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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der exzentrische Engländer Phileas Fogg bietet seinen Freunden eine abenteuerliche Wette an: Gelingt es ihm nicht, in 80 Tagen einmal um die Welt zu reisen, verliert er sein gesamtes Vermögen. Selbstverständlich gibt es reguläre Wasser- und Landverbindungen, die eine Reise um die Erde möglich machen. Aber in 80 Tagen? Topp, die Wette gilt! Phileas Fogg setzt all sein Hab und Gut aufs Spiel, um zu beweisen, wie klein die Welt geworden ist. Es beginnt eine kuriose, abenteuerliche und spannende Reise rund um den Globus, die vor dem Traualtar endet.
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Zeit:3 Std. 48 min
Jules Verne
Reise um die Erde in 80 Tagen
Aus dem Französischen von Manfred Kottmann
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Im Jahre 1872 wurde das Haus Savile Row 7, im Londoner Stadtteil Burlington Gardens, in dem der Komödiendichter, Politiker und Staatsdiener R. B. Sheridan 1816 gestorben war, von Phileas Fogg bewohnt, der ein ganz besonderes und auffälliges Mitglied des Reform-Clubs von London war, obwohl er sich alle Mühe gab, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auf Sheridan, einen der größten Redner, deren sich England rühmen kann, folgte also als Bewohner dieses Hauses der geheimnisvolle Phileas Fogg, Esq. Von ihm war nicht viel mehr bekannt, als daß er ein vollendeter Gentleman und einer der bestaussehenden Männer der englischen Oberschicht war.
Man sagte, daß er Lord Byron ähnelte, da er dasselbe schöne Gesicht hatte, ohne daß sein Fuß, wie der des Dichters, verkrüppelt war. Aber er war ein Byron mit Schnauzer und Backenbart, ein leidenschaftsloser Byron. Und ein altersloser Mann.
Phileas Fogg war untrüglich ein Engländer, aber er war vielleicht kein Londoner. Man war ihm weder an der Börse noch in einer Bank, noch in einem Kontor der Londoner City je begegnet. Nie hatte an einem Kai und in einem Dock von London ein Schiff angelegt, dessen Reeder Phileas Fogg gewesen wäre. Dieser Gentleman gehörte keinem Aufsichtsrat an. Sein Name war weder in einer Anwaltskanzlei vernommen worden noch bei den Rechtsgelehrten im Temple, im Lincoln’s Inn und im Gray’s Inn. Nie hatte er als Anwalt vor den Schranken der obersten Gerichtshöfe und Berufungsgerichte für Staats-, Straf-, Zivil-, Finanz- und Kirchenrechtsverfahren ein Plädoyer gehalten. Er war weder Industrieller noch Kaufmann, noch Landwirt. Er war weder Mitglied des Königlichen Instituts von Großbritannien noch des Instituts von London, noch der Handwerkskammer, noch des Russell-Instituts, noch des Literarischen Abendländischen Instituts, noch des Rechtsinstituts, noch jenes Instituts der Vereinigten Künste und Wissenschaften, das unmittelbar unter dem Schutz Ihrer Königlichen Majestät steht. Schließlich gehörte er auch keiner der zahlreichen Gesellschaften an, von denen es in der englischen Hauptstadt nur so wimmelt: von der »Gesellschaft der Ziehharmonikafreunde« bis zur »Entomologischen Gesellschaft«, deren satzungsgemäßes Ziel die Ausrottung schädlicher Insekten war.
Phileas Fogg war lediglich Mitglied des Reform-Clubs.
Wer sich darüber wundern sollte, daß ein so geheimnisvoller Gentleman Mitglied dieser ehrenwerten Vereinigung war, dem sei gesagt, daß er auf Empfehlung der Gebrüder Baring aufgenommen worden war, bei deren Bank er ein Konto unterhielt. Aus der Tatsache, daß seine Schecks immer gedeckt waren, weil sich sein Konto stets im Haben befand, bezog er ein gewisses Ansehen.
Zweifellos war dieser Phileas Fogg ein reicher Mann. Aber wie er zu seinem Reichtum gekommen war, das wußten auch die bestinformierten Leute nicht zu sagen, und Mr.Fogg war der letzte, den man danach fragen konnte. Jedenfalls trat er nirgendwo verschwenderisch auf, war aber auch nicht geizig. Denn überall, wo es der Unterstützung für eine gute Sache bedurfte, leistete er sie im stillen und sogar anonym.
Alles in allem wäre »mitteilsam« das Wort, das am wenigsten zu diesem Gentleman paßte. Er sprach so wenig wie möglich und, verschwiegen wie er war, erschien er um so geheimnisvoller. Dennoch spielte sich sein Leben vor aller Augen ab, aber was er machte, tat er mit der mechanischen Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks, so daß die Phantasie der Menschen unbefriedigt blieb und sie sich etwas dazuerfinden mußte.
Weit gereist war er sehr wohl, denn niemand kannte sich wie er auf dem Globus aus. Es gab keinen noch so abgelegenen Ort der Welt, über dessen Besonderheiten er nicht Bescheid zu wissen schien. Gelegentlich stellte er mit knappen und klaren Worten die unzähligen Mutmaßungen richtig, die im Club über Reisende kursierten, die sich verirrt hatten oder verschollen waren. Er hielt sich streng an die Tatsachen, und die Aufdeckung der wahren Umstände solcher Ereignisse gab ihm letztlich immer recht. Dieser Mann schien die ganze Welt bereist zu haben – zumindest im Geiste.
Allerdings stand fest, daß Phileas Fogg seit vielen Jahren London nicht mehr verlassen hatte. Diejenigen, die die Ehre hatten, ihn ein wenig besser als andere zu kennen, bestätigten, daß ihn niemand, außer auf seinem täglichen direkten Weg von seinem Haus zum Club, je woanders gesehen haben konnte. Zeitungslektüre und Whistspiel waren sein einziger Zeitvertreib. Bei diesem Spiel ohne viel Worte, das seiner Natur so angemessen war, gewann er oft. Aber seine beträchtlichen Gewinne blieben nie in seiner Börse, sondern vergrößerten nur sein Budget für wohltätige Zwecke. Übrigens muß man dazu sagen, daß Mr.Fogg wirklich aus Freude am Spiel spielte und nicht, um zu gewinnen. Das Spiel war für ihn ein Kampf, bei dem es Widrigkeiten zu überwinden galt, aber ohne sich bewegen zu müssen und ohne zu ermüden. Und das paßte zu seiner Wesensart.
