Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden - Ursula Isbel - E-Book

Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden E-Book

Ursula Isbel

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Beschreibung

Dramatische Fortsetzung der beliebten Dreililien-Pferdebuchreihe!Frühjahr 1986. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl verseucht radioaktiver Regen die Weiden von Dreililien und das Ersatzfutter wird langsam knapp. Auch für Nell ändert sich das Leben: Statt gemeinsam mit Jörn in den Urlaub zu fahren, fängt sie einen Ferienjob in Österreich an. Sie kann in einer Gärtnerei in der Nähe von Wien arbeiten, während Jörn auf dem elterlichen Hof den erkrankten Reitlehrer Mikesch vertritt. Als Mikesch wieder gesund ist, reist Jörn Nell nach Wien hinterher. Die hat inzwischen einen Entschluss gefasst: Sie möchte auch Gärtnerin werden!Mit dem Umzug aufs Land ändert sich Nells Leben komplett: Neue Umgebung, neue Freunde, neue Liebe. Auf dem Reiterhof Dreililien entdeckt der Teenager ihre Leidenschaft für Pferde und findet in Jörn, dem Sohn des Reiterhofbesitzers, ihre erste große Liebe. Im Laufe der zehn Bände, die sich über vier Jahre erstrecken, erlebt Nell so manche Abenteuer, Hindernisse und Turbulenzen auf Dreililien.

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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den Pferden

Saga

Reiterhof Dreililien 7 - Heimweh nach den PferdenCover Bild: Shutterstock Copyright © 1994, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219647

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

„Das Schönste, was ich kenne“, sagte Jörn, „ist Dreililien im Abendlicht – im Sommer, wenn die Sonne hinter dem Hochwald zur Tagleiten wandert, wenn die Pferde getränkt und gefüttert werden und der Innenhof vom Zwielicht erfüllt ist.“

Ich wußte, dies war eines von den Bildern, die Jörn über die dunkelsten Stunden hinweghalfen, wenn er in dem engen Krankenzimmer fast verrückt wurde, wenn er unter Schmerzen litt und Angst hatte, nicht wieder gesund zu werden.

„Wenn ich es hier nicht mehr aushalte, mache ich die Augen zu und denke an Dreililien. Dann geht’s wieder für eine Weile“, sagte er manchmal.

Und ich tröstete ihn damit, daß wir im Frühling wieder zusammen in den Wald reiten und auf den Koppeln arbeiten würden, er und ich. Doch es war ein langer Winter, der kein Ende zu nehmen schien – grau, mit eisiger Kälte und zu wenig Schnee. Den Weihnachtsabend verbrachte ich bei Jörn im Krankenhaus, zusammen mit seinem Bruder Matty.

Dann warteten wir von einer Woche zur anderen darauf, daß die Ärzte Jörn endlich nach Hause ließen. Immer wieder hieß es unbestimmt: „In zehn Tagen vielleicht“. Es wurde Januar und Februar. Jörn drohte damit, sich einfach anzuziehen und abzuhauen, eines Tages, wenn ihm alles zuviel wurde. Dabei merkte er selbst, wie schwach er von seiner Krankheit nach dem schweren Autounfall noch war; und auch dieses Gefühl der Schwäche war schwer für ihn zu ertragen.

Anfang Februar wurde es so kalt, daß wir die Pferde nicht mehr auf die Koppeln bringen konnten. Drei von den Jährlingen, eine Mutterstute und ihr Fohlen hatten sich erkältet, und Dr. Hofbauer mußte geholt werden. Wir hatten alle Hände voll zu tun, den Pferden wenigstens einmal täglich Bewegung zu verschaffen. Sie wurden gereizt und unberechenbar, wußten nicht, wohin mit ihrer überschüssigen Energie. Zum Glück hatten wir die Wochenendreiter, die nun auch werktags aus allen Himmelsrichtungen kamen, um mitzuhelfen. Jörn aber saß in seinem Bett im Krankenhaus und schimpfte verzweifelt, weil er eingesperrt war, während man ihn zu Hause so dringend gebraucht hätte.

