werden. Wenn man sie so sah, stellte man sich wirklich die Frage, aus welchem Holz die Amerikaner wohl geschnitzt waren, dass ihnen selbst im Angesicht größter Gefahr nicht auch nur ein Härchen zu Berge stand.
Man hatte drei dicke, gut gepolsterte Matratzen in der Geschosskapsel untergebracht, und Nicholl und Barbicane breiteten sie nun in der Mitte der Scheibe aus, die, frei hängend, eine Art beweglichen Boden bildete. Dort sollten sich die Raumfahrer kurz vor dem Abschuss hinlegen.
Unterdessen war es Michel Ardan unmöglich, bewegungslos zu verharren, und so lief er in dem engen Raum wie ein gefangenes Raubtier auf und ab und plauderte mal mit seinen Freunden, dann wieder mit seinen Hunden, denen er die Namen Diana und Trabant gegeben hatte – bedeutungsschwere Namen, die er, wie man wohl ahnen mag, nicht von ungefähr gewählt hatte.
Diana und Trabant
»He, Diana, Trabant!«, redete er auf sie ein. »Ihr werdet den Hunden da oben zeigen, was für feine Manieren bei euch auf der Erde gelten, und eurer Rasse alle Ehre machen. Verdammt, wenn wir jemals hierher zurückkehren sollten, dann will ich einen Mondbastard mitbringen, der für Furore sorgen wird!«
»Vorausgesetzt, dass es auf dem Mond überhaupt Hunde gibt«, wandte Barbicane ein.
»Die gibt es«, zeigte sich Michel Ardan überzeugt, »genauso wie sich dort Pferde, Kühe, Esel und Hühner herumtreiben. Ich wette, dass wir Hühner finden werden!«
»Hundert Dollar dagegen«, entgegnete Nicholl.
»Top, die Wette gilt«, willigte der Franzose ein und drückte Nicholls Hand. »Übrigens haben Sie ja schon drei Wetten mit unserem Präsidenten verloren, da die für das Unternehmen notwendigen Gelder zusammengekommen sind, da es gelungen ist, die Kanone in den Erdboden zu gießen, und da die Kolumbiade ohne jeden Zwischenfall geladen werden konnte. Das macht sechstausend Dollar!«
»Ja«, meinte Nicholl. »Zweiundzwanzig Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Sekunden.«
»Abgemacht, Captain. Keine Viertelstunde mehr, und Sie werden beim Präsidenten noch einmal neuntausend Dollar zu berappen haben. Viertausend, weil die Kolumbiade nicht explodiert, und fünftausend, weil das Geschoss höher als sechzehn Kilometer fliegen wird.«
»Ich habe das Geld dabei«, erwiderte Nicholl und klopfte auf die Tasche seines Rocks. »Ich hätte nichts dagegen, wenn ich zahlen müsste.«
»Lassen Sie es gut sein, Nicholl. Ich sehe, dass Sie ein Mann der Ordnung sind, was mir niemals vergönnt war. Doch alles in allem haben Sie doch eine Reihe von Wetten abgeschlossen, die für Sie höchst unvorteilhaft sind, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«
»Und warum?«, fragte Nicholl.
»Weil der Gewinn der ersten Wette bedeuten würde, dass die Kolumbiade samt Geschoss in tausend Stücke fliegt. Dann wird Mister Barbicane Ihnen wohl kaum noch das Geld geben können.«
»Meinen Einsatz habe ich bei der Bank von Baltimore hinterlegt«, versetzte Barbicane unbeeindruckt. »Wenn Mister Nicholl nicht mehr da sein sollte, dann kommt er eben seinen Erben zu.«
»Ah, was für praktisch denkende Menschen!«, staunte Michel Ardan. »Wahrlich positive Geister! Ich bewundere Sie um so mehr, als ich Sie nicht verstehe.«
»Zweiundzwanzig Uhr zweiundvierzig Minuten«, ließ sich Nicholl vernehmen.
»Noch mehr als fünf Minuten«, meinte Barbicane.
