Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht - Ursula Isbel - E-Book

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht E-Book

Ursula Isbel

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Beschreibung

Spannender letzter Teil der Dreililien-Pferdebuchreihe!In Nells Leben ist einiges los: Sie ist durchs Abitur gerasselt und hat Riesenkrach mit ihrem Vater. Der ist gar nicht begeistert davon, dass sie eine Ausbildung zur Gärtnerin macht. Dann stirbt auch noch Jörns Vater. Wie wird es jetzt mit dem Reiterhof Dreililien weitergehen? Und warum bekommt sie auf einmal Schmetterlinge im Bauch, wenn sie mit Matty zusammen ist? Hat sie sich etwa in ihn verliebt? In den Bruder ihres Freundes? Nell muss eine Entscheidung treffen, die ihr ganzes Leben verändern wird. Mit dem Umzug aufs Land ändert sich Nells Leben komplett: Neue Umgebung, neue Freunde, neue Liebe. Auf dem Reiterhof Dreililien entdeckt der Teenager ihre Leidenschaft für Pferde und findet in Jörn, dem Sohn des Reiterhofbesitzers, ihre erste große Liebe. Im Laufe der zehn Bände, die sich über vier Jahre erstrecken, erlebt Nell so manche Abenteuer, Hindernisse und Turbulenzen auf Dreililien.

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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und Licht

Saga

Reiterhof Dreililien 10 - Wege in Schatten und LichtCover Bild: Shutterstock Copyright © 1994, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219678

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Damals, als wir noch in der Stadt wohnten, war die Rückkehr aus den Ferien ein selbstverständliches Nachhausekommen für mich gewesen, manchmal mit einem Schuß Bedauern, manchmal auch voller Erleichterung. Mit Dreililien aber war es anders.

Ich kannte dieses Gefühl von Heimkehr erst, seit wir hier lebten, in unserem Gebirgstal, das eine Welt für sich war – die Empfindung von tiefem Glück und freudiger Erwartung, wenn wir bei Achenmühle die Autobahn verließen und durch friedliche Dörfer fuhren, über die ersten Ausläufer der Berge; bis hinter einem Wäldchen die Kirche von Mariabrunn auf dem Hügel erschien, schlicht und malerisch wie ein Motiv aus einem Bilderbuch.

Carmen sprach aus, was ich empfand. „Allmächtige Tante!“ sagte sie. „Ich könnt aus dem Auto springen und alles umarmen, was ich erwische. Ist das schön, heimzukommen!“

„Es haut einen fast um“, bestätigte Jörn, der neben mir auf dem Rücksitz der Ente saß. „Dabei ist so ein Frühling in der Toskana das Satteste, was man sich vorstellen kann. Alles sprießt und blüht wie verrückt. Man lebt in einer einzigen Duftwolke und meint, man müßte abheben! Unser Frühling ist ganz anders. Langsamer, verhaltener. Aber mindestens genauso schön.“

Roddy nieste fünfmal hintereinander explosionsartig. Die Ente schlingerte, denn er saß am Steuer. Für ihn waren die Ferien in Italien nur mäßig romantisch gewesen, weil er Heuschnupfen hatte, und zwar die Frühlingsvariante.

„Bleibt mir bloß mit eurer verdammten Blüherei vom Hals!“ forderte er schnüffelnd. „Wenn das so weitergeht, wandere ich aus, und zwar in die Wüste Gobi.“

Jetzt hatten wir Mariabrunn erreicht, und mein Herz schlug Purzelbäume. Tulpen und Osterglocken blühten in den Bauerngärten. Zwischen Gastwirtschaft und Bäckerei stand Hopfi, Dreililiens Haushaltshilfe, mit zwei Bäuerinnen beim abendlichen Tratsch, und vor dem Weberhäusl hing Gesines pflanzengefärbte Wolle in langen Strängen zum Trocknen vom Balkon. In der Einfahrt des Leitnerhofes parkte der Wagen unseres Tierarztes. Hopfis Schwiegersohn fuhr Mist aus, und weil wir mit offenem Verdeck fuhren, fing sich der ländlich-nahrhafte Geruch im Inneren der Ente und wehte uns lieblich um die Nasen.