Es war nichts davon bekannt, daß er Frau oder Kinder hatte, was bei den ehrbarsten Männern vorkommt. Und man wußte auch nichts von Verwandten oder Freunden, was schon seltener war. Phileas Fogg lebte allein in seinem Haus in der Savile Row, das niemand außer ihm betrat. Vom Inneren dieses Hauses war nie die Rede. Ein einziger Bediensteter genügte ihm. Das Mittag- und das Abendessen nahm er immer im Club ein, immer zur selben Zeit, im selben Saal und am selben Tisch. Es kam selten vor, daß er ein anderes Clubmitglied an seinen Tisch bat, Fremde schon gar nicht. Er ging nur zum Schlafen nach Hause, stets pünktlich um Mitternacht, und machte also nie von den komfortablen Zimmern Gebrauch, die den Mitgliedern im Club zur Verfügung stehen. Von den vierundzwanzig Stunden eines Tages verbrachte er zehn zu Hause, schlafend oder mit seiner Toilette. Wenn er promenierte, tat er das stets, mit gleichmäßigem Schritt, auf dem mit Einlegearbeiten verzierten Parkettboden der Eingangshalle des Clubs oder auf der kreisförmigen Galerie, über die sich eine Kuppel aus blauen Glasscheiben wölbte, die von zwanzig ionischen Säulen aus rotem Porphyr getragen wurde. Wenn er zu Mittag oder zu Abend speiste, wurden ihm die schmackhaftesten Delikatessen aus den Küchen, der Speisekammer, der Anrichte, der Fisch- und Milchkammer des Clubs aufgetischt. Die ernsten, schwarzgekleideten Bediensteten des Clubs trugen ihm, geräuschlos auf Filzsohlen gehend, die Speisen in einem besonderen Porzellan und auf wunderbarem Damast auf; in den kostbaren Karaffen des Clubs servierte man ihm seinen Sherry, Portwein oder seinen roten Bordeaux, gewürzt mit Zimt, Farnkraut und Zinnamom; schließlich hielt das Eis, das der Club mit hohem Kostenaufwand von den nordamerikanischen Seen kommen ließ, seine Getränke zufriedenstellend frisch.
Wenn man diese Lebensart als exzentrisch bezeichnen will, muß man zugeben, daß die Exzentrizität ihr Gutes hat!
Das Haus in der Savile Row war nicht luxuriös, aber es zeichnete sich durch einen sehr hohen Komfort aus. Da der Hausherr ein äußerst geregeltes Leben führte, war im übrigen ein geringer Bedienaufwand nötig. Dennoch verlangte Phileas Fogg von seinem einzigen Hausdiener eine außergewöhnliche Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit im Dienst. Gerade an diesem 2. Oktober hatte Phileas Fogg seinem Diener James Forster gekündigt, da der junge Mann sich des Vergehens schuldig gemacht hatte, ihm Rasierwasser zu bringen, das nur vierundachtzig Grad Fahrenheit warm war statt der gewünschten sechsundachtzig Grad. Und nun erwartete er einen Bewerber um dessen Nachfolge, der sich zwischen elf und halb zwölf vorstellen sollte.
Phileas Fogg saß im Sessel, die Hacken militärisch eng aneinandergepreßt, die Hände auf die Knie gestützt, und fixierte erhobenen Hauptes den Zeiger der Standuhr, die mit ihrem komplizierten Räderwerk Stunden, Minuten und Sekunden, aber auch Tag, Monat und Jahr anzeigte. Punkt halb zwölf würde Mr.Fogg das Haus verlassen, um sich in den Reform-Club zu begeben.
Da klopfte es an die Tür des kleinen Salons, in dem sich Phileas Fogg aufhielt. Der entlassene James Forster trat ein und meldete: »Der neue Diener.«
Ein junger Mann von etwa dreißig Jahren erschien und grüßte.
»Sie sind Franzose, und Sie heißen John?« fragte Phileas Fogg.
»Jean, wenn es dem gnädigen Herrn gefällt«, antwortete der Ankömmling, »Jean Passepartout, ein Beiname, den man mir für meine natürliche Gabe verliehen hat, daß ich die schwierigsten Situationen bewältigen kann. Ich halte mich für einen ehrlichen Burschen, gnädiger Herr, aber offen gesagt habe ich schon mehrere Berufe ausgeübt. Ich war Straßensänger, Kunstreiter im Zirkus, Voltigierkünstler und Seiltänzer. Dann wurde ich Turnlehrer, um mein Talent nützlicher anzuwenden. Und zuletzt war ich Feuerwehrmann in Paris, wo ich mich bei einigen bedeutenden Bränden ausgezeichnet habe. Aber vor fünf Jahren habe ich Frankreich verlassen, und weil ich mich nun für das häusliche Leben zu interessieren beginne, bin ich Kammerdiener in England geworden. Da ich gerade keine Stelle hatte und hörte, daß bei Herrn Phileas Fogg, dem ordentlichsten und seßhaftesten Mann im Vereinigten Königreich, eine solche frei werde, stelle ich mich bei dem Herrn vor. Ich hoffe, in Ihren Diensten in Ruhe alt werden und die unruhigen Zeiten vergessen zu können, einschließlich dieses Hans-Dampf-in-allen-Gassen-Namens Passepartout.«
»Passepartout gefällt mir«, erwiderte der Gentleman. »Sie sind mir empfohlen worden. Die Auskünfte über Sie sind positiv. Sie kennen die Vertragsbedingungen?«
»Ja, gnädiger Herr.«
»Gut. Wie spät ist es auf Ihrer Uhr?«
»Elf Uhr zweiundzwanzig«, antwortete Passepartout, der aus seiner Westentasche eine riesige silberne Uhr gezogen hatte.
»Sie geht nach«, sagte Fogg.
»Verzeihen Sie, gnädiger Herr, aber das ist unmöglich.«
»Sie geht vier Minuten nach. Aber sei’s drum. Es genügt, die Differenz zu kennen. Also, seit diesem Augenblick, elf Uhr sechsundzwanzig, Mittwoch, den 2. Oktober 1872, stehen Sie in meinen Diensten.«
Nach diesen Worten erhob sich Phileas Fogg, ergriff mit der Linken seinen Hut, setzte ihn auf und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Passepartout hörte, wie sich die Haustür ein erstes Mal schloß: Sein neuer Herr verließ das Haus. Dann ein zweites Mal: Sein Vorgänger, James Forster, ging ebenfalls.
Passepartout blieb allein im Haus in der Savile Row zurück.
»Du liebe Güte«, sagte sich Passepartout, »im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud habe ich Gestalten gesehen, die mir lebendiger vorkamen als mein neuer Herr!«
Die berühmten Wachsfiguren von Madame Tussaud in London ziehen übrigens so viele Besucher an, weil sie so lebensecht wirken, daß ihnen wirklich nur die Sprache zu fehlen scheint.