„Morgen“, sagte er eines Tages finster entschlossen, „bringst du meinen Wintermantel und die Fellstiefel, Nell. Ich haue ab. Die halten mich noch ewig hier fest. Mir reicht’s jetzt, verdammt.“

„Aber das tun sie doch nicht aus Bosheit“, widersprach ich erschrocken. „Warte wenigstens noch eine Woche. Du kannst nicht einfach abhauen, du bist noch total schwach. Wie sollen wir denn nach Hause kommen?“

„Wir nehmen ein Taxi zum Bahnhof und fahren mit dem Bus, das ist doch ganz einfach. Und in Mariabrunn kann Mikesch uns abholen. Versprich, daß du meine Klamotten mitbringst, wenn du morgen kommst!“

„Das kann ich nicht“, sagte ich.

„Du mußt! Wenn du es nicht tust, sag ich’s Matty. Aber du kannst mich nicht einfach so hängenlassen!“

Von Zweifeln geplagt, fuhr ich nach Hause. Wie meistens, wenn ich nicht wußte, was ich tun sollte, ging ich nach der Abendfütterung zu Mikesch und redete mit ihm. Mikesch war so ziemlich der vernünftigste Mensch, den ich kannte. Außerdem machte er nie den Versuch, mich zu bevormunden oder zu belehren, wenn ich ihn um Rat fragte.

„Wenn Jörn es in der Klinik nicht mehr aushält, ist es sein gutes Recht, nach Hause zu gehen“, meinte Mikesch und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Ein Schmutzstreifen blieb auf seinem Gesicht zurück, denn er hatte nach der Arbeit noch nicht Zeit gehabt, sich die Hände zu waschen. „Die Ärzte wollen sicher sein Bestes, aber ob sie auch genau wissen, was ihm guttut? Vielleicht kommt Jörn schneller wieder auf die Beine, wenn er zu Hause ist; ich nehm’s fast an. Aber klammheimlich würde ich das nicht machen. Warum sagt Jörn morgen bei der Visite nicht einfach, daß er jetzt genug hat und noch diese Woche entlassen werden will? Verwehren können sie es ihm nicht, er ist schließlich volljährig. Wahrscheinlich werden sie sagen, daß er auf eigene Verantwortung geht, aber das weiß er ja sowieso. Sag mir Bescheid, wenn die Sache entschieden ist, dann fahren wir mit dem Lastwagen nach Rosenheim und holen ihn ab. Mit dem öffentlichen Bus kann er jedenfalls nicht zurückfahren, dazu ist er noch zu wacklig auf den Beinen.“

Ich fand den Rat gut. Jörn war zwar sauer, als ich am nächsten Tag ohne Mantel und Stiefel ankam, beruhigte sich dann aber wieder. Während der ganzen Besuchszeit war er recht schweigsam und schien zu überlegen.

Zwei Tage später wurde er entlassen. „Auf eigene Verantwortung“, wie Mikesch vorausgesagt hatte.

Um zehn Uhr vormittags holten wir ihn ab, Mikesch und ich. Jörns Gesicht war so froh, als wir kamen, wie ich es seit langem nicht mehr gesehen hatte.

In seinem alten Lammfellmantel schien er fast zu versinken. „Nicht mal meine Stiefel passen mir mehr. Sie fühlen sich an wie Elbkähne“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. „Ich bin dürr wie ein Zwetschgenmandl geworden. Kein Wunder, daß sich auch meine Beine wie Zwetschgenmus anfühlen.“

Ja, er war schmal und blaß geworden in diesen vier Monaten seit seinem Unfall. „Das bißchen Fett kriegst du schon wieder drauf“, meinte Mikesch tröstend. „Und deine Muskeln sind natürlich schlaff vom langen Herumliegen. Ein paar Wochen im Stall und auf den Koppeln, und du hast wieder die alte Kraft in Armen und Beinen.“

Jörn sah ihn an. „Ein paar Wochen? Ich geb mir genau eine Woche dazu!“

2

Jörn hatte sich eine Woche Frist gesetzt; so, als könnte man seinem Körper vorschreiben, wann er wieder gesund und kräftig zu sein und normal zu „funktionieren“ hatte. Doch ein so schwerer Unfall, wie er ihn erlitten hatte – mit einem Leberriß, dem Schock, der Lungenverletzung, mit Operation, Schmerzen, Medikamenten –, ließ sich nicht so einfach überwinden wie eine Grippe. Das war auch die Meinung von Hopfi, der Haushaltshilfe auf Dreililien.