»Ja, fünf unbedeutende Minuten!«, sagte Michel Ardan. »Und wir sind in einem Geschoss eingeschlossen, das sich in einer Kanone von dreihundert Metern Länge befindet! Und geladen ist sie mit vierhunderttausend Pfund Schießbaumwolle, was der Sprengkraft von einer Million sechshunderttausend Pfund gewöhnlichen Schwarzpulvers entspricht! Und unser Freund Murchison starrt schon auf seine Uhr und zählt die Sekunden. Gleich wird er die elektrische Zündung betätigen und uns ins Weltall hinausbefördern! …«
»Genug, Monsieur Ardan, schweigen Sie jetzt besser!«, forderte Barbicane ihn entschlossen auf. »Wir wollen uns nun innerlich sammeln. Nur noch ein paar Augenblicke trennen uns von dem bedeutendsten Ereignis aller Zeiten. Meine Freunde, reichen wir uns die Hände.«
»Ja!«, entfuhr es Michel Ardan bewegter, als er es nach außen zeigen wollte.
Die drei tollkühnen Gefährten umarmten sich ein letztes Mal.
»Gott schütze uns!«, sagte Barbicane, der ein gläubiger Mensch war.
Michel Ardan und Nicholl legten sich auf die Matratzen.
»Zweiundzwanzig Uhr sechsundvierzig Minuten!«, murmelte der Captain.
»Noch vierzig Sekunden!« Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Gefährten.
In der tiefen Stille hörte man jetzt nur noch das Ticken der Uhr.
Plötzlich kam es zu einer heftigen Erschütterung, und das Projektil wurde unter dem Druck von sechseinhalb Milliarden Litern Gas in die Weite des Weltraums hinauskatapultiert.
Was war geschehen? Welche Folgen hatte dieser gewaltige Stoß? War der Erfindungsreichtum der Erbauer des Projektils belohnt worden? Hatten die Federung, die eingefügten Wasserschichten und die Bruchschotten die Erschütterung gedämpft? Hatte man den enormen Rückstoß überstanden, der aus der Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Metern pro Sekunde resultierte, einer Geschwindigkeit, mit der man Paris oder New York in einer Sekunde hätte überfliegen können? So lauteten wohl die Fragen, die sich die vielen Zeugen dieser bewegenden Szene stellten. Das Ziel der Reise war in den Hintergrund gerückt, allein den Raumfahrern galten ihre Gedanken. Was aber hätten die Anwesenden sehen können, wenn es ihnen gelungen wäre, einen Blick in das Innere der Kapsel zu werfen?
Zunächst einmal gar nichts, in dem Geschoss herrschte nämlich völlige Finsternis. Die zylindrisch-konische Form hatte sich allerdings bewährt, denn die Wände hatten dem Druck tadellos widerstanden, kein Riss, keine Beule, nicht ein einziger Schaden war zu erkennen. Die Explosion hatte dem phantastischen Geschoss nichts anhaben können, und selbst die enorme Hitze des verbrennenden Pulvers hatte es nicht, wie man vielleicht hätte befürchten können, zu einer konturlosen Aluminiummasse zusammengeschmolzen.
Im Innern herrschte im Großen und Ganzen kaum Unordnung. Einige Gegenstände waren an die Decke geschleudert worden, aber die wichtigsten Geräte schienen nichts abbekommen zu haben. Die Riemen, mit denen man sie befestigt hatte, hatten sich bewährt.
Auf der frei hängenden Scheibe, die nach der Zerstörung der Bruchschotten und dem Entweichen des Wassers bis auf den Grund der Kapsel hinabgesunken war, lagen die drei Männer, ohne sich zu rühren. Waren Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch am Leben? Oder war das Projektil zu einer Art Metallsarg geworden, der drei Leichname in das All transportierte …?
Ein paar Minuten nach dem Abfeuern des Geschosses regte sich einer der drei Raumfahrer. Es war Michel Ardan. Zuerst bewegte er die Arme, dann beugte er den Kopf, schließlich gelang es ihm, sich auf die Knie zu erheben. An sich herumtastend, stieß er ein tiefes »Hm!« hervor. Dann sagte er: »Gut, Michel Ardan ist noch beisammen. Mal schauen, was mit den anderen ist.«
Der tapfere Franzose wollte aufstehen
Der tapfere Franzose wollte aufstehen, doch er konnte sich nicht aufrecht halten. Ihm wurde schwarz vor Augen, das Blut, das ihm urplötzlich in den Kopf schoss, verursachte bei ihm einen Schwindel, der ihn taumeln ließ wie einen Betrunkenen.
