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In Jules Vernes Roman 'Reisestipendien' begleiten die Leser den jungen Forscher Pierre Aronnax auf eine aufregende Reise in die Tiefen des Ozeans. Mit seinem detailreichen Schreibstil und faszinierenden wissenschaftlichen Abhandlungen schafft Verne eine fesselnde Erzählung, die sowohl Abenteuer als auch Wissensvermittlung vereint. Der Roman, der im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde, gilt als Meisterwerk der Science-Fiction-Literatur und ist ein einflussreiches Werk in der Geschichte des Abenteuerromans. Verne gelingt es, die fantastische Welt unter Wasser mit realistischen Details zum Leben zu erwecken und den Lesern eine neue Perspektive auf die Ozeane zu geben. Als einer der bedeutendsten Autoren seiner Zeit hat Jules Verne durch seine vielfältigen Interessen und sein umfassendes Wissen über Naturwissenschaften und Technik die Grundlage für seinen innovativen Schreibstil gelegt. Seine Leidenschaft für Entdeckungen und Abenteuer spiegelt sich in 'Reisestipendien' wider, das sowohl unterhaltsam als auch lehrreich ist. Mit einer Mischung aus Spannung, Humor und wissenschaftlicher Genauigkeit begeistert Verne Leser jeden Alters und lädt sie ein, die faszinierende Welt der Ozeane zu erkunden. 'Reisestipendien' ist ein zeitloses Werk, das die Neugier der Leser weckt und sie dazu inspiriert, die unendlichen Möglichkeiten der Natur zu erforschen und zu schätzen.
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»Erste Preisträger mit gleicher Punktzahl: Louis Clodion und Roger Hinsdale«, verkündete der Direktor Julian Ardagh mit lauter Stimme.
Schallende Hochrufe und kräftiges Händeklatschen begrüßte die zwei ersten Sieger im Wettbewerbe. Dann nannte der Direktor, der auf einem erhöhten Platze in der Mitte des großen Hofes der Antilian School saß, von einer vor ihm liegenden Liste ablesend, noch folgende Namen:
»Zweiter Preisträger: Axel Wickborn.«
»Dritter: Albertus Leuwen.«
Eine neue Beifallskundgebung, nicht so stürmisch wie die erste, doch gleichfalls der Beweis warmer Anerkennung der Zuhörer.
Ardagh fuhr weiter fort:
»Vierter Preisträger: John Howard.«
»Fünfter: Magnus Anders.«
»Sechster: Niels Harboe.«
»Siebenter Preisträger: Hubert Perkins.«
Wiederum ertönte ein lautes Bravo und setzte sich mit zunehmender Macht in den Reihen der Anwesenden fort.
Jetzt war nur noch ein letzter Name bekannt zu geben, da bei dem vorliegenden Wettbewerb neun Sieger in Aussicht genommen waren.
Der Direktor nannte nach wieder eingetretener Ruhe auch diesen:
»Tony Renault.«
Obwohl dieser Tony Renault der letzte Preisempfänger war, geizte man ihm gegenüber doch nicht mit herzlichen Bravos und schmetternden Hips. Ein guter, munterer und gefälliger Kamerad und klarer Kopf, hatte er in der Antilian School alle Zöglinge zu Freunden.
Nach Nennung seines Namens war jeder Preisträger auf das Podium gestiegen, um von Herrn Ardagh noch einen Händedruck zu empfangen, dann hatte er seinen Platz wieder unter den minder erfolgreichen Schulgenossen einzunehmen, die ihn aus vollem Herzen begrüßten.
Dem Leser wird die Verschiedenheit der Namen der neun Preisträger aufgefallen sein, denn schon diese wies offenbar auf die verschiedene Nationalität der betreffenden Schulbesucher hin. Sie erklärt sich aber wohl schon allein durch den Umstand, daß die von Julian Ardagh in London, Oxfordstreet 314, geleitete Anstalt unter dem merkwürdigen Namen »Antilian School« bekannt, übrigens sehr rühmlich bekannt war.
Etwa vor fünfzehn Jahren war diese Unterrichtsanstalt für die Söhne auf den Großen und Kleinen Antillen ansässiger Kolonisten gegründet worden, fürbewerb nicht hatten teilnehmen können, da dieser nur für mindestens siebzehnjährige junge Leute offen stand.
Der Wettbewerb bezog sich nämlich nicht allein auf wissenschaftliche und literarische Fächer, sondern auch – das kann hier ja nicht auffallen – auf ethnologische, geographische und kommerzielle Fragen bezüglich des Archipels der Antillen, seiner Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie seines Verhältnisses zu verschiedenen europäischen Staaten, die sich auf Grund der ersten Entdeckung dieser Inselwelt Teile davon als Kolonien angegliedert hatten.
Der Zweck des in Frage stehenden Wettbewerbs und die Vorteile, die daraus den Preisträgern zufielen, waren folgende: Die Sieger sollten ein Reisestipendium erhalten, das es ihnen ermöglichte, einmal einige Monate richtige »Forscher« zu spielen und sie in die weite Welt zu führen... eine Aussicht, die gewiß dem Herzenswunsche junger, noch nicht einundzwanzigjähriger Leute entsprach.
Neun von ihnen gestattete also der errungene Preis – zwar nicht die ganze Erde zu bereisen, wie die meisten davon gewünscht hätten, doch – irgend eine interessante Gegend der Alten und sogar vielleicht der Neuen Welt zu besuchen.
Der Gedanke, diese Reisestipendien zu begründen, war von einer reichen Antillanerin englischer Abkunft, einer Mrs. Kathlen Seymour, ausgegangen, die auf Barbados, einer der britischen Kolonien des Archipels, wohnte und deren Name vom Direktor Ardagh jetzt zum erstenmal genannt wurde.
Natürlich wurde dieser Name von allen Anwesenden mit heller Begeisterung begrüßt und das »Hip... hip... hip für Mistreß Seymour!« wollte gar kein Ende nehmen.
Hatte aber der Direktor der Antilian School den Namen der Wohltäterin bekannt gegeben, so äußerte er sich doch nicht über das Ziel der Reise, das überhaupt weder er, noch hier ein anderer kannte. Vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden hoffte man jedoch darüber klar zu sein. Der Direktor wollte das Ergebnis des Wettbewerbs telegraphisch nach Barbados mitteilen, und wahrscheinlich antwortete ihm Mrs. Kathlen Seymour durch ein Telegramm, das wenigstens angab, wohin sich die Reise der jungen Stipendiaten richten solle.
Man wird sich leicht den lebhaften Gedankenaustausch unter den Pensionären vorstellen können, die als Ziel schon die merkwürdigsten, entlegensten und unbekanntesten Gebiete der Erdkugel ins Auge faßten. Je nach Temperament und Charakter ließen sie in Bezug hierauf ihrer Phantasie die Zügel schießen oder zogen diese straffer an... jedenfalls herrschte unter den Zöglingen aber ein tolles Durcheinander.
»Ich glaube immer, sagte Roger Hinsdale, ein Engländer vom Kopf bis zu den Zehen, wir werden einen Teil des britischen Kolonialreichs besuchen, das ja groß genug ist, darin wählen zu können.
– Zentralafrika wird es sein, meinte Louis Clodion, oder die berühmte Africa portentosa, wie unser würdiger Hausvater sagen würde, dort könnten wir den Fährten der großen Entdecker nachgehen.
– Nein... eine Fahrt ins Polargebiet, rief Magnus Anders, der gern den Fußspuren seines berühmten Landsmannes Nansen gefolgt wäre.
– Ich wünsche, daß Australien gewählt werde, ließ sich John Howard vernehmen. Auch nach Tasman, Dampier, Burs, Vancouver, Baudin, Dumont d'Urvil le und andern sind dort noch genug Entdeckungen zu machen, vielleicht gar neue Goldlager auszubeuten...
– O, lieber eine schöne Gegend Europas, warf dagegen Albertus Leuwen ein, dessen echter Holländercharakter keine Übertreibungen zuließ. Wer weiß, vielleicht kommt's auf einen einfachen Ausflug nach Schottland oder Irland hinaus.
– Das wäre mir! unterbrach ihn der leicht übersprudelnde Tony Renault. Ich wette, daß wir mindestens eine Fahrt um die Erde machen werden.
– Nur nicht zu hoch hinaus! äußerte der verständige Axel Wickborn. Bedenkt immer, daß uns nur sieben bis acht Wochen zu Gebote stehen, und da muß sich die Reise wohl auf benachbarte Länder beschränken.«
Er hatte recht, der junge Däne. Übrigens hätten die Familien der Schüler sich einer mehrmonatigen Reise widersetzt, die ihre Kinder immerhin gewissen Gefahren auszusetzen drohte, und auch Ardagh hätte eine so große Verantwortlichkeit schwerlich auf sich genommen.
Nachdem dann die noch unbekannten Absichten der Mrs. Kathlen Seymour lang und breit besprochen waren, erörterten die jungen Leute die Frage, in welcher Weise die Ferienreise vor sich gehen werde.
»Etwa zu Fuß, als Touristen, den Rucksack auf dem Rücken und den Stock in der Hand? fragte Hubert Perkins.