„So wos geht net von heut auf morgen“, erklärte sie. „Dös braucht scho sei Zeit.“

Tatsächlich dauerte es viel länger, als wir geahnt hatten; und obwohl Jörn täglich dreimal mit verbissener Energie in den Stall kam, um bei der Arbeit zu helfen, wurde er meistens schnell grau im Gesicht und mußte sich zwischendurch immer wieder auf die Bank in der Sattelkammer setzen, um auszuruhen. Doch er hatte einen eisernen Willen und war hart mit sich selbst; er gab nicht nach.

Erst als der sehnsüchtig erwartete Frühling kam, wurde auch Jörn wieder kräftiger. Die Stare kehrten zurück, die Schwalben suchten ihren heimatlichen Stall auf, und an einem Märztag unternahmen wir unseren ersten Ausritt, Jörn und ich.

Diana, die Jörn seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus nicht mehr aus den Augen ließ, begleitete uns. Schmutzige Schneefetzen lagen noch auf den Koppeln, doch am Bachufer und am Waldrand blühten schon die ersten Buschwindröschen. Die Drosseln sangen so süß in den Erlenbüschen, und die Sonne glänzte warm auf Hazels nußbraunem Fell und Katamas seidenweißer Mähne.

„Das hab ich mir im Krankenhaus oft vorgestellt – daß wieder Frühling ist, und daß wir mit den Pferden über den Steg in den Wald reiten, wenn die Sonne scheint“, sagte Jörn leise. „Früher war das so selbstverständlich für mich, etwas, was zu meinem Leben dazugehört wie Essen und Trinken. Aber es ist nicht selbstverständlich, Nell. Es ist nicht selbstverständlich, daß wir gesund sind und draußen sein können, daß wir den Wind in den Bäumen hören und die Vögel, wie sie singen, daß wir uns unbehindert bewegen können, aufs Pferd steigen, die Natur sehen, miteinander reden. Es ist ein Geschenk; etwas, was uns täglich genommen werden kann, morgen schon. Ich möchte lernen, bewußt und im Augenblick zu leben und ... ja, dankbar zu sein für alles, auch wenn das vielleicht blödsinnig klingt.“ „Tut es nicht“, sagte ich. „Es ist überhaupt nicht blödsinnig, sondern wahr. Ich hab mir das auch alles überlegt – damals, als du nach dem Unfall operiert worden bist und ich im Krankenhaus warten mußte, ohne zu wissen, ob du durchkommen würdest. Da ist mir klargeworden, wie schnell alles zunichte sein kann, was man so selbstverständlich hinnimmt, daß es einem selbst gutgeht und denen, die man liebhat, meine ich.“

Ich streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. „Weißt du, was ich damals auf der Fahrt in die Klinik gedacht hab? Daß jeder Mensch so etwas wie ein Erdbebengebiet ist; daß keiner weiß, wie lange es dauert, bis plötzlich alles ins Wanken gerät und vielleicht unter ihm zusammenbricht. Das ist mir vorher nie bewußt gewesen, nicht mal, als meine Mutter krank wurde und starb. Das mit dir – diese Nacht, in der ich nicht wußte, ob du sterben oder leben würdest–, das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Aber ich glaube, ich hab’ auch eine Menge dabei gelernt.“

Jörn sagte lange Zeit gar nichts. Ich sah auch sein Gesicht nicht, da wir jetzt hintereinander ritten, denn der Waldpfad hatte sich verengt. Wir mußten zudem auf die Eisreste achten, die die Baumwurzeln überzogen und einen Teil des Weges schlüpfrig machten.

„Laß uns absteigen“, bat Jörn nach einer Weile. „Die Pferde kommen ohne uns besser voran.“

Hand in Hand folgten wir Katama und Hazel. Die Luft war weich und erfüllt vom Geruch der aufbrechenden Erde und dem Gesang der Vögel. Die Waldlichtungen lagen wie Inseln in der Sonne.

„Weißt du, wo ich damals gewesen bin?“ fragte Jörn unvermittelt.

Seine Stimme war leise. Ich spürte, wie seine Hand in der meinen zuckte.

„Gewesen? Wo? Wann?“ erwiderte ich verwirrt.