„Schweinemist“, bemerkte Carmen. „Pfui Geier!“

„Pferdemist riecht besser“, sagte ich verträumt.

„Kein Vergleich!“ murmelte Jörn.

„Mir ist der Geruch von frisch gesägtem Holz am liebsten“, sagte Roddy. Und Carmen meinte, er könne sich jeden Tag glücklich preisen, daß er nicht auch gegen Holzstaub allergisch sei. Das stimmte, da Roddy bald seine Gesellenprüfung als Schreiner ablegen sollte.

Rosarot und feierlich versank die Sonne hinter dem Heuberg. Schwaden von Dunst schwebten über der Filz, dem Feuchtgebiet zwischen Mariabrunn und dem Vorgebirge, wo im Spätfrühling Bergprimeln, Knabenkraut und Trollblumen blühten. Im Hintergrund sahen wir die Gipfel des Zugspitzmassivs, die jetzt dunkel und ernst wirkten, umflossen vom letzten Schimmer des Abendrotes.

„Du kannst uns hier absetzen“, sagte Jörn zu Roddy, als wir die Linde im oberen Teil des Dorfes erreicht hatten. „Nell und ich gehen das letzte Stück zu Fuß. Die Schlafsäcke lassen wir dir im Auto, die kannst du uns ja bringen, wenn du am Samstag zum Reiten kommst.“

Wir stiegen aus und hievten unsere Rucksäcke aus dem Kofferraum. Meiner war besonders schwer, denn ich bin eine Sammlernatur. Ich kann beispielsweise nie an schönen Steinen vorbeigehen, ohne wenigstens ein paar mitzunehmen. Außerdem hatte ich in der Toskana Geißblatt in einem Wäldchen ausgegraben, hatte es in einen Topf gepflanzt, den Topf mit einer Plastiktüte umwickelt und in den Rucksack gesteckt – als Geschenk für Kirsty, die ein Gartenfreak ist. Dazu kamen noch ein Glas Traubenmarmelade für meinen Vater und allerhand Mitbringsel für meine kleine Schwester Kathrinchen, für Matty und Mikesch und Maja, die mein Pferd Hazel versorgt hatte.

Auf der langen Fahrt durch die Po-Ebene, durch Tirol und über die Inntalautobahn war ich unheimlich müde gewesen und hatte mich nach meinem Bett gesehnt. Jetzt verflog die Müdigkeit mit einem Schlag. Wir wanderten mit unseren unförmigen Rucksäcken den holprigen Pfad am Wildbach entlang, der unter Tannen brauste, ungebärdig wie in jedem Frühling. Ein Stück des Weges ging ich mit geschlossenen Augen und spürte, wie vertraut mir alles war – der Geruch des Waldes über den Bergwiesen, das Rauschen der Bäume am Wegrand, das Gurgeln des Wassers und das ferne Bimmeln der Kuhglocken von den Almen.

Auf der Anhöhe, wo sich der Bach in einer tiefen Klamm im Wald verlor, machten wir halt. Unter uns lag das Tal von Dreililien in der Dämmerung: zwischen Baumgruppen und Waldstücken dunkel und mächtig der Vierseithof mit seinen tiefgezogenen Dächern, seit Jahrhunderten Heimat für Menschen und Tiere, umgeben von Koppeln, die wie eine Flickendecke aus grünen und braunen Samtflecken wirkten. Die Sichel des Mondes stand am Himmel, blaß noch und glanzlos. Vom Dorf hörten wir die Kirchturmglocke läuten.

„Heimatglocken!“ sagte Jörn in spöttisch-schmalzigem Ton, und wir lachten. Doch jetzt gingen wir unwillkürlich schneller, die geteerte Zufahrt mit den Frostaufbrüchen und Schlaglöchern hinunter, die von Jahr zu Jahr breiter und tiefer wurden, und hielten uns dabei an den Händen. Der Rucksack schwankte wie ein unförmiger Hafersack auf meinem Rücken und versuchte, mich zu Boden zu ziehen. Mein Herz aber war leicht und frei wie ein Vogel, der von seinem Winterquartier nach Hause zurückkehrt.