– Nein... im Wagen... in der Postkutsche! meinte Niels Harboe.
– Auf der Eisenbahn, rief Albertus Leuwen, mit Rundreisebilletts unter Leitung der Agentur Cook...
– Ich glaube eher, sie wird an Bord eines Schiffes, vielleicht eines transatlantischen Dampfers ausgeführt werden, erklärte Magnus Anders, der sich schon auf dem weiten Ozeane schaukeln sah.
– Nein... im Ballon, rief Tony Renault, und geraden Wegs nach dem Nordpole!«
In dieser Weise ging das Gespräch weiter... im Grunde unnütz, doch mit dem bei jungen Leuten ja so natürlichen Eifer, und obgleich Roger Hinsdale und Louis Clodion diesem einen Dämpfer aufzusetzen suchten, wollte doch keiner der anderen seine einmal gefaßte Ansicht aufgeben.
Der Direktor mußte hier also eingreifen, nicht um die Brauseköpfe unter einen Hut zu bringen, doch um darauf hinzuweisen, daß die Zöglinge nur erst die Antwort auf sein Telegramm nach Barbados abwarten sollten.
»Nur Geduld! sagte er. Ich habe der Mistreß Kathlen Seymour die Namen der Preisträger und deren Reihenfolge mitgeteilt, sowie ihr deren Nationalität bekannt gegeben; die freigebige Dame wird uns nun schon über ihre Meinung bezüglich der Verwendung der Reisestipendien aufklären. Antwortet sie durch Kabeltelegramm, so können wir noch heute, schon nach wenigen Stunden wissen, woran wir sind. Antwortet sie brieflich, so werden wir darauf sechs bis sieben Tage zu warten haben. Und nun genug. Gehe jeder an seine Arbeit und tue er, was ihm obliegt!
– Fünf bis sechs Tage! murmelte das Satansbürschchen Tony Renault, das halte ich auf keinen Fall aus!«
Vielleicht kennzeichnete er hiermit auch ganz treffend den Gemütszustand mehrerer seiner Kameraden, wie Hubert Perkins, Niels Harboes und Axel Wickborns, die ihm an Lebhaftigkeit kaum nachgaben. Louis Clodion und Roger Hinsdale, die beiden ersten Preisträger, verhielten sich etwas ruhiger, die Schweden, Dänen und Holländer konnten sich ihres angebornen Phlegmas nicht entäußern. Hätte die Antilian School aber amerikanische Zöglinge gehabt, so wären diese es wohl kaum gewesen, die den Preis für geduldiges Abwarten davongetragen hätten.
Die Erregtheit der jungen Geister erschien ja recht erklärlich: nicht zu wissen, nach welchem Teile der Erde Mrs. Kathlen Seymour sie senden würde! Dazu kommt ferner, daß es jetzt erst Mitte Juni war, und wenn die der Reise gewidmete Zeit in die Sommerferien fallen sollte, so galt es wenigstens noch sechs Wochen zu warten.
Daß das anzunehmen war, darin stimmte der Direktor Ardagh mit den Lehrern der Schule überein. Die Abwesenheit der jungen Stipendiaten würde dann nicht über zwei Monate dauern. Sie wären im Oktober zum Eintritt in die Klassen wieder zur Stelle, gewiß ebenso zur Beruhigung ihrer Angehörigen, wie zur Befriedigung des Lehrpersonals der Anstalt.
Bei der einmal festgesetzten Dauer der Ferien konnte von einer Reise in sehr entfernte Gegenden kaum die Rede sein. Die Klügsten hüteten sich auch, schon in Gedanken durch die Steppen Sibiriens, die Wüsten Zentralasiens, durch die Urwälder Afrikas oder die Pampas Amerikas zu reisen. Ohne die Alte Welt und selbst Europa zu verlassen, gab es ja außerhalb des Vereinigten Königreichs genug interessante Länder zu besuchen, wie Deutschland, Rußland, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Holland oder Griechenland; diese lieferten ja eine Menge wertvoller Erinnerungen für das Tagebuch eines Touristen und boten den jungen Antilianern, die meist noch als Kinder den Atlantischen Ozean gekreuzt hatten, um sich nach Europa zu begeben, eine reiche Fülle neuer Eindrücke. Selbst auf die Nachbarländer Englands beschränkt, mußte eine solche Reise ja die Ungeduld und Neugier der jungen Leute aufs höchste erregen.
Da das ersehnte Telegramm weder am ersten Tage noch an den folgenden eintraf, konnte der Direktor nur Antwort durch einen Brief erwarten, der von Barbados unter der Adresse: »Herrn Julian Ardagh, Antilian School, 314, Oxfordstreet, London, Vereinigtes Königreich Großbritannien« abgesendet sein mußte.
Hier noch eine Bemerkung zu dem Worte »Antilian«, das über dem Haupteingange der Anstalt prangte. Ohne Zweifel war es erst besonders gebildet worden. In dem Namensverzeichnis der britischen Geographie findet man die Antillen nur als »Caraïbische Inseln« angeführt. Auf den Karten des Vereinigten Königreichs wie auf denen Amerikas sind sie niemals anders bezeichnet. Caraïbische Inseln bedeutet aber doch »Inseln der Caraïben«, und das erinnert zu unangenehm an die wilden, rohen Eingeborenen der betreffenden Gruppe, an die Schlächtereien und die Menschenfresserei, die Westindien so stark entvölkerten. Sollte nun über den Prospekten der Anstalt der abstoßende Name: »Schule der Caraïben« stehen? Hätte das nicht den Gedanken erweckt, daß man hier lehrte, einander umzubringen, und dazu Vorschriften zur Zubereitung von Menschenfleisch lieferte? Nein, da erschien doch »Antilian School« passender für junge, von den Antillen stammende Leute, die ja nur eine gründliche europäische Ausbildung erhalten sollten.
An Stelle einer Depesche war also ein Brief zu erwarten, wenn dieser Wettbewerb um Reisestipendien nicht gar etwa auf einen albernen Scherz hinauskam. Doch nein... zwischen Mrs. Kathlen Seymour und dem Direktor Ardagh waren schon mehrfach Briefe gewechselt worden.
Die freigebige, edle Dame war kein Luftgebilde, sie wohnte auf Barbados, man kannte sie dort seit langer Zeit und sie galt für eine der reichsten Damen der Insel.
Jetzt hieß es also nur: sich die nötige Portion Geduld anzuschaffen, jeden Morgen und jeden Abend dem Postboten aufzulauern. Selbstverständlich waren es vorzüglich die neun Preisträger, die die nach der Oxfordstreet gelegenen Fenster belagerten, um den Briefträger ja sofort zu sehen. Wenn sich dann der rote Rock – bekanntlich ist die rote Farbe am weitesten hin erkennbar – auch erst in großer Entfernung zeigte, stürmten sie gleich zu Vieren die Treppe hinunter und in den Hof, drängten sich nach dem großen Tore, riefen den Briefträger an, betäubten ihn mit ihren Fragen und es fehlte nicht viel, so hätten sie ihm gleich seine Ledertasche entrissen.
Nein... kein Brief von den Antillen... kein einziger! Da erschien es doch fast geboten, ein zweites Telegramm an Mrs. Kathlen Seymour mit der Anfrage zu senden, ob das erste richtig an seine Adresse gekommen wäre, und daneben mit dem Ersuchen, auf telegraphischem Wege Anwort zu geben.
Inzwischen erging sich die ungeduldige Jugend in den abenteuerlichsten Mutmaßungen, die unerklärliche Verzögerung zu erklären. Hatte das Paketboot, das den Postdienst zwischen den Antillen und Großbritannien vermittelt, bei einem Sturm etwa einen Unfall erlitten? War es infolge eines Zusammenstoßes etwa gar zu Grunde gegangen? War es auf eine noch unbekannte Untiefe aufgelaufen? War vielleicht ganz Barbados bei einem der in Westindien so furchtbar auftretenden Erdbeben völlig vernichtet worden? Hatte die freigebige Dame bei einem dieser schrecklichen Naturereignisse den Tod gefunden? Sollten Frankreich, Holland, Dänemark, Schweden und die Vereinigten Königreiche die schönsten Perlen ihres Kolonialbesitzes in der Neuen Welt verloren haben?...
»Nein, nein, das nicht, versicherte Herr Ardagh, eine solche Katastrophe wäre schon bekannt geworden, die Zeitungen hätten darüber bereits unzählige Einzelheiten berichtet.
– Da sieht man's ja, rief Tony Renault. Nähmen die überseeischen Dampfer Brieftauben mit, so wüßte man stets, ob bei ihnen alles in Ordnung ist oder nicht!«
Sehr richtig! Jener Zeit gab es aber noch keine regelmäßige Taubenpost... zum großen Mißvergnügen der Pensionäre der Antilian School.
Dieser Zustand der Dinge konnte indes nicht lange währen. Den Lehrern gelang es nicht, die Erregung der jungen Hitzköpfe zu dämpfen. Keiner arbeitete mehr in den Klassen oder in den Studiensälen. Nicht allein die Sieger im Wettbewerbe, sondern auch deren Kameraden dachten an ganz andere Dinge als an ihre Pflichten.