„Damals – in der Nacht nach dem Unfall. Es war ... seltsam. Anfangs kam es mir vor, als würde ich durch ein dunkles Tal getrieben.“ Jörn stockte. „Nein, es begann damit, daß ich das Gefühl hatte, ich würde mit unheimlicher Geschwindigkeit durch einen sehr engen Tunnel gleiten. Es ging so wahnsinnig schnell, daß mir total schwindlig davon wurde. Dieses Tal ... Ich wußte, daß ich dort jenseits von allem war, was unser Leben ausmacht, verstehst du? Ich war dabei, eine Grenze zu überschreiten.“

„Welche Grenze?“ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. „Ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann. Ich verstehe es ja selbst noch immer nicht. Vielleicht war es die Grenze zwischen Leben und Tod.“

Plötzlich fror ich in der warmen Frühlingssonne. „Davon hast du nie etwas gesagt.“

„Ich wollte eigentlich mit keinem darüber reden, nicht mal mit dir. Es war so ein seltsames Erlebnis; ich kann’s ja selbst nicht begreifen. Aber ... ich komme einfach nicht davon los. Wenn es wirklich der Beginn von dem war, was wir Sterben nennen, dann ist der Tod nicht schlimm, Nell. Im Gegenteil. Am Ende dieses Tales war etwas Wunderbares – eine Art Licht, so strahlend, daß ich es nicht beschreiben kann. Es war ein lebendiges Licht – oder vielleicht ging es von einem lebendigen Wesen aus. Man kann das genausowenig beschreiben wie manche Dinge, die einem im Traum passieren. Ich wäre gern dorthin gegangen, wo das Licht war, aber da war auch etwas, was mich zurückhielt. Etwas oder jemand hat mich festgehalten. Vielleicht warst du es.“

Jörn holte tief Atem. „Ich weiß genau, daß ich dachte: Ich will noch nicht sterben! Dann ging ein Ruck durch meinen Körper, und ich bin aufgewacht.“

Meine Hände zitterten. „Und dann hab’ ich dich gesehen“, fuhr Jörn fort. „Nein, so war es nicht. Zuerst hab’ ich deine Hand gespürt. Ich wußte ganz genau, daß es deine Hand ist, noch ehe ich die Augen aufmachte und dich sah.“

Wir blieben stehen; unsere Blicke trafen sich.

„Ich wollte nicht sterben“, sagte Jörn nach einigen Sekunden halblaut. „Aber ich weiß nicht, ob ich... ob ich zurückgekommen wäre, wenn du nicht da gesessen und mich gerufen hättest. Ja, mir war, als würdest du mich rufen und mich festhalten. Es klingt verdammt komisch, aber so ist es.“

„Ich hab dich wirklich gerufen“, erwiderte ich. „Ich war sicher, daß es etwas bewirkt, wenn ich da sitze, deine Hand halte und dich nicht loslasse. Deshalb hab ich mich in der Klinik auch nicht abweisen lassen. Ich wußte, ich muß zu dir ...“

Plötzlich flog ein Fasan mit mißtönendem Kreischen aus dem Unterholz auf. Wir zuckten zusammen. Diana jagte hinter dem Fasan drein, und Hazel schnaubte. Katama aber, schreckhaft wie immer, wieherte schrill, stellte sich auf die Hinterbeine, stürmte dann vorwärts, glitt aus und schaffte es nur durch ein paar verrückte Drehungen, einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben.

Jörn war mit einem Sprung bei ihr. Er faßte Katama am Halfter und redete beruhigend auf sie ein: „Ist ja gut, altes Mädchen, nichts ist passiert. Das war bloß einer von diesen blödsinnigen Vögeln, die flattern ja immer so urplötzlich vor einem hoch. Das weißt du doch schon längst ...“

Ich streichelte Hazel. Sie machte ein vernünftiges Gesicht, genau wie eine kluge alte Dame, die das Leben kennt und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen läßt. Dann kam Diana mit hängender Zunge und schuldbewußter Miene zurück, doch keiner von uns war in der Stimmung, sie auszuschimpfen.