In den wenigen Augenblicken, in denen Passepartout Phileas Fogg gesehen hatte, hatte er sich seinen künftigen Herrn schnell, aber genau angeschaut. Der Mann mochte ungefähr vierzig sein, er hatte ein edles und schönes Gesicht und war von großer Gestalt, der leichte Bauchansatz störte nicht. Haare und Backenbart waren blond, die Stirn war bis zu den Schläfen ohne sichtbare Falten, das Gesicht selbst eher blaß als gebräunt, und er hatte makellos schöne Zähne. Er schien in besonderem Maße das zu besitzen, was die Physiognomen »die ruhige Kraft des Tätigen« nennen, also die Eigenschaft der Menschen, die eher etwas tun, als darüber zu reden. Mit seiner Ruhe, seinem Phlegma, seinem klaren, offenen Blick, war er der typische korrekte Engländer, wie man ihn oft im Vereinigten Königreich antrifft. Die Malerin Angelica Kauffmann hat diesen Typus mit seiner etwas durchgeistigten Haltung meisterhaft auf der Leinwand festgehalten. In jeder Situation seines Lebens zeigte der Gentleman die Ausgewogenheit und die Genauigkeit, die man von einer Pendeluhr kennt. Und in der Tat war dies deutlich an seinen regelmäßig geformten Händen und Füßen abzulesen, denn beim Menschen wie beim Tier sind die Gliedmaßen der Ausdruck der Charaktereigenschaften.
Phileas Fogg gehörte zu den Leuten, die »mathematisch genau gehen«, die nie unter Druck stehen und stets so voller Geistesgegenwärtigkeit präsent sind, und die ihre Bewegungen und Schritte mit Bedacht genau einteilen. Er machte keinen Schritt zuviel, sondern nahm stets den kürzesten Weg. Sein Blick schweifte nie umher. Keine seiner Gesten war überflüssig. Man hatte ihn nie bewegt oder verwirrt erlebt. Er zeigte nie die geringste Eile und kam doch überall rechtzeitig an. Bei alledem muß man natürlich bedenken, daß er allein und sozusagen ohne gesellschaftliche Bindungen lebte. Er wußte wohl, daß es im Leben Reibungspunkte gibt, und da Reibung hemmt, rieb er sich an niemandem.
Jean, genannt Passepartout, dagegen war ein waschechter Franzose aus Paris und hatte in den fünf Jahren, in denen er in England lebte und als Kammerdiener arbeitete, vergeblich einen Herrn gesucht, dem er hätte mit Hingabe dienen wollen.
Passepartout war beileibe keiner dieser Diener, wie man sie aus Schmierenkomödien kennt, die die Nase hoch tragen, überheblich und kalt in die Welt blicken und ihre unverschämten Späße auf Kosten anderer treiben. Ganz im Gegenteil: Passepartout war ein couragierter junger Mann mit einem freundlichen Gesicht, dessen sinnliche Lippen immer etwas schnabulieren oder liebkosen mußten. Er war liebenswürdig, hilfsbereit und sympathisch, wie man sich einen guten Freund vorstellt. Er hatte blaue Augen, einen gesunden Teint und ein so wohlgenährtes Gesicht, daß er mühelos seine eigenen Pausbacken betrachten konnte. Mit seiner breiten Brust, seinen starken Hüften und seinen kräftigen Muskeln besaß er wahre Herkuleskräfte, die er sich in der Jugend antrainiert hatte. Sein brauner Haarschopf war ziemlich wild. Die Bildhauer der Antike kannten ein Dutzend Arten, die Haarpracht der Athene zu bändigen, Passepartout kannte im Umgang mit der seinen nur eine Art: dreimal mit dem Kamm durch und fertig!
Ob das offenherzige Wesen dieses jungen Mannes zu Phileas Foggs Charakter passen würde, war äußerst schwer zu sagen. War Passepartout denn der absolut zuverlässige Diener, den sein Herr brauchte? Das würde sich erst in der Praxis erweisen. Nachdem er, wie gesagt, in jungen Jahren viel herumgekommen war, sehnte sich Jean nun nach Ruhe. Da man ihm lobend von der englischen Korrektheit und von der sprichwörtlichen Reserviertheit der englischen Gentlemen erzählt hatte, hatte er beschlossen, in England sein Glück zu suchen. Aber bisher hatte es das Schicksal nicht gut mit ihm gemeint. Nirgends hatte er Fuß fassen können. In zehn Häusern hatte er schon gedient. Überall lebten die Herrschaften ihre Launen aus, waren unberechenbar, abenteuerlustig, reisewütig – nicht gerade das, was Passepartouts Vorstellungen entsprach. Zuletzt hatte er bei dem jungen Lord Longsferry gedient, einem Mitglied des englischen Oberhauses, der seine Nächte in den »Austernlokalen« am Haymarket verbrachte und allzu oft von Polizisten nach Hause getragen werden mußte. Da es Passepartout vor allem darauf ankam, seinem Herrn Respekt erweisen zu können, machte er einige respektvolle Bemerkungen, die jedoch ungnädig aufgenommen wurden. Da kündigte er und erfuhr, daß Phileas Fogg, Esq., einen Hausdiener suchte. Er hörte sich um, was über diesen Gentleman geredet wurde. Und was er hörte, konnte ihm nur gefallen: ein regelmäßiger Lebenswandel, keine Übernachtungen außer Hause, keine längeren Abwesenheiten, keine Reisen. Er stellte sich vor und wurde angenommen, unter den Umständen, die wir bereits kennen.
Jetzt, kurz nach halb zwölf Uhr vormittags, befand sich Passepartout also allein in dem Haus in der Savile Row. Sogleich begann er, sich gründlich darin umzusehen, vom Keller bis zum Dachboden. Dieses gepflegte, ordentliche, puritanisch nüchterne Haus war leicht in Ordnung zu halten. Es gefiel ihm und erinnerte ihn an ein schönes Schneckengehäuse, nur daß es mit Gas beleuchtet und beheizt wurde. Im zweiten Stock fand Passepartout auch das Zimmer, das für ihn vorgesehen war. Es entsprach seinen Vorstellungen. Elektrische Klingeln und eine Sprechanlage stellten die Verbindung zu den Räumen im Hochparterre und im ersten Stock her. Auf dem Kaminsims stand eine elektrische Uhr, genau die gleiche stand in Phileas Foggs Schlafzimmer, und beide Apparate zeigten auf die Sekunde genau dieselbe Zeit an.
»Das gefällt mir! Das paßt!« sagte sich Passepartout.