Allgemein herrschte geradezu eine Überreizung, nur den Direktor brachte die Ungewißheit nicht aus seiner Ruhe. Es erschien ja ganz natürlich, daß Mrs. Kathlen Seymour nicht durch ein Telegramm geantwortet hatte, das doch kaum alles hätte sagen können. Nur ein Brief, ein ausführlicher Brief konnte die Anordnungen bekanntgeben, denen man nachzugehen hatte, konnte ankündigen, welches das Reiseziel sein sollte, unter welchen Verhältnissen die Fahrt vor sich gehen und zu welcher Zeit sie unternommen werden sollte, wie lange sie dauern werde, in welcher Weise die Kosten gedeckt werden sollten und wie hoch sich die Stipendien belaufen würden, die den neun Preisträgern zukommen sollten. Das alles erforderte wenigstens zwei bis drei Briefseiten und konnte nicht in der negrogrammatischen Sprache gesagt werden, die bei den Schwarzen der westindischen Kolonien noch im Gebrauch ist.
Alle diese völlig richtigen Bemerkungen blieben jedoch ohne Wirkung und die Unruhe in der Anstalt legte sich nicht. Die Pensionäre, die keinen Preis davongetragen hatten und auf den Erfolg ihrer Kamera den etwas neidisch waren, begannen schon diese zu hänseln, sie zu »uzen«... um hier ein Wort zu gebrauchen, das bald auch in die gute Schriftsprache übergehen dürfte. Die ganze Geschichte wäre die reine Komödie... an Reisestipendien würde kein Centime und kein Farthing herauskommen. Der Mäcen im Unterrocke, der sich Kathlen Seymour nannte, existierte überhaupt nicht. Der Wettbewerb sei nichts weiter gewesen als so ein Humbug, ein Import aus Amerika, wo dieser ja üppig ins Kraut schösse!
Der Direktor Ardagh machte sich endlich dahin schlüssig, die Ankunft des nächsten Postdampfers in Liverpool, der die Briefschaften von den Antillen bringen mußte, ruhig abzuwarten. Das Schiff war am 23. des laufenden Monats zu erwarten. Träfe auch dann kein Brief von Mrs. Kathlen Seymour an seine Adresse ein, so wollte er eine zweite Depesche absenden.
Das wurde jedoch nicht nötig. Am 23. kam mit der Nachmittagspost ein mit »Barbados« abgestempelter Brief an. Er war von Mrs. Kathlen Seymours eigener Hand. Er enthielt, wie man vorausgesehen hatte, die Bestimmungen der Dame, und zwar dahin gehend, daß die Stipendien zu einer Reise nach den Antillen verwendet werden sollten.
Eine Reise nach verschiedenen Inseln Westindiens hatte also die Freigebigkeit der Mrs. Kathlen Seymour den Preisträgern beschert, und diese konnten davon wohl vollkommen befriedigt sein.
Freilich hieß es nun verzichten auf weit ausgedehnte Fahrten, wie durch Afrika, Asien, Ozeanien, nach den wenig bekannten Teilen der Neuen Welt oder auf einen »Ausflug« nach dem Nord- oder Südpole.
Wenn das auch anfänglich eine leichte Enttäuschung hervorrief, wenn die jungen Leute jetzt fast noch schneller aus den Ländern ihrer Träume zurückkehren mußten, als sie sich dahin versetzt hatten, und es sich also nur um eine Fahrt nach den Antillen handelte, so war das nichtsdestoweniger eine verlockende Verwendung der bevorstehenden Ferien, und der Direktor führte den Auserwählten vom Wettbewerbe ohne Schwierigkeit vor Augen, wie viel sie damit eigentlich gewonnen hätten.
Die Antillen... das war ja aller Preisträger Vaterland. Die meisten davon hatten es als Kinder verlassen, um in Europa ausgebildet und erzogen zu werden. Kaum mochten sie den Boden der Inseln betreten haben, wo ihreWiege gestanden hatte, und vielleicht bewahrten sie in ihrem Gedächtnis daran kaum noch eine klare Erinnerung. Obwohl ihre Familien – mit Ausnahme einer einzigen – den Archipel ohne den Gedanken an eine Rückkehr dahin verlassen hatten, waren doch viele unter ihnen, die dort Verwandte oder Freunde wiederfinden mußten... kurz, alles in allem eröffnete die Reise den jungen Antilianern höchst verlockende Aussichten.
Der Leser wird das aus den persönlichen Verhältnissen der neun Preisträger selbst erkennen, denen die Reisestipendien zugefallen waren.
Nennen wir zuerst die von englischer Abkunft, die in der Antilian School überhaupt die Mehrheit bildeten.
Roger Hinsdale aus Sankta-Lucia, zwanzig Jahre alt, dessen Familie, nachdem sie sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, in London lebte.
John Howard aus Sankt-Domingo, achtzehn Jahre, dessen Vater sich nebst seinen Angehörigen als Fabrikant in Manchester niedergelassen hatte.
Hubert Perkins aus Antigoa, siebzehn Jahre, dessen Familie, Vater, Mutter und zwei jüngere Schwestern, seine Geburtsinsel niemals verlassen haben und der nach Vollendung seiner Ausbildung dahin zurückkehren soll, um in das väterliche Handelshaus einzutreten.
Es folgen die Franzosen, die zu einem Dutzend die Antilian School besuchten:
Louis Clodion aus Guadeloupe, zwanzig Jahre alt, der Sohn einer Reederfamilie, die seit einigen Jahren in Nantes ansässig war.
Tony Renault aus Martinique, siebzehn Jahre, der älteste von den vier Kindern einer Beamtenfamilie, die in Paris wohnte.
Ferner die Dänen:
Niels Harboe aus Sankt-Thomas, neunzehn Jahre alt, der keinen Vater und keine Mutter mehr hatte und dessen um sechs Jahre älterer Bruder sich nach wie vor auf den Antillen befand.
Axel Wickborn aus Sankta-Cruz, neunzehn Jahre, dessen Familie, nach Dänemark verzogen, in Kopenhagen Holzhandel betrieb.
Die Holländer waren durch Albertus Leuwen aus Sankt-Martin vertreten, der zwanzig Jahre zählte und der einzige Sohn einer in der Nähe von Rotterdam wohnenden Familie war.
Was Magnus Anders, einen neunzehnjährigen, auf Sankt-Barthelemy gebornen Schweden betraf, so hatte sich dessen Familie neuerdings nach Gothenburg in Schweden gewendet, ohne – nach Erwerbung eines hinreichenden Vermögens – auf die Rückkehr nach den Antillen zu verzichten.
Man wird zugeben, daß die Reise, die sie für einige Wochen nach ihrem Heimatlande führen sollte, den jungen Antilianern willkommen sein mußte, denn wer weiß, ob es den meisten von ihnen sonst vergönnt sein sollte, die Stätte ihrer Geburt je wiederzusehen. Nur Louis Clodion hatte einen Onkel, einen Bruder seiner Mutter, auf Guadeloupe, Niels Harboe einen Bruder auf Sankt Thomas und Hubert Perkins seine ganze Familie auf der Insel Antigoa. Ihre Kameraden waren aber durch keine Verwandtschaftsbande mehr mit den Antillen verknüpft; deren Angehörige hatten diese Inseln endgültig verlassen.
Die ältesten der Stipendiaten waren: Roger Hinsdale, ein etwas hochmütiger junger Mann; Louis Clodion, ein ernster, fleißiger, allgemein beliebter Jüngling, ferner Albertus Leuwen, dessen holländisches Blut auch die Sonne der Antillen nicht zu erwärmen vermocht hatte. Hierauf folgten: Niels Harboe, über dessen Zukunft man noch im Unklaren war, Magnus Anders, ein großer Freund von allem, was das Meer betraf, und der in die Handelsmarine einzutreten beabsichtigte, Axel Wickborn, dessen Wunsch dahin ging, im dänischen Heer zu dienen. Dem Alter nach folgte dann John Howard, der etwas weniger »englisiert« auftrat als sein Landsmann Roger Hinsdale; endlich die zwei Jüngsten: der für den Handelsstand bestimmte Hubert Perkins, und Tony Renault, dem seine Vorliebe für das Bootfahren später wohl eine gleiche für die große Schiffahrt einflößen würde.
Zunächst bestand nun noch die wichtige Frage, ob die bevorstehende Reise sich nach allen Antillen, den Großen und den Kleinen, denen Im Winde und Unter dem Winde, erstrecken sollte. Ein eingehender Besuch des gesamten Archipels hätte freilich mehr als die wenigen Wochen beansprucht, über die die Preisträger verfügen konnten. Es gibt ja tatsächlich nicht weniger als dreihundertfünfzig Inseln und Eilande in den Archipeln Westindiens, und selbst wenn es möglich gewesen wäre, davon täglich eine oder eins zu besuchen, so wäre diese höchst oberflächliche Besichtigung doch erst im Verlaufe eines Jahres auszuführen gewesen.
Nein, dahin ging die Absicht der Mrs. Kathlen Seymour nicht. Die Pensionäre der Antilian School sollten vielmehr jeder einige Tage auf seiner Heimatinsel zubringen, die Verwandten und Freunde, die sich da befanden, einmal wiedersehen und noch einmal den Fuß setzen auf den Boden ihres Vaterlandes.
