Reißleine - Katja Suding - E-Book

Reißleine E-Book

Katja Suding

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Beschreibung

In den Augen der anderen war sie erfolgreich, doch wo war ihr innerer Frieden? Dieses Gefühl von Stimmigkeit im eigenen Leben? Katja Suding entscheidet sich auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere zu einem radikalen Neuanfang. Ein ungeschönter und ehrlicher Blick auf die Licht- und Schattenseiten der Politik und eine Mut machende Geschichte über radikale Veränderungen. Alles beginnt 2010: Katja Suding bewirbt sich als Spitzenkandidatin der FDP für die Hamburger Bürgerschaftswahl. Das ist der Startschuss einer beachtlichen politischen Karriere. Als sie 2017 in den Bundestag einzieht, ist Katja Suding am Höhepunkt angekommen.  »Wer nicht mitspielt, hat schon verloren.«   Doch die Karriere fordert ihren Preis. Bald belasten Katja Suding der permanente Druck und die dauerhafte mediale Aufmerksamkeit. Es quälen sie Selbstzweifel, sie fürchtet sich vor Enttäuschungen und leidet unter der ständigen Beobachtung. Sie muss aber mitspielen, möchte sie nicht riskieren, die Aufmerksamkeit beim Wähler zu verlieren.   »Es funktioniert nicht mehr, den Widerspruch auszuhalten zwischen dem, was ich als vermeintliche Ziele verfolge, und dem, was ich im Grunde meines Wesens bin.« Was für Politiker wie die Luft zum Atmen ist, bringt Katja Suding als Mensch an den Rand des Zusammenbruchs. Sie erkennt schließlich: Ich bin nicht mehr ich. Ihr Beruf hat sie von sich selbst entfremdet. So beschließt sie einen radikalen Neuanfang und beendet ihre politische Karriere.  »Ich spüre, dass mein neues Leben beginnt. Ich kann es kaum erwarten.« Eine tonnenschwere Last fällt von ihr ab. Die fundamentalen Veränderungen machen sie glücklich und geben ihr Frieden. Und doch tauchen ab und an Zweifel auf: War das die richtige Entscheidung? Tief in ihrem Inneren weiß sie aber: Sie will dieses neue Leben, das sich gerade erst entfaltet. Jetzt kann sie sagen: »Es fühlt sich stimmig an.« Die Reise beginnt.  

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Katja Suding

Reißleine

Wie ich mich selbst verlor – und wiederfand

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv und Foto der Autorin: © Anatol Kotte, Hamburg

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print: 978-3-451-39283-2

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82727-3

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82734-1

Für meine Eltern 

Inhalt

Kapitel 1: Intro

Kapitel 2: Die Ruhe vor dem Sturm

Kapitel 3: Dreikönigstreffen

Kapitel 4: »Westerwelles next Topmodel«

Kapitel 5: Das Trauma

Kapitel 6: Einschub: Was mich antreibt

Kapitel 7: Was, wenn es nicht reicht?

Kapitel 8: Ich will hier raus!

Kapitel 9: Flashback

Kapitel 10: Persönlichkeits­veränderungen

Kapitel 11: Ein zu hoher Preis

Kapitel 12: Talfahrt

Kapitel 13: Feindschaften

Kapitel 14: Ein Erfolg muss her

Kapitel 15: Es läuft, oder?

Kapitel 16: Sackgasse

Kapitel 17: Das Seminar

Kapitel 18: Hundeliebe

Kapitel 19: Die Entscheidung

Kapitel 20: Exit

Kapitel 21: Sei mutig!

Kapitel 22: Entfaltung

Kapitel 23: Eine neue Aufgabe?

Kapitel 24: Kein Zurück mehr

Kapitel 25: Zweifel

Kapitel 26: Die Reise beginnt

Dank

Über die Autorin

Kapitel 1Intro

Mai 2020

Ich setze mich mit einer Tasse Tee aufs Sofa. Ich bin an einem Tiefpunkt meines Lebens angekommen und muss mir eingestehen, dass dies nicht einfach nur eine schlechte Phase ist, die vorbeigehen wird. Es funktioniert nicht mehr, den Widerspruch auszuhalten zwischen dem, was ich, getrieben durch Muster und Konditionierungen, als vermeintliche Ziele verfolge, und dem, was ich im Grunde meines Wesens bin. Dadurch ist ein riesiges Loch in mir entstanden, ich bin innerlich ausgehöhlt. Ich fühle mich, als wenn ich das Leben führe, das vielleicht richtig ist für eine andere Person, aber nicht für mich. Ich muss aber mein Leben führen. Es muss etwas passieren, etwas Grundlegendes, so kann und darf es nicht weitergehen.

Die Leitplanken, die sonst mein Leben in den Bahnen gehalten haben, auch wenn ich auf der Fahrbahn oft ziemlich ins Schleudern kam, sind weg. Ich brauche sie, um Kurs zu halten. Alles gerät in Gefahr. Mein Job, den ich zwar nicht immer gern gemacht habe, der aber mein Leben dominiert und somit auch zusammengehalten hat. Das Verhältnis zu meinen Kindern, die gedanklich immer bei mir sind, um die ich mich gekümmert habe. Nicht in Vollzeit, sicher auch nicht perfekt. Aber sie geben meinem Leben einen Sinn. Eine Beziehung habe ich seit fast einem Jahr nicht mehr, auch sie fehlt mir. Und jetzt spielt noch mein Körper verrückt, ich kann mich nicht mehr auf ihn verlassen. Ich kann ihn nicht mehr zwingen, die Dinge zu tun, die ich von ihm verlange. Da sind so viele Warnsignale, so deutliche Fingerzeige. Die darf und will ich nicht überhören. Mir ist glasklar: Ich muss die Reißleine ziehen, jetzt.

Kapitel 2Die Ruhe vor dem Sturm

November 2010

Die letzten Tage und Wochen waren anstrengend. Es ist viel los in der PR-Agentur, die mich als Freelancerin angeheuert hat. An freie Tage oder Urlaub war nicht zu denken.

Meine Kinder Johann und Jacob kommen 2002 und 2004 zur Welt. Noch als sie sehr klein sind, mache ich mich selbständig und arbeite seither als PR-Beraterin. Agenturen buchen mich, um Personalengpässe auszugleichen. Das kommt oft vor. Wenn neue Kunden dazukommen und ein neues Team aufgebaut wird. Oder wenn plötzlich jemand kündigt. Oder das Team die Arbeit nicht mehr allein schafft. Dann rufen sie mich an. Für mich ist es eigentlich der perfekte Job. Ich muss mich an keinen Arbeitgeber fest binden, keinen Urlaub einreichen, keine zermürbende Routine fürchten. Ich verdiene gutes Geld und bin flexibel, wenn meine Söhne mich brauchen. Trotzdem mag ich es, für ein Projekt auch mal länger, manchmal mehrere Monate, zu bleiben. Mich an die Kollegen und den Kunden zu gewöhnen, Teil des Teams zu werden und tief einzusteigen. So ist es auch im Sommer und Herbst 2010. Den Kunden, den ich für die Agentur betreue, kenne ich gut. Ich habe bereits in den Jahren zuvor ab und zu für ihn gearbeitet.