Über der Uhr in seinem Zimmer entdeckte er einen Zettel an der Wand. Darauf stand das tägliche Dienstprogramm. Er stellte fest, daß alles haargenau festgelegt war. Von acht Uhr morgens, wenn Phileas Fogg üblicherweise aufstand, bis halb zwölf, wenn er zum Mittagessen in den Reform-Club ging, waren alle Einzelheiten des Dienstes aufgelistet: Tee und Toast um acht Uhr dreiundzwanzig, Rasierwasser um neun Uhr siebenunddreißig, Frisieren um zwanzig vor zehn und so weiter. Auch von halb zwölf Uhr vormittags bis Mitternacht, wenn der geregelte Tageslauf des Herrn Fogg mit dem Zubettgehen endete, war alles bis ins kleinste festgelegt und aufgeschrieben. Erfreut vertiefte sich Passepartout in das Programm und begann, sich die einzelnen Punkte einzuprägen.
Danach warf er einen Blick in den Kleiderschrank seines Herrn. Der war sehr gut bestückt, und alles war wunderbar geordnet. Alle Hosen, Jacketts und Westen trugen eine Nummer, die sich auf einem Eingangs- und Ausgangsverzeichnis wiederfand, wo das Datum vermerkt war, an dem diese Kleidungsstücke, der Jahreszeit entsprechend, der Reihe nach getragen werden sollten. Dieselbe Regelung gab es für die Schuhe.
Das Haus in der Savile Row – das wohl einmal ein Tempel des Chaos gewesen war, da Sheridan zwar für seine Reden, aber auch für seine Liederlichkeit berühmt gewesen war – machte insgesamt den Eindruck gepflegter Behaglichkeit, die auf einen angenehmen Wohlstand des Hausherrn schließen ließ. Allerdings gab es keine Bibliothek und auch sonst keine Bücher, da dem Hausherrn im Reform-Club zwei Bibliotheken zur Verfügung standen, eine für Belletristik und eine für Recht und Politik. Im Schlafzimmer stand ein mittelgroßer Safe, dessen stabile Bauart sowohl vor Diebstahl wie vor Feuer Schutz bot. Waffen gab es im ganzen Haus nicht, keine Jagdutensilien und kein Kriegsgerät. In diesem Haus herrschte ein friedliebender Geist.
Nachdem er sich alles genau angesehen hatte, rieb sich Passepartout freudig die Hände. Ein strahlendes Lächeln ging über sein breites Gesicht, und er wiederholte fröhlich: »Das gefällt mir! Hier bin ich richtig! Wir werden uns blendend verstehen, Mr.Fogg und ich. So ein häuslicher und ordentlicher Mensch! Verläßlich wie ein Uhrwerk! Ich habe gar nichts dagegen, einem solchen Uhrwerk zu dienen!«
Phileas Fogg hatte sein Haus in der Savile Row um halb zwölf verlassen, und nachdem er fünfhundertfünfundsiebzig Mal seinen rechten Fuß vor seinen linken und fünfhundertsechsundsiebzig Mal seinen linken Fuß vor seinen rechten gesetzt hatte, kam er am Reform-Club in der Pall Mall an, einem riesigen Gebäude, dessen Bau nicht weniger als drei Millionen gekostet hatte.
Phileas Fogg begab sich sofort in den Speisesaal, wo neun Fenster auf einen schönen Park hinausgingen, in dem die Bäume schon herbstlich goldgelb gefärbt standen. Dort nahm er an seinem Tisch Platz, der schon für ihn gedeckt war. Sein Mittagessen bestand aus einer Vorspeise, einem gekochten Fisch mit pikanter »Reading-Soße«, einem nur leicht angebratenen Roastbeef auf würzigen Pilzen, einem Kuchen mit Rhabarber- und Stachelbeerfüllung und einem Stück Chesterkäse. Dazu trank er einige Tassen des ausgezeichneten Tees, der exklusiv für die Küche des Clubs angeliefert wurde.
Siebenundvierzig Minuten nach zwölf erhob sich der Gentleman und ging in den großen Salon hinüber, dessen Wände von Gemälden in reich verzierten Rahmen geschmückt waren. Dort brachte ihm ein Clubdiener die Times. Phileas Fogg schnitt die Zeitung selbst auf. Wie geschickt er dabei vorging, verriet, daß diese schwierige Prozedur zu seiner täglichen Routine zählte. Mit der Leküre der Times war Phileas Fogg bis Viertel vor vier beschäftigt, anschließend las er, bis zum Abendessen, den Standard. Die Abendmahlzeit gestaltete sich wie das Mittagessen, nur gab es diesmal eine »Royal-British-Soße« zum Fisch.
Zwanzig vor sechs erschien der Herr wieder im großen Salon und vertiefte sich dort in den Morning Chronicle.
Eine halbe Stunde später versammelten sich verschiedene andere Clubmitglieder um den Kamin, in dem ein Kohlefeuer brannte. Das waren Mr.Foggs Mitspieler, die ebenso leidenschaftlich gern Whist spielten wie er. Dazu zählten der Ingenieur Andrew Stuart, die Bankiers John Sullivan und Samuel Fallentin, der Brauereibesitzer Thomas Flanagan und das Aufsichtsratsmitglied der Bank von England Gauthier Ralph. Das waren alles wohlhabende Persönlichkeiten, die selbst in diesem Club ein besonderes Ansehen genossen, der doch die Spitzen der Finanzwelt und der Industrie zu seinen Mitgliedern zählte.
»Nun, Ralph, wie stehen die Aktien bei eurer Diebstahlsgeschichte?« fragte Thomas Flanagan.
»Die haben ihr Geld gesehen«, warf Andrew Stuart ein.
»Im Gegenteil, hoffe ich«, erwiderte Gauthier Ralph. »Wir werden den Dieb wohl zu fassen bekommen. Man hat sehr fähige Leute von der Polizei auf den europäischen Kontinent und nach Amerika geschickt. Sie überwachen alle wichtigen Seehäfen, so daß es dieser Herr schwer haben wird, ihnen zu entkommen.«
»Weiß man denn, wer der Dieb ist?« erkundigte sich Andrew Stuart.
»Zuerst einmal: Es handelt sich nicht um einen Dieb«, erwiderte Gauthier Ralph.
»Kein Dieb? Ein Kerl, der sich mit fünfundfünfzigtausend Pfund Sterling in bar aus dem Staub gemacht hat?«
»Nein«, entgegnete Gauthier Ralph.
»Dann ist es wohl ein Industrieller«, bemerkte John Sullivan.