Nach dieser Anordnung blieb, wie man sieht, von Anfang an eine Rundfahrt über die Großen Antillen, über Cuba, Haïti, Sankt-Domingo und Portorico ausgeschaltet, da die spanischen Zöglinge der Anstalt keinen Preis errungen hatten, ebenso Jamaika, da keiner der Sieger aus dieser britischen Kolonie stammte, und die holländische, Curaçao, war aus demselben Grunde ausgeschlossen. Ferner sollten auch die unter venezolanischer Herrschaft stehenden Kleinen Antillen nicht besucht werden, weder Tortigos und Marguerite, noch Tortega und Blanquilla oder Ordeilla und Havas. Die einzigen, für einen Besuch der Stipendiaten in Aussicht genommenen Inseln Mikro-Antiliens waren also Sankta-Lucia, Domingo, Antigoa (lauter englische), Guadeloupe und Martinique (französische), Sankt-Thomas und Santa-Cruz (dänische Inseln) Sankt Barthelemy (eine schwedische) und Saint Martin (eine zur Hälfte holländische und zur Hälfte französische Insel).
Diese neun Inseln, alle zu denen Im Winde gehörig, sollten also die neun Zöglinge der Antilian School eine nach der andern gemeinschaftlich besuchen.
Es wird nicht wundernehmen, daß auch noch eine zehnte Insel ins Auge gefaßt war, die ohne Zweifel den längsten und bestbegründeten Besuch verdiente.
Das war die ebenfalls zur Gruppe derer Im Winde gehörige Insel Barbados, eine der wichtigsten von dem Kolonialgebiete, die das Vereinigte Königreich in jener Gegend besitzt.
Dort wohnte ja Mrs. Kathlen Seymour, und es verstand sich wohl allein, daß die von ihr beschenkten jungen Leute sich der Dame vorstellten, um dieser ihren Dank abzustatten.
Ebenso kann man sich leicht vorstellen, daß die Zöglinge der Antilian School, wenn es die freigebige Engländerin danach verlangte, die neun Preisgekrönten zu empfangen, daß diese nicht minder den Wunsch hegten, die reiche Eingeborne von Barbados kennen zu lernen und ihr für das, was diese für sie getan hatte, herzlich zu danken.
Sie würden das auch nicht zu bereuen haben, denn eine Nachschrift in dem Briefe an den Direktor zeigte, wie weit die Opferfreudigkeit der Mrs Kathlen Seymour reichte.
Außer den Kosten, die die Fahrt selbst verursachte und die sie vollständig auf sich nahm, sollte jedem der jungen Leute bei der Abreise von Barbados noch die Summe von siebenhundert Pfund (14.000 Mark) eingehändigt werden.
Nun bestand noch die weitere Frage, ob die Zeit der Ferien ausreichen würde. Ja, unter der Bedingung, daß man für die Sieger im Wettbewerbe die Ferienzeit einen Monat eher als regelmäßig beginnen ließ, was dann noch den Vorteil bot, daß Hin- und Rückfahrt über den Atlantischen Ozean in die schöne Jahreszeit fielen.
Diese Bedingung konnte man ja mit Freuden annehmen, ja das geschah sogar mit reiner Begeisterung. Es war dann auch nicht zu befürchten, daß die Angehörigen der Schüler Einspruch gegen eine so angenehme und in jeder Hinsicht vorteilhafte Reise erhöben. Sieben bis acht Wochen, das war der Zeitraum, auf den man unter Berücksichtigung gelegentlicher Verzögerungen rechnen mußte, und dann trafen die jungen Stipendiaten in Europa wieder ein, voller unvergeßlicher Erinnerungen an die ihnen so teuern Inseln der Neuen Welt.
Endlich war noch eine Angelegenheit zu ordnen, über die die Familien der jungen Leute aber bald beruhigende Aufklärung erhalten sollten.
Es betraf die Frage, ob man die Preisträger, von denen auch der älteste das zwanzigste Lebensjahr noch nicht überschritten hatte, sich völlig selbst überlassen sollte oder ob nicht die Hand eines erfahrenen Leiters nötig wäre, sie in Zaum und Zügel zu halten. Wenn sie den, verschiedenen europäischen Staaten gehörigen Archipel besuchten, konnte es ja leicht zu Eifersüchteleien und Reibungen kommen, sobald sich eine Nationalitätsfrage erhob. Würden sie dann immer daran denken, daß sie alle antillanischer Abkunft und Pensionäre derselben Bildungsanstalt wären, wenn der kluge und einsichtige Direktor Ardagh das Regiment nicht mehr führte?
An derartige Schwierigkeiten dachte der Spiritus rector der Antilian School mit einiger Sorge, und da es ihm nicht möglich war, seine Zöglinge zu begleiten, legte er sich die Frage vor, wer in dieser heiklen Sache wohl seine Stelle vertreten könnte.
Das war übrigens eine Seite der Frage, die auch der sehr praktisch veranlagten Mrs. Kathlen Seymour nicht entgangen war. Es wird sich bald zeigen, wie sie dieser gerecht geworden war, denn die verständige Dame hätte es nie zugelassen, daß die jungen Leute während der Reise ohne jede Aufsicht blieben.
Wie sollte nun die Fahrt über den Ozean vor sich gehen?... Vielleicht an Bord eines der Paketboote, die den regelmäßigen Verkehr zwischen England und den Antillen vermitteln? Sollten da Plätze besorgt, eine Kabine für jeden der neun Preisträger belegt werden?... Wir wiederholen, daß sie ja nicht auf eigene Kosten reisen sollten, daß keinerlei Auslage auf die siebenhundert Pfund, die ihnen versprochen waren, wenn sie Barbados zur Rückkehr nach Europa verließen, angerechnet werden durften.
In dem Briefe der Mrs. Kathlen Seymour befand sich nun ein längerer Satz, der diese Frage, und zwar mit folgenden Worten löste:
»Die Überführung über den Ozean wird auf meine Unkosten. erfolgen. Ein für die Fahrt nach den Antillen gemietetes Schiff wird die Passagiere im Hafen von Cork, Queenstown, Irland, erwarten. Dieses Schiff ist der »Alert«, Kapitän Paxton, und wird bereit liegen, an dem für die Abfahrt bestimmten Tage in See zu gehen. Das soll am 30. Juni sein. Der Kapitän Paxton rechnet darauf, seine Reisegesellschaft an diesem Datum an Bord zu sehen, und er wird sofort nach deren Eintreffen die Anker lichten.«
Die jungen Leute sollten also, wenn auch nicht als Fürstensöhne, so doch als vornehme Jachtmen reisen. Sie hatten ein eigenes Schiff zur Verfügung, das sie nach Westindien bringen und nach Europa zurückbefördern sollte. Wahrlich, Mrs. Kathlen Seymour machte ihre Sache gut! Sie sorgte einfach für alles, die westindisch britische Mäcenin! Ja, wenn die steinreichen Leute ihre Millionen immer für so gute Werke verwendeten, dann könnte man ihnen nur Glück wünschen, deren so viele und womöglich noch mehr zu besitzen.
In der kleinen Welt der Antilian School kam es nun, als es bekannt geworden war, unter welch angenehmen Verhältnissen die Reise erfolgen sollte, freilich dahin, daß die schon früher von ihren Kameraden beneideten Preisträger nur noch mehr beneidet wurden.
Diese selbst waren dagegen rein entzückt. Die Wirklichkeit erreichte den Gipfel ihrer Träume: Nach Durchkreuzung des Ozeans würden sie die Hauptinseln des antillanischen Archipels besuchen.
»Und wann geht's nun fort? fragten sie.
– Morgen...
– Nein, noch heute...
– Nein doch, wir haben noch sechs Tage bis dahin, erklärten die verständigsten.
– Ach, wären wir doch auf dem »Alert« schon eingeschifft! rief Magnus Anders.
– Auf unserm, unserm Schiffe!« fügte Tony Renault hinzu.
Keiner der Zöglinge dachte daran, daß eine solche überseeische Reise doch mancherlei Vorbereitungen erforderte.
Zunächst mußten die Eltern darum befragt und deren Zustimmung eingeholt werden, da es sich darum handelte, die Preisträger zwar nicht in die andre, aber doch in die Neue Welt zu senden. Julian Ardagh hatte sich also zu bemühen, diese Vorfrage zu erledigen. Außerdem machte der auf dritthalb Monate berechnete Ausflug doch auch gewisse Anschaffungen nötig, wie geeignete Kleidung, vorzüglich eine Ausrüstung für die Seefahrt: tüchtiges Schuhwerk, Überröcke, Wachsleinwandmützen, sogenannte Südwester, kurz alles, was der Seemann gelegentlich braucht.
Dann mußte der Direktor die Vertrauensperson wählen, der die Verantwortlichkeit für die jungen Leute obliegen sollte. Zugegeben, daß sie groß genug waren, sich allein in allem zurecht zu finden, und auch verständig genug, eines Führers und Aufsehers entbehren zu können... immerhin erschien es geratener, ihnen einen Mentor mitzugeben, dem sie sich zu fügen hatten. Das war wenigstens die in ihrem Schreiben ausgesprochene Ansicht der Mrs. Kathlen Seymour, und dieser mußte jedenfalls Rechnung getragen werden.