Im Hinterkopf habe ich dennoch immer den Gedanken daran, dass das nächste Projekt noch toller, noch spannender sein kann, mich noch mehr fordern wird. Aus meinem Umfeld höre ich oft von Menschen, dass die freiberufliche Tätigkeit, wie ich sie ausübe, nichts für sie wäre. Zu unsicher. Nicht zu wissen, ob und wer sie im nächsten oder übernächsten Monat bezahlen wird, das sei doch permanenter Stress. Für mich ist es genau das Gegenteil. Ich finde es herrlich, dass sich mir immer wieder neue Chancen bieten.

Doch Ende November 2010 fühle ich mich ausgelaugt. Der Hamburger Winter kündigt sich kalt und nass an. Ich hasse den November, schon immer. Es wird kaum hell, alles ist trist und dunkel, vom vorweihnachtlichen Glanz und der Vorfreude auf das Fest ist noch nichts zu spüren. Es ist an einem Donnerstagabend, ich sitze noch an meinem Schreibtisch im Großraumbüro und gehe die nächste Woche durch. Ich stutze. Keine großen Meetings, keine wichtigen Deadlines, kein Kundentermin. Ich schließe die Augen und träume mich unvermittelt an einen Strand, ganz allein, nur ich, ein Glas Weißwein und ein gutes Buch in der Hand.

»Warum eigentlich nicht? Wozu bin ich denn selbständig?«, denke ich bei mir. Ich beschließe, dass ich eine Auszeit verdient habe.

In die Suchmaschine tippe ich »Last Minute am Strand«. Ins Auge fällt mir sofort ein Angebot für eine Woche Ägypten. Schöne Hotelanlage mit Zugang zum Meer, guter Preis. Übermorgen, am Samstag, könnte es losgehen. Ich rufe meinen Mann Christian an und frage ihn, ob er eine Woche mit den Kindern allein klarkäme.

»Ja«, sagt er.

In Gedanken falle ich ihm um den Hals.

Ich buche online, und keine 36 Stunden später bin ich auf dem Weg in die Sonne Ägyptens. Ich liebe Spontanität. Das Gefühl, dass jederzeit im Leben eine Überraschung auf mich warten kann. Man muss sich nur darauf einlassen. Ich freue mich riesig auf ein paar Tage, in denen ich nichts weiter tun werde als schlafen, essen, lesen und ein bisschen Sport machen. Ich werde meine leeren Akkus auffüllen und Platz schaffen für neue und kreative Gedanken. Zumindest ist das mein Plan.

Die Anreise verläuft ohne Zwischenfälle. Das Hotel ist schön und sieht genauso aus wie auf den Bildern. Am zweiten Tag komme ich nach dem Schwimmen in der riesigen Poollandschaft zurück in mein Zimmer. Ich werfe einen Blick auf mein Telefon, das auf dem Bett liegt.

»Huch, da muss etwas passiert sein«, schießt es mir angesichts der vielen Nachrichten, die auf dem Display angezeigt werden, durch den Kopf. Neugierig beginne ich zu lesen. Das ist ja der Hammer!

Die Hamburger Grünen, damals heißen sie noch GAL (Grüne Alternative Liste), laden am Mittag zu einer Pressekon­ferenz ein, auf der sie das Ende der schwarz-grünen Koalition verkünden wollen. Es ist das bundesweit erste Regierungsbündnis dieser Art auf Landesebene und hat nur gut zweieinhalb Jahre überdauert. Seit dem Rückzug des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust (CDU), der wenige Monate zuvor am Abend eines aus seiner Sicht nicht gut ausgegangenen Referendums zur Hamburger Schulpolitik das Handtuch geworfen hat, gibt es zwischen den Koalitionspartnern Schwierigkeiten. Immer wieder kommt es zu Streit. Erst wenige Tage zuvor hat der CDU-Finanzsenator während einer Bürgerschaftsdebatte seinen Rücktritt erklärt.

Nun also der Koalitionsbruch. Damit habe ich nicht gerechnet, vermutlich hat das kaum jemand. In ersten Medienberichten wird darüber spekuliert, dass sich die Bürgerschaft am 15. Dezember auflösen und es am 20. Februar des nächsten Jahres Neuwahlen geben soll, mehr als ein Jahr vor dem regulären Ende der Legislaturperiode.

Mir ist sofort klar, dass dieses Ereignis, auf das ich keinerlei Einfluss genommen habe, meine Leben gründlich auf den Kopf stellen könnte.

»Du musst es machen!«, ist der Tenor der meisten Nachrichten, die ich von Parteifreunden auf meinem Telefon lese. Und es kommen immer neue dazu. »Es machen«, damit meinen sie die Spitzenkandidatur für die jetzt plötzlich und kurzfristig anstehende Bürgerschaftswahl. Auf die unser FDP-Landesverband mitnichten vorbereitet ist, denke ich mit Unbehagen.

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich über eine Bürgerschaftskandidatur nicht bereits nachgedacht hatte. Ich hatte sogar über die Spitzenkandidatur nachgedacht. Es gibt nicht wenige in meinem Hamburger Landesverband, die mich dazu ermuntert haben. Ich habe meine Sache bei der Wahlkreiskandidatur in Hamburg-Altona für die Bundestagswahl 2009 ordentlich gemacht. Aber die Bürgerschaftswahl schien mir damals noch so weit weg. Sie sollte ja auch erst 2012 stattfinden. Und jetzt das.

Ich muss mich erst mal setzen und tief durchatmen. Will ich das wirklich? Will ich eine so radikale Veränderung in meinem Leben? Die würde das Abgeordnetenleben zweifellos mit sich bringen. Ich bin doch eigentlich ganz zufrieden. Angekommen in meinem Job. Ich habe einen festen Plan, habe eine neue Aufgabe zugesagt, die gleich im Januar starten soll.

Mein Job lässt mir genügend Zeit und Raum, um mich um meine Kinder zu kümmern. Mir bleibt sogar Zeit, mich politisch zu engagieren – ehrenamtlich. Warum um alles in der Welt soll ich an diesem Zustand etwas ändern? Ich kenne die Antwort bereits. Schon länger nagen Zweifel an mir, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Immer häufiger lassen sich die Gedanken daran nicht mehr verdrängen, dass ich mich in meinem Job mit Dingen beschäftigen muss, die mich nicht wirklich berühren. Die mit mir und meinem Leben nichts zu tun hatten. Die ich mache, weil sie eben gemacht werden müssen. Aber es fehlt die Leidenschaft, die ich so gern in meinem Job spüren will.