»Brr!«, schüttelte er sich. »Ich fühle mich, als wenn ich zwei Flaschen Cognac getrunken hätte. Was mir als Ursache für mein Kopfweh allerdings weitaus lieber wäre!«
Dann fuhr er sich mehrmals mit der Hand über die Stirn und rief, während er sich noch die Schläfen rieb, mit kräftiger Stimme: »Mister Nicholl! Mister Barbicane!«
Er wartete gespannt auf eine Antwort, die aber ausblieb. Nicht einmal ein Stöhnen, das gezeigt hätte, dass seine Gefährten noch lebten, war zu vernehmen. Dann rief er noch einmal, doch erneut folgte keine Reaktion.
»Verflixt! Die liegen ja da, als wenn sie aus dem fünften Stock auf den Kopf gefallen wären. Ach was«, sprach er mit einer Zuversicht, die durch nichts zu erschüttern war, weiter, »wenn es schon ein Franzose geschafft hat, wieder auf die Knie zu kommen, dann werden zwei Amerikaner sich wohl kaum schwertun, wieder ganz aufrecht zu stehen. Aber erst einmal muss ich mir einen Überblick über unsere Lage verschaffen.«
Michel Ardan spürte, wie das Leben allmählich in ihn zurückkehrte und sein Kreislauf sich stabilisierte. Mit ein paar Streckübungen brachte er sich wieder ins Gleichgewicht, so dass es ihm schließlich gelang, aufzustehen und mit einem Streichholz das Gas zu entzünden. Der Gasbehälter war intakt geblieben, so dass sein Inhalt nicht entwichen war. Dies hätte man auch sofort am Geruch erkannt, und in diesem Fall wäre Michel Ardan wohl kaum ungestraft mit einem brennenden Streichholz herumspaziert. Der Wasserstoff hätte zusammen mit der Luft ein gefährliches Gemisch gebildet, dessen Explosion wahrscheinlich genau die Wirkung gehabt hätte, die man schon beim Abschuss des Projektils befürchtet hatte.
Sobald das Gaslicht brannte, beugte sich der Franzose über seine Gefährten, die völlig erschlafft übereinanderlagen, Nicholl oben, Barbicane unten.
Er richtete den Captain auf, lehnte ihn gegen einen Diwan und massierte ihn kräftig. Seine gekonnte Massage belebte Nicholl, der die Augen öffnete und sofort begriff, was um ihn herum vorging. Er ergriff Michel Ardans Hand und blickte umher.
»Und Mister Barbicane?«, erkundigte er sich.
»Immer der Reihe nach«, erwiderte Michel Ardan ruhig. »Ich habe mit Ihnen angefangen, Mister Nicholl, weil Sie oben lagen. Jetzt wollen wir uns um Barbicane kümmern.«
Sie trugen Barbicane auf den Diwan
Michel Ardan und Nicholl trugen den Präsidenten des Kanonenclubs auf den Diwan. Barbicane schien schlimmer zugerichtet zu sein als seine Gefährten. Er hatte Blutverluste erlitten, doch Nicholl beruhigte sich, als er sah, dass die Blutung nur von einer leichten Schulterverletzung herrührte. Eine harmlose Schürfwunde, die er gründlich versorgte.
Dennoch brauchte Barbicane einige Zeit, um wieder zu sich zu kommen, was seine beiden Freunde, die ihn kräftig abrieben, sehr erschreckte.
»Immerhin schlägt sein Herz«, meinte Nicholl, der sein Ohr an die Brust des Verletzten drückte.
»Ja«, sagte Michel Ardan, »das ist schon einmal ein gutes Zeichen. Und jetzt weitermassieren, Mister Nicholl. Los, wir müssen uns anstrengen.«
Und die beiden Behelfsärzte übten ihr Handwerk so lange und so geschickt aus, dass Barbicane schließlich das Bewusstsein wiedererlangte. Er öffnete die Augen, richtete sich auf und drückte seinen Freunden die Hand.
»Mister Nicholl«, lauteten seine ersten Worte, »sind wir auf dem Weg?«
Nicholl und Ardan schauten sich an. Sie hatten sich um das Projektil noch keine Gedanken gemacht. Ihre erste Sorge hatte dem Präsidenten gegolten, nicht der Kapsel.