An der Wegkreuzung luden wir beide unsere Rucksäcke ab und lehnten sie gegen einen Baumstamm. Dabei dachte ich: Jetzt sehe ich sie alle wieder – die Pferde Hazel und Katama, die kleine Millirahmstrudel und Laurin, Joringel und Julka und all die anderen. Und Mikesch und Matty und Maja ...

Diana, die gefleckte Jagdhündin, kam durch den Torbogen geschossen. Sie erinnerte mich an einen Feuerwerkskörper, der am Boden dahinzischt, wie sie jaulend und japsend auf Jörn zustürmte, total durchgedreht vor Seligkeit, ihn endlich wiederzuhaben. Sie sprang an ihm hoch und überschlug sich zu seinen Füßen, so daß man nur noch schwarzweiße Flecken sah und Snoopie-Ohren, die wie Propeller durch die Luft flappten.

Jörn kniete nieder, nahm das sich windende, winselnde Bündel Freude in die Arme und streichelte, was er gerade erwischte – Kopf, Pfoten, Flanken und Nase, denn Diana war unfähig, auch nur einen Augenblick lang stillzuhalten. Sie leckte ihn ab und warf ihn schließlich um, so daß er längelang am Boden lag, das Gesicht im Gras, lachend und um Hilfe rufend. Da wurde sie noch wilder und scharrte an seinem Rücken und seinen Armen, bohrte die Schnauze unter seinen Hals und prustete dabei wie ein Walroß.

Ich überließ die beiden ihrer Begrüßungsorgie und ging weiter, voller Sehnsucht nach Hazel. Es war die Zeit, in der unsere Pferde von den Weiden geholt wurden; ich brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, das hatte ich im Gefühl. Und da kamen sie in der sinkenden Dämmerung den Koppelpfad herauf, voran Mikesch in seinen zerfransten Jeans und dem ausgebeulten grünen Pullover, der ihm fast bis zu den Kniekehlen hing, mit Julka am Führstrick und Jonas, ihrem Hengstfohlen, im Schlepptau.

Mein erster Impuls war, loszurennen, doch dann fiel mir zum Glück noch rechtzeitig ein, daß ich die Pferde nicht erschrecken durfte. Im Zwielicht erkannten sie mich vielleicht nicht sofort. Ich zwang mich, langsam weiterzugehen; dabei suchten meine Augen unter all den Braunen, den Rappen und Schimmeln und Falben nach einer haselnußbraunen Stute.

Doch jetzt waren nur noch die Schimmel deutlich zu erkennen, und irgendwo Mattys hellblonder Haarschopf wie ein Klecks Sahne zwischen Pferdeköpfen. Das Schnauben und Prusten, der dumpfe Hufschlag auf weichem Grund waren wie eine geliebte, altbekannte Melodie in meinen Ohren. Ich atmete den vertrauten Geruch nach Pferdeschweiß und Dung ein, und jetzt stand Mikesch vor mir. Er nahm mich in die Arme und sagte: „Nell, mein Mädchen! Du hast mir gefehlt!“ Auch das war ein Stück Heimkehr: der Geruch seines Pullovers, seine Brust an der meinen, der Druck seiner kräftigen und doch sanften Hände auf meinem Rücken. Dann kam Jörn, und Mikesch ließ mich los und umarmte auch ihn. Ich streichelte Jonas und Julka. Unruhe verbreitete sich in der Herde, Ich hörte Matty rufen: „Jörn, Nell? He, sie sind wieder da!“

Als ich unsere Erkennungsmelodie Yellow is the colour of my true love’s hair pfiff, gab Hazel Antwort. Ihr helles Gewieher fand Widerhall. Plötzlich war die Luft erfüllt von den hohen Stimmen der Stuten und den Kinderstimmen der Fohlen und Jungpferde.