»Der Morning Chronicle versichert, daß es ein Gentleman war.« Dieser Einwurf kam von niemand anderem als von Phileas Fogg, dessen Kopf jetzt aus dem Papierwald auftauchte, in dem er steckte. Bei dieser Gelegenheit begrüßte Phileas Fogg seine Mitspieler, die seinen Gruß erwiderten.
Der Vorfall, der hier beredet und in den verschiedenen britischen Zeitungen heftig debattiert wurde, hatte sich drei Tage zuvor, am 29. September, ereignet. Ein Bündel Banknoten im Wert von fünfundfünfzigtausend Pfund war vom Schalter des Hauptkassierers in der Bank von England stibitzt worden.
Allen, die ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck brachten, daß sich ein solcher Diebstahl so einfach ereignen konnte, erwiderte Gauthier Ralph lediglich, daß der Kassierer zum Zeitpunkt des Diebstahls gerade die Einnahme von drei Shilling und sechs Pence ins Kassenbuch eingetragen habe und daß niemand seine Augen überall haben könne.
Zum besseren Verständnis dieses Vorfalls muß allerdings gesagt werden, daß die Bank von England, diese bewunderungswürdige Institution, größtes Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit ihrer Kundschaft setzte. Nirgends sah man Wachpersonal oder Armeeveteranen als Aufpasser oder vergitterte Schalter! Gold, Münzen und Banknoten lagen frei und sozusagen jedermanns Zugriff preisgegeben da. Nie wäre man auf die Idee gekommen, die Ehrbarkeit irgendeines Kunden in Zweifel zu ziehen. Ein intimer Kenner der englischen Verhältnisse berichtete sogar von folgender Begebenheit: Als er sich eines Tages in einer Halle der Bank aufhielt, bemerkte er verblüfft, daß vor seiner Nase ein sieben bis acht Pfund schwerer Goldbarren auf dem Kassenschalter lag. Er nahm ihn, wog ihn in der Hand und reichte ihn seinem Nachbarn, der ihn seinerseits weiterreichte, bis der Goldbarren, von Hand zu Hand wandernd, weit hinten in einem dunklen Gang verschwand. Eine halbe Stunde später lag er wieder an seinem Platz auf dem Schalter, ohne daß der Kassierer den Vorgang überhaupt bemerkt hätte.
Aber am 29. September hatten sich die Dinge ganz anders abgespielt. Die ungeheure Summe kam nicht zurück, und als die große Wanduhr über dem Kassenschalter fünf Uhr schlug und die Türen geschlossen wurden, mußte die Bank von England fünfundfünfzigtausend Pfund Sterling als Verlust verbuchen.
Als man sich den Diebstahl wohl oder übel eingestanden hatte, wurden die fähigsten Kriminalpolizisten ausgesucht und in die wichtigsten Hafenstädte der Welt geschickt Liverpool, Glasgow, Le Havre, Suez, Brindisi, New York und andere. Ihnen winkte eine Erfolgsprämie von zweitausend Pfund und dazu fünf Prozent der wiedergefundenen Geldsumme. Während sie auf die Ergebnisse der sofort eingeleiteten Untersuchung warteten, sollten die Beamten alle ankommenden und abreisenden Passagiere genau beobachten.
Allerdings sprach einiges dafür, wie der Morning Chronicle richtig festgestellt hatte, daß der Täter keiner der englischen Diebesbanden angehörte. Vielmehr war am 29. September in der Schalterhalle ein gutangezogener Gentleman mit einwandfreien Manieren und sicherem Auftreten bemerkt worden, der am Tatort auf und ab gegangen war. Die Untersuchung hatte eine ziemlich genaue Personenbeschreibung dieses Herrn erbracht, und diese Beschreibung wurde sofort an alle Dienststellen der Kriminalpolizei in Großbritannien und auf dem europäischen Festland gesandt. Einige Optimisten, zu denen auch Gauthier Ralph zählte, glaubten sich dadurch zu der Hoffnung berechtigt, daß der Dieb nicht entkommen konnte.
Wie man sich denken kann, war diese Geschichte in England in aller Munde. Man diskutierte und ereiferte sich darüber, ob die Polizei Aussichten hatte, den Mann zu fassen. Daher wird es niemand wundern, daß sich mit dieser Frage auch die Mitglieder des Reform-Clubs beschäftigten, unter denen sich sogar ein Aufsichtsratsmitglied der Bank von England befand.
Der ehrenwerte Gauthier Ralph zweifelte nicht am Erfolg der Nachforschungen und glaubte, daß die ausgesetzte Belohnung den Eifer und den Spürsinn der Beamten in besonderem Maße anstacheln würde. Andrew Stuart dagegen teilte diese Zuversicht in keiner Weise. Die Diskussion ging weiter, als die Herren bereits am Whisttisch Platz genommen hatten, Stuart gegenüber von Flanagan, Fallentin gegenüber von Phileas Fogg. Das Spiel verlief wie immer unter Schweigen, aber in den Spielpausen entbrannte die Diskussion immer aufs neue.
»Ich bin der Ansicht«, verkündete Andrew Stuart, »daß das Glück auf seiten des Diebes steht, dem es an Geschick nicht zu mangeln scheint!«
»Na, na!« entgegnete Ralph. »Es gibt kein einziges Land mehr, in das er entkommen könnte.«
»Wer sagt das?«
»Wohin soll er denn?«
»Was weiß ich?« erwiderte Andrew Stuart. »Aber schließlich ist die Erde ziemlich groß.«
»Das war sie einmal. Früher … « sagte Phileas Fogg halblaut. »Heben Sie bitte ab, Sir«, fügte er dann hinzu und legte den Kartenstoß vor Thomas Flanagan auf den Tisch.
Wieder verstummte die Diskussion während des nächsten Spiels. Aber gleich nach der zweiten Gewinnpartie setzte Andrew Stuart sie fort: »Was heißt früher? Ist die Erde zufällig geschrumpft?«
»Zweifellos«, antwortete Gauthier Ralph. »Ich bin, wie Mr.Fogg, der Meinung, daß die Erde kleiner geworden ist. Weil wir sie heute sechs Mal schneller bereisen können als vor hundert Jahren. Und in unserem Fall bedeutet das, daß die Nachforschungen beschleunigt werden.«
»Und die Flucht des Diebes wird erleichert!«
»Sie spielen aus, Mr.Stuart!« bemerkte Phileas Fogg.
Aber Stuart war ein hartnäckiger Zweifler. Und sobald die Partie beendet war, fuhr er fort: »Ich muß zugeben, daß das eine amüsante These ist, Mr.Ralph, nämlich daß unser Planet kleiner geworden sei, weil man heutzutage in drei Monaten um die Erde reisen kann …«
»In achtzig Tagen«, verbesserte ihn Phileas Fogg.