Es versteht sich von selbst, daß die Familien der Schüler dringend ersucht wurden, dem Reiseplane zuzustimmen, den Ardagh ihnen schriftlich entwickelte. Von den jungen Leuten sollten ja mehrere auf den Antillen nähere oder entferntere Angehörige wiederfinden, die sie seit einer Reihe von Jahren nicht gesehen hatten, z. B. Hubert Perkins auf Antigoa, Louis Clodion auf Guadeloupe und Niels Harboe auf Sankt-Thomas. Jetzt bot sich ja, und obendrein unter ausnehmend günstigen Verhältnissen, eine unerwartete Gelegenheit zu einem Wiedersehen.
Die Familien waren vom Direktor Ardagh übrigens immer auf dem Laufenden erhalten worden. Sie wußten schon, daß in der Antilian School unter den Pensionären ein Wettbewerb um Reisestipendien veranstaltet worden war. Vernahmen sie dann, nach Verkündigung des Ergebnisses, daß die Preisträger Westindien besuchen sollten, so glaubte der Direktor annehmen zu dürfen, daß das deren eigenem sehnlichen Wunsche entsprechen werde.
Inzwischen dachte Ardagh über die ihm zufallende Wahl eines Führers nach, der an der Spitze der wandernden Klasse stehen sollte, eines Mentors, dessen weise Ratschläge die Harmonie unter den noch etwas »grünen« Telemachs zu erhalten verspräche. Das bereitete ihm jedoch keine geringe Verlegenheit. Sollte er sich etwa an den Lehrer der Antilian School wenden, der am geeignetsten erschien, in diesem Falle allen Anforderungen zu entsprechen? – Das Schuljahr war aber noch nicht zu Ende. Vor den Ferien durfte der Unterricht auf keinen Fall unterbrochen werden, das Lehrerkollegium mußte also beisammen bleiben.
Aus gleichem Grunde glaubte auch Ardagh, die neun Preisträger nicht selbst begleiten zu können. Seine Anwesenheit war in den letzten Monaten des Schuljahrs unbedingt erforderlich, er mußte personlich die für den 7. August festgesetzten Prüfungen und die Zensur- und Prämienverteilung leiten.
Die Lehrer und er selbst kamen also nicht in Frage, dagegen hatte er gerade einen Mann, wie er ihn brauchte, an der Hand, einen durchweg ernsten und gediegenen Mann, der seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen würde, der das vollste Vertrauen verdiente, allgemein beliebt war und den die jungen Reisenden gern als Mentor annehmen würden.
Nun fragte es sich freilich, ob die betreffende Persönlichkeit ein solches Angebot annehmen, ob der Mann zustimmen würde, diese Reise zu unternehmen, und ob es ihm paßte, sich übers Weltmeer hinauszuwagen.
Am 24. Juni, fünf Tage vor der für die Abfahrt des »Alert« bestimmten Zeit, ließ der Direktor Ardagh zeitig am Vormittage Herrn Patterson wegen einer wichtigen Mitteilung zu sich rufen.
Patterson, der Verwalter der Antilian School, war wie gewöhnlich damit beschäftigt, die Abrechnung vom letztvergangenen Tage abzuschließen, als er zu dem Leiter der Anstalt entboten wurde.
Patterson schob sich die Brille auf die Stirne und antwortete dem an der Tür wartenden Schuldiener:
»Ich werde keinen Augenblick säumen, dem Rufe des Herrn Direktors zu folgen.«
Dann ergriff er, die Brille wieder auf die Nase bringend, seine Feder, um den untern Halbbogen einer 9 zu vollenden, die er eben der Ziffernreihe der Ausgaben in seinem Hauptbuche anfügen wollte. Mit Hilfe seines Ebenholzlineals zog er hierauf einen Strich unter die Zahlenreihe, deren Zusammenrechnung er eben vollendet hatte. Ferner spritzte er die Feder mehrmals leicht über dem Tintenfasse aus, tauchte sie wiederholt in ein kleines Gefäß mit feinem Schrote und trocknete sie endlich mit größter Sorgsamkeit ab. Dann legte er sie neben das Lineal auf sein Pult, drehte den Auslauf des Schreibzeugs nach oben, um die Tinte darin wieder zurücklaufen zu lassen, legte ein sauberes Löschblatt auf die Seite mit den Ausgabeposten, wobei er sorgsam darauf achtete, den frischen Schwanz der 9 nicht zu verwischen, und legte das geschlossene Buch in das dafür bestimmte Fach im Bureau. Endlich kamen Radiermesser, Bleistift und Radiergummi wieder in ihren Behälter, er blies noch über seine. Schreibunterlage hin, um einige Staubkörnchen davon zu entfernen, erhob sich, indem er seinen runden Ledersessel zurückschob, zog die Schreibärmel ab und hängte sie in der Nähe des Kamins auf und bürstete auch Rock, Weste und Beinkleider sorgfältig ab. Jetzt ergriff er den Hut, strich mit dem Ellbogen darüber, um seinen Glanz zu erneuern, setzte ihn auf und legte die schwarzen Glacéhandschuhe an, als gälte es, einer hochstehenden Person von der Universität einen Staatsbesuch zu machen. Nun noch einen letzten Blick in den Spiegel, um sich zu überzeugen, daß seine Toilette ganz tadellos sei – dabei ergriff er noch eine Schere, um einige unvorschriftsmäßig lange Haare des Backenbartes zu kürzen – dann untersuchte er noch, ob Taschentuch und Portemonnaie richtig in der Tasche wären, öffnete schließlich die Tür seines Kabinetts, überschritt deren Schwelle und verschloß sie wieder sorgsam mit einem der siebzehn Schlüssel, die an seinem Schlüsselbunde klirrten. Hierauf stieg er die nach dem großen Hofe führende Treppe hinunter, überschritt den Raum langsam und gemessen in schräger Richtung und auf das besondere Gebäude zu, worin die Wohnung und das Amtszimmer des Direktors lagen. Vor dessen Tür machte er Halt, drückte auf den elektrischen Knopf, daß die schrille Klingel im Innern ertönte, und wartete geduldig des Weitern.
Jetzt legte sich Patterson, mit dem Zeigefinger auf der Stirn, die Frage vor:
»Was mag der Herr Direktor mir nur zu sagen haben?«
Dem würdigen Herrn Patterson, der den verschiedensten Mutmaßungen nachhing, mußte zu dieser Morgenstunde die Einladung, sich nach dem Zimmer des Herrn Adagh zu begeben, entschieden auffallend erscheinen.
Man bedenke nur: Die Uhr des Herrn Patterson zeigte erst neun Uhr siebenundvierzig Minuten, und auf den vortrefflichen Chronometer, der noch keine volle Sekunde des Tages von der richtigen Zeit abwich und in seiner Regelmäßigkeit mit der des Eigentümers wetteiferte, auf den konnte man sich ruhig verlassen. Niemals... nein, niemals begab sich Patterson vor elf Uhr dreiundvierzig Minuten zu Herrn Ardagh, um diesem über die ökonomische Lage der Antilian School Bericht zu erstatten, und es war ohne Beispiel, daß er sich nicht zwischen der zwei- und der dreiundvierzigsten Minute bei Ardagh eingestellt hätte.
Patterson mußte also vermuten und vermutete auch wirklich, daß heute ein ganz besonderer Grund für diese Abweichung vorliegen müsse, da der Direktor nach ihm verlangte, bevor er die Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben des vorigen Tages abgeschlossen hatte. Das würde er natürlich nachher tun, und man konnte getrost darauf rechnen, daß sich dabei trotz der ungewöhnlichen Störung kein Fehler einschlich.
Die Tür öffnete sich durch einen Zug an der Kette aus dem Stübchen des Hausmanns. Patterson machte einige Schritte – wie gewöhnlich deren fünf – über den Vorraum und klopfte leise an die Füllung der zweiten Tür, über der die Worte »Zimmer des Direktors« zu lesen waren.
»Herein!« ertönte es sofort von innen.
Patterson nahm seinen Hut ab, schüttelte einige Staubkörnchen von den Stiefeln, strich die Handschuhe glatt und betrat das Innere des Zimmers, das vom Hof aus durch zwei Fenster mit halb herabgelassenen Gardinen erhellt wurde.
Der Direktor Ardagh saß, verschiedene Papiere vor sich, an seinem Schreibtische, der mehrere elektrische Druckknöpfe zeigte. Er erhob den Kopf und machte gegen den Verwalter eine einladende Handbewegung.
»Sie haben mich hierher rufen lassen, Herr Direktor? begann Patterson.
– Ja, Herr Verwalter, und zwar zur Besprechung einer Angelegenheit, die Sie sehr persönlich angeht.«
Damit wies er nach einem Stuhle in der Nähe des Schreibtisches.
»Nehmen Sie gefälligst Platz,« sagte er.
Patterson setzte sich, nachdem er umständlich die langen Schöße seines Rockes aufgehoben hatte. Er legte dann die eine Hand aufs Knie und hielt mit der andern den Hut vor die Brust.
Ardagh eröffnete nun das Gespräch.