„So schnell kann’s gehen“, sagte Jörn. „Wenn sie sich das Bein gebrochen hätte – ausgerechnet Katama ...“

Er war blaß geworden, und seine Hände zitterten heftig. „Komm“, sagte ich, „wir setzen uns auf der Lichtung ein bißchen in die Sonne, und dann kehren wir um und gehen wieder nach Hause.“

Jörn erwiderte: „Fang bloß nicht an, mich zu betüdeln wie einen Opa!“ Aber er kam doch mit. Wir ließen uns auf ein paar Baumstämmen nieder, die seit dem vergangenen Herbst dort lagen, während Hazel an den ersten frischen Grashalmen zupfte und Katama noch eine Weile aufgeregt herumtänzelte. Ein Schmetterling, der den Winter überstanden hatte, gaukelte mit ausgefransten Flügeln vor uns über das Heidekraut.

Jörn legte den Kopf in meinen Schoß. Sacht strich ich ihm die Haare aus der Stirn. Sein schmales Gesicht war noch schmäler geworden in diesem Winter, seine Wangen eingefallen. Auch sein Blick hatte sich verändert – auf welche Weise, hätte ich nicht sagen können, wenn jemand mich gefragt hätte. Manchmal kam mir dieser Blick seltsam fern vor, so, als würde Jörn nicht wahrnehmen, was um ihn her geschah. Vielleicht lag der Schlüssel zu dieser Veränderung in dem, was er mir heute erzählt hatte.

Die Welt war so still, als wir nach Hause ritten. Doch der Frieden war nicht von langer Dauer. Auf dem Hofplatz von. Dreililien hörten wir Sepp und Helge im Stall streiten, daß die Fetzen flögen. Weder die Schimpfnamen, die sie sich zubrüllten, noch das, wozu sie sich gegenseitig aufforderten, war besonders vornehm oder druckreif, aber es hörte sich ausgesprochen komisch an.

Als wir die Stalltür öffneten, um die Pferde hineinzuführen, kam eine Drahtbürste angeflogen. Sepp schrie: „Saukopf, damischer!“ Und Katama und Hazel wichen zurück und schnaubten erschrocken.

„Hört’s bloß auf mit dem Blödsinn“, sagte Jörn laut. „Katama ist sowieso schon ganz durchgedreht. Wenn ihr unbedingt streiten müßt, dann sucht’s euch einen besseren Ort dafür aus als ausgerechnet den Stall.“

Helge war wieder einmal bleich vor Wut – wie oft hatte ich ihn schon so gesehen! – und erklärte, er ließe sich von keinem vorschreiben, wo er zu streiten hätte und wo nicht. Sepp brummte, wir könnten ihn alle mal, und wir sollten unseren Scheißdreck allein machen; er warf die Mistgabel auf die Stallgasse und stampfte hinaus wie ein wütender Stier. Kurz darauf hörten wir, wie sein Wagen angelassen wurde.

Ich ging hin und hob die Mistgabel auf. Die Zinken waren nach oben gerichtet, und ich fand, daß ein erwachsener Mann wie Sepp, der noch dazu Bauer war, vernünftiger hätte sein müssen, als derartige Todesfallen aufzustellen. Jetzt verschwand auch Helge mit bösartigem Gemurmel. Wir brachten Katama und Hazel in ihre Boxen, sahen uns noch einmal Katamas Fesselgelenke an, kratzten den beiden die Hufe aus, rieben sie mit Tüchern ab und gaben ihnen dann zu trinken, während Matty und Mikesch die Stuten von der Koppel hereinbrachten.

Mit den vertrauten abendlichen Geräuschen kehrte auch der Friede in den Stall zurück. Die Pferde schnaubten leise und zufrieden und scharrten mit den Hufen in der Streu; sie prusteten in ihre Eimer und mampften. Eimer klapperten, jemand pfiff vor sich hin, Mikesch kam und erkundigte sich mit halblauter Stimme, wo Sepp die Säcke mit den Mineralien hingestellt hätte.

Schließlich kam auch Helge zurück, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Augen hinter der dunklen Haarmähne verborgen, und machte sich an die Arbeit. Seine Wut schien verraucht zu sein, denn nach einer Viertelstunde tauchte er bei Hazels Box auf und erkundigte sich ganz freundlich bei mir, ob ich Solveigs Mähnenkamm gesehen hätte.

An diesem Tag mußte Jörn zum erstenmal nicht in die Sattelkammer gehen, um auszuruhen. Er arbeitete langsam, aber in stetigem Rhythmus; und als wir die Stalltür hinter uns schlossen, sah er glücklich aus.