Ich stand mitten unter ihnen; sie umringten mich, beschnupperten mich. Nüstern bliesen mich freundlich an, Nasen pufften mich; alle wollten gestreichelt und begrüßt werden. Ich wußte, ich würde dieses Willkommen nie vergessen.

Das Geschiebe und Gedränge nahm zu. Dann war Hazel bei mir. Sie drückte ihre Stirn gegen meine Schulter, schnaubte mir ins Haar, spielerisch und zärtlich zugleich, und wieherte leise, als wollte sie mir etwas erzählen. Und ich umarmte sie lange, lange, die Augen voller Tränen, und flüsterte: „Mein Tierchen, mein Tierchen! Wie gut, daß es dich gibt, und daß du gesund bist. Du bist mir doch nicht böse, daß ich weg war? Ich hab so viel an dich denken müssen! Auch wenn ich manchmal fortgehe – ich komme immer wieder zu dir zurück; das hab ich dir ja versprochen!“

Und ich küßte sie auf die schmutzige Nase und fragte mich, wie es möglich ist, daß es zwischen Mensch und Tier so viel Liebe und Vertrautheit geben kann, eine so starke Bindung. Wieso gibt es Leute, die glauben, daß Tiere keine Seele haben, daß sie nicht ebenso empfindsam sind wie wir, fähig zu Freude und Trauer, Angst und Schmerz und Bindungen, die bis zum Tod dauern?

Die Herde drängte weiter, dem Stall zu. Ich ging mit, die Hand in Hazels Mähne, und schaute mich nach Matty um. Rasch verdichtete sich die Dämmerung zur Dunkelheit, und ich sah ihn nicht; doch plötzlich faßte mich jemand von hinten um die Taille, hob mich hoch und sagte: „Da bist du ja endlich wieder! War’s schön?“

„Sehr schön!“ sagte ich atemlos, wandte mich um und zerraufte ihm die Haare. „Aber so schön wie hier kann’s nirgends sein!“

„Dazu fährt man wahrscheinlich weg, um das zu kapieren“, erwiderte er halb lachend, halb im Ernst.

Ich wartete am Stalltor, während die Pferde in ihre Boxen geführt wurden. Am liebsten hätte ich gleich mitgeholfen, sie zu füttern und zu tränken, doch jetzt spürte ich wieder, wie müde ich von der langen Fahrt war. Maja, die die Nachhut bildete, kam, und ich dankte ihr, daß sie Hazel für mich versorgt hatte.

„Morgen hast du mal einen freien Tag“, sagte ich. „Ich bin gleich in aller Frühe da und helfe im Stall. Du möchtest sicher mal ausschlafen.“

Ihre großen braunen Augen glänzten im Licht der Kutscherlampe, die über dem Stalltor hing. „Du, das Angebot nehm ich gern an. Ich möchte schon seit ewigen Zeiten nach Rosenheim, um mir neue Jeans zu kaufen und mal wieder einen Buchladen von innen zu sehen. Und hier war bis gestern mit den Osterferien-Reitern so viel los, daß wir kaum zum Schnaufen gekommen sind.“

Als ich über den Stallhof ging, sah ich Michls dünne, hochaufgeschossene Gestalt unter dem Balkon des Gesindehauses, geduckt und heimlich wie ein Einbrecher oder ein Geist. Er lebte jetzt schon seit mehreren Wochen bei uns und war noch immer total unzugänglich und menschenscheu. Ich wollte ihm etwas zurufen, doch er war schon durch die Tür zum alten Schafstall verschwunden, in dem nun die drei ehemaligen Rennpferde Victory, Turf Star und Lucky Duck untergebracht waren.

Ich trat durch den Torbogen, auf dem Dreililiens Wappen in Stein gemeißelt war. Die Lampe schwang sacht im Luftzug. Und ich dachte: Ich hab allen was mitgebracht, nur Michl nicht. Er hat keinen, der an ihn denkt und ihm auch mal ein Geschenk macht.