»Sie kennen ja, Herr Verwalter, das Ergebnis des unter unseren Pensionären veranstalteten Wettbewerbs zur Gewinnung von Reisestipendien.
– Gewiß, Herr Direktor, antwortete Patterson, und ich meine, das edelmütige Angebot einer unserer kolonialen Landsmänninnen gereicht der Antilian School zu hoher Ehre.«
Patterson sprach stets gemessen, hob die Silben der von ihm gebrauchten Wörter einzeln scharf hervor und betonte die Worte, die über seine Lippen kamen, stets mit einer gewissen Ziererei.
»Sie wissen auch, fuhr Ardagh fort, in welcher Weise die Reisestipendien Verwendung finden sollen?
– Ja freilich, Herr Direktor, bestätigte Patterson, der, sich verneigend, mit seinem Hute irgend eine Person jenseits des Ozeans zu begrüßen schien. Ich glaube, es dürfte schwierig sein, ererbte oder durch eigene Anstrengung erworbene Schätze besser zu verwenden wie hier zu Gunsten junger Menschen, denen die Sehnsucht nach der Ferne aus den Augen leuchtet. Mrs. Kathlen Seymour ist eine Dame, deren Name noch in später Zukunft rühmend genannt werden wird.
– Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Verwalter. Doch... kommen mir zum Kern der Sache. Es ist Ihnen natürlich ebenso bekannt, unter welchen Verhältnissen die Reise nach den Antillen vor sich gehen soll?
– Ich bin darüber unterrichtet, Herr Direktor. Ein Schiff erwartet unsere jungen Reisenden, und ich hoffe, diese werden Neptun nicht anzuflehen haben, daß er den tobenden Wogen des Atlantischen Meeres sein Quos ego zurufe.
– Das hoffe ich ebenfalls, Herr Patterson, da ja die Hin- und die Rückfahrt in der schönen Jahreszeit erfolgen soll.
– Jawohl, bemerkte dazu der Verwalter, Juli und August sind ja die Monate, wo die launische Thetis mit Vorliebe ausruht...
– Und diese Reise, fiel Ardagh ein, wird für meine Preisträger nicht weniger angenehm sein, als für die Person, die sie dabei begleiten wird.
– Eine Person, sagte Patterson salbungsvoll, der die ehrenvolle Aufgabe zufallen wird, Mrs. Kathlen Seymour die tiefempfundene Ehrerbietung und die unverlöschliche Dankbarkeit der Pensionäre der Antilian School zu entbieten.
– O, ich bedaure wirklich lebhaft, äußerte dazu der Direktor, daß ich nicht selbst diese Person sein kann. Am Ende des Schuljahres und angesichts der Prüfungen, denen ich beiwohnen muß, ist mein Fernsein aber unmöglich.
– Freilich... leider unmöglich, Herr Direktor, stimmte der Verwalter ein, der aber – wer es auch sei – ist zu beneiden, der deshalb an Ihre Stelle treten wird.
– Gewiß, mich bedrückt hierbei nur die Qual der Wahl. Ich brauche einen erfahrenen Mann, auf den ich mich unter allen Umständen verlassen kann und der auch ohne Widerspruch den Familien unserer jungen Stipendiaten angenehm ist. Jetzt habe ich diesen Mann aber unter dem Personal der Anstalt gefunden...
– Ohne Zweifel in einem der wissenschaftlichen oder technischen Lehrer...
– Nein, es kann nicht davon die Rede sein, den Unterricht vor den Ferien zu unterbrechen. Eine solche Unterbrechung erschien mir minder folgenschwer in der Finanzverwaltung der Schule, und deshalb, Herr Verwalter, ist meine Wahl, die jungen Leute nach den Antillen zu begleiten, auf Sie gefallen.«
Patterson hatte seine Überraschung bei diesen Worten nicht verhehlen können. Er erhob sich seiner ganzen Länge nach und schob die Brille nach der Stirn.
»Ich... Herr Vorsteher? rief er etwas befangenen Tones.
– Jawohl, Sie, Herr Verwalter, denn ich bin überzeugt, daß das Rechnungswesen während der Reise der Stipendiaten dann ebenso geordnet geführt werden wird, wie von jeher das der Schule.«
Mit einem Zipfel seines Taschentuchs wischte Patterson bedächtig die etwas angelaufenen Gläser seiner Brille ab.
»Ich bemerke Ihnen noch, setzte Ardagh hinzu, daß dem Mentor – dank der Hochherzigkeit der Mistreß Kathlen Seymour – dem Mentor, dem diese wichtige und allerdings verantwortungsreiche Aufgabe zufällt, ebenfalls ein Preis von siebenhundert Pfund Sterling zugesichert ist. Ich ersuche Sie also, Herr Patterson, sich binnen fünf Tagen zur Abreise bereit zu halten«
Doch wenn Herr Patterson sie auch nicht mehr lehrte, so blieb er im Grunde seines Herzens doch den Meistern des von ihm verehrten römischen Altertums unverbrüchlich treu. Während er jedoch viele Aussprüche von Virgil. Ovid und Horaz für sich wiederholte, widmete er der Verwaltung der Antilian School seine Veranlagung zu einem zuverlässigen, methodischen Rechner. Mit der peinlichen – fast kleinlichen – Ordnungsliebe, die ihn auszeichnete, machte er den Eindruck eines Muster-Verwalters, dem alle Geheimnisse des »Soll und Habens« geläufig sind und der die geringsten Einzelheiten der Buchführung kennt. War er in früherer Zeit in den Prüfungen in alten Sprachen prämiiert worden, so hätte er das jetzt bei einem Wettbewerb in der Buchführung oder in der Aufstellung eines Schulbudgets gewiß nicht weniger verdient.
Höchst wahrscheinlich fiel Herrn Horatio Patterson auch die Direktion der Anstalt zu, sobald Herr Ardagh sich, nach Erwerbung eines genügenden Vermögens, davon zurückzog, denn die Antilian School war jetzt im besten Gedeihen und sie verblieb es jedenfalls auch unter den Händen, die so würdig waren, die wertvolle Erbschaft anzutreten.
Horatio Patterson hatte jetzt seit einigen Monaten das vierzigste Lebensjahr überschritten. Mehr ein Mann der Studien als des Sports, erfreute er sich doch einer vortrefflichen Gesundheit, die er niemals durch irgendwelche Exzesse erschüttert hatte: er hatte einen guten Magen, ein regelmäßig arbeitendes Herz und Atmungsorgane ersten Ranges. Eine rücksichtsvolle, eher etwas verschlossene Natur, kam er nie aus dem seelischen Gleichgewicht, hatte es stets verstanden, sich weder durch Taten noch durch Worte zu kompromittieren, und war bei seiner gleichzeitig theoretischen und praktischen Lebensweisheit gar nicht im stande, jemand zu nahe zu treten. Das machte ihn auch höchst duldsam gegen andere... kurz, um eine ihm jedenfalls zusagende Bezeichnung anzuwenden: er war sui compos im höchsten Grade.
Etwas über mittelgroß, doch schmächtig und mit ein wenig abfallenden Schultern, war Horatio Patterson in seinem Auftreten ziemlich linkisch und in seiner Haltung wenig elegant. Jedes mit besonderem Nachdrucke ausgesprochene Wort begleitete er gerne mit einer ausdrucksvollen Handbewegung. Obwohl ernst von Gesichtszügen, konnte er doch gelegentlich auch lächeln. Er hatte wasserblaue Augen, denen man die Kurzsichtigkeit anmerkte, weshalb er eine recht starke Brille trug, die ihm meist auf der Spitze der weit vorstehenden Nase saß. Auch mit den langen Beinen hatte er häufig seine liebe Not, hielt beim Gehen die Fersen zu nahe beieinander und setzte sich so ungeschickt nieder, daß man fürchten mußte, er werde von dem Sitze abgleiten, und ob er im Bette ein bequeme oder eine unbequeme Lage einnehme, das konnte der brave Mann nur allein wissen.
Nun gab es auch eine jetzt siebenunddreißigjährige Mrs. Patterson, eine recht verständige Frau ohne jede Koketterie oder Hoffart. An ihrem Gatten fand sie nichts Lächerliches, und dieser wußte dagegen ihre Dienste zu schätzen, wenn sie ihn bei seinen Buchhaltungsarbeiten unterstützte. Wenn der Verwalter der Antilian School aber auch ein Zahlenmensch war, so darf man nicht glauben, daß er, trotz geringer Wertschätzung seiner Toilette. in seinem Äußern vernachlässigt wurde. Das wäre ein Irrtum. Es gab wohl kaum einen besser geknüpften Krawattenknoten als den seinigen, keine glänzendere Fußbekleidung als seine Lackleder-Halbstiefel, abgesehen von seiner Person nichts gleichmäßig steiferes als seinen Brustlatz, nichts tadelloseres als seine schwarzen Beinkleider, nichts besser geschlossenes als seine – der eines Geistlichen ähnliche – Weste und nichts sorgfältiger zugeknöpftes als seinen weiten Rock, der ihm bis über die Knie reichte.