Wie oft wünsche ich mir, dass ich noch viel mehr Politik machen kann. Das ist es, was mich wirklich fasziniert. Das ist es, worauf ich mich konzentrieren will. Ich möchte noch viel tiefer einsteigen, ich will herausfinden, was ich als Mitglied eines Landesparlamentes bewirken kann. Wie ich dazu beitragen kann, dass das, was wir bisher nur in Wahlprogrammen und Pressemitteilungen aufgeschrieben haben, Realität wird.

Ich verbringe den ersten Teil des Nachmittages damit, mich abzulenken. Räume mein Zimmer auf, lese ein Buch, gehe zu einem Yogakurs. Aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab zu den Ereignissen im fernen Hamburg. Ich wünsche mir einerseits, vor Ort zu sein, die Stimmung zu erleben und dabei zu sein, wenn sich mein Landesvorstand morgen zu einer Sondersitzung trifft. Andererseits bin ich froh, weit weg zu sein und der Aufregung erst mal zu entkommen.

Schließlich gebe ich es auf und mache mich daran, ein paar Dinge für mich zu klären. Ich führe Dutzende von Telefonaten. Zuerst rufe ich meinen Mann an. Mir ist klar, dass ich die Kandidatur und später ein Bürgerschaftsmandat nicht ohne die Unterstützung meiner Familie packen werde. Ich werde noch mehr unterwegs sein, vor allem an den Abenden und den Wochenenden. Mein kleiner Sohn Jacob ist erst vor ein paar Monaten eingeschult worden, Johann ist acht und geht in die dritte Klasse. Sie sind keine Babys mehr, aber sie brauchen definitiv jemanden, der sich verlässlich um sie kümmert, wenn sie aus dem Hort nach Hause kommen.

»Diese Chance musst du nutzen. Wir schaffen das, ich helfe dir«, sagt mein Mann zu mir, nachdem wir die Lage besprochen haben. Wir kennen uns seit mehr als zehn Jahren, ich habe eigentlich keine andere Antwort von ihm erwartet. Trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen. Ohne die Unterstützung von Christian würde ich es nicht machen. Ich könnte es auch gar nicht schaffen. Es läuft längst nicht immer alles gut zwischen uns. Aber ich habe einen tollen Mann geheiratet, der obendrein ein wunderbarer Vater ist. Gleichzeitig wird mir klar, dass ich jetzt nur noch an mir selbst scheitern kann. Das »Go« von zu Hause habe ich.

Ich spreche mit Parteifreunden und lasse mich auf den neuesten Stand bringen. Wer bringt sich in Stellung für welche Position? Wer zögert und will sich bitten lassen? Wer hat abgewunken? Ich rufe Freunde an. Keiner von denen, die ich anrufe, rät mir dazu, die Finger von der Sache zu lassen, ganz im Gegenteil. Ich gebe zu, das liegt durchaus auch an der Auswahl meiner Gesprächspartner. Es gibt Parteifreunde, die mich unbedingt als Spitzenkandidatin verhindern wollen. Die rufe ich natürlich nicht an. Und sie mich auch nicht. Wir wissen auch so um unsere Gegnerschaft in der Partei.

Einige Wochen später muss ich mit Entsetzen feststellen, dass die Telefonrechnung für die Tage in Ägypten deutlich höher ausgefallen ist, als mich der Urlaub insgesamt gekostet hat.

Beim Abendessen auf der großen Terrasse neben dem Pool blicke ich mich um. Sieht man mir die Veränderung an, die in mir innerhalb der letzten Stunden stattgefunden hat?

»Wie albern, natürlich nicht«, sage ich mir. Es ist seltsam, inmitten all der fremden Menschen zu sein, die meist als Paare an den Tischen sitzen, und mit niemandem hier das Wissen zu teilen, dass ich möglicherweise bald für ein öffentliches Amt, einen Sitz in der Hamburgischen Bürgerschaft kandidieren werde. Vielleicht, nein sogar wahrscheinlich, als Spitzenkandidatin. Mein Name wird ganz oben auf einem Wahlzettel stehen. Bei einer echten Wahl. Gelebte Demokratie. Irgendwie bleibt das Gefühl, dass man mir etwas so unglaublich Bedeutendes einfach ansehen muss. Das ist natürlich Quatsch. Wie schon am Abend zuvor nimmt niemand auch nur die geringste Notiz von mir.

Nach dem Essen gehe ich an den Strand, der zur Anlage gehört. Es ist bereits stockdunkel, von der Terrasse wehen Fetzen von Gesprächen und Musik zu mir herüber. Außer mir ist niemand hier unten. Bis auf die beiden jungen Typen, die noch Dienst an der Strandbar haben. Bei ihnen hole ich mir ein Glas Weißwein und setze mich nah am Wasser in einen Liegestuhl. Ich starre in den Sternenhimmel und auf das glitzernde Wasser. Ich habe eine Entscheidung gefällt. Ich werde es machen. Ich will für Platz 1 der FDP-Landesliste für die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft kandidieren. Es gibt keinen Zweifel, es fühlt sich absolut richtig an.

Ich erlebe diesen besonderen Abend ganz bewusst. Nachdem ich meine Entscheidung getroffen habe, werde ich ganz ruhig. Mir ist klar, dass es mit der Ruhe vorbei sein wird, sobald ich wieder in Deutschland bin. Mein Leben wird für lange Zeit sehr turbulent sein. Es wird sich alles ändern. Vielleicht für immer. Ich versuche Kraft zu sammeln, und ich danke dem Himmel für die Intuition, genau jetzt weggefahren zu sein. Nicht eine Woche früher, nicht eine Woche später. Es ist der perfekte Zeitpunkt. Das politische Hamburg steht noch unter dem Eindruck der sich überschlagenden Ereignisse, Entscheidungen sind noch nicht getroffen worden. Ich verpasse nichts. Aber ich kann Kraft sammeln und mich wappnen für das, was kommt.

Die Abende nach dem Abendessen am Strand werden mein Ritual für den Rest der Urlaubswoche. Jedes Mal trinke ich ein Glas Weißwein. Der Wein ist nicht besonders gut. Er schmeckt sogar ziemlich scheußlich. Aber das ist in diesen Augenblicken Nebensache. Ich höre Musik und gucke aufs Wasser. Lasse die Gedanken fließen. Ich kann mich kaum erinnern, jemals bewusster die Entspannung genossen zu haben. Ich denke nicht an den bevorstehenden Wahlkampf. Nicht an Wahlprogramme, Bewerbungsreden, Fernsehauftritte und Interviews. Ich bin ganz im Hier und Jetzt an diesem weißen Sandstrand unter dem sternenklaren Himmel an der Küste Ägyptens und genieße die Ruhe. Die Ruhe vor dem Sturm.