Plötzlich fiel mir der schöne Geldbeutel ein, den ich bei einem Bummel durch Florenz gekauft hatte. Eigentlich war er für mich bestimmt, denn mein alter fiel schon fast auseinander. Doch ich konnte ihn sicher noch einmal zusammenflicken; wir hatten Ledernadeln und festen Zwirn in der Sattelkammer.

Es ging mir durch den Sinn, wie reich ich war, daß ich alles hatte, was ich brauchte, und noch viel mehr: Jörn, den ich liebte, und meinen Vater und Kirsty und eine kleine Schwester; ein Pferd und Freunde und ein wunderbares Zuhause. Michl aber hatte nichts. Da konnte ich wenigstens auf einen Geldbeutel verzichten, um ihm eine Freude zu machen.

2

Es war ein Glück, zu Hause zu erwachen. Friedliche, paradiesische Geräusche wie Vogelstimmen und das Säuseln des Windes in den Fichten und Tannen kamen durchs Fenster. In der Toskana ballerten seit Beginn der Jagdsaison schon in aller Herrgottsfrühe die „Hobbyjäger“ herum, die in ihrer teuren Jagdausrüstung scharenweise übers Land streiften und wie ein Todeskommando auf alles schossen, was sich bewegte. So gab es dort kaum noch ein Kaninchen oder einen Fasan, von größerem Wild ganz zu schweigen. Rebhühner waren so gut wie ausgerottet, so wie bei uns auch. Die Landschaft war ausgestorben wie eine Stadt ohne Bewohner; und die Vögel, die es geschafft hatten, den Leimruten und Netzen zu entgehen, verbargen sich vor den Menschen und waren in ständiger Fluchtbereitschaft – angstvolle Bewohner in einem feindlichen Land.

Ich mußte an die Füchsin denken, die ich einst an einem Sommertag hier im Wald in einem Tellereisen gefunden hatte. Das war während eines Ausritts mit Hazel gewesen. Auch bei uns gibt es Menschen, die grausam sind, und für die das Töten eines Tieres ein Sport ist. Es gibt Leute, und zwar nicht nur Millionäre, denen Jäger das Wild vor die Flinte treiben, damit sie es bequem und leicht abschießen und sich hinterher mit ihrem „Jagdglück“ brüsten können.

Erst vor kurzem war im Bayerischen Landtag ein Gesetzesentwurf zum Verbot der grausamen Schlagfallen abgelehnt worden. Beim Gedanken an die Leiden der Tiere, die oft tagelang in solchen Fallen steckten, bis sie qualvoll verendeten, an die Muttertiere, die sich selbst verstümmelten, sich Gliedmaßen abbissen, um sich zu befreien und zu ihren Jungen zu kommen, verflog das Glücksgefühl des Erwachens und machte einer dumpfen Bedrückung Platz.

Ich stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Ein rosiger Schimmer lag über den Baumwipfeln und Dreililiens Dächern. Meine Stallkleidung muffelte in einem unordentlichen Haufen in der Truhe vor sich hin, so, wie ich sie vor elf Tagen hineingestopft hatte. Ich zog sie an und ging die Treppe hinunter, leise, um Vater, Kathrinchen und Kirsty nicht zu stören.

In der Küche lag Herr Alois in seinem Korb. Er sah schläfrig zu mir hoch und klopfte mit dem Schwanz auf das karierte Kissen. Ich kraulte seine Ohren, was ihm einen seligen Seufzer entlockte, nahm mir eine Banane und einen Apfel, schlüpfte in den Anorak und verließ das Haus.

An diesem Morgen war ich besonders früh aufgestanden. Ich wollte als erste im Stall sein, in dem heimeligen Gewölbe, wo die Schwalben ihre Nester unter die Decke geklebt hatten und auf ihren Eiern brüteten wie in jedem Frühjahr, und die Pferde mir mit ihren schimmernden Augen über die Trennwände der Boxen entgegensahen. Doch als ich zu Hazel ging, merkte ich, daß Michl schon in Solveigs Box stand und ihr verklebtes Hinterteil striegelte.