„Es geht wieder“, sagte er. „Ich dachte schon, ich schaff s nie mehr so wie früher. Aber jetzt krieg’ ich langsam wieder Kraft.“

Maja, die daneben stand, erwiderte: „In einem halben Jahr hast du alles vergessen.“

Jörn schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „das nicht. Vergessen werd’ich es nie.“

3

Jörn war noch sechs Wochen krankgeschrieben. Zum Glück fielen die Osterferien in diese Zeit, so daß wir vierzehn Tage zusammen sein konnten – Frühlingstage, die wir mit den Pferden im Freien verbrachten, sooft das Wetter es zuließ.

An einem regnerischen Aprilmorgen packte Maja ihre Klamotten aufs Fahrrad und verließ Dreililien nach einem sehr kurzen Abschied. Von Mikesch erfuhren wir, daß sie schon vor zwei Monaten gekündigt hatte.

„Sie hat mich richtig angefleht, keinem außer Herrn Moberg etwas davon zu sagen. Ich konnte sie nicht davon überzeugen, daß es besser gewesen wäre, mit euch darüber zu reden“erklärte er. „Also hab ich den Mund gehalten. Besonders wohl war mir dabei allerdings nicht.“

„Und Matty?“ fragte ich. „Hat der auch nichts gewußt?“

„Da mußt du ihn schon selber fragen“, erwiderte Mikesch.

Ich merkte jedoch, daß Matty keine Lust hatte, über die Sache zu reden. Seine Gefühle für Maja, die Enttäuschung, die er mit ihr erlebt hatte – das war ein Thema, das er weitgehend mit sich selbst abmachte und über das er sich ausschwieg, so offen er sonst auch war.

„Er wird schon gewußt haben, daß Maja geht“, sagte Jörn abends zu mir. „Und ich find’s auch besser so. Das war doch kein Zustand mit den beiden; die sind sich bloß noch aus dem Weg gegangen, und jeder hat so getan, als wäre der andere gar nicht vorhanden. Irgendwie war die ganze Geschichte hoffnungslos verfahren.“

„Ich wollte, Matty würde darüber reden“, murmelte ich, den Kopf an seiner Schulter. „Das kann doch nicht gut sein, daß er alles so in sich hineinfrißt.“

„Nein“, sagte Jörn, „gut ist das bestimmt nicht. Ich denke jetzt manchmal, daß wir uns ähnlicher sind, als ich vermutet habe, Matty und ich.“

„Sicher geht es ihm wieder besser, wenn Maja nicht mehr hier ist. Aber wir werden einen Ersatz für sie finden müssen, und das wird nicht leicht sein.“

Jörn nickte. „Sie hat ihre Arbeit großartig gemacht, das muß man ihr lassen. Man brauchte ihr nicht erst zu sagen, was sie tun soll; sie hat’s selbst gesehen. Und was am wichtigsten war: Sie liebte die Pferde.“

,,Es ist ihr bestimmt schwergefallen, von Dreililien wegzugehen.“

Ich dachte daran, wie hart sich Maja diese Lehrstelle als Pferdepflegerin erkämpft hatte, wie schwer es für sie gewesen war, ihre Eltern davon zu überzeugen, daß dieser Beruf wichtiger und richtiger für sie war als Abitur und Studium. Ich war lange Zeit böse auf Maja gewesen, weil sie Matty enttäuscht hatte. Jetzt erst fragte ich mich, wie ihr in den vergangenen Wintermonaten zumute gewesen sein mochte, in denen wir sie links liegengelassen hatten; und ich erinnerte mich, daß ich sie eigentlich gemocht hatte, ja, daß ich sie immer noch mochte.

Plötzlich wußte ich, daß Maja mir fehlen würde – ihre selbstverständliche Art zuzupacken, ihr sanfter, geduldiger Umgang mit den Pferden, der Blick ihrer großen dunklen Augen. Das „Mädchen mit den Pfefferkuchenaugen“, wie wir sie früher genannt hatten, war fort; und vielleicht würden wir sie nie wiedersehen.