»Ja, meine Herren, es geht tatsächlich in achtzig Tagen«, mischte sich John Sullivan in die Unterhaltung ein, »seit die Verbindungsstrecke der Großindischen Subkontinentalbahn zwischen Rothal und Allahabad eröffnet wurde. Hier ist die Rechnung, die der Morning Chronicle aufgestellt hat:
Von London nach Suez über den Mont Cenis und Brindisi, per Bahn und Schiff
7
Tage
Von Suez nach Bombay, per Schiff
13
Tage
Von Bombay nach Kalkutta, per Bahn
3
Tage
Von Kalkutta nach Hongkong, per Schiff
13
Tage
Von Hongkong nach Yokohama, per Schiff
6
Tage
Von Yokohama nach San Francisco, per Schiff
22
Tage
Von San Francisco nach New York, per Bahn
7
Tage
Von New York nach London, per Schiff und Bahn
9
Tage
Insgesamt
80
Tage.«
»Ja, ja, achtzig Tage!« rief Andrew Stuart aus und machte seinen Stich unnötigerweise mit einer wertvollen Trumpfkarte. »Aber dabei sind Unwetter, ungünstige Winde, Schiffbruch und entgleisende Züge nicht berücksichtigt.«
»Alles in allem achtzig Tage«, gab Phileas Fogg zurück und spielte weiter. Jetzt hatte das Diskussionsfieber die Oberhand über das Spiel gewonnen.
»Selbst wenn die Inder oder die Indianer die Eisenbahnschienen abbauen!?« schrie Andrew Stuart. »Wenn sie die Züge aufhalten und die Gepäckwagen plündern und die Reisenden skalpieren!?«
»Alles in allem«, wiederholte Phileas Fogg und legte seine beiden letzten Karten auf den Tisch. »Die beiden höchsten Trümpfe.«
Andrew Stuart, der geben mußte, schob die Karten zusammen und sagte: »Theoretisch mögen Sie recht haben, Mr.Fogg, aber in der Praxis …«
»In der Praxis auch, Mr.Stuart.«
»Das möchte ich gerne sehen.«
»Das liegt ganz bei Ihnen. Machen wir die Reise gemeinsam.«
»Der Himmel bewahre mich!« rief Stuart. »Aber ich möchte viertausend Pfund Sterling wetten, daß eine derartige Reise unmöglich ist.«
»Ganz im Gegenteil, sie ist sehr wohl möglich«, erwiderte Fogg.
»Na, dann machen Sie sie doch!«
»Eine Reise um die Erde in achtzig Tagen?«
»Ja.«
»Einverstanden.«
»Und wann geht’s los?«
»Sofort.«
»Das ist doch verrückt!« rief Andrew Stuart aus, der sich über die unerschütterliche Ruhe seines Mitspielers zu ärgern begann. »Kommen Sie, spielen wir lieber weiter.«
»Dann müssen Sie die Karten neu geben. Sie haben sich soeben verzählt.«
Stuarts Hände zitterten, als er die Karten mischte. Dann warf er sie plötzlich auf den Tisch. »Also gut, Mr.Fogg«, sagte er, »ich wette viertausend Pfund!«
»Mein lieber Stuart«, mischte sich Fallentin ein, »beruhigen Sie sich doch. Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Wenn ich sage, ich wette, meine ich es immer ernst«, antwortete Stuart.
»Abgemacht«, sagte Fogg. Dann wandte er sich an die anderen. »Ich habe zwanzigtausend Pfund auf der Bank der Gebrüder Baring. Die setzte ich gern dagegen …«
»Zwanzigtausend Pfund!« rief John Sullivan. »Wenn Sie durch unvorhergesehene Ereignisse aufgehalten werden, können Sie das alles verlieren!«
»Es gibt keine unvorhergesehenen Ereignisse«, erwiderte Phileas Fogg ruhig.
»Aber, Mr.Fogg, die Zeitspanne von achtzig Tagen ist als äußerstes Minimum gerechnet!«
»Wenn man mit einem Minimum gut haushaltet, reicht es allemal.«
»Aber damit Sie das Minimum nicht überschreiten, müssen Sie mit mathematischer Genauigkeit von den Zügen in die Schiffe und von den Schiffen in die Züge springen!«
»Dann werde ich eben mathematisch genau springen.«
»Sie scherzen!«
»Ein echter Engländer scherzt nie, wenn es um so etwas Ernstes wie eine Wette geht«, entgegnete Phileas Fogg. »Ich wette zwanzigtausend Pfund Sterling gegen jeden, der will, daß ich in achtzig oder weniger Tagen um die Erde reisen werde, also in eintausendneunhundertzwanzig Stunden oder einhundertfünfzehntausendzweihundert Minuten. Nehmen Sie die Wette an?«
Nachdem sie sich beredet hatten, sagten die Herren Stuart, Fallentin, Sullivan, Flanagan und Ralph: »Wir nehmen sie an.«
»Gut«, sagte Fogg. »Der nächste Zug nach Dover geht um acht Uhr fünfundvierzig. Den nehme ich.«
»Heute abend noch?« fragte Sullivan.
»Noch heute abend«, antwortete Fogg. »Halten wir fest«, fuhr er fort, während er in seinem Taschenkalender blätterte, »heute ist Mittwoch, der 2. Oktober. Das bedeutet, daß ich bis zum 21. Dezember, acht Uhr fünfundvierzig abends, in London, und zwar hier in diesem Salon des Reform-Clubs, zurück sein muß. Sonst gehören die zwanzigtausend Pfund Sterling auf meinem Konto bei der Baring Bank Ihnen, meine Herren. Hier ist ein Scheck über die genannte Summe.«
Man fertigte ein Protokoll der Wettvereinbarung an, und alle sechs Beteiligten unterschrieben es an Ort und Stelle. Phileas Fogg behielt seine Ruhe bei. Er hatte bestimmt nicht gewettet, um zu gewinnen. Er hatte nur zwanzigtausend Pfund – die Hälfte seines Vermögens – gewettet, weil er damit rechnete, daß er die andere Hälfte benötigte, um dieses schwierige, um nicht zu sagen unmögliche Vorhaben erfolgreich zu bewältigen. Seinen Wettgegnern allerdings schien die Sache nahezugehen. Nicht wegen der Höhe der Wettsumme, sondern weil sie ein schlechtes Gewissen wegen des aussichtslosen Einsatzes ihres Kontrahenten hatten.
Es schlug sieben. Man bot Phileas Fogg an, das Whistspiel abzubrechen, damit er seine Reisevorbereitungen treffen könne.