Im Nachhinein erscheint es mir seltsam, dass ich in diesen Tagen völlig ausgeblendet hatte, dass die Hamburger FDP nicht in der Bürgerschaft vertreten ist. Sie hat es sowohl 2004 als auch 2008 nicht geschafft, die Fünfprozenthürde zu überspringen. In den Umfragen sind wir kaum messbar. Der Landesverband gilt als zerstritten, unberechenbar und kaum zu führen. Kurzum, die Ausgangslage ist alles andere als gut. Dennoch kommt es mir überhaupt nicht in den Sinn, dass wir erneut scheitern könnten. Ich sehe alles genau vor mir.

Kapitel 3Dreikönigstreffen

4. Januar 2011

Es ist fast Mittag und ich sitze im Büro, als mein Telefon klingelt. Eine unbekannte Nummer.

»Suding«, melde ich mich.

»Westerwelle«, antwortet eine mir wohlbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Haben Sie Lust, morgen mit mir als meine Begleitung zum Dreikönigsball in Stuttgart zu gehen? Und ich hätte sie am nächsten Morgen bei der Kundgebung gern bei mir auf der Bühne. Sind Sie dabei? Ich würde mich sehr freuen.«

Die Kundgebung, damit meint er das jährliche traditionelle FDP-Dreikönigstreffen am 6. Januar in Stuttgart. Am Vorabend findet der Dreikönigsball statt. Das liberale Treffen ist eine Veranstaltung des FDP-Landesverbandes Baden-Württemberg, wie die Parteifreunde von dort gern betonen. Es findet aber nicht nur im Südwesten Beachtung, sondern wird bundesweit aufmerksam verfolgt – was hauptsächlich daran liegt, dass der Vorsitzende der Bundespartei die Hauptrede hält.

Guido Westerwelle ist zu diesem Zeitpunkt seit zehn Jahren Chef der Bundes-FDP. In diesen Wochen läuft es nicht gerade gut für ihn. Dabei hat er bei der Bundestagswahl 2009 seinen großen Triumph gefeiert. Mit ihm als Vorsitzendem erreichte die FDP ein Rekordergebnis von 14,6 Prozent, mehr als je zuvor. Das ist nicht zuletzt deshalb gelungen, weil die FDP im Wahlkampf eine große Steuerreform versprochen hat. Viele rechneten damit, dass Westerwelle sich in der neuen schwarz-gelben Regierung für das Finanzressort entscheiden würde, um an zentraler Position für die Umsetzung dieses FDP-Wahlversprechens Verantwortung zu tragen. Doch er entschied sich anders und wurde Außenminister.

Als die groß angekündigte Steuerreform ausfiel, lastete ihm das die mediale Öffentlichkeit persönlich an. In einen regelrechten Shitstorm geriet Westerwelle für eine Äußerung in der Sozialstaatsdebatte über Hartz IV. »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein«, schrieb er im Februar 2010 in einem Gastbeitrag für Die Welt.

Eine ungeschickte und missverständliche Wortwahl, die er sehr bereut hat, wie er später zugab. Es sei ihm nicht darum gegangen, Menschen zu kritisieren, die es schwer im Leben haben. Vielmehr habe er ausdrücken wollen, dass in einem funktionierenden Sozialstaat nicht nur darauf geachtet werden dürfe, wie hoch die staatlichen Zahlungen sind und wie sie verteilt werden, sondern dass Anreize geschaffen werden müssten, damit Menschen für sich und die Gesellschaft etwas leisten können und wollen. Die Umfragewerte für die FDP fallen auf magere vier bis fünf Prozent. Im Dezember 2010 fordern hochrangige Parteimitglieder Westerwelle öffentlich zum Rücktritt auf. Er selbst lässt offen, ob er auf dem Parteitag im nächsten Mai wieder als Parteivorsitzender kandidieren will.

Das Dreikönigstreffen ist der Start der Liberalen in ihr politisches Jahr. Und damit ein wichtiger Stimmungstest. 2011 soll ein sogenanntes Superwahljahr werden. Neben Hamburg im Februar stehen im März auch in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt Landtagswahlen an. Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin folgen später im Jahr. Nun ist Westerwelle nicht nur FDP-Parteichef, sondern gleichzeitig Außenminister und Vizekanzler der viertgrößten Industrienation der Welt. Das Interesse an der Personaldiskussion um ihn ist also riesig. Und so wird auch das bevorstehende Dreikönigstreffen mit besonders großer Spannung und umfangreicher Medienberichterstattung erwartet.

Aus der Kundgebung in der Stuttgarter Staatsoper lässt sich vermeintlich oder tatsächlich jede Menge herauslesen. Wie fest sitzt der Vorsitzende im Sattel? Kann er seine Anhänger mitreißen? Wer steht zu ihm, wer stellt sich gegen ihn? Welche Schwerpunkte und Themen setzt er? Natürlich will ich dabei sein. Meine Dreikönigs-Premiere als Tischdame von Guido Westerwelle. Ich sage zu. Und erst danach fange ich, an darüber nachzudenken, dass die Reise logistisch durchaus eine Herausforderung für mich bedeuten könnte.

Erst mal aber verdränge ich den Gedanken daran, denn es wartet eine andere, noch viel größerer Aufgabe auf mich. In wenigen Stunden soll ich auf der Vertreterversammlung meines Landesverbandes zur Spitzenkandidatin gewählt werden. Die Vertreterversammlung ist ein Gremium aus 121 Wahlmännern und -frauen, die eigens zum Zweck der Kandidatenaufstellung zur Bürgerschaftswahl 2011 von ihren Kreisverbänden gewählt wurden. Und die werden es mir an dem Abend nicht einfach machen. Einige Parteifreunde trauen mir die Spitzenkandidatur schlicht nicht zu.

»Die hat doch noch Zeit«, »sie ist noch nicht lange genug in der Partei«, das sind ihre Argumente. Und dann bin ich auch noch eine Frau. Darüber wird zwar nicht ganz so offen gesprochen, doch auch dieser Aspekt schwingt erstaunlich stark mit.