Sicher war es gut, daß Matty zwei Tage später selbst wegfuhr. Er wollte für eine Woche in einem Reitstall bei München arbeiten, wo er seit dem letzten Herbst schon mehrmals ausgeholfen hatte, sehr zum Ärger seines Vaters. Herr Moberg war der Meinung, es gäbe auf Dreililien genug Arbeit, und fand es rücksichtslos von Matty, daß er seine eigenen Wege ging.

Auf Dreililien war nun wirklich Hochbetrieb. Wir hatten dreizehn Ferienreitschüler im Gutshaus einquartiert; ein Glück, daß Jörn zu Hause war und Mikesch entlasten konnte.

Und dann war da auch noch Pauli. Seit einem halben Jahr wohnte er bei Gesine im Weberhäusl. Jörn hatte ihn im Krankenhaus kennengelernt, wo Pauli lang gelegen war, weil er im Altersheim einfach nichts mehr gegessen hatte. Nach einem arbeitsreichen Leben als Bauernknecht hatte Pauli die Verpflanzung in ein städtisches Seniorenheim einfach nicht bewältigt. Seine Weigerung zu essen, war ganz einfach eine Weigerung gewesen, unter solchen Umständen weiterzuleben.

Seit er nun in der kleinen Dachkammer bei Gesine hauste, war das anders geworden. „Er kommt mir vor wie ein alter Apfelbaum, der einen besonders strengen Winter überstanden hat und ganz unvermutet wieder zu blühen anfängt“, sagte Jörn einmal zu mir.

Jetzt, wo wir den Engpaß wegen Matty und Maja hatten, kam Pauli täglich unaufgefordert bei jedem Wetter frühmorgens und in den Abendstunden nach Dreililien gestapft und half im Stall. Er verstand eine Menge von Pferden, wenn er auch nur Erfahrung mit Kaltblütern hatte. Seiner Ansicht nach gab es da allerdings keine großen Unterschiede; nur daß unsere „Rösser“ halt ein bißchen „extriger“ waren, womit er meinte, daß sie empfindsamer waren und mit größerer Vorsicht behandelt werden mußten.

Ebenso „extrig“ waren diesmal die Ferienreitschüler, was nach Hopfis Auffassung daran lag, daß es ausgerechnet dreizehn waren.

„Dreizehn, dös bringt koa Glück net!“ prophezeite sie schon am ersten Ferientag düster. „Do bricht si bestimmt oana an Haxn oder an Hals, dös werd si scho no erweis’n!“

Die zehn Tage gingen zwar trotzdem ohne Reitunfall ab, aber nicht ohne Streit. Katja und Ines, zwei vierzehnjährige Mädchen, konnten sich von Anfang an nicht leiden, und bald war die gesamte Reitgruppe in zwei Lager gespalten – ein Katja-Lager und ein Ines-Lager. Daran konnte nicht einmal Mikesch etwas ändern.

„Die machen mich diesmal fertig“, sagte er eines Morgens, während die Reitschüler im Innenhof standen, in zwei Gruppen geteilt und damit beschäftigt, einander böse Blicke zuzuwerfen. Nur Tommy, ein kleiner Junge, stand abseits. Wir nannten ihn „Nummer dreizehn“, denn er hielt sich heraus und hatte bisher keine Partei ergriffen – oder vielleicht legten auch weder Ines noch Katja Wert darauf, ihn für sich zu gewinnen.

„Vielleicht sollten wir uns mal abends mit ihnen zusammensetzen. Es wäre ja schon fantastisch, wenn wir sie wenigstens dazu bringen könnten, Waffenstillstand zu schließen“, sagte Jörn.

„Hab ich doch alles schon versucht“, erwiderte Mikesch. „Aber ich hab nachgerade das Gefühl, daß es ihnen Spaß macht, im Clinch miteinander zu liegen.“

Ich sagte: „Dann laßt sie doch!“

„Wenn das bloß so einfach wäre! Sie benutzen jede Gelegenheit, sich anzugiften, und die Stimmung ist natürlich dementsprechend bescheiden. Außerdem überträgt sich die ständige Gereiztheit und Streitlust auf unsere Pferde. Unter solchen Voraussetzungen Reitunterricht abzuhalten, ist wirklich kein Vergnügen.“

„Sie bleiben ja nur noch sechs Tage“, sagte Helge. „So lange mußt du’s eben aushalten. Oder du setzt Katja und Ines an die Luft. Damit wäre das Problem wahrscheinlich gelöst.“