»Ich bin immer bereit!« erwiderte dieser ungerührt und teilte die Karten aus. »Karo ist Trumpf«, fuhr er fort. »Sie spielen aus, Mr.Stuart.«
Um sieben Uhr fünfundzwanzig hatte Phileas Fogg fast zwanzig Guineen beim Whist gewonnen, als er sich von seinen ehrenwerten Mitspielern verabschiedete und den Reform-Club verließ. Um sieben Uhr fünfzig schloß er seine Haustür auf und trat ein.
Passepartout, der sein Dienstprogramm schon auswendig kannte, war ziemlich erstaunt, als er Mr.Fogg bei der Unpünktlichkeit ertappte, zu so ungewöhnlicher Stunde zu erscheinen. Nach dem von ihm selbst aufgestellten Dienstplan durfte der Hausherr erst Punkt Mitternacht nach Hause kommen.
Fogg stieg gleich in sein Zimmer hinauf, dann rief er: »Passepartout!«
Der antwortete nicht. Dieser Ruf konnte nicht ihm gelten. Er kam zur Unzeit.
»Passepartout!« rief Fogg noch einmal, aber nicht lauter als zuvor.
Passepartout erschien.
»Ich habe Sie zweimal rufen müssen«, bemerkte Fogg.
»Aber es ist doch nicht Mitternacht«, erwiderte Passepartout und hielt seine Uhr in der Hand.
»Ich weiß«, sagte Fogg, »und ich mache Ihnen auch keinen Vorwurf. Wir reisen in zehn Minuten nach Dover und Calais ab.«
Der Franzose verzog sein Gesicht. Es war ihm anzusehen, daß er glaubte, nicht recht gehört zu haben.
»Der gnädige Herr verreist?« fragte er.
»Ja«, antwortete Fogg, »wir gehen auf eine Reise um die Erde.«
Passepartout stand mit weit aufgerissenen Augen, hochgezogenen Brauen, hängenden Armen und weichen Knien da und wirkte völlig verblüfft, als ob er gleich einen Kollaps erleiden würde.
»Eine Reise um die Erde!« murmelte er.
»Eine Reise um die Erde in achtzig Tagen«, sagte Fogg. »Wir haben also keinen Augenblick zu verlieren.«
»Und das Reisegepäck?« fragte Passepartout, der, ohne es zu merken, den Kopf nach links und rechts pendeln ließ.
»Kein Gepäck. Nur eine Reisetasche. Für mich packen Sie zwei Nachthemden und drei Paar Strümpfe ein. Für Sie selbst das gleiche. Den Rest kaufen wir unterwegs. Bringen Sie meinen Regenmantel und die Reisedecke. Und ziehen Sie gute Schuhe an, obwohl wir nur wenig oder gar nicht zu Fuß gehen werden. Beeilen Sie sich.«
Passepartout hätte gern noch etwas gesagt. Aber er konnte nicht. Er verließ Mr.Foggs Zimmer, stieg zu seinem hinauf und ließ sich dort auf einen Stuhl sinken. Dann stieß er ein ziemlich vulgäres Wort in seiner Muttersprache aus und murmelte vor sich hin: »Das ist aber ein starkes Stück! Und ich dachte, ich hätte endlich ein ruhiges Plätzchen gefunden!«
Mit mechanischen Bewegungen erledigte er seine Reisevorbereitungen. Eine Reise um die Erde in achtzig Tagen! War er an einen Verrückten geraten? Wohl nicht … War dann das Ganze ein Scherz? Sie fuhren nach Dover, hm. Und nach Calais, na gut. Das ging dem guten Passepartout nicht gerade gegen den Strich, da der jungen Mann seit fünf Jahren keinen Fuß mehr auf den heimatlichen Boden gesetzt hatte. Vielleicht fuhren sie sogar nach Paris, und seine Heimatstadt würde er doch zu gern wiedersehen. Aber als Gentleman, der jeden seiner Schritte abmaß, würde der Herr dort sicher haltmachen … Ganz bestimmt sogar. Allerdings ließ sich die Tatsache nicht übersehen, daß dieser Gentleman – bisher ein Inbegriff der Häuslichkeit – wirklich verreiste!
Um acht Uhr hatte Passepartout die Reisetasche nach den Anweisungen seines Herrn gepackt. Er schloß bedächtig die Tür seines Zimmers und begab sich zu Mr.Fogg.
Fogg war bereit. Er trug Bradshaw’s Continental Railway Steam Transit and General Guide unter dem Arm. Diesem internationalen Schiffs- und Bahnkursbuch würde er alle nötigen Informationen für die Reise entnehmen. Fogg nahm seinem Diener die Tasche ab, öffnete sie und ließ ein dickes Bündel der schönen Banknoten hineingleiten, die in jedem Land der Erde gern in Zahlung genommen wurden.
»Haben Sie nichts vergessen?« fragte er.
»Nein, gnädiger Herr.«
»Und mein Regenmantel und die Reisedecke?«
»Die sind hier.«
»Gut. Nehmen Sie die Tasche wieder.« Er reichte sie Passepartout und fuhr fort: »Passen Sie gut auf die Tasche auf. Da sind jetzt zwanzigtausend Pfund Sterling drin. In der Währung Ihres Landes wäre das eine halbe Million Francs.«
Um ein Haar wäre die Tasche Passepartouts Händen entglitten, als ob sie durch die Nennung dieser Summe das Gewicht kiloschwerer Goldbarren bekommen hätte.
Herr und Diener stiegen die Treppe hinunter, und die Haustür wurde zweimal abgeschlossen.
Am Ende der Savile Row befand sich ein Droschkenplatz. Phileas Fogg und sein Diener bestiegen eine Kutsche, die in schnellem Tempo Richtung Bahnhof Charing Cross losfuhr, wo man in die Züge der South Eastern Railway einsteigen konnte.
Zwanzig nach acht hielt die Droschke vor dem Eisentor des Bahnhofs. Passepartout sprang heraus. Sein Herr folgte und bezahlte den Kutscher.
In diesem Augenblick näherte sich eine Bettlerin mit einem Kind an der Hand, das barfuß im Matsch der Straße ging. Die Frau trug einen zerfransten Hut mit einer armseligen Feder und einen zerlöcherten Umhang über ihren Lumpen. Sie bat Mr.Fogg um ein Almosen.
Fogg zog die zwanzig Guineen, die er beim Whist gewonnen hatte, aus der Tasche und drückte sie der Bettlerin in die Hand. »Hier, gute Frau«, sagte er, »es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.« Dann ging er weiter.
Passepartout fühlte, wie seine Augen feucht wurden. Sein Herr hatte sich soeben seine Zuneigung erworben.