Nach der Arbeit feile ich noch ein wenig an meiner hastig zusammengeschriebenen Bewerbungsrede und mache mich dann auf den Weg zur Vertreterversammlung, die im Bürgerhaus Wilhelmsburg im Süden Hamburgs stattfindet. Bei der Abstimmung erhalte ich magere 67,6 Prozent der Stimmen. Ohne Gegenkandidaten. Das ist noch viel schlechter, als ich erwartet hatte. Trotzdem lächle ich tapfer in die Kameras und beteuere, wie sehr ich mich über die Unterstützung der Parteifreunde freue, die mich gewählt haben. Und dass ich es als Ansporn sehe, die anderen durch gute Arbeit von mir zu überzeugen. Es kostet mich viel Kraft. Auch wenn ich krampfhaft versuche, es nicht so aussehen zu lassen, das ist alles andere als ein gelungener Start in den Wahlkampf. Ich brauche jetzt jede Form der Unterstützung. Und die hat Guido Westerwelle mir versprochen.

Erst am späten Abend komme ich ausgelaugt zu Hause an. Es ist ein langer Tag gewesen. Trotz heißer Wahlkampfphase muss ich am nächsten Morgen wieder ins Büro. Ich habe ja einen ganz normalen Job und muss Geld verdienen. Allerdings habe ich wegen des Wahlkampfes meine Arbeitszeit auf halbe Tage verkürzt und will ab Anfang Februar ganz aussetzen. Wie gern möchte ich jetzt einfach nur ins Bett kriechen, mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und an etwas anderes denken als an das schlechte Ergebnis, das ich gerade eingefahren habe. Es ist mir peinlich und unangenehm, dass alle Welt nun weiß, wie wenig mir meine eigenen Parteifreunde offenbar zutrauen. Und ich bin wütend und enttäuscht, auch von mir selbst, dass dieser Abend keine guten Schlagzeilen liefern wird. Ich bin gerade zum ersten Mal zur Spitzenkandidatin bei einer Bürgerschaftswahl gewählt worden. Aber irgendwie empfinde ich es als Niederlage.

Doch ans Schlafen darf ich jetzt nicht denken. Morgen früh muss ich mit einem fertig gepackten Koffer zur Arbeit gehen, um von dort direkt zum Flughafen zu fahren. Unter normalen Umständen, mit etwas mehr Vorlauf, hätte ich mir ausgiebig Gedanken gemacht, was ich anziehen will. Ein Dreikönigsball mit Guido Westerwelle, das ist ja nicht irgendwas. Vielleicht wäre ich sogar shoppen gegangen. Dafür ist jetzt keine Zeit. Ich durchwühle meinen Kleiderschrank und stoße auf das schwarze Kleid, das ich zu meinem Abiball getragen habe. Es passt noch. Und der Stoff ist absolut knitterfrei. Problem gelöst.

Ich bin nervös. Gleich soll ich Guido Westerwelle in der Lobby des Hotels treffen. Er will mit mir zusammen in seinem Dienstwagen in das wenige Kilometer entfernte Maritim Hotel fahren, in dem der Ball stattfindet. Ich gehe hinunter in die Lobby und setze mich auf ein Sofa mitten im Eingangsbereich. Ich will sicherstellen, dass er mich nicht übersieht.

Ich bin Guido Westerwelle bisher nur wenige Male persönlich begegnet. Das war meist in größeren Runden, bei denen wir nie wirklich miteinander gesprochen haben. Ich bin mir sicher, dass er sich daran nicht mehr erinnern kann. Ich gehe also davon aus, dass er annimmt, wir werden uns gleich zum ersten Mal treffen. Ich nehme mir vor, ihn in diesem Glauben zu lassen.

»Aber wird er mich überhaupt erkennen? Weiß er, wie ich aussehe?«, grübele ich.

»Natürlich«, denke ich. »Der Mann ist Profi, und als Profi informiert man sich über seine Gesprächspartner und lässt sich Fotos von ihnen zeigen. Erst recht, wenn man jemanden zu einem Ball einlädt.«

Und dann fällt mir ein, dass ich ja jetzt Hamburger Spitzenkandidatin bin, damit eine hochoffizielle Funktion habe und er und ich im Wahlkampf eng zusammenarbeiten werden. Diese Zusammenarbeit soll heute mit unserem ersten gemeinsamen Auftritt beginnen. Ein bisschen stolz auf mich selbst, setze ich mich ein wenig aufrechter hin und blicke mich um. Schon fast zehn Minuten über der Zeit. Wo bleibt er denn? Ist er etwa ohne mich losgefahren?

Und dann steht er auf einmal vor mir.

»Guten Abend, Frau Suding! Wie geht es Ihnen? Sie sehen bezaubernd aus!«, er strahlt mich über das ganze Gesicht an.

›Was für eine nette Begrüßung, der freut sich ja tatsächlich‹, denke ich erleichtert. Auch wenn sich das Kompliment über mein Äußeres irgendwie auswendig gelernt anhört. Egal, trotzdem nett.

»Zwei Dinge muss ich Ihnen gleich sagen: Ich tanze nicht. Und nach dem Abendessen muss ich los, ich habe noch Arbeit.«

»Kein Problem, das verstehe ich doch«, lüge ich.

»Was soll das denn? Er lässt mich extra aus Hamburg einfliegen, um mich dann einfach sitzen zu lassen?«, denke ich frustriert. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken.

Zusammen mit seinem Mitarbeiter steigen wir in den Wagen und der Fahrer fährt los. Wir biegen in die Straße ein, die direkt zum Haupteingang des Hotels führt. Kurz bevor wir aussteigen, bittet er mich: »Geben Sie Ihren Mantel meinem Mitarbeiter. Ohne sieht es besser aus auf den Fotos.«

Das tue ich, steige aus und laufe um das Auto herum, um mit ihm an der Seite das Hotel zu betreten. Durch die Glastür kann ich sie bereits sehen. Fotografen, Kameras, Menschen. Unglaublich viele Menschen. Sie warten offenbar alle auf uns. Mir stockt der Atem.

Drinnen empfängt uns die wartende Traube aus Menschen. Sie rücken ganz nah an uns heran. Wir bahnen uns einen Weg durch die Massen in Richtung des Ballsaals. Ich selbst kann die Richtung nur erahnen. Eigentlich kann ich gar nichts sehen. Außer Menschen über Menschen, die uns den Weg versperren und nur widerwillig zur Seite treten. Es ist mir unangenehm. Ich bleibe eng an der Seite von Westerwelle, der, anders als ich, ganz offenbar nicht die Orientierung verloren hat und genau weiß, wo es langgeht. Die Fotokameras blitzen von allen Seiten. Reporter mit Mikrofonen, begleitet von Fernsehkameras, laufen neben uns her. »Wie geht es Ihnen heute?«, »Was erwarten Sie vom Dreikönigstreffen, Herr Westerwelle?«, »Werden Sie als Parteichef zurücktreten?«, wollen sie wissen.

Auf diesen Empfang bin ich nicht im Geringsten vorbereitet. Ich fühle mich völlig überfordert. Es ist purer Stress für mich. Ich bin froh, dass sich das Interesse auf meinen Begleiter konzentriert und die Mikros nicht mir unter die Nase gehalten werden. Dennoch spüre ich sehr deutlich die neugierigen und fragenden Blicke, die auch auf mir liegen.