»Ja, sind wir eigentlich unterwegs?«, wollte nun auch Michel Ardan wissen.
»Oder ruhen wir uns etwa auf dem Boden Floridas aus?«, fragte Nicholl.
»Vielleicht befinden wir uns ja auch auf dem Grund des Golfs von Mexiko?«, ließ sich nun wieder Michel Ardan vernehmen.
»Ach, gehen Sie!«, entsetzte sich Barbicane.
Diese von seinen beiden Gefährten geäußerten Hypothesen riefen sofort wieder alle Lebensgeister in ihm wach.
Was mit dem Geschoss geschehen war, blieb jedenfalls vorläufig ungeklärt. Die Tatsache, dass es sich nicht zu bewegen schien und dass eine Verständigung mit der Außenwelt unmöglich war, erlaubte es nicht, diese Frage, die alle bewegte, zu klären. Vielleicht zog das Geschoss ja seine Bahn durch den Kosmos, vielleicht aber war es auch nur eine kurze Strecke geflogen und anschließend wieder auf den Erdboden zurückgefallen oder gar im Golf von Mexiko versunken. Florida war nur eine schmale Halbinsel, und deshalb ließ sich diese Hypothese nicht von der Hand weisen.
Der Fall war ernst, das Problem interessant, und es erforderte so rasch wie möglich eine Lösung. Barbicane war aufs äußerste erregt, und nachdem er dank seiner inneren Stärke seine körperliche Schwäche überwunden hatte, erhob er sich. Er spitzte die Ohren, doch draußen herrschte völlige Stille. Aber die dicke Polsterung war ja auch ausreichend, um jedes Geräusch zu ersticken. Ein Umstand indes ließ ihn stutzen. Die Temperatur im Innern des Projektils war ungewöhnlich hoch. Der Vorsitzende zog ein Thermometer aus seiner Hülle. Es zeigte fünfundvierzig Grad Celsius an.
»Doch, wir sind unterwegs!«, rief er. »Wir bewegen uns! Diese schwüle Hitze ist von draußen durch die Wände des Projektils eingedrungen. Sie wurde durch die Reibung zwischen unserer Kapsel und den Luftschichten der Atmosphäre erzeugt. Allerdings wird es bald abkühlen, denn wir schweben schon im luftleeren Raum, und nachdem wir beinahe erstickt wären, werden wir es nun mit beißender Kälte zu tun bekommen.«
»Wie bitte, Mister Barbicane?«, staunte Michel Ardan. »Verstehe ich Sie recht: Wir befinden uns bereits außerhalb der Erdatmosphäre?«
»Zweifellos, Monsieur Ardan, passen Sie gut auf: Es ist jetzt zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig Minuten, und wir sind vor ungefähr acht Minuten abgefeuert worden. Wenn nun unsere Anfangsgeschwindigkeit durch die Reibung nicht verringert wurde, dann müssten sechs Sekunden ausgereicht haben, um vierundzwanzig Kilometer zurückzulegen. Und genau so hoch reicht die Erdatmosphäre.«
»Perfekt«, erwiderte Nicholl, »doch wie hoch, glauben Sie, ist der Geschwindigkeitsverlust durch Reibung?«
»Er dürfte etwa ein Drittel ausmachen, Mister Nicholl«, erklärte Barbicane. »Dieser Verlust ist beträchtlich, aber nach meinen Berechnungen müsste er in etwa in dieser Größenordnung liegen. Dies bedeutet, dass wir bei einer angenommenen Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Metern pro Sekunde beim Verlassen der Atmosphäre nur noch ungefähr 7332 Meter zurücklegten. Doch diesen Punkt haben wir ja bereits hinter uns, und …«
»Damit hat unser Freund Nicholl seine beiden Wetten verloren«, stellte Michel Ardan fest. »Viertausend Dollar dafür, dass die Kolumbiade nicht explodiert ist, und fünftausend Dollar, weil das Geschoss eine Höhe von mehr als sechzehn Kilometern erreicht hat. Also, Mister Nicholl, jetzt geht’s ans Zahlen.«
»Zunächst sollten wir uns Klarheit verschaffen, ob es sich tatsächlich so verhält«, versetzte der Captain, »dann können wir ans Zahlen denken. Es ist sehr gut möglich, dass die Überlegungen von Mister Barbicane zutreffen und ich somit neuntausend Dollar verloren habe. Aber mir drängt sich gerade eine ganz neue Überlegung auf, die der Wette die Grundlage entziehen würde.«
»Eine neue Überlegung?«, forschte Barbicane sogleich.