Mr. und Mrs. Patterson hatten in den Gebäuden der Anstalt eine sehr hübsche Wohnung inne. Deren Fenster lagen einerseits nach dem großen Hofe und anderseits nach einem Garten mit großen Bäumen, unter denen sich ein wohlgepflegter, angenehm frischer Rasen ausbreitete. Die Wohnung bestand aus einem halben Dutzend Räumen im ersten Stockwerke.
Hierher begab sich Horatio Patterson nach seinem Besuche beim Direktor; er beeilte sich dabei aber nicht, um seine Entschlüsse erst reisen zu lassen, obwohl sie schließlich nur die wenigen Minuten alt waren, um die er seine Abwesenheit verlängert hatte. Bei einem Manne, der gewöhnt war, klar zu sehen, die Dinge zu nehmen, wie sie waren, bei einer Frage jedes Für und Wider abzuwägen, wie er das Soll und das Haben in seinem Hauptbuche auszugleichen pflegte, bei einem solchen mußte es gewöhnlich schnell zu einer endgültigen Entschließung kommen. Diesmal freilich hieß es, sich nicht leichten Sinnes in ein Abenteuer stürzen.
Bevor er eintrat, machte Horatio Patterson seine hundert Schritte über den zu dieser Zeit leeren Hof... immer gerade wie ein Blitzableiter, steif wie ein Pfahl, blieb einmal stehen und ging dann wieder weiter, legte jetzt die Arme auf den Rücken und kreuzte sie nachher vor der Brust, während seine Blicke weit hinaus- und über die Mauern der Antilian School hinwegschweiften.
Bevor er jedoch mit Mrs. Patterson über die Sache sprach, die ihm im Kopfe herumging, konnte er nicht dem Drange widerstehen, erst noch sein Bureau aufzusuchen und die Rechnung über den vorigen Tag abzuschließen. Erst wenn er diese sorgsam geprüft hatte und sein Kopf vollkommen frei war, konnte er über die Vorteile und die Nachteile des Vorschlages, den ihm sein Direktor gemacht hatte, ohne jede Ablenkung sprechen.
Übrigens erforderte seine Arbeit nur kurze Zeit, und sein Bureau im Erdgeschoß verlassend, stieg er nach dem ersten Stockwerke zu derselben Minute hinauf, wo die Pensionäre die verschiedenen Klassen verließen.
Sofort bildeten sich da und dort einzelne Gruppen, unter andern eine der neun Preisträger. Man hätte da wirklich glauben können, diese schwömmen schon an Bord des »Alert« einige hundert Meilen weit von der irischen Küste. Daß die jungen Leute dabei mit mehr oder weniger Zungenfertigkeit schwätzten, kann man sich wohl leicht genug vorstellen.
Wenn es auch entschieden war, daß die Reise nach den Antillen gehen sollte, so harrte doch eine andere, sie berührende Frage noch immer der Lösung. Würden sie von der Abfahrt bis zur Heimkehr einen Begleiter haben? Sie vermmieten allerdings selbst, daß man sie in die weite Welt nicht so allein hinausziehen lassen werde. Doch wußten sie nicht, ob Mrs. Kathlen Seymour schon selbst jemand als Führer bestimmt oder es Herrn Ardagh überlassen hätte, einen solchen auszuwählen. Daß der Direktor zu dieser Zeit von der Anstalt fernbleiben könnte, ließ sich kaum annehmen. Wem würde also der Auftrag zu teil werden, und hatte Herr Ardagh seine Wahl schon getroffen oder nicht?
Vielleicht mutmaßten einige, daß Herr Patterson der Auserwählte sein werde. Doch würde der ruhige und häusliche Verwalter, der die engere Heimat niemals verlassen hatte, sich auch bewegen lassen, alle seine Gewohnheiten zu ändern und sich eine Reihe von Wochen von Mrs. Patterson zu trennen? Würde er den mit so mancher Verantwortlichkeit verbundenen Auftrag annehmen? Das war kaum zu erwarten.
War Horatio Patterson schon nicht wenig erstaunt, als der Direktor ihm den erwähnten Vorschlag machte, so liegt es auf der Hand, daß Frau Patterson nicht weniger verwundert sein mußte, als sie von ihrem Gatten die betreffende Mitteilung erhielt. Es wäre unter anderen Umständen gewiß niemand in den Sinn gekommen, daß zwei so eng – man möchte fast sagen, durch chemische Verwandtschaft – verbundene Elemente getrennt, gewaltsam voneinander gerissen werden könnten, wäre es auch nur für wenige Wochen. Daß aber Frau Patterson die Reise etwa mitmachte, davon konnte ja keine Rede sein.
Solche Gedanken beschäftigten den guten Patterson, als er sich seiner Wohnung näherte. Es sei hier aber bemerkt. daß seine Entscheidung gefallen. sein Entschluß gefaßt war, als er durch die Tür des Zimmers trat, worin Frau Patterson ihn erwartete.
Diese wußte ja nicht, daß ihr Ehegemahl zum Direktor gerufen worden war, und so begrüßte sie ihn bei seinem Erscheinen mit den Worten:
»Oho, Herr Patterson, was hat denn das zu bedeuten?
– Etwas neues, liebe Frau, etwas ganz neues...
– Aha, es ist also wohl ausgemacht worden, daß Herr Ardagh die jungen Pensionäre nach den Antillen begleiten wird?
– Keineswegs, er kann zu dieser Zeit des Jahres unmöglich der Anstalt fernbleiben.
– So hat er also einen andern gewählt?
– Ja.
– Und wer ist das?
– Ich.
– Du... Horatio?...
– Ja, ja... ich, ich bin es!«
Frau Patterson überwand ohne besondere Mühe das Erstaunen, das ihr diese Überraschung erregt hatte. Als verständige Frau und würdige Gefährtin des Herrn Patterson wußte sie sich zu fügen und erging sich nicht in leeren Einwänden.
Der Verwalter aber war nach dem Austausch jener wenigen Worte an das Fenster getreten und trommelte mit vier Fingern der linken Hand an einer Scheibe.
Seine Ehehälfte gesellte sich sofort zu ihm.
»Du hast die Wahl doch angenommen? fragte sie.
– Ja freilich!
– Meiner Ansicht nach hast Du daran gut getan.
– Das glaube ich auch, liebe Frau. Da mir der Direktor ein so gutes Zeugnis seines Vertrauens zu mir ausstellte, konnte ich die Sache gar nicht abschlagen.
– Nein, Horatio, das war unmöglich; ich bedaure dabei nur eines...
– Nun, was denn?
– Daß es sich nicht um eine Land-, sondern um eine Seereise handelt, daß Du über das Meer fahren mußt...
– Ja, das ist dabei nicht zu umgehen, Juliette. Die Aussicht auf eine zwei- bis dreiwöchige Fahrt erschreckt mich aber nicht. Wir haben ein gutes Schiff zur Verfügung. Zu dieser Jahreszeit, zwischen Juli und September, ist das Meer meist ruhig und die Schiffahrt bequem. Obendrein ist auch eine Prämie für den Leiter des Ausfluges ausgeworfen, für den Mentor, mit welchem Titel ich beehrt worden bin.
– Eine klingende Prämie? fragte Frau Patterson, die für Vorteile dieser Art nicht unempfindlich war.
– Jawohl, bestätigte Patterson, ein Betrag in gleicher Höhe wie der, den die Preisträger erhalten sollen.
– Siebenhundert Pfund Sterling?
– Siebenhundert Pfund.
– Na, das ist ja schon der Mühe wert!«
Horatio Patterson erklärte, derselben Ansicht zu sein.
»Wann soll die Fahrt angetreten werden? fragte Frau Patterson, die nun gar keine Einwendung mehr zu machen hatte.
– Schon am dreißigsten Juni, und binnen fünf Tagen müssen wir in Cork sein, wo der »Alert« uns erwartet. Es ist also keine Zeit zu verlieren und wir werden gleich von heute an die nötigen Vorbereitungen treffen müssen...
– Das las' getrost meine Aufgabe sein, Horatio, antwortete Frau Patterson.
– Du wirst auch dabei nichts vergessen?...
– Beruhige Dich darüber.
– Leichte Kleidung, denn wir reisen nach sehr warmen Ländern, die unter den feurigen Strahlen der Tropensonne braten...
– Deine leichteste Sommerkleidung wird bereit liegen...
– Doch eine von schwarzer Farbe, denn es würde der mir zugewiesenen Stellung ebenso wie meinem Charakter widersprechen, etwa in der phantastischen Tracht eines Touristen aufzutreten.
– Verlass' Dich nur auf mich, Horatio. Ich werde auch nicht das Wergal-Rezept gegen die Seekrankheit vergessen und ebensowenig die Ingredienzien deren Gebrauch es empfiehlt.
– Ach was... die Seekrankheit! rief Patterson etwas verächtlich.
– O, es ist immer klug und weise, dagegen gewappnet zu sein, entgegnete seine Gattin. Aber es bleibt doch wohl dabei: es ist nur eine Reise von zwei bis höchstens dritthalb Monaten in Aussicht genommen?
– Von zweiundeinhalb Monaten oder zehn bis elf Wochen, Juliette. Freilich, auch in diesem Zeitraume kann ja so mancherlei passieren. Hat nicht ein Weiser gesagt, man wisse zwar, wann man abreise, doch niemals, wann man wiederkomme?