»Bleiben Sie ganz dicht bei mir. Lassen Sie mich hier nicht allein!«, flüstere ich Westerwelle panisch zu und klammere mich fest an seinen Arm. Dabei kenne ich diesen Mann kaum, wir haben uns ja eigentlich gerade erst kennengelernt. Was muss er von mir denken?

Er lächelt mich nur freundlich an und beantwortet ganz ruhig einige Fragen der Reporter. Ihm ist offenbar überhaupt nicht klar, wie einschüchternd diese Situation für mich ist. Und dass es vielleicht besser gewesen wäre, mich wenigstens vorzuwarnen. Aber vermutlich ist das für ihn nach all den Jahren so sehr zur Routine geworden, dass es ihm gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Im Nachhinein ist mir mein Auftritt vor ihm etwas peinlich. Als Spitzenkandidatin muss ich doch souverän mit dem Interesse der Medien umgehen. So fühlt es sich ganz und gar nicht an. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir den Saal und schließlich auch unseren Tisch. Es wird ein schöner Abend.

Jahre später spreche ich mit einem Journalisten, der für ein deutschlandweit erscheinendes Wochenmagazin schreibt, über diesen Abend. Ich erzähle ihm, was ich damals empfunden habe. Er hat uns genau beobachtet und sagt mit, dass er mir überhaupt nicht angemerkt hätte, wie neu, fremd und verwirrend die Situation für mich war. Ich sei »cool rübergekommen« und hätte selbstsicher und freundlich in die Runde gelächelt. Das überrascht mich, denn ich bin sicher, dass jeder Beobachter genau gemerkt haben musste, was in mir vorging. Ich fühlte mich damals unsicher und unwohl in meiner Haut, war aber offenbar in der Lage, das gut zu verstecken. Das ist gut zu wissen. Denn diese Fähigkeit braucht jeder, der an einem schlechten Tag auf der Bühne steht und sich Angst, Befindlichkeiten und Launen nicht anmerken lassen will.

Der Journalist verrät mir auch ein lustiges Detail: Nach unserem Auftritt beginnt unter den anwesenden Journalisten das große Rätselraten, wer ich denn sei und ob ich möglicherweise sogar die neue Frau an der Seite von Guido Westerwelle sei. Die Neuigkeiten über die Kandidatenkür der Hamburger FDP haben zu dem Zeitpunkt wohl noch nicht die Runde gemacht.

»Einige von uns haben wirklich gedacht, Sie hätten ihn gedreht«, erzählt er mir grinsend.

Was natürlich Quatsch ist. Westerwelle hat sich bereits 2004 als homosexuell geoutet und zeigt sich oft und gern mit seinem Mann. Ich muss schmunzeln und bin eigentlich ganz froh, dass ich damals nichts von diesen Mutmaßungen mitbekommen habe. Offenbar hat sich die Sache im Laufe des Abends auch relativ schnell aufgeklärt, als bekannt wird, wer ich bin und warum ich da bin.

Dieses Erlebnis mit Guido Westerwelle auf dem Weg von seinem Wagen in den Ballsaal brennt sich tief in meine Erinnerung ein. Jedes Mal, wenn ich das Maritim Hotel in Stuttgart betrete, kommt mir diese Szene in den Sinn. Und immer muss ich dabei ein wenig über mich selbst lachen. Was hat das damals Eindruck auf mich gemacht! Es faszinierte und schockierte mich zugleich, zu erleben, wie stressig das Leben eines Spitzenpolitikers sein kann. Welchem Druck er ausgesetzt ist und welch große Aufmerksamkeit er auf sich zieht. Als nichts anderes empfand ich es damals: puren Stress. Kein Wunder, ich hatte so etwas noch nie erlebt und die Situation traf mich vollkommen unvorbereitet. Wohl gerade deswegen härtete sie mich ab. Danach hat mich keine noch so große Ansammlung von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten wieder derartig nervös gemacht.

Kapitel 4»Westerwelles next Topmodel«

Januar 2011

Der Bürgerschaftswahlkampf nimmt Fahrt auf. Unsere Kampagne findet Beachtung, weit über die Hamburger Landesgrenzen hinaus. Jeden Tag erreichen uns neue Interviewanfragen, aus ganz Deutschland. Für diesen Ansturm ist mein kleines Unterstützerteam nicht gemacht, ich komme kaum mit der Beantwortung hinterher.

Einen Vergleich habe ich noch nicht. Trotzdem dämmert mir, dass das Interesse an einer FDP-Spitzenkandidatin bei einer Hamburger Bürgerschaftswahl nicht zwingend und nicht immer so groß ist. Ich wünsche mir natürlich, dass es auch mit meiner Person zu tun hat. Ich sage mir, dass ich natürlich und nahbar wirke. Wie die Frau aus der Nachbarschaft, mit der man befreundet sein will. So sehe ich es, das ist mein Selbstverständnis, das ist mein Anspruch an mich.

Und dann das. Spiegel Online titelt in einer Geschichte über mich: »Westerwelles next Topmodel«. Die beiden Autoren, übrigens ein Mann und eine Frau, schreiben in ihrem Text, die Wochenzeitung Die Zeit hätte in dieser Wortwahl über meine Kampagne gelästert. Es klingt so, als griffen sie bloß auf, wie die Kollegen der journalistischen Konkurrenz bereits geurteilt haben. Sie distanzieren sich allerdings nicht davon. Stattdessen machen sie den Begriff zur Headline und reichern ihren Artikel mit einer elfteiligen Fotostrecke an.

Auf zehn von elf der Bilder bin ich im Großformat zu sehen. Ich auf dem Wahlplakat, ich bei der Vorstellung des Wahlplakates, ich bei meiner Wahl zur Spitzenkandidatin, ich in Begleitung von Westerwelle beim Dreikönigsball, nochmal ich in Begleitung von Guido Westerwelle beim Dreikönigsball. Und nochmal ich in Begleitung von Guido Westerwelle, diesmal allerdings beim Neujahrsempfang des Hamburger Abendblatts. Das einzige Foto, auf dem ich nicht zu sehen bin, zeigt meine Partei­freundin Silvana Koch-Mehrin. Der Zusammenhang aus Autorensicht: Auch sie ist eine FDP-Frau, eine sehr attraktive Frau obendrein, wie es im Text heißt, die überdies eine Wahl aus einer schwierigen Lage heraus gewonnen hat. Da werden sofort Parallelen gezogen.