»Die Überlegung, dass die Pulverladung aus irgendeinem Grund überhaupt nicht gezündet wurde und wir gar nicht losgeflogen sind.«
»Donnerwetter«, rief Michel Ardan, »das nenne ich eine Hypothese, die meines Hirnes würdig ist! Aber das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Sind wir etwa nicht durch die Erschütterung beim Start halb erschlagen worden? Musste man Sie nicht erst wiederbeleben? Und die Schulter des Präsidenten – ist seine Verletzung vielleicht nicht durch den Rückstoß verursacht worden?«
»Einverstanden«, pflichtete Nicholl ihm bei, »aber eine Frage sei mir noch gestattet.«
»Nur zu, Captain.«
»Haben Sie die Detonation gehört, die ja nicht unbeträchtlich gewesen sein dürfte?«
»Nein«, räumte der überraschte Michel Ardan ein. »Eine Detonation habe ich nicht vernommen.«
»Und Sie, Mister Barbicane?«
»Ich auch nicht.«
»Und?«, warf Nicholl in die Runde.
»Ja«, murmelte der Präsident, »warum haben wir eigentlich keine Detonation gehört?«
Die drei Freunde schauten sich fassungslos an. Sie sahen sich vor ein unerklärliches Phänomen gestellt. Das Projektil war abgeschossen worden, doch sie hatten keinen Knall gehört.
»Vergewissern wir uns erst einmal, wo wir uns befinden«, schlug Barbicane vor, »und werfen einen Blick nach draußen.«
Die Muttern, mit denen die Bolzen auf der Außenabdeckung der Luke befestigt waren, wurden mit Hilfe eines Schraubenschlüssels entfernt. Die Bolzen wurden nach außen getrieben und die offenen Schraubenkanäle mit Schließdeckeln abgedichtet, die mit Kautschuk verkleidet waren. Die Außenabdeckung senkte sich sogleich auf ihrem Scharnier, und die linsenförmig geschliffene Glasscheibe, welche die Luke verschloss, kam zum Vorschein. Eine identische Luke befand sich in der anderen Wand des Geschosses, eine weitere in der Kuppel, und schließlich war auch noch eine vierte im Kapselgrund angebracht. So konnte man also in verschiedene Richtungen schauen. Die Seitenfenster ermöglichten die Beobachtung des Firmaments, die obere und untere Öffnung rückten den Mond beziehungsweise die Erde ins direkte Blickfeld.
Barbicane und seine beiden Gefährten hatten sich natürlich sofort um die Luke herum aufgestellt, deren Bedeckung sie entfernt hatten. Es drang kein einziger Lichtstrahl durch sie ein. Das Projektil war von tiefster Finsternis umgeben, was den Präsidenten jedoch nicht davon abhielt, lautstark seine Feststellungen zu treffen.
»Nein, meine Freunde, wir sind nicht auf die Erde zurückgefallen! Wir liegen auch nicht auf dem Grund des Golfs von Mexiko. Nein, wir sind im Weltall und gewinnen weiter an Höhe. Sehen Sie sich nur diese Sterne an, die in der Nacht funkeln, und die undurchdringliche Dunkelheit, die sich zwischen der Erde und uns ausbreitet!«
»Hurra! Hurra!«, jubelten Michel Ardan und Nicholl los.
Die kompakte Finsternis lieferte in der Tat den Beweis dafür, dass sie die Erde verlassen hatten, denn hätten sie auf der durch das Mondlicht hell beschienenen Erdoberfläche gelegen, hätten sie diese unweigerlich sehen müssen. Diese Dunkelheit bedeutete aber auch, dass sie sich außerhalb der Erdatmosphäre befanden, weil das in der Atmosphäre vorkommende diffuse Licht sofort auf die Metallwände der Kapsel reflektiert worden wäre. Dies aber war nicht der Fall, denn die Linsen in der Luke blieben dunkel. Es gab keinen Zweifel mehr. Die Raumfahrer flogen durch die Weiten des Weltalls.