Er duckte sich, als er mich sah, aber ich ging zu ihm und sagte: „Hallo, Michl, wie geht’s dir? Ich freu mich so, wieder zu Hause zu sein!“

Er gab ein undeutliches Gebrumm von sich. Inzwischen war ich daran gewöhnt, daß sich die Gespräche mit Michl einseitig und mühsam gestalteten; man redete drauflos, ohne je eine richtige Antwort zu bekommen. So fügte ich etwas hilflos hinzu: „Du, ich hab dir was aus Italien mitgebracht. Ein Geschenk. Du kriegst es später, nach der Stallarbeit.“

Er verschwand noch tiefer in der Box und erwiderte gar nichts. Doch zwischen der Holzwand und Solveigs Flanke sah ich ein Stück seiner Stirn und Wange unter dem semmelblonden Haar und merkte, daß er rot geworden war, so, als sei er zutiefst verlegen oder erschrocken.

Ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts mehr ein. So ging ich in die Futterkammer und begann die Haferportionen abzumessen. Über der Truhe hing ein großer Zettel, auf dem in roten Buchstaben stand: 3 x wöchentlich Kleietrank für Joringel und Laurin. Der Jährling und das Hengstfohlen waren vor kurzem krank gewesen und mußten erst wieder richtig aufgepäppelt werden.

Über mir hörte ich Jörn auf dem ehemaligen Dörrboden rumoren. Dann tauchte Mikesch im Türrahmen auf. „Dacht ich’s mir doch, daß du heute die erste im Stall bist“, sagte er.

„Nicht die erste“, erwiderte ich. „Michl war vor mir da!“

Mikesch nickte. „Ich glaube, er schläft manchmal im Stall“, sagte er halblaut. „Vielleicht tut’s ihm gut, nicht allein zu sein; und vor Tieren hat er keine Angst.“

Nein, vor Tieren nicht, dachte ich, aber vor den Menschen. Gemeinsam machten wir uns an die Arbeit, und es traf sich gut, daß wir beide, Mikesch und ich, morgens nicht viel reden mochten. Wir waren auch wunderbar aufeinander eingespielt; jeder wußte, was zu tun war, und wie er dem anderen zur Hand gehen konnte.

Eine Viertelstunde später herrschte das gewohnte Leben im Stall – das Geklapper von Eimern, das Knirschen und Mahlen von Pferdezähnen, ungeduldiges Hufgestampfe, Wassergeplätscher und Mattys leises Pfeifen.

Diana wuselte um Jörn herum, offenbar fest entschlossen, ihn keine Sekunde mehr aus den Augen zu lassen. Wir führten Mutterstuten und ihre Fohlen hinaus, über den Stallhof und zur Koppel am Bach, wo das Gras schon dicht und üppig war und wo sich eine Wasseramsel wie ein Tiefseetaucher in den klaren Bach stürzte. Schlüsselblumen blühten am Ufer zwischen Moos und Farn und Veilchen am Waldsaum. Über den Tälern hingen Dunstschwaden, so daß es aussah, als schwebten die Berggipfel wie Eisberge über einem Polarmeer.

Die Morgensonne brachte den Tau auf den Wiesen zum Glänzen, die Birken trugen zartgrüne Schleier, und die alten Apfelbäume am Rand des Koppelpfades hatten dicke Knospen. Ein Habicht oder Falke kreiste über der Schwammerlwiese, unserer Übungsweide.

Ein paar Minuten lang beobachtete ich Jonas und Elga, die wegen ihres Milchmauls nur „Millirahmstrudel“ genannt wurde, wie sie über die Wiese sprangen, ungelenk mit ihren langen, knochigen Beinen und den großen Köpfen, struppig wie Borstentiere und rührend in ihrer Unschuld und Lebenslust. Solche Bilder brachten unsere Reitschüler immer zum Lachen, doch ich konnte den Spielen junger Pferde nie zusehen, ohne an Nell zu denken, die einst ebenso glückselig auf Dreililiens Wiesen herumgesprungen war und so früh hatte sterben müssen, weil sie Mondblindheit bekam.