Deshalb verzichten die Autoren auch fast vollständig darauf, über Inhalte zu sprechen. So als gäbe es da nichts, wofür ich stehe. Es gibt ein paar Sätze, in denen über eine mögliche Ampelkoalition spekuliert wird. Tatsächlich kann ich mir die in Hamburg gut vorstellen. Da weiß ich noch nicht, dass die SPD am Wahlsonntag die absolute Mehrheit erringen und keinen Partner zum Regieren brauchen wird. Mit einem Halbsatz wird mein haushalts- und familienpolitisches Programm angesprochen.

Die Autoren haben nicht ein Wort mit mir gewechselt, haben nicht einmal den Versuch gemacht, zu verstehen, wofür ich stehe. Sie unterlassen lieber alles, was ihr vorgefertigtes Bild von mir zum Wanken hätte bringen können. Und präsentieren mich der Republik als schöne, aber eigentlich leere Hülle, von Wahlstrategen gecastet, die den Wahlerfolg für ihre gebeutelte Partei bringen soll. Und sich dabei ihre äußeren Reize zunutze machen soll. Na super!

Natürlich weiß ich um die Mechanismen, wie das mit der öffentlichen Aufmerksamkeit funktioniert. Ein knappes Gut, um das man in der Regel kämpfen muss. Oder für das man sich zumindest geschickt anstellen muss. Ich mache das schon einige Jahre beruflich. Um zu den Wählern durchzudringen, kommt es darauf an, überhaupt erst mal bemerkt zu werden, ich weiß das. Stattfinden, darum geht es. Nur wer Sendezeit bekommt, Raum in Print, Fernsehen oder Onlinemedien, hat überhaupt eine Chance, mit dem wahrgenommen zu werden, was man für die Menschen verändern und erreichen will. Anders geht es nicht. Ohne Medien, die berichten, keine Wahrnehmung beim Wähler. Und damit keine Stimme am Wahltag. So einfach ist das.

Also beiße ich in den sauren Apfel und spiele das Spiel mit. Ein anderes gibt es nicht. Wer nicht mitspielt, hat schon verloren. Das begreife ich. Und sosehr ich mir zujuble, dass mir als Hamburger FDP-Spitzenkandidatin etwas gelingt, was mir niemand zugetraut hat und was auch keiner meiner Vorgänger geschafft hat, so sehr macht mich dieses Spiel, auf dessen Spielfeld ich mich so plötzlich wiederfinde, innerlich fertig.

Denn da ist mein Ego, riesengroß und lautstark, es will es allen zeigen. Zeigen, dass es was draufhat. Dieses Ego treibt mich an, noch eine ordentliche Schippe draufzulegen, noch mehr Leistung zu bringen. Es will gesehen werden, und zwar auf die richtige Weise. Als ernstzunehmende Politikerin, die für ihre Überzeugungen kämpft und weiß, wovon sie spricht. Die nicht nur meckern und kritisieren kann, sondern aufzeigt, wie es besser geht. Die der Regierung auf die Finger schaut und sie nicht mit faulen Kompromissen davonkommen lässt. Die es schafft, ihren eigenen Laden zusammenzuhalten und zu einer schlagkräftigen Truppe zu formen.

Irgendwo in einem hinteren Winkel meines Verstandes ist mir klar, dass die Menschen überwiegend etwas ganz anderes in mir sehen. Vielen ist es vollkommen egal, was ich politisch für sie erreichen will. Manche geben sogar unumwunden zu, dass sie mich nur deshalb wählen, weil ich »super aussehe« und so ganz anders bin als die langweiligen Politiker, die sie sonst von den Plakaten anlächeln. Ich spüre das, aber ich will es nicht wahrhaben. Es passt so gar nicht in das Bild, das ich von mir habe. In meiner Selbstwahrnehmung kann und darf es nicht sein, dass Spiegel Online mich mit der Schlagzeile »Westerwelles next Topmodel« auf mein Äußeres reduziert. Ich empfinde das als Kränkung.

Und damit bin ich in einem tiefen Zwiespalt, den ich auch in den kommenden Jahren nie auflösen werde: Ich weiß, dass sich vermutlich niemand für mich interessieren würde, wäre ich unattraktiv. Dann könnte ich alles genauso machen, wie ich es jetzt tue. Ich hätte damit doch keinen Erfolg. Eine fiese, brutale Wahrheit. Für mich, aber auch für uns als Gesellschaft insgesamt. Ich habe zwei Möglichkeiten: Ich mache da nicht mit und steige aus dem dreckigen Spiel aus. Das wäre dann das Ende der politischen Karriere, bevor sie überhaupt begonnen hat. Oder ich nehme die Umstände an, wie sie sind, ich kann sie ja sowieso nicht ändern. Und mache das Beste für mich daraus. Freue mich über die Aufmerksamkeit, die sich eigentlich auf etwas anderes richtet, und nutze sie, um meine politischen Pläne zu verwirklichen.

Ich entscheide mich für Letzteres. Denn das Spiel läuft gut für mich. Sogar sehr gut. Also blende ich einfach alles aus, was mir ein schlechtes Gefühl gibt, was diesen faden Beigeschmack hat. Fokussiere mich auf einen erfolgreichen Wahlabend. Stelle mir vor, wie ich in endlosen Interviews unseren Wahlerfolg erkläre, den mir kaum einer zugetraut hat. Visualisiere mich als erfolgreiche Politikerin eines neuen Typs. Nehme in Gedanken schon mal die vielen Glückwünsche entgegen. Ich lasse keinen Gedanken an ein Scheitern zu.

Ich will den Erfolg. Und für meinen Erfolg brauche ich die Medien. Also mache ich sie mir zunutze. So wie die Medien mich ausnutzen. Ich kann das genauso, wie sie es können. Es ist ein Geben und Nehmen, eine gegenseitige Abhängigkeit. Die Medien müssen Geschichten erzählen, anders verkaufen sie sich nicht. Aber sie wollen sie in der Regel anders erzählen, als ich es will, ihr Interesse ist ein anderes als meines. Ihre Währung sind Auflage, Reichweite und Klickzahlen, dazu brauchen sie Sensationen, Skandale, Skurriles, Exklusives. Meine Währung sind Zustimmung in der Bevölkerung und Wählerstimmen. Dafür brauche ich den Kommunikationskanal zum Wähler, der in einem 80-Millionen-Land nur über die Massenmedien hergestellt werden kann, der steigenden Reichweite von Social-Media-Kanälen zum Trotz. Ich muss transportieren, was ich zu sagen habe, ich muss sicherstellen, dass meine Positionen gehört werden, sonst bekomme ich die Wählerstimmen nicht. Und ohne Wählerstimmen kein Abgeordnetenmandat. Medien verschaffen mir, was ich als Politikerin wie die Luft zum Atmen brauche: Aufmerksamkeit. Es ist ein bisschen wie Prostitution. Nur weniger schlimm und gesellschaftlich anerkannt. Also Augen zu und durch.