»Ich habe verloren«, fügte sich Nicholl.
»Und ich gratuliere Ihnen!«, setzte Michel Ardan hinzu.
»Hier haben Sie Ihre neuntausend Dollar«, sagte der Captain und zückte ein Bündel Dollarnoten.
»Wünschen Sie eine Quittung?«, erkundigte sich Barbicane, als er das Geld entgegennahm.
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht!«, erwiderte Nicholl. »Ich halte mich gerne an die Gepflogenheiten.«
Darauf zog Präsident Barbicane bedächtig und mit dem für ihn bezeichnenden Phlegma sein Notizbuch aus der Tasche, gerade so, als handle es sich um eine Transaktion, die ihn nichts angehe. Er riss ein leeres Blatt heraus und stellte mit dem Bleistift eine ordnungsgemäße Quittung aus, die er dem Captain datiert und unterschrieben überreichte. Dieser faltete sie ordentlich zusammen und steckte sie in seine Brieftasche.
Michel Ardan nahm seine Mütze ab und verbeugte sich wortlos vor seinen beiden Gefährten. Dieser ausgeprägte Sinn für Formen verschlug ihm unter den gegebenen Umständen die Sprache. Ein solches Übermaß an »typisch amerikanischem« Verhalten hatte er noch nie erlebt.
Nachdem Barbicane und Nicholl ihre finanziellen Angelegenheiten geregelt hatten, begaben sie sich wieder hinter die Luken und betrachteten die Sternbilder. Die Sterne hoben sich als schillernde Punkte vor dem schwarzen Hintergrund des Himmels ab. Doch das Gestirn der Nacht, das auf seiner Bahn von Osten nach Westen langsam zum Zenit aufstieg, ließ sich von dieser Seite aus nicht erkennen. Daher bot seine Abwesenheit Michel Ardan Anlass zu einer Bemerkung. »Und der Mond?«, warf er in die Runde. »Sollte er sich etwa unserem Stelldichein verweigern?«
»Nur keine Sorge«, entgegnete Barbicane. »Unser Ziel ist schon an Ort und Stelle, aber von hier aus können wir es nicht sehen. Lassen Sie uns die andere Seitenluke öffnen.«
Gerade als Barbicane seinen Platz verlassen wollte, um die gegenüberliegende Luke frei zu machen, bemerkte er plötzlich ein leuchtendes Objekt, das sich ihnen näherte. Es handelte sich um eine riesige Scheibe, deren gewaltige Maße sich nicht schätzen ließen. Ihre der Erde zugekehrte Seite strahlte gleißend hell. Es war, als ob ein kleiner Mond das Licht des großen Mondes widerspiegelte. Das Objekt schoss mit einer unglaublichen Geschwindigkeit durch den Weltraum und schien eine Umlaufbahn um die Erde zu beschreiben, die sich mit der Bahn des Projektils schnitt. Die Translation dieses Flugkörpers wurde durch die Rotationsbewegung um die eigene Achse vervollständigt. Er verhielt sich also wie alle Himmelskörper, die im Weltall sich selbst überlassen sind.
»Ei, ei!«, rief Michel Ardan. »Was ist denn das? Etwa ein anderes Geschoss?«
Barbicane gab keine Antwort. Das Auftauchen dieser gewaltigen Masse überraschte und beunruhigte ihn. Eine Kollision mit furchtbaren Folgen war möglich. Es bestand die Gefahr, dass sie durch einen Zusammenprall aus der Bahn geworfen oder gar auf die Erde zurückgeschleudert würden. Es konnte aber auch sein, dass ihr Projektil durch die Anziehungskraft des Asteroiden gleichsam als sein fester Trabant auf ewig mitgerissen würde.
Barbicane erkannte sofort, dass damit der Expedition in jedem Fall ein verhängnisvolles Ende drohte. Seine Gefährten blickten schweigend ins Weltall. Das Objekt gewann beim Herannahen erstaunlich schnell an Größe, und eine optische Täuschung vermittelte ihnen sogar den Eindruck, dass ihr eigenes Projektil auf es zuhielt.
»Großer Gott!«, entsetzte sich Michel Ardan. »Die beiden Züge rasen aufeinander zu.«