– O, wenn man nur überhaupt zurückkommt, antwortete Frau Patterson sehr richtig. Du solltest mir keine Angst machen, Horatio. Sieh, ich finde mich ja ohne drängenden Einspruch in Dein zweiundeinhalbmonatiges Fernsein und wende sogar nichts gegen eine Fahrt übers Meer ein, trotzdem daß mir dessen Gefahren nicht unbekannt sind. Ich glaube jedoch, Du wirst diese mit gewohnter Klugheit zu vermeiden wissen, nur lass' mich nicht das eine fürchten, daß diese Reise sich noch weiter ausdehnen könnte.
– Die Bemerkungen, die ich machen zu müssen glaubte, antwortete Patterson mit einer entschuldigenden Handbewegung, die Grenze zarter Rücksicht überschritten zu haben, diese Bemerkung sollte Dir keine Unruhe und Angst erregen, liebes Kind. Ich wünschte im Gegenteil, Dir alle unnötige Unruhe zu ersparen, im Falle unsere Rückkehr sich etwas verzögern sollte, was ja doch ganz harmlose Gründe haben kann.
– Das mag ja sein, Horatio. Hier ist aber von einer zweiundeinhalbmonatigen Abwesenheit die Rede, und ich hoffe, daß sie nicht noch länger dauern werde.
– Ich ja auch, versicherte Patterson. Worum handelt es sich denn übrigens?... Um einen Ausflug in eine herrliche Erdengegend, um eine Spazierfahrt von Insel zu Insel in dem gesegneten Westindien. Wenn wir da nun wirklich um vierzehn Tage später heimkehrten...
– Nein, nein, Horatio, das darf nicht sein!« antwortete die vortreffliche Frau, die hierbei ihren Kopf mehr aufsetzte als gewöhnlich.
Ganz unerklärlich erscheint es, daß Herr Patterson bei dieser Gelegenheit fast etwas hitzig wurde, was doch sonst gar nicht in seiner Natur lag. Er schien es ordentlich darauf abzusehen, der Frau Patterson noch etwas mehr Angst einzujagen.
Jedenfalls bestand er hartnäckig darauf, die Gefahren, die jede Reise, und vorzüglich eine solche über das Meer böte, mit kräftigen Farben auszumalen. Frau Patterson wollte diese Gefahren, die er eindringlich darstellte und mit lebhaften Gesten noch weiter schilderte, aber trotz alledem nicht glauben.
»Ich verlange ja gar nicht, erklärte er dagegen, daß Du sie für unabwendbar hältst, doch daß Du wenigstens mit ihrer Möglichkeit rechnest und wegen dieser Möglichkeit gewisse notwendige Maßregeln ins Auge faßt.
– Und welche, Horatio?
– In erster Linie, Juliette, gedenke ich mein Testament zu machen.
– Dein Testament?
– Jawohl, in bindender, rechtskräftiger Form...
– Du wirst mich langsam töten! rief Frau Patterson, der diese Reise jetzt allerlei Schreckbilder vorgaukelte.
– Nein, liebe Frau, das gewiß nicht! Ich will nur die kluge Vorsicht nicht aus den Augen setzen. Ich gehöre doch einmal zu den Menschen, die ihre irdischen Angelegenheiten in Ordnung wissen wollen, ehe sie einen Bahnzug besteigen, und erst recht, wenn es sich darum handelt, sich auf das große Wasser hinauszuwagen.«
Das war nun einmal die Art des würdigen Mannes, und wer konnte wissen, ob er jetzt allein an die Festlegung seines letzten Willens dachte Jedenfalls bedrückte dieser Teil des Zwiegesprächs Frau Patterson schon aufs schwerste, zunächst der Gedanke, daß ihr Ehegatte die sonst nie berührte Erbschaftsfrage regeln wollte, dann das Nebelbild der Gefahren einer Reise über den Atlantischen Ozean, die Zusammenstöße, Strandungen, Schiffbrüche, das Ausgesetztwerden auf irgend einer Insel mit schrecklichen Kannibalen...
Da empfand es Horatio Patterson doch, daß er vielleicht etwas zu weit gegangen sei, und er versuchte mit tröstlicherem Zuspruch die Gattin wieder zu beruhigen, diese Hälfte seiner selbst von ihrer Angst zu befreien. Schließlich gelang es ihm auch, sie zu überzeugen, daß selbst ein Übermaß von Vorsicht niemals schädliche oder bedauerliche Folgen haben könne, und wie man damit, daß man sich gegen jede Möglichkeit schütze, den Freuden dieses Lebens doch noch keineswegs auf ewig Lebewohl sage.
»Das aeternum vale, setzte er hinzu, das Ovid dem Orpheus in den Mund legte, als dieser die geliebte Eurydike zum zweiten Male verlor!«
O nein, Frau Patterson sollte ihren Gatten ja nicht verlieren, auch nicht zum ersten Male. Der ordnungssüchtige Mann würde aber trotzdem jeder Möglichkeit vorbeugen wollen und den Gedanken, sein Testament zu machen, gewiß nicht aufgeben. Noch denselben Tag suchte er einen Notar auf, und sein letzter Wille wurde von diesem den gesetzlichen Vorschriften entsprechend und so aufgesetzt, daß er bei seiner etwaigen Eröffnung keine zweifelhafte Auslegung zuließ.
Man kann also überzeugt sein, daß Herr Patterson alle denkbare Vorsicht gebraucht hatte für den Fall, daß der »Alert« im Ozean mit Mann und Maus versinken und man von dessen Mannschaft und Passagieren nie wieder etwas hören sollte.
Das erwartete Patterson zwar selbst nicht, denn er fügte seinen Worten noch hinzu:
»Es wäre vielleicht noch eine andere Maßregel zu treffen...
– Und welche, Horatio?« fragte Frau Patterson.
Ihr Gatte glaubte sich augenblicklich nicht weiter aussprechen zu sollen.
»Ach... nichts... nichts... das wird sich finden,« begnügte er sich zu erwidern.
Und wenn er nichts weiter sagen wollte, so geschah es, um Frau Patterson nicht aufs neue zu ängstigen. Vielleicht wäre es ihm auch nicht gelungen, sie zur Billigung seiner Idee zu bekehren, selbst wenn er diese durch weitere lateinische Citate unterstützte, womit er die würdige Gattin gewohnheitsgemäß nicht verschonte.
Um das Gespräch abzubrechen, schloß er es mit den Worten:
»Und nun wollen wir uns mit meinem Reisekorbe und mit meiner Hutschachtel beschäftigen.«
Die Abfahrt sollte zwar erst in fünf Tagen erfolgen, doch was getan ist, ist ja getan und braucht also nicht später gemacht zu werden.
Kurz, was Patterson ebenso wie die neun Preisträger anging, es war von jetzt an nur noch von den Reisevorbereitungen die Rede.
Wenn die Abfahrt des »Alert« übrigens für den 30. Juni bestimmt war, mußte man von den noch übrigen fünf Tagen volle vierundzwanzig Stunden abziehen, die die Fahrt von London nach Cork beanspruchte.
Die Reisenden sollten sich nämlich mit der Eisenbahn zuerst nach Bristol begeben. Dort bestiegen sie dann den Dampfer, der den täglichen Dienst zwischen England und Irland versieht, fuhren die Savern hinunter, überschritten hierauf den Kanal von Saint-Georges und den von Bristol und landeten in Queenstown, am Eingange der Bai von Cork und an der Südwestseite des Grünen Erin. Einen Tag erforderte die Fahrt zwischen Großbritannien und Irland, und Patterson glaubte, das werde ihn schon hinreichend »seefest« machen.
Von den Familien der jungen Stipendiaten, die wegen des Vorhabens befragt worden waren, trafen bald, auf telegraphischem Wege oder brieflich, die erbetenen Antworten ein. Was Roger Hinsdale anging, geschah das schon am ersten Tage, da dessen Eltern in London wohnten, und diesen teilte der preisgekrönte Sohn die Absichten der Mrs. Kathlen Seymour persönlich mit. Die übrigen Antworten trafen nacheinander von Manchester, Paris, Nantes, Kopenhagen, Rotterdam und Gothenburg ein, und von der Familie des jungen Hubert Perkins kam ein aus Antigoa abgesandtes Telegramm.
Der Vorschlag war allerseits mit Freuden und unter Bezeugung der wärmsten Dankbarkeit für Mrs. Kathlen Seymour auf Barbados angenommen worden.
Während sich Frau Patterson nun mit den Reisevorbereitungen für ihren Gatten beschäftigte, legte dieser die letzte Hand an die Buchführung der Antilian School, und sicherlich ließ er dabei keine Rechnung unerledigt, kein Schriftstück unvollendet liegen. Dann wollte er sich noch Entlastung bezüglich seiner, seit dem 28. Juni 1877 geführten Verwaltung erbitten.
Gleichzeitig vernachlässigte er aber auch seine persönlichen Angelegenheiten nicht im geringsten und ordnete vor allem die, die ihm am meisten am Herzen lag und über die er seiner Gattin noch mehr mitteilen wollte, als er es bei jenem ersten Gespräch getan hatte.