Solange ich mir darüber im Klaren bin, was hier gespielt wird, ist alles gut, rede ich mir ein. Solange ich die Kontrolle behalte, Grenzen setze und jederzeit die Notbremse ziehen kann, wird schon nichts schiefgehen. Und eigentlich wird es mir leicht gemacht. Die Medien mögen mich, ganz überwiegend. Wirklich schlechte Erfahrungen habe ich in den elf Jahren, seitdem es dieses Medieninteresse an mir gibt, nicht machen müssen. Nicht alles, was ich über mich lesen konnte, ist schmeichelhaft, natürlich nicht. Und ich kann gut damit leben, wenn man sich politisch scharf mit mir auseinandersetzt. Das mag ich, und das gehört in einer Demokratie dazu. So richtig zerrissen worden bin ich fast nie. Meine mediale Präsenz war vielleicht nie überragend, aber doch gut. Es hat gereicht, um mich bundesweit bei vielen politikinteressierten Menschen bekannt zu machen und mir einige Wahlerfolge zu bescheren. Das Kalkül geht auf.

Der Preis jedoch ist bisweilen hoch. Dass sich die Presse so sehr für mein Privatleben interessiert, damit hadere ich. Und auch wenn es seit Jahren stattfindet und meine Realität geworden ist, es verwundert mich bis heute. Hätte man mir vor ein paar Monaten gesagt, dass sich bald die Boulevardpresse für die Männer in meinem Leben interessieren würde, ich hätte laut gelacht und es nicht geglaubt. Warum auch? Ich bin keine Schauspielerin, kein Popstar, kein Model. Mein Leben ist nicht Glitzer und Glamour. Ich will Abgeordnete sein, mein Leben sind Gremiensitzungen und Parlamentsdebatten.

Ich selbst finde es nicht so rasend spannend, wer gerade mit wem zusammen ist, wo es nicht gut läuft in der Beziehung und wer sich warum von wem trennt. Im direkten persönlichen Umfeld interessiert es mich, dann nehme ich daran sehr wohl Anteil. Aber bei Menschen, die ich gar nicht kenne und denen ich nie begegnet bin? Nein, das nicht. So wie ich ticken in dieser Hinsicht nicht alle. Ich nehme zur Kenntnis, dass es sehr viele Menschen gibt, die sich für das Privatleben anderer Menschen interessieren, warum auch immer. Sonst könnten all die Klatschmagazine ja kaum überleben. Und aus irgendeinem Grund scheinen sich auch einige für mein Leben zu interessieren.

Fortan entwickle ich also Strategien, damit umzugehen. Ich spiele mit und versuche doch gleichzeitig, nicht mitzuspielen. Ich weiß beispielsweise, dass ich Berichte über meinen Beziehungsstatus kaum verhindern kann. Dafür interessiert man sich brennend, und Berichterstattung darüber kann ich kaum ganz unterbinden. Was für mich persönlich auch okay ist. Was nicht okay ist: Ich erinnere mich an Szenen, in denen ich regelrecht gejagt wurde, wenn Gerüchte über einen neuen Mann in meinem Leben kursierten. Einmal finde ich sogar einen Paparazzo vor meiner Haustür, der sich offenbar ein Foto erhoffte, wie ich mit einer mir angedichteten Affäre das Haus verlasse.

Natürlich könnte ich jeden öffentlichen Auftritt in Begleitung meiden, zu jedem Ball, zu jedem Dinner, zu jeder Veranstaltung als Single gehen, wo andere mit ihren Partnern auftauchen. Dann ließe sich das Thema Beziehung vielleicht aus den Medien fernhalten. Doch darunter gibt es schöne Momente, die ich mit meinem Partner teilen möchte. Manche Veranstaltungen sind für mich ohnehin schwer zu ertragen, und wenn ich allein hingehen muss, ist es noch viel schlimmer. Ich möchte mich hier nicht einschränken lassen, nur um Berichterstattung zu verhindern. Ich will mir keine Fesseln anlegen lassen, die Option kommt für mich nicht infrage.

Also versuche ich, die Berichterstattung über mein Privatleben zu steuern, indem ich in die Offensive gehe. Bevor die Medien von sich aus etwas herausfinden, wie zum Bespiel, dass ich einen neuen Freund habe bzw. mich getrennt habe, erzähle ich es selbst. Und behalte damit das Heft des Handelns in der Hand. Denn dann entscheide ich, wem ich wann welche Informationen gebe. Auf manche mag es so wirken, als wenn ich mein Privatleben freiwillig und gern in der Öffentlichkeit ausbreite. Es genieße, wenn darüber geschrieben wird. Doch für mich ist es Selbstschutz, das kleinere Übel. Für mich ist es eine unerwünschte Nebenwirkung der Öffentlichkeit, die ich als Politikerin brauche, um einen guten Job zu machen.

Umso wichtiger ist es, dass ich mich schütze. Deshalb kontrolliere ich streng, was über mich nach außen dringt. Es sind meist nur einzelne Sätze, wenige gezielte Details, die ich über mich verrate. Sie reichen aus, um beim Leser ein gewisses Gefühl von Nähe zu schaffen. Aber sie schaffen nur eine Pseudonähe, weil sie über mich selbst eigentlich nichts verraten. Ich brauche einen undurchdringlichen Schutzpanzer, um mich nicht angreifbar und verloren zu fühlen. Ich mache keine Homestorys, meine Kinder zu fotografieren ist bis zu ihrem Erwachsenenalter tabu. Es ist ein schmaler Grat, auf dem ich gehe, aber so versuche ich die Kontrolle zu behalten. Meistens gelingt das.

Die Trennung von meinem Mann Christian gebe ich per Bild-Interview bekannt. So schaffe ich es, dass die noch immer recht ungewöhnliche Konstellation, dass meine damals acht und zehn Jahre alten Jungs bei ihrem Vater wohnen bleiben, nicht skandalisiert wird. Das Interview erscheint. In den darauffolgenden Tagen gehe ich nicht ans Telefon und lasse durch mein Büro ausrichten, dass ich nichts hinzuzufügen habe und man gerne aus dem Interview abschreiben dürfe. So gehe ich auch vor, als ich Jahre später eine neue Beziehung beginne, und noch ein paar Jahre später, als ich mich erneut trenne.

Und ich reagiere heftig, wenn nicht sauber gespielt wird. Als ohne Rücksprache mit den Betroffenen in mehreren Medien eines größeren Verlages über ein angebliches Verhältnis zu einer bekannten Persönlichkeit spekuliert wird, garniert mit Fotos, die ohne unser Wissen beim Verlassen eines Restaurants geschossen wurden, schalte ich einen Anwalt ein und erwirke eine Unterlassungserklärung. Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.