Gleich darauf betrat er hinter Mr.Fogg die große Bahnhofshalle. Dort gab ihm sein Herr den Auftrag, zwei Fahrkarten erster Klasse nach Paris zu kaufen.
Als Fogg sich umwandte, bemerkte er seine fünf Whistpartner aus dem Reform-Club. »Meine Herren«, sagte er, »ich reise ab. Die verschiedenen Visastempel in meinem Reisepaß, den ich zu diesem Zweck bei mir trage, werden es Ihnen bei meiner Rückkehr erleichtern, meine Reiseroute nachzuprüfen.«
»Aber, Mr.Fogg«, entgegnete Gauthier Ralph höflich, »das ist wirklich nicht nötig. Wir vertrauen Ihnen als Ehrenmann!«
»Es ist aber besser so«, fügte Fogg hinzu.
»Sie vergessen doch nicht, daß wir Ihre Rückkehr …?« begann Andrew Stuart.
»In achtzig Tagen erwarten«, beendete Fogg seinen Satz. »Am Samstag, den 21. Dezember 1872, um acht Uhr fünfundvierzig abends. Auf Wiedersehen, meine Herren.«
Um acht Uhr vierzig nahmen Phileas Fogg und sein Diener ihre Plätze im selben Abteil ein. Um acht Uhr fünfundvierzig ertönte ein Pfiff, und der Zug fuhr an.
Es war Neumond, und die Nacht war rabenschwarz. Es nieselte. Fogg saß auf seinem Eckplatz und schwieg. Passepartout war immer noch wie betäubt von den Ereignissen. Unbewußt hielt er die Tasche mit den Banknoten an die Brust gepreßt. Sie waren kaum eine Viertelstunde unterwegs, als er plötzlich verzweifelt aufschrie.
»Was haben Sie denn?« erkundigte sich Mr.Fogg.
»Es ist … in meiner Aufregung … in dem Durcheinander habe ich … ich habe vergessen …«
»Was denn?«
»Die Gasheizung in meinem Zimmer abzustellen!«
»Nun, junger Mann«, erwiderte Fogg kühl, »dann heizt sie eben weiter. Auf Ihre Kosten!«
Als Phileas Fogg London verließ, ahnte er kaum etwas von dem Aufsehen, das seine Abreise verursachte. Die Wette wurde zuerst im Reform-Club bekannt und versetzte die ehrenwerten Clubmitglieder richtig in Aufregung. Reporter verbreiteten diese Aufregung in ihren Zeitungen, sie ergriff die Menschen in London und schließlich in ganz Großbritannien.
Foggs Reise um die Erde wurde kommentiert, diskutiert und analysiert, als handelte es sich um eine Neuauflage des Streites zwischen den amerikanischen Nordstaaten und Großbritannien während des amerikanischen Bürgerkrieges um die Alabama, ein in England ausgerüstetes Schiff der Südstaaten. Die einen ergriffen Partei für Phileas Fogg, die anderen – und sie waren schon bald deutlich in der Mehrheit – glaubten nicht an seinen Erfolg. Ihrer Meinung nach war es nicht nur unmöglich, sondern einfach verrückt, daß einer diese Reise um den Erdball nicht nur theoretisch auf dem Papier, sondern tatsächlich in der begrenzten Zeit und mit den augenblicklich zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln durchführen wollte.
Die Times, der Standard, der Evening Star, der Morning Chronicle und zwanzig andere bedeutende Zeitungen des Landes stellten sich gegen Fogg. Nur der Daily Telegraph sprach sich bis zu einem gewissen Grad für ihn aus. Ganz allgemein wurde Phileas Fogg als ein Besessener und Verrückter hingestellt, und seinen Wettgegnern aus dem Reform-Club warf man vor, daß sie eine solche Wette eingegangen waren, die doch deutlich zeige, daß ihr Urheber unzurechnungsfähig sei.
Die Diskussion in den Zeitungen wurde leidenschaftlich, aber nicht ohne Logik geführt. Man weiß ja, daß die Engländer sich für alles interessieren, was mit Geographie zu tun hat. Daher stürzten sich die Zeitungsleser, welcher Gesellschaftsschicht sie auch angehören mochten, auf jeden Artikel, in dem von Phileas Fogg die Rede war.
Anfänglich waren einige unabhängige Geister – unter ihnen viele Frauen – auf seiner Seite. Vor allem, nachdem die London Illustrated News sein Porträt veröffentlicht hatte, das nach einem Foto aus dem Archiv des Reform-Clubs angefertigt worden war. Es gab sogar Gentlemen, die zu sagen wagten: »Na! Warum sollte es eigentlich nicht gelingen? Man hat doch schon ganz andere Dinge erlebt!« Das waren meistens Leser des Daily Telegraph. Aber bald war zu merken, daß auch diese Zeitung langsam ins Lager der Kritiker überwechselte.
Am 7. Oktober erschien sogar ein langer Artikel im Bulletin der Königlichen Geographischen Gesellschaft, der Foggs Weltreise von allen Blickwinkeln aus beleuchtete und ganz klar den Irrsinn des Unternehmens aufzeigte. Diesem Artikel zufolge waren die Hindernisse unüberwindlich, die Menschen und Naturgewalten dem Reisenden in den Weg stellen würden. Die auf die Minute genau festgelegte Rückkehr war die Voraussetzung für das Gelingen. Aber das würde einem Wunder gleichkommen, das es nicht gab, nicht geben konnte. Allenfalls konnte man in Europa, wo die Entfernungen relativ gering waren, damit rechnen, daß die Züge pünktlich ankamen. Aber konnte man noch auf ihre Pünktlichkeit setzen, wenn Züge drei Tage quer durch Indien oder sieben Tage auf dem nordamerikanischen Kontinent unterwegs waren? Dann kamen Maschinenschäden, Zugentgleisungen, Zusammenstöße, undurchdringliche Schneemassen hinzu. Sprach das alles nicht gegen Phileas Fogg? Würde er auf den Dampfschiffen im Winter nicht Stürmen und Nebel ausgeliefert sein? Kam es denn nicht oft vor, daß die zuverlässigsten Überseeschiffe zwei bis drei Tage Verspätung hatten? Und eine einzige Verspätung genügte ja schon, um die übrige Kette der Verkehrsverbindungen mit all ihren Anschlüssen endgültig abreißen zu lassen. Wenn Phileas Fogg die Abfahrt eines Schiffes auch nur um ein paar Stunden verpaßte, wäre er gezwungen, auf das nächste zu warten. Und dadurch wäre sein Reiseprojekt unwiderruflich gescheitert.
Der Artikel erregte großes Aufsehen. Fast alle Zeitungen druckten ihn ab. Und Foggs Aktien sanken beträchtlich.