Und während ich den Pfad zwischen den Koppeln hinaufging, fand ich es schön und schmerzlich zugleich, daß wir Menschen ein Wesen niemals vergessen können, das wir einmal geliebt haben; daß wir ihm also ewig treu sind, auch wenn es lange tot ist.

Ich werde Nell Wiedersehen, dachte ich; irgendwo wartet sie auf mich, genau wie meine Mutter. Und wenn ich sterbe, werden sie mir entgegenkommen – und vielleicht auch Helge. Daran glaubte ich, obwohl ich bisher mit keinem außer mit Jörn darüber gesprochen hatte.

Am Tor kam mir Maja auf dem Fahrrad entgegen. „Ich muß losdüsen“, sagte sie, „sonst erwisch ich den Bus nach Rosenheim nicht mehr. Servus, mach’s gut!“

Jörn war beim Ausmisten. Ich griff nach einer Mistgabel und half mit; es war wie immer, so, als wären wir nie fortgewesen. Nach einer Weile kamen Mikesch und Matty zurück. Sie hatten den Rest der Herde auf die Südweide und die Waldkoppel gebracht.

„Mit dem Hafer schaut’ s nicht mehr allzu üppig aus“, sagte Mikesch. „Ich fahre in zwei Stunden nach Frasdorf; die Säcke sind schon bestellt. Kommt einer von euch mit und hilft mir?“

„Ich“, sagte Jörn. „Matty muß ja fürs Abi büffeln!“

Von diesem Augenblick an war es vorbei mit meiner unbeschwerten Stimmung. Während der Osterferien hatte ich es einigermaßen erfolgreich geschafft, den Gedanken an die bevorstehende „Katastrophe“ zu verdrängen und die Bücher, die ich mit in die Toskana genommen hatte, von einer Ecke in die andere zu schieben. Doch jetzt rückte das Verhängnis bedrohlich und unausweichlich näher, denn in drei Tagen begann die Schule wieder.

„Ich muß es wenigstens versuchen“, sagte ich später zu Jörn und Matty, als wir auf dem Dörrboden miteinander frühstückten.

„Herrje!“ sagte Jörn und sah mich an. „Das klingt ja, als würdest du dich zwingen, zu deiner eigenen Hinrichtung zu gehen. Ich dachte, du hast dich entschlossen, das Abi überhaupt nicht zu machen?“

„Was ich für Blödsinn halte, wenn man schon die jahrelange Büffelei durchgestanden hat; und schließlich hast du in der Kollegstufe die Mindestpunktzahl erreicht“, warf Matty mit vollen Backen ein.

Ich legte mein Butterbrot hin. Es schmeckte mir plötzlich nicht mehr. „Ja, mit knapper Not“, murmelte ich. „Mit Hängen und Würgen.“

Matty beachtete mich nicht. „Wenn du nach Weihenstephan auf die Fachhochschule willst, brauchst du das Abi schließlich!“

„Das weiß ich alles selbst“, sagte ich. „Aber ich glaube, ich mag da nicht hin. Wie soll ich jeden Tag von hier nach Weihenstephan kommen, kannst du mir das mal verraten? Die Verbindungen sind miserabel, ich hab mir das angeschaut. Bus und Bahn und wieder Bus ... Ich müßte ungefähr dreimal umsteigen oder so, und zwischendurch mindestens eine Stunde warten. Das bring ich einfach nicht!“

„Du machst eben den Führerschein und kaufst dir ein altes Auto.“ Matty tat, als wäre das die einfachste Sache von der Welt.

„Wunderbar!“ sagte ich. „Und wer zahlt mir das alles? Mein Taschengeld brauche ich für Hazel, es reicht sowieso hinten und vorn nicht. Und du weißt ja, was ein Führerschein kostet – von den monatlichen Ausgaben für so eine Blechkiste ganz abgesehen. Außerdem ist’s ökologischer Schwachsinn, jeden Tag stundenlang mit dem Auto von einem Ort zum anderen zu rödeln.“

„Richtig!“ sagte Jörn, der bisher stumm zugehört hatte.